Klippenfall - Meike Messal - E-Book

Klippenfall E-Book

Meike Messal

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Beschreibung

Komm schnell. Jemand ist hinter mir her. Als Sylke Harmsen diese SMS von ihrer Tochter bekommt, glaubt sie zuerst an einen Scherz. Wer sollte Emilie an der Steilküste Fehmarns verfolgen? Und warum? Ganz sicher läuft da nur ein harmloser Jogger zufällig in dieselbe Richtung. Doch sie folgt der Bitte ihrer Tochter und eilt zum Katharinenhof. Kurz darauf findet Sylke sich mitten in einem Albtraum wieder. Sie muss um alles kämpfen, was ihr lieb und teuer ist. Ihr Gegner treibt ein diabolisches Spiel mit ihr, schreckt vor keinem Mittel zurück. Nach dem viel gelobten »Düsterstrand« ist dies der zweite Fehmarn-Krimi von Meike Messal. Auch in »Klippenfall« ist Hochspannung garantiert. Ein Muss für alle Liebhaber der Insel, die nach einer atemlosen Urlaubslektüre suchen.

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Epilog

Danksagung

Info

Meike Messal
Klippenfall
Fehmarn-Krimi
Prolibris Verlag
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie der Autorin. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind Institutionen, Straßen und Schauplätze auf Fehmarn.
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2022
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelfoto © Meike Messal
Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-238-6
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-228-7
www.prolibris-verlag.de
Die Autorin
Meike Messal wurde 1975 in Minden geboren. Nach dem Abitur lebte sie für einige Zeit in Israel und Südafrika und studierte in Hamburg Germanistik, Anglistik und Amerikanistik. Anschließend unterrichtete sie in Schleswig-Holstein. Die Wege an die Küste waren kurz und Messal, die das Meer liebt, verbrachte ihre Freizeit am liebsten am Wasser. Besonders hatte und hat es ihr Fehmarn angetan.
Inzwischen lebt sie mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern wieder in ihrer Heimat und unterrichtet an einem Mindener Gymnasium. Wann immer es die Zeit zulässt, findet man sie jedoch an ihrem Sehnsuchtsort – auf Fehmarn. Nach Nachtfahrt ins Grauen und Atemlose Stille spielen ihre aktuellen Kriminalromane Düsterstrand und nun auch Klippenfall daher auf ihrer Lieblingsinsel.
Messal ist außerdem als Herausgeberin aktiv und veröffentlichte zahlreiche Kurzgeschichten.
Weitere Informationen zu der Autorin unter www. messal.com
Für all die wunderbaren Mütter
und ganz besonders für meine –
             Christiane
1
Die Nachricht erwischte sie mitten beim Kartoffelschälen. Stirnrunzelnd betrachtete Sylke ihr Handy und las die SMS ihrer Tochter erneut. Hoffte, die Buchstaben würden dadurch einen anderen Sinn ergeben. Komm schnell. Jemand ist hinter mir her.
Emilie war schon den ganzen Tag am Strand, dem Ort, an den es sie immer zog. Sie liebte die Steilküste am Katharinenhof und hielt sich oft stundenlang dort auf.
Sylkes Finger schwebte über der Anruftaste, bereit, den grünen Button zu drücken. Doch dann hielt sie inne. Was, wenn Emilie den Klingelton auf laut hatte? Und sie ihm so verriet, wo ihre Tochter langlief?
Abermals stockten ihre Gedanken. Ihm? Verdammt, wurde Emmi von einem Mann verfolgt? Ja, natürlich. Wer sonst sollte hinter einem hübschen 12-jährigen Mädchen herrennen? »Hör auf zu spinnen«, beruhigte sie sich. »Wahrscheinlich bildet sie sich das bloß ein. Es ist sicherlich nur ein Camper, der zufällig denselben Weg läuft, und sie denkt gleich wieder sonst was.« Doch die Besorgnis ließ sich nicht wegreden, ein merkwürdiges Gefühl beschlich sie.
»Wo genau bist du?«, schrieb sie zurück. Sie ließ die Kartoffeln stehen und eilte zur Tür, schlüpfte in ihre Turnschuhe. Bis zum Strandabschnitt, an dem Emilie sich fast immer aufhielt, war es nicht weit, nur die Zufahrtsstraße zum Campingplatz entlang und dann an der Schranke hinunter zum Wasser. Weiter würde sie mit dem Auto ohnehin nicht kommen, da konnte sie gleich dorthin joggen. Sie lief täglich und war fit, doch heute waren ihre Schritte größer und ausholender als sonst. Kaum auf den Weg achtend hielt sie das Handy vor sich. Emilie antwortete nicht.
Sie versuchte, sich auf ihren Atem zu konzentrieren, spurtete. »Es ist nichts. Sie ist fast jeden Tag dort. Noch nie ist etwas passiert.« Doch was, wenn genau dies das Problem war? Tägliche Routine? Vielleicht hatte jemand sie schon Tage oder gar Wochen beobachtet und auf den einen günstigen Moment gelauert?
»Quatsch!« Sylke rief das Wort laut und schüttelte unwillig den Kopf. Was war bloß los mit ihr? Sie hatte sich noch nie besonders große Sorgen um ihre Tochter gemacht. Emilie war reif für ihr Alter und gewohnt, allein klarzukommen. Sylke arbeitete fast rund um die Uhr, um für sie beide den Lebensunterhalt zu verdienen.
Alte Lindenbäume säumten die Straße, sie raste daran entlang, vorbei an friedlich grasenden Pferden und dem verwaist daliegenden Basketballspielfeld. An der Abzweigung zum Waldpavillon biss sie sich auf die schweißnassen Lippen. Emilie liebte es, auf der Terrasse des Café-Restaurants zu sitzen, direkt am Meer. Doch meistens hatte Sylke abgewunken, zu viel zu tun im Geschäft. Sie schwor sich, noch an diesem Abend einen Tisch zu reservieren und Emmi so viel Eis essen zu lassen, wie sie wollte. Aber zuerst musste sie ihre Tochter finden!
In dem Moment blinkte ihr Handy auf. Der Text sprang ihr entgegen. Hab mich versteckt. Komm schnell. Er sucht mich.
Nun hielt sie doch an. WO BIST DU?, hämmerte sie auf die Tasten und legte ihre Hand kurz auf ihr rasendes Herz. Dann rannte sie weiter, an der griechischen Taverne vorbei über das Gelände des Campingplatzes, mit knirschenden Schritten Richtung Strand. Rechts von ihr ragten die hohen, dunklen Bäume des kleinen Stiftungswaldes stumm in den Himmel. War Emilie dort irgendwo im Dunkeln oder noch unten am Wasser? Einen Moment zögerte Sylke, dann folgte sie dem Pfad zum Meer ein kurzes Stück, bis sie den Strand überblicken konnte. Schwer atmend blieb sie stehen, ihre Augen bewegten sich suchend hin und her durch die wilde Schönheit, die sich hier auftat. Doch heute hatte sie keinen Blick für die türkis schimmernden Wellen, die großen Steine in der Brandung. Wo zur Hölle war Emmi?
Obwohl es auf zwanzig Uhr zuging, war es noch warm, das T-Shirt klebte an Sylkes Körper. Doch nur eine Frau sah sie weit weg barfuß durch die Wellen gehen. Wahrscheinlich saßen die Familien inzwischen vor ihren Zelten und Wohnwagen und grillten. Sylke starrte erneut auf ihr Handy, als könnte sie es damit beschwören. »Ich bin jetzt da«, tippte sie schnell, »am Pfad zum Wasser.«
Ein Knirschen ließ sie zusammenzucken. Vor ihr tauchte ein Mann mit verschwitzten Haaren auf. Unwillkürlich trat Sylke einen Schritt zurück. Wo war der denn so plötzlich hergekommen? Konnte das Emilies Verfolger sein? Er war klein und schmal gebaut, schlaksige Arme lugten aus den Ärmeln seines weißen T-Shirts hervor. Würde der Typ Emmi derartige Angst einjagen können? Wohl kaum. Außerdem kam er Sylke bekannt vor. Die kantigen, scharfen Gesichtszüge, das frisch rasierte Gesicht, das ihn jünger aussehen ließ, als er vermutlich war. Vielleicht ein Tourist, der bei ihr im Laden eingekauft hatte? Er kam nun direkt auf sie zu.
Sie wandte den Blick von ihm auf ihr Handy, das soeben aufblinkte. Bin im Stiftungswald. Erleichtert drehte sich Sylke um. Emmi war ganz in ihrer Nähe.
»Hallo!« Die Stimme direkt neben ihr ließ sie zusammenzucken. Der Mann war schneller, als sie gedacht hatte. Und leiser. Er lächelte sie an. Die schmalen Lippen passend zu seiner knochigen Erscheinung, eher weiß als rot, irgendwie blutleer. Ja, er kam ihr definitiv bekannt vor. Doch woher bloß?
»Sie sehen gestresst aus«, sprach er weiter. »Ist alles in Ordnung?«
»Äh ja, danke.«
Sie nickte ihm kurz zu und lief dann weiter bergan bis zu dem kleinen zugewachsenen Pfad in den Wald hinein. Sylke scherte sich nicht um die Äste, die ihren Körper peitschten, nicht um das Wasser, das in ihren Schuh drang, als sie über einen umgestürzten Baum und direkt in eine Pfütze sprang. Ihr Kopf drehte sich von links nach rechts. Dickicht. Von Emilie keine Spur.
Ein lautes Frauenlachen von fern. Ein Glück, der Mann war verschwunden und auch sonst schien sie hier vollkommen allein zu sein.
»Emmi?« Sylke wusste selbst nicht, warum sie flüsterte. Sie lauschte. Hörte nichts als die Wellen, den schlagenden Puls des Meeres, der träge durch die dicken Äste der Bäume drang. »Emmi, wo bist du?« Ihre Stimme wurde lauter, eindringlicher.
Erneut hörte sie ein Knacken und für einen Moment befürchtete sie, der Mann würde abermals auftauchen. Doch es war Emmi, sie kroch aus einem Gebüsch. In ihren langen blonden Haaren hingen Blätter, aus einem frischen Kratzer unter ihrem rechten Auge quoll ein wenig Blut. Ihr Blick war voller Erleichterung, als sie sich aufrichtete und ihrer Mutter um den Hals fiel. »Ein Glück!«, wisperte sie in Sylkes Schulter, »ich hatte solche Angst!«
»Ach Emmilein!« Sylke schob ihre Tochter ein wenig von sich und schaute sie an. Plötzlich kam ihr die Furcht, die sie eben noch verspürt hatte, lächerlich vor. »Du hast dir das bestimmt eingebildet.« Sie musterte die Wunde. »Das sieht nicht gut aus. Komm, wir gehen nach Hause und versorgen es. Und all die Blätter müssen wir auch aus deinem Haar pflücken.«
Emilie nickte, doch ihre Augenlider zuckten. »Das war keine Einbildung«, sagte sie. »Dieser Mann hat mich beobachtet. Ich habe es genau gemerkt. Und als ich gehen wollte, kam er hinter mir her.« Sie fasste Sylkes Hand. »Da bin ich losgerannt. Und plötzlich lief er auch.« Ihr Griff wurde fester. »Ein Glück, dass dies mein Ort ist, niemand kennt ihn so gut wie ich. Ich habe ein paar Haken geschlagen und mich dann hier verkrochen. Das hat er gar nicht mitbekommen und mich unten am Strand gesucht.«
Am Wasser? Plötzlich sah Sylke den Mann mit den verschwitzten Haaren wieder vor sich. »Wie sah der Typ denn aus?«, fragte sie, während sie Emmi mit sich zog. Der Schweiß an ihrem Körper wurde unter dem Schatten der Bäume mit einem Mal kalt und sie fröstelte.
»Er war klein und dünn.« Emilie ging nun genauso zügig wie ihre Mutter. »Deshalb hatte ich auch erst keine Angst vor ihm. Ich dachte, den hau ich mit meiner Faust k. o., falls er mir zu nahe kommt.« Sie blieb stehen. Ihre Stimme wurde wieder leise, und sie umklammerte Sylkes Hand so stark, dass es ihr wehtat. »Aber dann hab ich seinen Blick gesehen. Er hat mich angestarrt. Mit ganz komischen Augen.«
»Was meinst du damit?« Sylke runzelte die Stirn. Emmis Worte hallten noch in ihrem Kopf. Klein und dünn.
Emilie zuckte mit den Schultern. »Sie waren blau wie das Meer. Aber es war keine Lebendigkeit in ihnen. Sie blickten tot. So, als hätte er schon mit dem Leben abgeschlossen.«
Mit einem Mal bekam Sylke Kopfschmerzen. »Woher hast du denn nur solche Ideen?«, rief sie. »Tote Augen! So ein Unsinn. Du hast ihn noch nicht einmal richtig angesehen!« Aber in ihren Gedanken beschwor sie wieder das Gesicht des Mannes herauf. Versuchte, sich seine Augen vorzustellen. Es gelang ihr nicht. Sie hatte nach Emmi gesucht, ihr Blick hatte ihn nur flüchtig gestreift, war an seinem Mund haften geblieben. Der hatte gelächelt. Oder war es ein Grinsen gewesen, ein boshaftes Verzerren der Lippen?
Sie war in ihre Gedanken versunken, merkte nicht, dass Emilie stehen geblieben war. Erst der Ruck an ihrer Hand holte sie zurück. Ungeduldig wandte sie sich um. »Was ist denn?«
Doch ihre Tochter antwortete nicht. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, bleich war sie. Die blonden Haare mit den Blättern darin fielen ihr in die Stirn und über die Wunde. Sie schaute Sylke nicht an, sondern auf einen Punkt vor ihnen. Erstarrt wie eine Maus, die die Katze vor sich zu spät entdeckt hatte.
Langsam löste sich Sylke von dem Anblick ihrer Tochter und drehte sich herum. Wir sind zu zweit, schoss es ihr durch den Kopf, den machen wir ...
Es gelang ihr nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Ein schrecklicher Schmerz durchfuhr sie, explodierte erst in ihrer Brust und dann in ihrem Kopf. Die Bäume rasten auf sie zu, kippten, fielen. Riesen waren sie, groß und schwarz und begruben sie unter sich.
2
Ratlos nahm Levke die Hand von der Klingel. Warum machte Sylke nicht auf? Sie hatte doch gesagt, dass sie und Emmi zu Hause seien und Levke vorbeikommen könne. So hatten sie es vereinbart, als Levke am Morgen gegen zehn in Sylkes Laden in Burg geschneit war. Jetzt im Juli, in der Hauptsaison, war Sylke auch sonntags dort anzutreffen.
Jedes Mal, wenn Levke die Tür aufstieß und die helle Klingel ertönte, war sie gespannt, welche Dekorationswunder ihre Freundin diesmal vollbracht hatte. Und sofort hatte sie die kleinen Unterschiede zur letzten Woche entdeckt: Der Tisch mit den selbstgenähten Taschen aus Jeanshosen, auf denen vorne der Umriss von Fehmarn zu sehen war, stand nicht mehr mittig, sondern links am Fenster. Dafür thronte im Zentrum des Ladens ein Couchtisch, der aus einem Baumstamm mit einer kleinen Glasplatte bestand. Durch das Glas hindurch sah man ebenfalls die Insel, ihre Umrisse waren in den Baum geritzt. »Der ist cool, den würde ich mir auch sofort ins Wohnzimmer stellen.« Levke strich vorsichtig mit den Fingern über den Tisch. »Tolle Arbeit. Wer hat das angefertigt?«
»Ich arbeite neuerdings mit Lutz zusammen, du weißt schon, dem Tischler aus Petersdorf. Es ist super, wie sein Sortiment aus Holz meine selbstgenähten Sachen ergänzt. Die Touristen kaufen einfach alles von ihm.«
»Das freut mich!« Levke lächelte. Wie hatte Sylke vor einigen Jahren mit der Entscheidung gehadert, ihren langweiligen, aber dafür sicheren Job als Verwaltungsfachfrau an den Nagel zu hängen und sich selbstständig zu machen. »Ich hab keinen Mann, dessen Gehalt uns auffangen könnte, falls es schiefläuft«, hatte sie immer wieder gesagt. Doch Levke war nicht müde geworden, Sylke zuzureden und sie in ihrer Idee zu unterstützen. So gut nähen wie ihre Freundin konnte niemand und schon vor der Öffnung des Ladens waren ihre Sachen im Internet heiß begehrt, vor allem unter Fehmarn-Fans. Sylke nähte ausgefallene Taschen, Kissen, Taschentuchhüllen, Handwärmer, Kopftücher, Schals und Ponchos. Und auf all diesen individuellen Stücken prangte Fehmarn – mal nur der Umriss, mal die ganze Insel, mal ein besonderer Teil von ihr. Am liebsten mochte Levke die großen Umhängetücher, auf denen buntgestickte Vögel aus dem Naturschutzgebiet Wallnau leuchteten. Man konnte mit geschlossenen Augen über sie streichen und fühlen, um welchen Vogel es sich handelte. Emmi liebte dieses Spiel und sie gewann immer. Niemand kannte die Tiere auf Fehmarn so gut wie sie.
Levke ließ sich auf den großen Stuhl am Verkaufstresen fallen. »Ich muss dir was erzählen.« Sie fuhr sich durch ihre lockigen braunen Haare und klemmte eine widerspenstige Strähne hinter das Ohr. »Gestern war doch Kais Geburtstagsfeier.«
»Ach ja!« Sylke schlug sich gegen die Stirn. »Mist, ich habe ganz vergessen, ihm zu gratulieren.«
»Ich weiß!« Nun blickte Levke vorwurfsvoll. »Erst kommst du nicht und dann meldest du dich nicht mal. Ich habe dir gestern Abend eine SMS geschrieben, aber darauf reagiert Madame ja nicht.«
»Entschuldige.« Sylke schüttelte den Kopf. »Meine Taschen sind fast ausverkauft. Ich musste gestern Abend nähen, was das Zeug hält. Heute schaffe ich einfach nicht alles, denn Emmi muss ich schließlich auch mal sehen.« Sie deutete vage auf den Vorhang, der hinter dem Verkaufstresen angebracht war und das daran anschließende Nähzimmer verbarg. »Eigentlich habe ich jetzt gar keine Zeit zu quatschen, wenn gerade mal keine Touristen hier einfallen. Komm doch heute Abend zu uns, dann kannst du mir alles erzählen. Es wird wohl nur Tiefkühlpizza geben ...«
»Das bin ich ja gewohnt. Aus dir wird keine Köchin mehr.« Levke schüttelte lachend ihren Kopf. »Man kann nicht in allem Talent haben. Ich würde ja was mitbringen, aber wie gesagt, gestern war ich bei Kai und da habe ich diesen Typen kennengelernt. Er ist nur dieses Wochenende auf der Insel und ich bin gleich mit ihm verabredet. Heute Abend ist er schon wieder weg.«
»Oh Levi, nicht dein Ernst.« Sylke verzog den Mund. »Neben dir und deinen Eskapaden komme ich mir alt vor.« Sie drehte sich im Kreis. »Aber wo soll neben Laden und Kind auch noch Platz für einen Mann sein?«, murmelte sie.
Levke hatte sie trotzdem gehört. Das war das große Manko an dem Geschäft. Es lief so gut, dass Sylke kaum noch Zeit für etwas anderes hatte. Sogar ihre Tochter kam zu kurz, fand Levke. Aber das durfte man Sylke nicht sagen, dann wurde sie wütend. Und Emilie war wirklich reif für ihr Alter. Außerdem hielt sie sich am liebsten allein am Meer auf. Am Wasser, immer am Wasser. Manchmal, wenn Levke sie ansah, kam ihr Emmi schon selbst wie ein halbes Meerwesen vor. Sie schien das Rauschen der Wellen in sich zu tragen und mit Schritten zu laufen, die sich diesem Rhythmus angepasst hatten.
»Okay, also heute Abend. Sieben?«
»Besser um acht.« Sylke seufzte. »Vielleicht koche ich doch. Emmi kann ja nicht immer nur Fastfood bekommen.«
»Ansehen kann man es euch nicht.« Ein wenig neidisch blickte Levke auf ihre Freundin, die groß und schlank vor ihr stand. Obwohl Sylke im letzten Jahr ihren fünfzigsten Geburtstag gefeiert hatte und sie damit drei Jahre älter war, fand Levke, dass man den Altersunterschied zwischen ihnen nicht sah. Im Gegenteil, Sylke wirkte jünger als sie. Dazu war sie immer perfekt gekleidet, die Farbtöne aufeinander abgestimmt, dezentes Make-up, das zu ihrer hellen Haut und den blonden, akkurat geschnittenen schulterlangen Haaren passte.
»Dir doch auch nicht.« Lächelnd musterte Sylke ihre Freundin. »Du hast Rundungen an den richtigen Stellen und die Männer stehen auf dich. Andauernd kommst du mit einem Neuen um die Ecke.«
Mit diesen Worten hatte sie Levke sanft, aber bestimmt zur Tür geschoben. »Bis heute Abend, Levi«, hatte sie ihr hinterhergerufen und Levke hatte von der anderen Straßenseite gewunken.
Und jetzt war Sylke nicht zu Hause. Hatte sie die Zeit vergessen und einfach weitergenäht? Das war bei ihr durchaus möglich. Auch, dass Emilie immer noch am Strand hockte und sich irgendeiner Beschäftigung so hingab, dass sie auf nichts anderes mehr achtete.
Levke ging um das Haus herum in den Garten. Dort spähte sie durch die große Terrassentür ins Innere. Das Wohnzimmer war mit einer offenen Küche verbunden. Nichts rührte sich. Levke holte ihr Handy aus der Tasche, wählte Sylkes Nummer, sie stand gleich ganz oben. Niemand ging ran. Auch ein Anruf im Laden blieb unbeantwortet. Komisch.
Levke dachte an den gestrigen Abend. Daran, dass Sylke weder Kai angerufen noch auf die SMS reagiert hatte. Wenn sie nähte, vergaß sie manchmal alles um sich herum. Aber Emmi? Sie musste doch langsam Hunger bekommen.
Seufzend beschloss Levke, zu warten. Sie machte es sich auf der Terrasse im Gartenstuhl gemütlich. Von Katharinenhof nach Burg zu fahren, um im Laden nachzusehen, das würde zu lange dauern. Bestimmt kamen die beiden jeden Augenblick zurück.
Levke fuhr sich durch das Gesicht. Inzwischen war sie gar nicht mehr so wild darauf, Sylke von dem Typen zu erzählen. Gestern Abend auf Kais Feier hatte sie ihn sympathisch gefunden. Ein wenig zu klein und zu dünn für ihren Geschmack, aber irgendwie faszinierend. Er flirtete mit ihr völlig anders, als sie es gewohnt war. Subtil, doch umso beharrlicher, so als wäre sie das einzige weibliche Wesen auf der Feier. Sie hatte eindeutig ein paar Gläser zu viel intus und wäre bereit gewesen, mit ihm zu knutschen. Als ihre Lippen jedoch vor seinen schwebten, hatte er mit einem Mal einen Rückzieher gemacht, Ausflüchte gesucht und sich stattdessen für heute mit ihr verabredet. Dann war er spurlos verschwunden, sie hatte ihn den ganzen Abend nicht mehr gesehen.
Und die Verabredung heute? Bang! Er war nicht aufgetaucht. Levke hatte auf ihn am Rathaus gewartet und je mehr Zeit verstrichen war, desto dümmer war sie sich vorgekommen. Sie hatte sich mehrfach gefragt, warum sie überhaupt dort stand. Betrunken an einem Abend war das eine, aber nüchtern bei hellem Tageslicht ... verrückt. Sie war doch alt genug, um zu wissen, dass man sich auf so was besser nicht einließ. Bestimmt hatte zu Hause seine Frau auf ihn gewartet und das schlechte Gewissen hatte ihn geplagt. Hatte er eigentlich einen Ring getragen? Levke konzentrierte sich, aber sie konnte sich kaum noch sein Gesicht in Erinnerung rufen, geschweige denn seine Hände. Sie war gestern so beschwipst gewesen, sie hatte ihn nicht einmal nach seinem Namen gefragt. Über den Typen würde sie jetzt nicht mehr nachdenken. Seufzend schüttelte Levke den Kopf.
Oh Mann. Sie brauchte jetzt definitiv eine Tiefkühlpizza – etwas anderes würde es wohl doch nicht geben – und vor allem ein kühles Bier. Als ihr Sylkes Lieblingsspruch einfiel, musste sie plötzlich grinsen. Wie oft hatte sie den schon von ihrer Freundin gehört, wenn sie mal wieder geknickt nach einem misslungenen Date mit ihr darüber quatschte: Du weißt doch, der größte Unterschied zwischen Männern und Frauen liegt in dem Satz: Was für ein Arsch!
3
Als Sylke in vollkommener Dunkelheit zu sich kam, brauchte ihr Gehirn nur Sekunden, um sich zu erinnern: Er hatte vor ihnen gestanden. Sie hatte ihn nur aus den Augenwinkeln gesehen, keine Zeit gehabt, einen klaren Gedanken zu fassen, schon war ein schrecklicher Schmerz durch ihren Körper geschossen. Und dann diese Dunkelheit. Ein ähnliches undurchdringliches Schwarz wie dieses, das sie jetzt umgab. Sie hatte ihre Tochter nicht schützen können.
»Emmi?« Sylkes Stimme klang selbst in ihren Ohren zu dünn. Das lag nicht an ihren rasenden Kopfschmerzen oder an ihren Gliedern, die sich wie Pudding anfühlten. Nein. Die Angst nahm ihr die Kraft. Wo war Emmi? Obwohl die Dunkelheit sie umgab und sie selbst mit weit aufgerissenen Augen nichts erkennen konnte, spürte sie es: Emmi war nicht da.
»Emmi?« Lauter sagte sie es, flehend. Wenn sie sich doch täuschte und ihre Tochter neben ihr lag? Vorsichtig tastete Sylke nach links und rechts. Da war niemand. Sie lag weich. Nicht auf einem festen Boden aus Stein, Lehm oder Holz. Ihre linke Hand klopfte weiter den Untergrund ab, auf dem sie lag, und schlug dann ins Leere. Erschrocken hielt Sylke inne, ließ ihren Arm baumeln, horchte. Nichts. Dunkelheit und Stille.
Langsam stützte Sylke sich auf ihren rechten Arm. Sofort explodierten Sterne in ihrem Kopf. Mit fest aufeinandergepressten Lippen schob sie sich ein Stück nach oben, beugte sich nach links, drehte sich. Unter ihr quietschte es, ein altes Lattenrost auf Metall. Das Geräusch kannte sie, sie musste auf einem Bett liegen. Sie rollte sich zurück auf den Rücken, streckte beide Arme aus. Rechts stieß sie an eine Wand. Rau. Keine Tapete.
Sylke versuchte, ihr Gehirn in Gang zu bringen. War es gut oder schlecht, dass sie hier lag? Immerhin lebte sie. Und sie lag in einem Raum, nicht irgendwo am Strand oder in dem kleinen Waldstück. Er hatte sie hierhergeschleppt und auf ein Bett gelegt. Und sie war nicht gefesselt. Oder? Mit einer plötzlichen erneut aufkommenden Panik zog sie ihre Beine zu sich, stieß erleichtert die Luft zwischen den Zähnen aus. Sie konnte sich bewegen. Wenn es doch bloß nicht so verdammt dunkel wäre!
Sylke atmete tief ein und schwang dann die Beine über den Bettrand. Sofort wurde ihr schwindelig, stöhnend presste sie die Finger gegen die Stirn. Aber sie saß. Sie griff nach ihrer Hosentasche, aber natürlich hatte er ihr das Handy abgenommen. Ihre Füße berührten den Boden und langsam stand Sylke auf, ignorierte das Pochen hinter ihren Schläfen, befahl den Beinen vergeblich, mit dem Zittern aufzuhören. Vorsichtig streckte sie sich, hob die Arme in Zeitlupe nach oben, zuckte zurück. Ihre Fingerspitzen hatten die Decke gestreift. Niedrig war sie, zu niedrig für ein normales Zimmer. Sylke streckte die Arme nach vorne, tastete sich zur nächsten Wand, fuhr an ihr entlang.
Es dauerte lange, bis sie den ganzen Raum erkundet hatte. Mehrfach war sie gestolpert, gegen Dinge gestoßen. Sie hatte alles abgetastet, jeden Winkel erforscht. Zurück bis zu dem Bett. Sylke ließ sich darauf sinken, krallte sich mit beiden Händen an der Matratze fest.
Es war ein vollmöbliertes Zimmer mit einem Tisch und einem Stuhl. Sogar einen Sessel und ein Regal hatte sie erfühlt. Und in der Ecke schräg gegenüber zwei niedrig gemauerte Wände, die ihr bis zur Brust gereicht hatten. Es hatte lange gedauert, bis sie begriffen hatte, dass es ein kleinerer, abgeteilter Bereich sein musste, in dem sie dann eine Toilette und ein Waschbecken entdeckt hatte.
Und natürlich gab es eine Tür. Bei ihr hatte sie besonders viel Zeit verbracht. War immer wieder mit den Fingern daran entlanggefahren. Über das kalte, glatte Metall, über die Scharniere auf der einen Seite. Doch sie hatte keine Türklinke ertastet, nur eine kleine Schlossrosette. Es hatte gedauert, bis sie die volle Bedeutung dieser Tatsache erkannte und den Gedanken zulassen konnte: Ohne Schlüssel kam sie hier nicht heraus. Sie war eingesperrt. In einem fensterlosen Zimmer mit niedriger Decke.
Aber das Wichtigste hatte sie nicht gefunden. Nirgendwo.
»Emmi!« Das Wort kam schluchzend aus ihrem Mund. Eine Welle der Verzweiflung erfasste sie so stark, dass sie schwankte. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war und wer sie gefangen hielt. Aber das Schlimmste war die Ungewissheit, was er mit ihrer Tochter gemacht hatte.
4
Sie war so schön. Die langen Beine in den kurzen Shorts. Das T-Shirt, das an ihrem verschwitzen Körper klebte. Man konnte darunter die kleinen Brüste sehen, die sich fest gegen den Stoff drückten. Und dann ihre langen blonden Haare, flatternd im Wind. Sie stand allein in der Ecke des Schulhofes und versuchte, teilnahmslos zu wirken. Heiß war es heute, sehr heiß für einen Tag im Juni, zum Glück wehte von der See eine starke Brise.
Er richtete sich auf, straffte seine Schultern. Wenn sie doch bloß einmal herübersah! Dann würde er ihr cool zunicken, lässig den Arm heben. Aber sie schaute nicht in seine Richtung. Er war Luft für sie.
Oh nein. Da kam sein Bruder. Der hatte ihm gerade noch gefehlt. Wie immer umringt von mindestens fünf Bewunderern. Sie lachten und machten Späße. Einer der Jungen kicherte übertrieben laut. Das schien seinem Bruder nicht zu gefallen. Er blieb stehen und boxte ihn in die Seite. Der Junge stolperte, vollführte eine fast absurde Drehung, fiel hin. Sein Bruder blickte abschätzig zu ihm hinab und ging weiter. Gut. Wenn er sich hier abreagierte, dann würde er von ihm zu Hause vielleicht heute nicht mehr so gepiesackt.
Nein, bitte nicht. Sie kamen direkt auf ihn zu. Hektisch sah er sich um. Wohin konnte er flüchten? War ein Lehrer in der Nähe? Schon stand sein Bruder vor ihm.
Er schluckte, hob den Kopf. Sein Bruder haute ihm mit seiner mächtigen Hand so auf die Schulter, dass er in die Knie ging. »Na, Wicht«, grinste er hämisch, »holst du dir wieder einen runter?« Sofort lachten alle Jungen los, umringten ihn. Zitternd stand er in der Mitte. Tränen krochen herauf, bahnten sich einen Weg zu den Augen. So ein Scheiß, bloß nicht weinen, alles, nur das nicht. Doch sein Bruder hatte das Glitzern schon bemerkt. »Heulsuse«, sagte er verächtlich. »Dich wird nie ein Mädchen angucken.« Dann drehte er sich um, sofort löste der Kreis sich auf und die anderen folgten. Wie kleine Welpen.
Erleichtert atmete er auf. Schnell wischte er sich die Tränen aus den Augen. Warf einen verstohlenen Blick zu ihr hinüber. Hatte sie seine Erniedrigung beobachtet? Nein. Sie schaute auf einen Baum. Konzentriert. Still. Was sah sie dort? Angestrengt wanderte sein Blick durch die Äste. Und dann bemerkte er ihn ebenfalls, einen imposanten, großen Vogel, gut versteckt zwischen den Blättern. Seine gelben Krallen leuchteten, die braunen Federn waren mit weißen Tupfen gesprenkelt. Aufmerksam prüften seine runden Augen die Umgebung. Und mit einem Schrei erhob er sich plötzlich in die Lüfte, kreiste wie ein Herrscher über dem Schulhof und verschwand schließlich am blauen Himmel.
Wenn er doch bloß wie dieser Vogel wäre! So überlegen, so schön, so stark. Dann würde sein Bruder ihn nie mehr ärgern, nie mehr bloßstellen vor den anderen. Und sie würde ihn endlich bewundernd ansehen.
Er war so in Gedanken versunken, dass er den Schulgong nicht hörte. Erst als es mit einem Mal still um ihn war, durchfuhr ihn ein Schreck. Der Schulhof war leer. Er stolperte los. Wenn er die Tür zur Klasse öffnete, würden alle lachen und Herr Johan eine blöde Bemerkung machen. Einen Eintrag ins Klassenbuch gab es bestimmt auch noch. Mit gesenktem Kopf stand er eine Weile im Flur. Besser war es, abzuhauen. Er drehte auf dem Absatz um, stieß die schwere Schultür auf und rannte nach draußen. Er lief und lief und blieb nicht stehen, bis er den Strand erreichte. Keuchend setzte er sich in den Sand, ließ ihn durch die Finger gleiten. Wunderbar warm war der. Langsam zog er die Schuhe aus und vergrub seine Zehen. Die Sonne glitzerte auf den Wellen, sie schien auf ihn hinab. Ein Seufzer entfuhr ihm. Hier am Meer war alles gut. Jedenfalls für einen kleinen Moment.
5
Die Zeit verstrich, wurde zu einem langen Band, das sich ausdehnte und mit jedem Herzschlag länger wurde.
Nach einigen Minuten zurück auf dem Bett, in der ihr die Angst jegliche Luft zum Atmen genommen hatte, war sie erneut aufgestanden, um sich eine Vorstellung von dem Raum zu verschaffen, in dem sie eingesperrt war. Langsamer diesmal, gründlicher. Sylke war in alle Richtungen gegangen, hatte die Schritte gezählt und trotz der Dunkelheit war ein Bild in ihrem Kopf entstanden. Das Zimmer war zwar niedrig, doch relativ groß, um die fünfzehn Quadratmeter, schätzte sie. Von der Tür aus stand rechts an der Wand das Bett, links befand sich die kleine Abgrenzung zum »Bad«, dahinter Regal, Sessel und Tisch mit Stuhl.
Sylke hatte sich gereckt und jeden Zentimeter der Wände abgefahren. An der Decke hatte sie schließlich etwas gefunden, dass sich wie eine Neonröhre angefühlt hatte. Nur der Lichtschalter dazu fehlte.
Sie hatte auch den Boden abgetastet, war auf allen vieren gekrochen. Vor dem Sessel war der Untergrund nicht glatt und trocken, sondern flauschig. Dort lag ein Teppich, ein Flokati vielleicht.
Schließlich war sie zu dem Stuhl gerobbt, hatte sich auf ihn gesetzt und versucht, ihre flatternden Gedanken zu beruhigen, die aus der schwarzen Enge fliehen wollten. Auf keinen Fall durfte sie wehrlos auf dem Bett liegen, wenn er hereinkäme.
»Denk nach«, ermahnte sie sich. »Wer ist dieser Mann? Er kommt dir bekannt vor!« Sie ging alle Kunden durch, an die sie sich erinnern konnte. Ihre Freunde, Bekannte, Emmis Mitschüler aus der Inselschule und deren Eltern. Doch so sehr sie auch ihr Gehirn zermarterte, es gelang ihr nicht, sein Gesicht mit einer konkreten Person in Verbindung zu bringen. Frustriert schlug Sylke mit der Faust auf den Tisch. Sie hatte absolut keine Ahnung, wer sie gefangen hielt. Und warum. Und wo zur Hölle ihre Tochter war.
Langsam richtete sie sich auf, drehte den Kopf in alle Richtungen. Nirgends ein Spalt, durch den ein bisschen Licht schimmern würde. »Ich weiß nicht, ob du mich hörst«, sagte sie laut. »Ich möchte nur zu meiner Tochter. Bitte lass mich zu Emilie, dann mach ich alles, was du willst. Nur bitte, lass sie aus dem Spiel!«
Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, doch beim letzten Satz wurde sie brüchig. Sylke räusperte sich. Mit einem Mal war sie froh über die Dunkelheit, denn so konnte er wenigstens die Tränen nicht sehen, die über ihre Wangen liefen. Angespannt horchte Sylke in das Schwarz. Kam von draußen eine Antwort?
Sie wartete und wartete. Saß stocksteif und gerade auf dem Stuhl. Bewegte sich nur von Zeit zu Zeit, wenn eines ihrer Beine einzuschlafen drohte. Doch irgendwann überkam sie trotz der schrecklichen Angst eine tiefe Müdigkeit. Ihr Kopf sackte auf die Brust. Anfangs wurde sie davon wach, richtete sich immer wieder auf, schließlich versank sie für ein paar Stunden in einer Welt zwischen Wachsein und Traum. Darin zogen dunkle Schatten an ihr vorbei, die an ihr zerrten.
Sie zuckte erschrocken zusammen, als es plötzlich hell wurde. Das grelle Licht brandete über sie wie eine Flutwelle. Reflexartig kniff sie die Augen zu einem schmalen Schlitz zusammen, sie begannen sofort zu tränen. Vorsichtig versuchte Sylke sie wieder zu öffnen. Das Zimmer verschwamm vor ihren Augen. Die Neonröhre an der Decke tauchte den Raum in ein gnadenlos hellweißes Licht.
Jemand hatte auf den Schalter gedrückt. Jemand außerhalb ihres Gefängnisses.
6
Ratlos stand Levke vor Sylkes Laden. Fehmarn und Meer prangte auf einem großen blauen Schild über der Tür, die Schaufensterscheiben reflektierten die Mittagssonne. Sylkes Geschäft befand sich im Zentrum von Burg, ein Stück hinter dem Rathaus am Kaufhaus Scholz vorbei die Straße hinunter, in der Nähe des Filmtheaters Fehmarn. Wie oft hatten sie früher, als Sylke noch nicht so beschäftigt war, in dem gemütlichen Kino spannende Filmabende verbracht. Levke liebte das urige Ambiente, denn jeder Platz im Saal war mit einem kleinen Tisch und einem Lämpchen ausgestattet.
Auf der Straße herrschte reges Treiben, vor allem Touristen flanierten gutgelaunt durch die Stadt. Doch in dem Laden, dessen Türglocke in der Hauptsaison fast unermüdlich klingelte, war niemand. Stirnrunzelnd drückte Levke die Klinke herunter, rüttelte daran, doch die Tür öffnete sich nicht.
»Sylke?«
Was, verdammt, war mit ihrer Freundin los? Sie hatte gestern lange auf Sylke und Emmi gewartet und war letztendlich verwundert von Katharinenhof nach Landkirchen gefahren, wo sie sich in einer kleinen, gemütlichen Einliegerwohnung ihr eigenes Reich geschaffen hatte. Mehrfach hatte sie versucht, Sylke auf dem Handy zu erreichen. »Es gibt bestimmt eine ganz plausible Erklärung«, hatte sie sich eingeredet, als sie schließlich nach Mitternacht todmüde ins Bett gefallen war. Sie musste am nächsten Tag wieder früh raus. Der Bäcker, bei dem sie in Burg arbeitete, öffnete wochentags um sieben, Sylkes Laden hingegen erst um zehn Uhr.
Den ganzen Vormittag hatte sie an Sylke gedacht und sich sofort in der Mittagspause auf den Weg zu dem Laden gemacht, der nur wenige Hundert Meter von der Bäckerei entfernt lag. In ihren Gedanken sah sie Sylke lachend in der Tür stehen. »Wir haben doch bloß die Zeit vergessen, das kennst du doch!« Sie hörte die Stimme ihrer Freundin so nah an ihrem Ohr, dass sie erschrak, als der Laden in ihr Blickfeld kam und dieser verlassen dalag.
Das war noch nie vorgekommen. Selbst als Sylke vor einem Jahr eine schwere Grippe bekommen hatte. Mit Fieber hatte sie hinter dem Tresen gestanden und ihre Mattheit weggelächelt. Im Weglächeln war sie gut.
Levke schaute auf ihre Uhr, sie hatte nur noch fünfundzwanzig Minuten. Ein letztes Mal klopfte sie energisch gegen die Scheibe, jedoch mehr aus Pflichtbewusstsein. Sylke war nicht da, sie ging nicht an ihr Handy. Und Emmi ...
Levke schlug sich gegen die Stirn. Natürlich, Emmi! Sie musste doch in der Schule sein. Da war Sylke streng, da kannte sie keine Gnade. Die Inselschule lag mitten in Burg, wenn sie schnell ging, konnte sie in weniger als fünf Minuten dort sein. Sie wollte gerade loslaufen, als sie innehielt. Mist, es waren doch Ferien! Das vergaß sie manchmal, da sie keine Kinder hatte.
Seufzend fuhr sich Levke über die Stirn. Sie hatte um vier Feierabend. Dann würde sie noch einmal zum Laden gehen. Bestimmt war das alles nur ein großes Missverständnis, sicher hatte Sylke irgendetwas gesagt, das ihr entgangen war.