30,99 €
Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. E-Book 1: Er kannte nur ihren Namen E-Book 2: Mit dir kam das Glück zu mir E-Book 3: Ein junger Arzt in Nöten E-Book 4: Wenn das Herz spricht E-Book 5: Wie könnte ich jemals von dir lassen E-Book 6: Da war nur einer, der sie liebte E-Book 7: Alle waren gegen sie E-Book 8: Der lange Weg zum Glück E-Book 9: Die geborgte Braut E-Book 10: Ein Madl aus dem Wachnertal
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 1236
Veröffentlichungsjahr: 2023
Er kannte nur ihren Namen
Mit dir kam das Glück zu mir
Ein junger Arzt in Nöten
Wenn das Herz spricht
Wie könnte ich jemals von dir lassen
Da war nur einer, der sie liebte
Alle waren gegen sie
Der lange Weg zum Glück
Die geborgte Braut
Ein Madl aus dem Wachnertal
Die kleine Kneipe war bis auf den letzten Platz besetzt. Rauchschwaden hingen in der Luft, auf einer kleinen Bühne jazzte eine Dreimann-Combo, und die Bedienungen hatten alle Hände voll zu tun. Dabei herrschte ein unglaublicher Lärmpegel in dem Raum, in dem Kerzen auf den Tischen brannten und die Gäste lebhaft diskutierten. Entweder weltpolitische Ereignisse oder ganz persönliche Probleme. Aber alles in allem war die Gastwirtschaft ›Beim Huber‹ ein gemütliches Lokal, und die meisten, die hier saßen, waren Stammgäste. Genauso, wie die beiden Madln, die am Tresen standen und sich unterhielten.
Franzi Lohringer warf nebenbei einen Blick auf die Uhr.
»Du, ich glaub’, wir müssen bald aufbrechen«, meinte sie. »Die letzte Straßenbahn fährt in zehn Minuten.«
Katharina Sonnenlechner seufzte und trank ihr Glas leer.
»Schad’«, sagte sie. »Aber du hast Recht. Morgen früh sollt’ ich wohl besser ausgeschlafen sein, wenn ich wieder nach Haus’ fahr’.«
Sie bezahlten ihre Rechnung und verließen das Lokal, das in einer Seitenstraße im Münchner Stadtteil Schwabing lag.
Draußen atmeten sie tief durch. Erst jetzt bemerkten die beiden Nichtraucherinnen, wie verqualmt es drinnen gewesen war.
»Eine herrliche Nacht«, schwärmte Franzi. »Eigentlich viel zu schad’, um schon schlafen zu gehn.«
Sie sah die Freundin an.
»Aber es stimmt natürlich, ausgeschlafen solltest’ schon haben, und der Zug wartet auch net.«
Kathie hängte sich ihre Tasche über die Schulter, und munter plaudernd gingen die zwei jungen Frauen die Gasse hoch. Bis zur Hauptstraße, wo auch die Straßenbahn hielt, waren es noch gut hundertfünfzig Meter.
»Finster hier«, meinte Kathie und spürte im selben Moment, wie jemand an dem Gurt ihrer Handtasche zog.
Es gab einen Ruck, dann hatte der Fremde die Tasche heruntergerissen und lief damit fort.
Im ersten Moment waren die beiden viel zu perplex, um reagieren zu können, doch dann stieß Kathie einen gellenden Schrei aus.
»Meine Handtasche! Der Kerl hat meine Handtasche gestohlen!«
Ratlos sah sie Franzi an.
»Was mach’ ich denn jetzt?« fragte sie. »Da ist doch alles drin: Ausweis, Geldbörse, die Scheckkarte. Sogar die Fahrkarte für morgen.«
»Los«, rief Franzi. »Wir müssen dem Kerl hinterher!«
Der hatte bereits einen beträchtlichen Vorsprung. Schon bald würde er die Kreuzung erreicht haben, und wenn er dann um die Ecke war, auf der Hauptstraße, mit den vielen Leuten – dann würde sie ihn bestimmt nicht mehr zu fassen bekommen.
»Haltet den Dieb!« rief Kathie, als sie eine Gestalt zwischen den parkenden Autos sah.
Sie deutete nach vorne, zu dem Mann, der mit ihrer Tasche davonlief.
Die Gestalt trat in den Lichtschein einer Straßenlaterne und entpuppte sich als ein junger Bursche. Er sah die beiden Madln fragend an.
»Der hat meine Tasche gestohlen«, rief Kathie Sonnenlechner noch einmal.
Der junge Mann begriff und spurtete dem dreisten Dieb hinterher. Der war gerade um die Ecke gebogen und übersah dabei einen großen Müllcontainer. Es gab einen lauten Knall, als er dagegen rannte, und einen Moment blieb er benommen stehen und rieb sich die Stirn.
»So, Bursche, das war’s dann wohl«, hörte er die Stimme seines Verfolgers, der hinter ihm stand und nach seinem Arm griff.
Der Dieb riß sich los, wand sich wie ein Aal und entwischte. Die Handtasche hatte der junge Mann indes festhalten und dem Kerl entreißen können.
Inzwischen waren die beiden Madln herangekommen. Kathie atmete erleichtert auf, als sie sah, daß ihre Tasche gerettet worden war.
»Ich weiß gar net, wie ich Ihnen danken soll, Herr...«, sagte sie.
»Wolfgang Bachmann«, stellte sich der tapfere Ritter vor. »Ist schon gut. Das war doch selbstverständlich.«
»Trotzdem vielen Dank. Ich heiß’ Katharina Sonnenlechner, das hier ist meine Freundin, Franzi Lohringer.«
»Angenehm«, nickte Wolfgang und strahlte die zwei jungen Frauen an. »Wie wär’s, gehn wir noch etwas trinken, auf diesen Schreck in der Abendstunde?«
Kathie zuckte die Schultern.
»Ich weiß net«, erwiderte sie. »Morgen, in der Früh’ geht mein Zug...«
»Ach komm«, meinte die Freundin, »dann nimmst’ eben einen später. Die Straßenbahn ist jetzt eh’ weg.«
Das hübsche Madl sah den gutaussehenden Mann an. Er hatte ihr sofort gefallen. Außerdem gehörte es sich wohl, daß sie sich erkenntlich zeigte und ihren Helfer zu etwas einlud.
»Also gut«, nickte sie »Ist ja auch egal, ob ich ein bissel später in Sankt Johann ankomm’.«
»Sankt Johann?« fragte Wolfgang Bachmann kurz darauf, als sie in einem Nachtcafé saßen. »Wo liegt denn das?«
»In den Bergen« erwiderte Kathie. »Es ist ein hübsches, kleines Dorf, net weit von der Grenze zu Österreich.«
Die drei jungen Leute saßen an einem runden Tisch, der in einer Ecke stand. Das Café war trotz der nächtlichen Stunde immer noch gut besucht, allerdings war hier längst nicht so viel Trubel wie ›Beim Huber‹.
Wolfgang hatte sich ein Weizenbier bestellt, während die beiden Madln Orangensaft tranken. Sie hatten sich schnell darauf geeinigt, sich zu duzen.
»Und was machst’ da, in die-
sem Sankt Johann? Urlaub vielleicht?«
»Nein«, schüttelte Kathie lachend den Kopf. »Ich wohn’ dort. Das Dorf ist mein Zuhaus’.«
»Und ich komm’ auch daher«, ließ sich Franzi vernehmen.
Und schon mußte sich Wolfgang die Vorzüge des kleinen Ortes in den Bergen anhören. Wie wunderschön es dort sei, und wie liebenswert die Menschen.
Die Unterhaltung wurde so intensiv geführt, daß sie gar nicht bemerkten, wie schnell die Zeit verging. Erst als die Bedienung kam und erkärte, daß man schließen wolle, schreckten sie auf.
»Tja, also dann«, meinte Wolfgang, als sie am Taxistand angekommen waren, »schöne Heimfahrt. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder.«
»Eher unwahrscheinlich«, erwiderte Kathie. »Franzi geht in der nächsten Woche aus München fort. Das war sozusagen unser Abschiedsabend.«
»Tatsächlich?« fragte der junge Mann.
Er schien sehr enttäuscht zu sein. Nicht so sehr, weil Franzi Lohringer München offenbar verließ, wie er jetzt erfuhr, sondern weil er Kathie nicht wiedersehen würde. Dabei hatte er so sehr darauf gehofft. Wie es ihm schien, hatte ihn das junge Madl, während sie im Café saßen, immer wieder beobachtet, und in den Blicken glaubte Wolfgang ein gewisses Interesse gesehen zu haben
»Ja, ich geh’ für zwei Jahre nach Frankreich«, erklärte die Freundin. »Als Au pair.«
Der Taxifahrer blickte ungeduldig auf seinen Wagen. Es war das einzige Taxi, das am Stand auf Fahrgäste wartete. Aus dem Lautsprecher seines Funkgerätes quietschte und schnarrte es.
»Wie steht’s, die Herrschaften?« fragte er. »Möchen S’ jetzt einsteigen? Sonst kann ich nämlich auch eine sehr schöne Tour über Funk annehmen.«
Die beiden Madln stiegen schnell ein.
»Wiedersehen, mach’s gut«, riefen sie durch das Seitenfenster.
Dann war das Taxi weggefahren. Wolfgang Bachmann blieb am Straßenrand stehen und schaute den roten Lichtern hinterher. Ihm wurde es schwer ums Herz, als er an die hübsche Kathie dachte.
»Und du weißt nix von ihr, nur den Namen«, murmelte er vor sich hin.
Doch als er langsam weiterging, fiel es ihm ein, daß sie in Sankt Johann wohnt.
Mochte der Himmel wissen, wo das lag!
*
Markus Brandtner deckte den Tisch auf der Terrasse. In der Küche stand Tina Berghofer und kochte Kaffee und Eier, und richtete eine Platte mit Aufschnitt an.
»Hallo, Schatz«, sagte der junge Zahnarzt, der erst vor ein paar Wochen seine Praxis in St. Johann eröffnet hatte, »bist’ soweit? Die Wiesingers können jeden Augenblick da sein.«
»Der Kaffee läuft gerade durch«, erwiderte die junge Frau, die ebenfalls Zahnmedizin studiert hatte. »Die Platte kannst’ schon auf den Tisch stellen.«
Markus deckte den Aufschnitt mit einer Folie ab, bevor er damit nach draußen ging. Er hatte gerade noch einmal überprüft, ob nichts fehlte, als es an der Haustür klingelte.
»Ich mach’ schon auf«, hörte er seine Verlobte sagen.
Kurz darauf traten Elena und Toni Wiesinger auf die Terrasse.
»Guten Morgen«, grüßten sie. »Herzlichen Dank für die Einladung zum Frühstück.«
Die Tierärztin schaute auf den gedeckten Tisch.
»Hmm, das schaut ja prächtig aus.«
»Na ja, es wurd’ ja mal Zeit, daß ich mich für eure Gastfreundschaft bedank’«, lächelte Markus und bat die Gäste, Platz zu nehmen.
Er eilte in die Küche und kehrte gleich darauf zusammen mit Tina zurück. Er trug die gekochten Frühstückseier, während die junge Zahnärztin den Kaffee brachte.
»So, laßt es euch schmecken«, forderte Markus sie zum Essen auf. »Ich hoff’, es wird ein gemütliches Frühstück.«
Der junge Zahnarzt spielte damit auf die Möglichkeit an, daß einer der beiden Gäste, entweder die Tierärztin, oder deren Mann, der parktischer Arzt in St. Johann
war, zu einem Notfall gerufen wurde.
In der Zeit vor der eigenen Praxiseröffnung hatte Markus Brandtner ein paar Tage bei den Wiesingers logiert, ehe sein Haus bezugsfertig war. In diesen Tagen hatte er oft genug erlebt, daß einer seiner beiden Gastgeber aus einer gemütlichen Runde herausgerufen wurde, weil entweder Toni oder Elena Notdienst hatte.
»Ach ja, hoffen wir das Beste« meinte Elena Wiesinger und streute etwas Salz auf ihr Frühstücksei. »Und ab morgen hat’s, zumindest bei mir, ein End’ damit. Vorläufig jedenfalls. Heut’, im Laufe des Tages, kommt der Herr Angerer an. Er wird bei mir seine Ausbildung vollenden.«
»Angerer?« fragte Tina Berghofer. »Heißt er etwa Thomas, mit Vornamen, und kommt er aus München?«
»Ja«, nickte die Tierärztin. »Kennst’ ihn etwa?«
»Ich glaub’ ja«, erwiderte Tina. »Wenn’s net nur eine zufällige Namensgleichheit ist. Der, den ich mein’, ist der Sohn unserer Nachbarin in München.«
»Na, das wird ja eine Überraschung, wenn er’s wirklich ist«, lachte Toni Wiesinger und sah Markus fragend an. »Sagt mal, wie steht’s denn eigentlich mit eurer Hochzeit? Noch nix geplant?«
»Doch«, nickte der Zahnarzt. »Allerdings ist’s net so einfach, die ganze Verwandschaft unter einen Hut zu bringen. Immerhin kommen so an die hundertzwanzig Leut’ zusammen.«
»Du lieber Himmel!« entfuhr es Elena, »wo wollt ihr die denn alle unterbringen?«
»Tja, das ist ein weiteres Problem«, meinte Tina. »Wir müssen nämlich einen Termin haben, wenn hier die Saison so langsam zu Ende geht. Ganz vorüber darf sie natürlich auch net sein, weil dann das Wetter net mehr mitspielt. Auf der anderen Seite brauchen wir viele Zimmer in den Pensionen, und die sind noch für Wochen ausgebucht. Frühestens Anfang Oktober ist was frei.
Na ja, ein paar bringen wir auch unter und Pfarrer Trenker hat uns angeboten, ebenfalls zwei Zimmer zur Verfügung zu stellen.«
»Also, die haben wir auch frei«, sagte Elena Wiesinger. »Selbst wenn der Herr Angerer bei uns wohnt. Das Haus ist groß genug.«
»Das ist lieb von euch«, freuten sich Tina und Markus.
Das gemeinsame Sonntagsfrühstück zog sich gut zwei Stunden hin, und natürlich stand die geplante Hochzeit im Vordergrund der Unterhaltung. Während die Frauen sich – wie konnte es anders sein! – über Hochzeitskleider unterhielten, sprachen die beiden Männer über den Ablauf der Feier. Wahrscheinlich würde man gezwungen sein, den Saal des Hotels ›Zum Löwen‹ zu mieten. Zwar war Markus Brandtner erst relativ kurze Zeit in St. Johann ansässig, doch hatte der Zahnarzt schon sehr an Beliebtheit bei den Dörflern gewonnen. Nicht wenige würden an der Hochzeit ›ihres Doktors‹ teilnehmen wollen und wären sehr enttäuscht, würden sie nicht eingeladen werden
»Himmel, wenn ich da noch an unsere Hochzeit denk’«, sagte Toni Wiesinger. »Das ganze Dorf war auf den Beinen und hat das ganze Wochenende gefeiert.«
»Das kommt auf euch auch zu«, meinte Elena. »Ich schlag’ vor, wir gründen eine Hochzeitsplanungsgesellschaft, damit auch ja nix schiefgeht dabei.«
»Eine gute Idee«, lachte Tina Berghofer, »und wir zwei bilden den Vorstand.«
Die Glocken von St. Johann riefen zur Sonntagsmesse. Die beiden Frauen räumten rasch den Tisch ab, dann gingen sie gemeinsam zur Kirche hinüber.
»Wann trifft der Thomas Angerer denn ein?« erkundigte sich Tina.
Die Tierärztin schaute auf die Uhr.
»Der müßt’ jetzt eigentlich im Zug sitzen«, antwortete sie. »So gegen halb eins holt Toni ihn von der Bahn ab.«
*
Kathie Sonnenlechner stand am Fenster ihres Abteils und schaute hinaus. Draußen stand Franzi und winkte ihr zu. Das junge Madl zog die Scheibe herunter.
»Schreib’ mir bloß, wenn du in Frankreich angekommen bist«, rief sie hinaus.
»Ganz bestimmt«, versicherte die Freundin und wischte sich eine Träne aus dem Auge.
Praktisch seit dem Kindergarten kannten sie sich, hatten in der Schule zusammengesessen und waren auch später nie getrennt gewesen. Zumindest so lange, bis Franzi aus St. Johann fortging, um in München Erzieherin zu werden. Aber auch dann hielten Kathie und Franzi Kontakt. Entweder kam die eine nach St. Johann, wo auch immer noch die Eltern lebten, oder die andere fuhr für ein Wochenende nach München, so wie auch dieses Mal, das allerdings für lange Zeit auch das letzte Mal gewesen sein dürfte, denn Franzi Lothringer hatte, nachdem sie lange warten mußte, endlich eine Stelle als Aupairmädchen bei einer französischen Familie gefunden.
Und da fuhr man nicht mal eben übers Wochenende hin, der Ort, Saint Pee sur Nivelle, lag an der französischen Atlantikküste, unterhalb der Pyrenäen, und bis nach Spanien war es nur ein Katzensprung.
»Ich glaub’, damit hab’ ich wirklich ein Glückslos gezogen«, hatte Franzi noch am Vorabend gejubelt. »Schließlich werd’ ich da arbeiten, wo andere Leute Urlaub machen. Besser kann’s mir wohl net gehn.«
Und trotz der Freude auf das, was sie in der Fremde erwartete, schmerzte der Abschied doch sehr.
»Und paß auf dich auf«, schniefte Kathie. »Ich werd’ dich vermissen!«
»Ich dich auch«, rief Franzi zurück und zog ein Taschentuch zum Winken hervor.
Der Zug hatte sich ruckelnd in Bewegung gesetzt. Hinter Kathie öffnete sich die Abteiltür, doch sie achtete nicht darauf, sondern schaute auf die immer kleiner werdende Gestalt ihrer Freundin, die winkend auf dem Bahnsteig stand und das Taschentuch schwenkte. Erst als Franzi nicht mehr zu sehen war, schloß Kathie das Fenster und drehte sich um.
»Grüß Gott«, sagte der junge Mann freundlich lächelnd, der zu ihr in das Abteil gekommen war.
Er hatte seinen Koffer in das Gepäcknetz gewuchtet und sich gesetzt. Kathie nahm ebenfalls Platz und erwiderte den Gruß.
»Abschied schmerzt immer, was?« meinte der Mann.
Offenbar hatte er ihre Tränen bemerkt.
»Ja, vor allem, wenn man sich lange Zeit net sehn wird«, nickte das Madl. »Meine Freundin, der ich eben gewunken hab’, geht für zwei Jahre nach Frankreich.«
Sie lächelte.
»Tja, und ich kehr’ nach Sankt Johann zurück, in mein kleines Dorf.«
Der junge Mann beugte sich interessiert vor.
»Sagten S’ wirklich Sankt Johann?« vergewisserte er sich. »Na, so ein Zufall. Da fahr’ ich auch hin.«
Er deutete im Sitzen eine Verbeugung an.
»Gestatten – Thomas Angerer. Ich fang’ in der Praxis von Frau Doktor Wiesinger an. Die kennen S’ doch sicher?«
»Kathie Sonnenlechner«, antwortete sie. »Freilich kenn’ ich die Frau Doktor. Dann sind S’ also Tierarzt?«
»Na ja, wie man’s nimmt. Ich hab’ mein Studium gerad’ fertig. Eigentlich wollt’ ich als Praktikant in einer großen Münchner Tierklinik anfangen. Aber leider gab’s mehr Bewerber, als Stellen zur Verfügung standen. Immerhin hatte ich Glück im Unglück. Der Laborchef verwies mich an die Frau Doktor, die er wohl von ihrer früheren Tätigkeit dort kennt. Ja und so hat’s sich ergeben, daß ich in der Praxis Wiesinger untergekommen bin.«
Er beugte sich zurück.
»Und wenn ich’s mir recht überleg’, dann scheint’s keine schlechte Wahl zu sein. Zum einem mag’ ich die Berge und zum andren...«
Er sprach nicht weiter, schaute Kathie nur versonnen an und lächelte.
Das junge Madl schmunzelte innerlich.
Hoppla, dachte Kathie Sonnenlechner, flirtet der etwa mit mir?
Sein träumerischer Blick sprach jedenfalls Bände.
Sie betrachtete ihren Mitreisenden genauer. Fesch schaute er aus, der Bursche. So einer konnte einem Madl schon gefallen.
Allerdings – seit sie am Morgen aufgewacht war, konnte Kathie nur noch an ihren tapferen Ritter denken, der in der Nacht zuvor dem Dieb die Tasche wieder abgejagt hatte.
Wolfgang Bachmann!
Der Name wollte ihr gar nicht mehr aus dem Sinn gehen, und ständig sah sie dieses markante Gesicht, mit dem sympathischen Lächeln.
»Wie ist’s denn so in Sankt Johann?«
Die Stimme des Tierarztes riß sie aus ihren Gedanken.
»Wunderschön«, schwärmte sie.
Und ähnlich, wie schon Wolfgang Bachmann in dem Café, bekam jetzt auch Thomas Angerer zu hören, was für ein wundervoller Ort das Bergdorf sei.
»Wissen S’, bei uns, da halten die Menschen noch zusammen«, erklärte Kathie Sonnenlechner. »Man hilft sich und ist für den anderen da, wenn mal Not am Mann ist. Wenn da zwei heiraten, wird oft das ganze Dorf eingeladen, und Samstagabends vergnügt man sich beim Tanz im Wirtshaus.«
»Das hört sich doch alles prima an«, meinte Thomas Angerer. »Ich bin sicher, daß es mir da gefallen wird.«
Er sah Kathie fragend an.
»Wie stehn denn die Chancen, daß Sie und ich uns auf einem der Tanzabende sehn?«
Unverhohlene Hoffnung klang aus seiner Frage.
Das Madl holte tief Luft. Sie hatte bisher kaum einen Samstagbend versäumt, zum Tanzen zu gehen. Es gehörte zu Kathies Leben, seit sie Achtzehn geworden war.
»Ich denk’, daß es sich schon ergeben wird«, antwortete sie.
»Fein«, freute er sich. »Mir gefällt’s jetzt schon in Sankt Johann...«
*
Die beiden Reisenden unterhielten sich so gut, daß sie kaum bemerkten, wie schnell die Zeit verrann. Ehe sie sich versahen, hielt der Zug auf dem Bahnhof der Kreissstadt an.
»Doktor Wiesinger holt mich ab«, erklärte Thomas Angerer. »Da können S’ doch gleich mitfahren.«
Kathie brauchte nicht lange zu überlegen, ob sie die Einladung annehmen sollte. Der nächste Bus fuhr erst in einer guten Stunde. Wenn sie mit Dr. Wiesinger fuhr, brauchte sie nicht so lange zu warten.
Ursprünglich hatte ihr Vater sie abholen wollen, doch nachdem feststand, daß sie den ersten Zug nicht nehmen würde, hatte sie am Morgen zu Hause angerufen und Bescheid gesagt, daß sie später käme. Da die Eltern am Nachmittag einen Verwandtenbesuch in Engelsbach geplant hatten, wollte Kathie den Bus nehmen. Jetzt war sie dankbar, daß es auch noch eine andere Möglichkeit gab, um nach St. Johann zu kommen.
Thomas Angerer hatte seinen Koffer und ihre Reisetasche aus dem Gepäcknetz geholt. Jetzt trug er beide Gepäckstücke hinaus auf den Gang und weiter bis zum Ausgang. Der Zug hatte angehalten, und die Reisenden stiegen aus. Thomas sah sich suchend um.
»Dort steht Doktor Wiesinger«, rief Kathie und deutete auf den Arzt, der auf dem Bahnsteig stand und die Reisenden beobachtete.
Das Madl hob eine Hand und winkte.
»Hallo, Herr Doktor, ich hab’ Ihnen jemanden mitgebracht.«
Toni lächelte.
»Grüß Gott, Fräulein Sonnenlechner«, sagte er und reichte ihr die Hand. »Sind S’ zusammen im Zug gefahren?«
»Ja, ganz zufällig. Der Herr Angerer meinte, ich könnt’ vielleicht zusammen mit Ihnen zurückfahren? Wissen S’, der Bus geht erst in einer Stund’.«
»Na freilich«, nickte der Arzt und reichte dem Praktikanten seiner Frau die Hand. »Toni Wiesinger. Herzlich willkommen, Herr Angerer.«
»Danke schön«, nickte der Tierarzt. »Tja, das hat ja wunderbar geklappt.«
Er warf einen Blick auf Kathie.
»Vor allem, daß die Reise in so angenehmer Gesellschaft verläuft, damit hatte ich ja nun überhaupt net gerechnet.«
Dr. Wiesinger entging dieser Blick nicht. Allerdings äußerte er sich nicht weiter dazu.
»Dann woll’n wir mal zum Auto gehn«, sagte er stattdessen und ließ es sich nicht nehmen, Kathies Reisetasche zu tragen.
Auf der Fahrt nach St. Johann, erklärten Toni und Kathie dem Tierarzt die Sehenswürdigkeiten, die es unterwegs zu sehen gab.
»Schaun S’, da sind schon der ›Himmelspitz‹ und die ›Wintermaid‹«, rief Kathie und deutete auf den Zwillingsgipfel, dessen Spitzen im Blau des Himmels verschwanden.
»Und das da ist der Kogler«, zeigte der Arzt auf einen anderen Berg. »Dahinter ist schon Österreich.«
Thomas Angerer sah sich das alles an und nickte.
»Herrliche Gegend. Ich werd’ mich hier bestimmt wohlfühlen«, meinte er.
»Warten S’ nur, bis Sie mit meiner Frau zu den Höfen fahren«, sagte Toni Wiesinger. »Da lernen S’ das Wachnertal noch besser kennen.«
Er wandte sich zu dem Tierarzt um, der auf dem Rücksitz Platz genommen hatte.
»Übrigens – meine Frau hat für heut’ Abend ein paar Leute eingeladen. Keine große Gesellschaft, nur die Nachbarn und unseren Pfarrer, mit seinem Bruder.«
»Der Nachbar vom Herrn Doktor ist unser neuer Zahnarzt«, erzählte Kathie Sonnenlechner.
»Ja, und stellen S’ sich vor, seine Verlobte glaubt, daß sie Sie kennt. Von früher her«, sagte Toni Wiesinger.
»Wirklich?« staunte Thomas. »Das wär’ aber ein Zufall. Wie heißt sie denn?«
»Christina Berghofer.«
»Tina? Das gibt’s doch gar net«, lachte der Tierarzt. »Die Tochter unsres Nachbarn. Hoffentlich nimmt sie’s mir heut’ net mehr übel, daß ich sie früher immer an den Zöpfen gezogen hab’.«
»Das glaub’ ich net«, schmunzelte Toni. »Und Zöpfe trägt sie jetzt net mehr, die hat sie schon lang’ abgeschnitten.«
Der Arzt deutete nach vorn, wo die ersten Häuser des Dorfes auftauchten.
»So, wir sind da.«
Thomas Angerer schaute sich neugierig um.
»Hübsch«, nickte er.
Und was er sah, gefiel ihm wirklich. Die Häuser mit ihren typischen Lüftlmalereien, die schöne Kirche und einige zünftig angezogene Menschen, die garantiert hier zu Hause waren.
Dazwischen zahllose Männer und Frauen, denen man schon von weitem ansah, daß sie in St. Johann Urlaub machten.
»Sie können mich gleich hier aussteigen lassen«, sagte Kathie an Dr. Wiesinger gewandt.
Der Arzt hielt am Straßenrand, und das Madl stieg aus.
»Nochmals vielen Dank fürs Mitnehmen.«
»Ist schon recht«, nickte Toni Wiesinger, während der Tierarzt die Tür öffnete und die Reisetasche hinausreichte.
»Also, auf bald mal«, sagte er und lächelte Kathie an. »Spätestens am Samstag beim Tanz.«
Kathie lächelte.
»Mal schaun«, gab sie zurück und nahm ihre Tasche auf.
Während der Wagen des Arztes weiterfuhr, sah sie durch die Heckscheibe den Tierarzt, er winkte ihr zu. Sie hob den Arm und grüßte zurück, doch während sie das Gesicht betrachtete, wurde ihr bewußt, daß sie die ganze Zeit, eigentlich seit dem Aufstehen, nur an Wolfgang Bachmann gedacht hatte.
Kathie ging langsam die Straße hinunter. Bis zum Haus ihrer Eltern war es nicht mehr weit. Sie seufzte.
Schade, ging es ihr durch den Kopf, ich werd’ ihn wohl net wiedersehen, meinen tapferen Ritter.
*
Wolfgang wurde durch ein durchdringendes Klingeln an der Wohnungstür geweckt. Es schien, als habe jemand seinen Finger auf dem Knopf und dächte überhaupt nicht daran, ihn wieder herunterzunehmen.
Der junge Student wälzte sich aus dem Bett, schlüpfte in seinen Bademantel und ging über den Flur zur Tür.
»Auch das noch!« entfuhr es ihm, als er durch den ›Spion‹ schaute und erkannte, wer da draußen stand.
Indes schellte es immer noch, und die Klingel machte einen höllischen Lärm in der frühen Morgenstunde. Wolfgang warf einen besorgten Blick zu den Zimmern, in denen seine Mitbewohner noch schliefen und öffnete die Tür.
»Bist’ narrisch geworden?« zischte er das Madl an, das vor ihm stand und ihn anlächelte. »Du weckst ja alle auf!«
»Guten Morgen, Wolfgang«, flötete Ines Raitmayr und hielt ihm eine Papiertüte entgegen. »Schau’, ich hab’ uns frische Semmeln mitgebracht.«
Damit schob sie sich an ihm vorbei und ging in die große Küche, die von den drei Studenten, die die Wohnung gemietet hatten, gemeinsam benutzt wurde.
»Ich mach’ uns Frühstück.«
Wolfgang Bachmann stöhnte.
»Aber bitte net so laut«, bat er. »Ich geh’ duschen.«
Während das Wasser auf ihn herunterprasselte, dachte er an das Erlebnis in der letzten Nacht. Einen dreisten Taschenräuber hatte er gestellt.
Na ja, zumindest beinahe. Aber immerhin hatte er ihm die Beute wieder abnehmen können. Und dabei hatte er dann auch noch das bezauberndste Madl kennengelernt, das ihm je über den Weg gelaufen war.
Wolfgang rasierte sich.
»Bist verliebt, was?« murmelte er seinem Spiegelbild zu. »Ist ja auch schon eine Klassefrau, die Kathie. Gar kein Vergleich zu der Ines.«
Dabei fiel ihm ein, daß ausgerechnet die in der Studentenküche stand und das Sonntagsfrühstück zubereitete...
»Was wollte sie nur?«
»Eine überflüssige Frage«, redete er im Selbstgespräch weiter. »Natürlich will sie alles rückgängig machen, den Streit, die Trennung. Aber diesmal ist’s endgültig. Wirklich! Wir haben ja schon oft Schluß gemacht, aber irgendwie scheint das für die Ines immer nur ein lustiges Spiel gewesen zu sein.«
Der Student betrachtete kritisch sein Gesicht.
»Es stimmt schon, ich hab’ sie mal geliebt. War ja auch ein liebes Madl, damals, als wir uns kennengelernt haben, und es hat ja keiner ahnen können, daß es mal so weit mit uns kommt.«
Er seufzte, während er an die Zeit zurückdachte...
Der Student der Wirtschaftswissenschaften und die Tochter eines Münchner Unternehmer hatten sich auf einer Party kennengelernt. Es mußte wohl so etwas wie Liebe auf den ersten Blick gewesen sein, denn seit diesem Abend waren Ines Raitmayr und Wolfgang Bachmann unzertrennlich gewesen, für zwei lange Jahre.
Allerdings herrschte in dieser Zeit nicht nur eitel Sonnenschein in ihrer Beziehung. Wolfgang, der schon bald im Hause Raitmayr ein- und aus ging, blieb es nicht verborgen, daß die lebenslustige Ines es mit der Treue nicht immer so genau nahm. Wenn er sie zur Rede stellte, tat sie das Ganze mit einem Lächeln ab und versicherte ihm, daß sie nur ihn liebe.
Nur zu gerne glaubte er ihr, denn auf ihre Art war Ines ein durch und durch reizendes Madl. Doch ihre Beteuerungen erwiesen sich schon bald als ›Beruhigungspillen‹, wie Wolfgang es nannte, die sie ihm zuwarf, damit er die Augen verschloß und nicht sah, was sie wirklich trieb.
Schließlich zog er die Konsequenzen und beendete die Beziehung. Es gab eine sehr lange Aussprache, an deren Ende feststand, daß Wolfgang Ines’ Eskapaden nicht mehr länger mitmachen würde, auch wenn sie noch so sehr unter Tränen beteuerte, sie wolle sich ändern. Der Student kannte sie zu gut und wußte, daß es nur leere Versprechungen waren.
Als Wolfgang Bachmann aus dem Bad in sein Zimmer kam, hatte Ines schon aufgeräumt, das Bett gemacht und die Sachen, die er am Vortag getragen hatte, in die Wäschetonne getan. Der kleine Tisch am Fenster war gedeckt, und neben dem Kaffee, Wurst und Käse standen zwei gekochte Eier darauf. In einer kleinen Vase leuchtete ein Blumenstrauß. Offenbar war Ines im Garten gewesen und hatte ihn gepflückt.
»Setz’ dich«, forderte sie ihn auf und schenkte Kaffee ein.
Wolfgang holte tief Luft und setzte sich auf den Stuhl. Doch statt sich das Frühstück schmecken zu lassen, sah er das Madl fragend an.
»Ines, was soll das?«
Sie begegnete ihm mit einem ebenfalls fragenden Blick.
»Was meinst’ denn?«
Der Student runzelte die Stirn.
»Himmel, tu’ net so! Du weißt genau, was ich mein’! Warum kommst du in aller Herrgottsfrühe hierher, machst einen Heidenlärm und tust so, als wär’ sonst alles in Butter?«
Er dachte an seine beiden Mitbewohner, die von dem lauten Klingeln, zum Glück, nicht wachgeworden waren. Rolf Drittler und Eberhard Langner schienen wirklich nichts mitbekommen zu haben. Allerdings würden sie auch kein Verständnis dafür haben, Ines Raitmayr hier zu sehen, nachdem sie das ganze Drama um die Auseinandersetzung und Trennung miterlebt hatten.
Das junge Madl nahm sich seelenruhige eine Semmel und schnitt sie auf.
»Habt ihr wieder durchgemacht?« erkundigte sie sich, während sie Butter auf die Semmel strich, als wäre es die ganz normalste Sache von der Welt. »Wie spät ist’s denn geworden?«
Wolfgang trank einen Schluck Kaffee.
»Ich weiß net, wann die beiden nach Haus’ gekommen sind«, erwiderte er. »Aber ich war erst so gegen vier Uhr im Bett und deshalb find’ ich’s net witzig, daß du hier in aller Herrgottsfrühe aufkreuzt und mit mir frühstücken willst. So, als wär’ überhaupt nix geschehn.«
Ines lächelte zuckersüß.
»Ach, Schatzl«, sagte sie, »sei doch net so bös’. Du weißt doch, daß ich ein spontaner Mensch bin, und als ich heut’ morgen von Corinnas Party kam, da hab’ ich mir gedacht, ich überrasch’ dich mit frischen Semmeln. Eigentlich hab’ ich gehofft, daß du dich freust. Ich konnt’ ja net ahnen, daß du selbst unterwegs warst.«
So ähnlich hatte es sich Wolfgang schon gedacht. Er kannte Ines zu gut, um zu glauben, daß sie schon so früh aufgestanden wäre. Sie war gar nicht erst ins Bett gegangen.
»Wo warst’ denn?« wollte sie wissen. »Hast’ jemanden getroffen?«
»Niemanden, den du kennst«, schüttelte er den Kopf.
»Aber sonst schon?«
Er zuckte die Schultern. Ines sah ihn argwöhnisch an. Sie hatte den Eindruck, daß er ihr nicht sagen wollte, mit wem er unterwegs war.
»Nun komm, iß was«, forderte sie ihn auf, ohne weiter auf das Thema einzugehen. »Und dann hab’ ich eine Überraschung für dich. Meine Eltern laden dich zum Mittagessen ein. Vater möchte etwas mit dir besprechen.«
Wolfgang Bachmann zog die rechte Augenbraue hoch.
»Dein Vater? Um was geht’s denn?«
»Sag’ ich net«, lächelte sie. »Noch eine Überraschung.«
*
Ob er wollte oder nicht, Wolfgang mußte wohl mitgehen. Auch wenn die Beziehung zwischen ihm und Ines beendet war, zu ihren Eltern, und besonders dem Vater, hatte er immer noch einen guten Kontakt. Walter Raitmayr hatte mehr als einmal durchblicken lassen, wie sehr er es bedauerte, Wolfgang nicht zum Schwiegersohn zu bekommen. Auch wenn der junge Student öfter mal Fünfe gerade sein ließ und die ein oder andere Vorlesung schwänzte, so nahm er das Studium an sich schon ernst. Wenn er etwas versäumt hatte, paukte er eben solange, bis er den Stoff nachgeholt hatte. Ines’ Vater wußte diesen Eifer anzuerkennen und deutete mehrfach an, daß er solch einen Mann in seiner Firma gebrauchen könne.
»Werden S’ erst einmal fertig mit dem Studium, dann kommen S’ zu mir«, waren seine Worte gewesen, die durchaus ernstgemeint waren.
Schließlich wußte der Unternehmer, daß er mit seiner leichtlebigen Tochter keine besonders qualifizierte Nachfolgerin hatte. Auch Ines war es klar, daß sie es nicht sein würde, die das Lebenswerk ihres Vaters weiterführte. Dazu hatte sie indes auch gar keine Lust. Ihr kam es darauf an, jeden Monat über einen üppig ausgestellten Scheck zu verfügen, der es ihr ermöglichte, sich das Leben so angenehm wie möglich zu gestalten.
»Ich nehm’ meinen Wagen«, hatte Wolfgang erklärt und war noch am Bahnhof vorbeigefahren, um einen Blumenstrauß zu kaufen.
Zum einen war es ihm wirklich ein Bedürfnis, Erika Raitmayr ein paar Blumen mitzubringen, zum anderen wollte er nicht darauf angewiesen sein, von Ines wieder nach Hause gefahren zu werden. Mochte der Himmel wissen, was sie sich dann wieder alles einfallen ließ, um ihn zurückzuhalten! Oder bei ihm zu bleiben...
Die Villa der Raitmayrs stand im vornehmen Stadtteil Bogenhausen. Ein Hausmädchen nahm Wolfgang die Jacke und das Papier ab, in dem der Strauß eingewickelt gewesen war. Dann kam Walter Raitmayr auch schon die Treppe herunter.
»Wolfgang«, begrüßte er den Studenten, mit ausgebreiteten Armen, »schön, daß Sie uns’rer Einladung gefolgt sind. Wie geht’s Ihnen? Was macht das Studium?«
»Beides gut«, erwiderte Wolfgang Bachmann. »Danke der Nachfrage.«
»Schön«, nickte Ines Vater und schlug den Weg ins Eßzimmer ein. »Einen kleinen Apperitif vorweg?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er an die Bar und nahm eine Sherryflasche heraus. Während er einschenkte, hörte Wolfgang die Tür gehen und drehte sich um.
»Ach, Wolfgang, die schönen Blumen«, freute sich Erika Raitmayr. »Sie hätten sich doch net so in Unkosten stürzen müssen.«
Sie umarmte den jungen Mann, der beinahe ihr Schwiegersohn geworden wäre.
»Das hab’ ich doch gern’ gemacht«, versicherte der Student und nahm das Glas entgegen, das Ines’ Vater ihm reichte.
»Zum Wohl, mein Lieber«, prostete er ihm zu und schaute fragend seine Frau an. »Wo bleibt denn Ines?«
»Ach, die wird schon gleich da sein«, beruhigte sie ihn und gab dem Hausmädchen ein Zeichen. »Wir warten noch einen Moment.«
»Aber wir setzen und schon«, meinte Walter Raitmayr uns deutete auf den gedeckten Tisch. »Kommen S’, Wolfgang, erzählen S’ ein bissel, was Sie so treiben.«
»Ach, da gibt’s eigentlich net viel zu erzähln«, erwiderte der Student schulterzuckend. »Ich hab’ in den letzten Wochen richtig hart gearbeitet. Ab Donnerstag sind Semesterferien, ich überleg’, ob ich net für ein paar Tag’ wegfahren soll.«
Die Idee war ihm ganz spontan gekommen, als er auf dem Weg hierher war. Und natürlich hatte er dabei ein ganz bestimmtes Reiseziel im Auge...
»Ach, das könnt’ ich auch gut gebrauchen«, nickte der Unternehmer. »Ein bissel ausspannen, mal was andres sehn, als nur die Firma.«
»Hallo, zusammen«, rief Ines, als sie hereinstürmte und das Gespräch unterbrach. »Da bin ich. Was gibt’s denn zu essen? Hoffentlich net so einen fetten Braten!«
Sie nahm Platz und übersah dabei den tadelnden Blick ihrer Mutter.
»Frau Meerswanger wird dir bestimmt einen Salat zubereitet haben«, sagte Erika Raitmayr.
Der Hausherr stand auf und kümmerte sich um den Wein, während die Suppe aufgetragen wurde. Während des Essens drehte sich die Unterhaltung um belanglose Themen. Als Hauptgang wurde tatsächlich ein Braten serviert, allerdings längst nicht so fett, wie Ines befürchtet hatte. Nichtsdestotrotz hatte die Köchin ihr wirklich einen Salat angerichtet.
Nach dem Essen zündete sich Walter Raitmayr eine Zigarre an und bat Wolfgang mit hinaus in den Garten. Sie spazierten am Haus entlang und bewunderten die mannshohen Büsche.
»Herrlich, die Rhododendren, net war?« fragte der Unternehmer. »Hat aber auch gedauert, bis sie soweit waren.«
Wolfgang Bachmann nickte und war dabei mit seinen Gedanken ganz woanders. So jovial, wie Ines’ Vater sich ihm gegenüber auch gab, der Student wußte, daß Walter Raitmayr nichts ohne Überlegung tat, und er fragte sich, wann der Mann auf den eigentlichen Grund seiner Einladung zu sprechen käme?
Allerdings sollte er nicht lange warten müssen.
»Wolfgang, Sie wissen, daß ich Sie sehr schätze«, begann der Unternehmer das Gespräch. »Und wenn’s auch net geklappt hat, zwischen Ihnen und der Ines, so sollen Sie doch wissen, daß für Sie immer ein Platz in meiner Firma frei sein wird. Ein halbes Jahr noch, dann sind Sie mit ihrem Studium fertig. Bestimmt haben Sie sich schon darüber Gedanken gemacht, wie’s dann weitergehen soll.«
Er sah den Studenten neugierig an.
»Haben S’ sich gar vielleicht schon irgendwo beworben?«
»Nein«, schüttelte der Beinaheschwiegersohn den Kopf. »Bisher net. Aber es stimmt natürlich, daß ich darüber nachdenken muß, was nach dem Studium passieren soll. Ich wollt’ mir während des Urlaubs darüber Gedanken machen.«
Walter Raitmayr schürzte die Lippen.
»Und, bei mir einzusteigen, könnten S’ sich net vorstellen?« fragte er.
Wolfgang holte tief Luft. Er hatte beinahe schon so ein Angebot erwartet.
Ines’ Vater legte seinen Arm um die Schulter des Studenten.
»Hören S’, Wolfgang, ich will Sie net drängen«, sagte er. »Allein schon angesichts der Tatsache, daß Sie und Ines..., na ja, lassen wir das. Aber ich denk’, daß es mit euch zweien auseinander gegangen ist, sollte Ihre Entscheidung net beeinflussen. Mein Prokurist, der Herr Winkler, der geht in einem Jahr in Pension. Sie wären der geeignete Kandidat für die Nachfolge. Wenn S’ gleich nach dem Studium anfangen, dann haben Sie sich bis zur Pensionierung des Herrn Winkler eingearbeitet.«
Er sah den jungen Mann, den er so sehr schätzte, erwartungsvoll an.
»Nun, was halten Sie von meinem Vorschlag?« fragte er.
Wolfgang Bachmann erwiderte den Blick.
»Ich werd’s mir überlegen«, versprach er.
»Das ist gut«, nickte Walter Raitmayr. »Ich denk’, daß Sie keine schlechte Wahl treffen, wenn S’ sich dafür entscheiden«
Die beiden Männer gingen langsam zum Haus zurück. Daß sie dabei beobachtet wurden, ahnte Wolfgang nicht.
Oben unter dem Dach hatte Ines ihre kleine Wohnung. Sie stand am Fenster und schaute zu Wolfgang und ihrem Vater hinunter. Als sie die beiden dort unten gehen sah, glitt ein zufriedenes Lächeln über ihre Lippen.
Es schien geklappt zu haben, so, wie sie es sich vorstellte. Ihr Vater konnte ihr eben keinen Wunsch abschlagen.
*
Thomas Angerer betrat das Eßzimmer der Wiesingers und sofort erkannte er die junge Frau wieder, die am Tisch saß und ihn lächelnd anschaute.
»Tina! Das gibt’s doch net«, rief der junge Tierarzt aus.
Christina Berghofer war aufgesprungen, die beiden umarmten sich.
»Ich wollt’s net glauben, als der Doktor auf der Fahrt hierher von dir erzählte.«
»Da kannst’ mal sehn, wie klein die Welt ist«, lachte sie.
Thomas schaute auf den jungen Mann, der neben Tina saß.
»Und das ist der Grund, warum’s dich nach Sankt Johann verschlagen hat?«
Er reichte Markus Brandtner die Hand.
»Grüß Gott, ich bin der Thomas, ein früherer Bekannter von Tina.«
»Ich weiß«, nickte der Zahnarzt und schüttelte die Hand. »Sie hat mir schon von Ihnen erzählt. Mein Name ist Markus Brandtner.«
Toni Wiesinger kümmerte sich um die Getränke, während seine Frau an die Tür eilte. Es hatte soeben geklingelt.
»Erzähl«, forderte Tina den früheren Nachbarn auf. »Wie ist’s dir ergangen? Wir haben uns ja lang’ net gesehn. Deine Eltern wohnen aber immer noch in dem Haus, oder?«
»Ja«, nickte Thomas, »allerdings war ich schon lang’ net mehr dort. Das letzte Jahr des Studiums war doch ganz schön anstrengend. Meist’ haben sie mich besucht.«
Neuer Besuch wurde von Elena Wiesinger hereingeführt. Tina nickte Thomas zu.
»Ich denk’, wir finden schon eine Gelegenheit, uns ausführlich zu unterhalten«, meinte sie. »Da kommt Pfarrer Trenker, den mußt du unbedingt kennenlernen.«
Sebastian war der Einladung der Wiesingers gerne gefolgt. Zum einen mochte er das Ehepaar, zum anderen war er natürlich neugierig darauf, den jungen Mann kennenzulernen, der für ein paar Monate als Praktikant der Tierärztin in St. Johann leben würde.
»Herzlich willkommen«, begrüßte er Thomas Angerer. »Ich hoff’, daß Sie sich bei uns wohlfühlen werden.«
»Danke schön, Hochwürden«, erwiderte der Tierarzt. »So herzlich, wie ich empfangen wurde, kann’s mir nur gefallen.«
Elena bat zu Tisch, und Thomas nahm neben Tina Platz. Neben ihm saß Sebastian Trenker, so daß er zwei Nachbarn hatte, mit denen er sich abwechselnd unterhielt.
Der junge Tierarzt erzählte von seinem Studium und dem Wunsch, sich in der großen Tierklinik weiterzubilden.
»Allerdings bin ich jetzt gar net mehr traurig, daß es da net geklappt hat«, bekannte er. »Inzwischen weiß ich ja, daß ich mit Frau Doktor Wiesinger eine erstklassige Lehrerin bekommen hab’.«
Elena lächelte. Sie wußte, daß Thomas Angerer damit auf ihre frühere Rolle als Assistentin des Laborchefs anspielte, die sie in der Münchner Tierklinik inne gehabt hatte. Damals war sie maßgeblich an der Entwicklung eines neuen Präparats beteiligt gewesen, und nach diesem Erfolg hätte ihr eine große Karriere bevorgestanden. Die junge Ärztin zog es allerdings vor, in St. Johann die Praxis des alten Dr. Hardlingers zu übernehmen, der sich zur Ruhe setzen wollte.
Daß sie dabei auch noch ihr persönliches Glück finden würde, ahnte sie da natürlich noch nicht.
Sebastian Trenker wandte sich an Markus und Tina.
»Wie weit seid ihr denn?« erkundigte er sich. »Habt ihr jetzt einen Termin für die Hochzeit?«
»So wie’s ausschaut wird’s erst was Anfang Oktober«, erklärte der Zahnarzt. »Vorher bekommen wir net genügend Zimmer zusammen, weil noch alles ausgebucht ist.«
»Ach, ich denk’, daß wir dann auch noch schöne Tage haben werden«, meinte der Bergpfarrer zuversichtlich. »Und mein Angebot, betreffend der Zimmer, steht natürlich.«
Das Abendessen neigte sich allmählich seinem Ende zu. Elena hob die Tafel auf und man setzte sich zwanglos zusammen und unterhielt sich.
Thomas Angerer schaute nachdenklich in sein Glas, das er in den Händen hielt.
Nein, überlegte er, ich glaub’ net, daß ich den Schritt, das Angebot hierher zu kommen, bereuen muß. Die Menschen sind so herzlich, wie ich’s gar net erwartet hab’, und daß ich Tina getroffen hab’, ist ja fast so etwas, wie ein Stück Heimat wiedergesehn zu haben.
Außerdem..., irgendwo hier wohnt das bezauberndste Madl, das mir je begegnet ist, und wenn ich nur an die Kathie denk’, klopft mir das Herz bis zum Hals hinauf.
»Ich möcht’ mich noch einmal für diesen herzlichen Empfang bedanken«, sagte er an die Runde gewandt. »Es wird bestimmt eine gute Zusammenarbeit werden, und die Zeit hier wird sicher in positiver Erinnerung bleiben, wenn ich später einmal woanders sein werd’. Doch ich will net schon von Abschied sprechen, wo ich grad’ erst angekommen bin.«
Er hob sein Glas.
»Also, auf gute Zusammenarbeit, Frau Doktor, und auf eine schöne Zeit.«
Die anderen prosteten ihm zu.
»Alles Gute für den ersten Arbeitstag morgen«, sagte Sebastian Trenker, als er sich später verabschiedete. »Und wenn’s mal irgend ein Problem geben sollte, und Sie net weiterwissen, dann kommen S’ ruhig zu mir ins Pfarrhaus. Ich helf’, so gut ich kann.«
Der junge Tierarzt nickte und bedankte sich. Thomas glaubte zu wissen, daß er mit Pfarrer Trenker einen außergewöhnlichen Menschen kennengelernt hatte. Nicht nur, daß der Geistliche rein äußerlich nicht dem Bild entsprach, das man gemeinhin von einem Landpfarrer hatte, auch die Art, in der er auf jemanden zuging und ihn ansprach machte es dem Betreffenden leicht, sich ihm zu öffnen.
Als er später in seinem Bett lag, da schaute Thomas Angerer versonnen ins Dunkel. Ein ereignisreicher Tag lag hinter ihm. Nicht nur, daß ein neuer Lebensabschnitt begonnen hatte. Er glaubte zu spüren, daß sein Aufenthalt in St. Johann schicksalshaft für seinen weiteren Lebensweg sein würde, und in diesem Gedanken spielte Kathie Sonnenlechner eine recht große Rolle...
Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen drehte Thomas sich auf die Seite und schlief bald darauf selig ein.
*
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als Sebastian Trenker das Pfarrhaus verließ. In Wanderkleidung, den Rucksack übergeschnallt, schritt er den Kiesweg hinunter zur Straße und hatte schon bald darauf das Dorf hinter sich gelassen.
Es war schon einige Zeit her, daß er eine Bergtour unternommen hatte, und noch länger, daß er zur Jenneralm aufgestiegen war. Darum hatte er sich den Besuch bei der Sennerin und ihrer Familie für heute vorgenommen.
Der Geistliche kam gut voran, zwei Stunden später schob sich die Sonne über den Horizont, und Sebastian hatte eine Stelle gefunden, an der er eine Rast einlegen wollte.
Von hier oben hatte er einen herrlichen Blick ins Tal. Noch war alles ruhig, bis auf die Geräusche der Natur, und sanfte Nebel stiegen von taubenetzten Almwiesen auf.
Der gute Hirte von St. Johann hatte seinen Rucksack abgeschnallt und die Thermoskanne herausgeholt. Aromatisch duftete der Kaffee im Becher, und die Brote waren, wie immer, gut belegt.
Sebastian schmunzelte, als er daran dachte, daß seine Haushälterin immer noch große Angst hatte, wenn er in den Bergen unterwegs war. Dabei hätte sie es doch längst besser wissen müssen. Seit frühester Jugend streifte er immer wieder durch die Alpen, und sein Studium hatte er sich finanziert, indem er als Bergführer arbeitete. Der Gedanke, Sebastian Trenker könne sich in den Bergen verirren, war also völlig abwegig.
Dennoch hielt er Sophie Tappert nicht davon ab, ihm immer reichlich Verpflegung mitzugeben.
Wenn doch mal was passierte, dann sollte Hochwürden wenigstens net verhungern oder verdursten!
Sollte der unwahrscheinliche Fall dennoch einmal eintreten, so war die letztere Gefahr allerdings so gut wie ausgeschlossen. Sebastian kannte mehrere Gebirgsbäche, deren kristallklare Wässer schon so manches Mal seinen Durst gelöscht hatten.
Während er sich das Frühstück schmecken ließ, dachte Sebastian Trenker über den vergangenen Abend nach. Der junge Tierarzt, der nun Elena Wiesinger unterstützte, hatte einen guten Eindruck auf ihn gemacht. Der Geistliche wußte meist schon auf den ersten Blick zu sagen, was er von einem Menschen zu halten hatte. Darin hatte er sich nur selten geirrt, und Thomas Angerer war ihm auf den ersten Blick sympathisch gewesen. Besonders freute sich Sebastian für den jungen Mann, daß der hier in Tina Berghofer gleich eine alte Bekannte getroffen hatte.
Nachdem er einen letzten Schluck Kaffee getrunken hatte, packte der Seelsorger zusammen und schnallte den Rucksack wieder um. Bis zur Jenneralm hatte er noch ein paar Stunden zu wandern. Er freute sich schon darauf, Maria Hornhauser wiederzusehen. Die Sennerin lebte seit mehr als vierzig Jahren auf der Hütte, und inzwischen wurde sie tatkräftig von der Tochter und dem Schwiegersohn unterstützt. Tobias Hofer hatte Christel Hornhauser gehei-ratet, und inzwischen waren sie stolze Eltern eines gesunden Buben.
Sebastian schmunzelte, als er sich an die Geschichte erinnerte. Der junge Tobias war damals Knecht auf einem der Berghöfe gewesen, und hatte die Sennertochter auf der Geburtstagsfeier der Altbäuerin Maria Leitner kennengelernt und sich unsterblich in das Madl verliebt.
Allerdings hatte er nicht mit der Intrige eines anderen eifersüchtigen Madls gerechnet. Pfarrer Trenker war es zu verdanken, daß alles zu einem guten Ende geführt wurde.
Der gute Hirte von St. Johann nahm den Wanderhut ab und wischte sich über die Stirn. Inzwischen war es später Vormittag geworden, und bis zur Jenneralmhütte war es nur noch ein kurzes Stück. Durch die Senke, die vor ihm lag, einen kleinen Hang hinauf und dann wieder bergab. Sebastian hatte sich unterwegs an einem Gebirgsbach erfrischt und die leere Thermoskanne mit eiskaltem Wasser aufgefüllt. Er war gespannt, wie es den Leuten auf der Hütte ging. Ins Tal kamen sie selten hinunter. Bestenfalls, daß Tobias mit dem Auto ein paar dringende Einkäufe erledigte. Ansonsten sah man Maria und ihre Familie erst nach dem Almabtrieb.
Als Sebastian die Hütte dann vor sich liegen sah, erkannte er die Sennerin schon von weitem. Sie und ihre Tocher eilten zwischen den Tischen umher, um die Wünsche der zahlreichen Wanderer zu erfüllen. Sie waren, im Gegensatz zu Pfarrer Trenker, die leichteren Routen gegangen und entsprechend früher vor ihm angekommen.
»Grüß dich, Christel«, rief der Geistliche der jungen Frau zu.
»Hochwürden, wie schön Sie zu sehn«, freute sich Christel Hofer. »Die Milch kommt gleich.«
Wie alle Sennerinnen und Senner in der Gegend, kannte auch sie die Vorliebe für frische, kühle Almmilch.
Der Geistliche hatte sich einen Platz gesucht.
»Laß dir Zeit«, erwiderte er und machte es sich bequem.
Inzwischen hatte auch Maria Hornhauser den neuen Gast entdeckt. Die Sennerin kam gleich herbei.
»Grüß Gott, Hochwürden«, sagte sie. »Was gibt’s Neues in Sankt Johann?«
»Ach, da gibt’s einiges zu berichten«, meinte Sebastian. »Wir unterhalten uns am besten später darüber, wenn net mehr so viel los ist.«
»Hier ist die Milch«, ließ sich Tobias Hofer vernehmen.
Natürlich hatte er das Getränk selbst servieren wollen, nachdem er von seiner Frau erfahren hatte, wer da bestellte. Er stellte einen vollen Krug und ein Glas auf den Tisch.
»Ah, dank’ schön, Tobias«, sagte Sebastian und schenkte sich ein.
Herrlich rann das kühle Naß die Kehle herunter.
»Das tat gut«, nickte der Geistliche und wischte sich über die Lippen.
»Sie essen nacher mit uns?« fragte Tobias.
»Freilich«, erwiderte Sebastian. »Ich wart’ auf euch.«
Die ersten Gäste zahlten bereits und machten sich wieder an den Abstieg. Nachdem nahezu alle Tische wieder abgeräumt und sauber gewischt waren, trug Maria Hornhauser das Essen auf. Eine große Eisenpfanne, in der es zischte und bruzzelte. Kartoffeln waren darin, die mit Speck und Zwiebeln gebraten worden waren. Schließlich waren Fleischreste hinzugekommen und anschließend ein halbes Dutzend Eier darüber geschlagen worden. Christel Hofer stellte eine große Schüssel mit Salat dazu, während ihr Mann für die Getränke sorgte. Jetzt hatte Sebastian auch Gelegenheit, Florian zu begrüßen. Der Bub war inzwischen drei Jahre alt und machte seinen Eltern und der Großmutter viel Freude.
Während des Essen erzählte der Seelsorger, was sich in den letzten Wochen und Monaten, im Tal, getan hatte. Die Sennerfamilie war erfreut zu hören, daß es inzwischen wieder einen Zahnarzt in St. Johann gab. Zwar mußten sie über kranke Zähne nicht klagen, aber es war gut zu wissen, daß man jetzt für die vierteljährliche Kontrolluntersuchung nicht mehr extra in die Kreisstadt zu fahren brauchte.
Über die Unterhaltng verging die Zeit schneller, als sie glaubten, und Sebastian Trenker mußte sich wieder an den Abstieg machen, wenn er rechtzeitig zur Abendandacht wieder in seiner Kirche sein wollte.
»Also, laßt es euch gut gehn«, verabschiedete er sich. »Und dank’ schön, für den Käse.«
Natürlich hatte es sich Maria Hornhauser nicht nehmen lassen, ihm ein großes Stück von dem Bergkäse abzuschneiden und einzupacken, den sie hier oben herstellte.
»Ist schon recht, Hochwürden«, erwiderte sie. »Und grüßen S’ Ihren Bruder und die Frau Tappert.«
»Das werd’ ich«, versprach der Seelsorger und schwenkte seinen Hut. »Also, pfüat euch miteinand’.«
*
Für Kathie Sonninger hatte der Alltag wieder begonnen. Das hübsche Madl arbeitete in der Kreisstadt im Büro eines Steuerberaters, und als der Wecker am Montagmorgen klingelte, da wußte er es genau, daß es keinen Zweck hatte, sich dagegen zu sträuben – die Pflicht rief, man mußte gehorchen!
»Kommst’ denn heut’ nach Haus’?« fragte die Mutter beim Frühstück.
»Ich weiß noch net«, antwortete die Tochter. »Vielleicht bleib ich auch bei Carola. Ich ruf’ dich auf jeden Fall noch an.«
Um nicht ständig fahren zu müssen, hatte Kathie das Angebot einer Kollegin angenommen, in deren Wohnung ein Zimmer zu beziehen. Carola Enzinger war eine quirlige und stets gut gelaunte junge Frau. Die Wohnung, die sie gemietet hatte, war für eine Person eigentlich viel zu groß. Aber sie lag günstig zu ihrer Arbeitsstelle, und die Miete war geradezu lächerlich niedrig. So hatte sie Kathie das Zimmer auch angeboten, ohne etwas dafür zu verlangen. Die beiden Frauen verstanden sich vom ersten Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten blendend, und so mancher Abend verlief in amüsanter Unterhaltung, entweder zu Hause oder in einer der vielen gemütlichen Kneipen, die es in der Stadt gab.
»Wie war’s denn eigentlich bei der Franzi?« wollte Lea Sonnenlechner wissen. »Du hast ja noch gar nix erzählt.«
Dazu hatte es allerdings auch keine Gelegenheit gegeben. Der Verwandtenbesuch der Eltern hatte sich bis in die späten Abendstunden hingezogen. Als sie dann nach Hause kamen, schlief Kathie schon.
Allerdings waren die Stunden bis dahin lang und voller Sehnsucht gewesen.
»Warum hab’ ich net nach seiner Telefonnummer gefragt?«
Diese Frage stellte sie sich immer wieder. Aber sie wußte auch, daß sie sich das hätte früher überlegen müssen. Nämlich in der vergangenen Nacht, als sie und Franzi mit Wolfgang Bachmann in dem Café saßen und die Rettung ihrer Handtasche feierten.
Ob ich ihn jemals wiederseh’?
Das junge Madl stand am Fen-ster und schaute sehnsüchtig hinaus. Wenn er jetzt um die Ecke käme!
Bei dieser Vorstellung klopfte ihr Herz ungestüm. Doch die Straße blieb leer, nicht einmal der Schatten eines Spaziergängers war zu sehen gewesen. Seufzend hatte sie sich wieder abgewandt und auf das Sofa gesetzt. Träumerisch schaute Kathie auf das Muster der Tapete, und in ihrer Vorstellung sah sie darauf das Gesicht des Mannes, nach dem sie sich so sehnte.
Schließlich ging sie, eingedenk des Weckers, der erbarmungslos klingeln würde, ins Bett. Doch, wie es so oft geschah, wenn man innerlich aufgewühlt war, fand sie keinen Schlaf, sondern war mit ihren Gedanken bei Wolfgang und rief sich jede Einzelheit der Stunde ins Gedächtnis, die sie zusammen verbracht hatten.
»Wie soll’s gewesen sein, wenn’s ein Abschied für so lange Zeit ist?« erwiderte sie auf die Frage ihrer Mutter. »Franzi läßt schön grüßen, und am Bahnhof haben wir beide geheult wie die Schloßhunde.«
Lea Sonnenlechner strich ihrer Tochter über das Haar.
»Vielleicht kannst’ sie ja mal besuchen«, meinte sie.
»Schön wär’s«, seufzte Kathie. »Aber hast’ eigentlich eine Ahnung, was das kostet?«
»Na ja, billig wird’s grad’ net sein«, meinte die Mutter. »Aber vielleicht können Vater und ich ein bissel was dazuschießen.«
Kathie lächelte und biß von ihrer Semmel ab.
»Das wär’ super. Aber erstmal muß Franzi sich ja eingewöhnen, bevor sie überhaupt daran denken kann, Besuch zu bekommen.«
Sie warf einen Blick auf die Uhr.
»Lieber Himmel, ich muß ja los! Also pfüat di, Mutti, bis nachher irgendwann. Ich meld’ mich und sag’ Bescheid, was mit heut’ abend ist.«
»Ist gut, Madl«, nickte Lea Sonnenlechner und brachte Kathie zur Tür. »Fahr’ vorsichtig.«
Das Madl winkte und stieg ein. Während sie durch das Dorf fuhr und schließlich auf die Bundesstraße einbog, waren Kathies Gedanken wieder bei Wolfgang Bachmann. Gleich nach dem Aufwachen hatte sie an ihn gedacht, und jetzt überlegte sie, ob es irgend eine Möglichkeit gab, seine Adresse und Telefonnummer herauszufinden.
Über die Auskunft vielleicht. Aber was war, wenn es keinen Eintrag gab? Außerdem – wie viele Männer mochte es in einer so großen Stadt wie München geben, die Wolfgang Bachmann hießen?
Kathie seufzte tief. Es schien aussichtslos. Sie würde sich wohl damit abfinden müssen, daß sie ihn nie wiedersah, und die Erinnerung an ihn alles war, was ihr blieb.
Nur ein schöner Traum.
*
»Wohin willst du?«
Rolf Drittler und Eberhard Langner sahen ihren Mitbewohner ungläubig an.
»Hab’ ich doch gesagt«, erwiderte der Student. »Ich fahr’ für eine Woche in die Berge.«
Die beiden anderen Studenten schauten immer noch verständnislos. Schön, es waren Semesterferien, und einen Urlaub hatte man sich schon verdient.
Aber in den Bergen?
Wo doch gar kein Schnee lag!
»Was, um alles in der Welt, willst’ denn da?« fragte Rolf. »Die Skisaison ist doch noch Monate entfernt!«
Wolfgang trank seinen Kaffee aus.
»Das weiß ich selbst«, entgegnete er und grinste geheimnisvoll. »Aber es gibt genug gute Gründe, um auch zu dieser Jahreszeit in den Bergen Urlaub zu machen.«
»Nenn’ mir einen«, forderte Eberhard ihn auf.
Wolfgang schmunzelte.
»Einer ist so um die Zwanzig«, antwortete er. »Mit dunklen Haaren und einer traumhaften Figur. Ich find’, das ist ein gewichtiger Grund.«
Seine beiden Mitbewohner rissen ungläubig die Augen auf.
»Also, das mußt du uns schon genauer erläutern«, meinte Rolf Drittler und klopfte nachdenklich auf den Küchentisch.
Wolfgang Bachmann schmunzelte immer noch. Seit vier Tagen trug er das Geheimnis mit sich herum. Nicht eine Silbe war über seine Lippen gekommen, obwohl die Studenten ansonsten untereinander schon mit ihren Eroberungen prahlten. Aber diesmal, das spürte Wolfgang, war es etwas anderes. Kathie Sonnenlechner gehörte nicht in die Kategorie der Madln, die man schnell betörte und genauso schnell wieder vergaß.
Der Student erzählte, unter welchen Umständen er Kathie kennengelernt hatte.
»Donnerwetter«, entfuhr es Eberhard. »Das hört sich ja spannend an. Ich kann mir richtig
vorstelln, wie du den Kerl gestellt und ordentlich verprügelt hast. Das hat das Madl natürlich beeindruckt.«
»Ich fürcht’, da hast du net richtig zugehört«, lachte Wolfgang. »Der Bursche ist weggelaufen, noch ehe ich ihn gepackt hatte. Lediglich die Handtasche konnt’ ich ihm abnehmen.«
»Trotzdem«, meinte Rolf, »diese Kathie hat sicher geglaubt, du wärst ein toller Held, wie aus einem Film. Bestimmt hat sie sich auf den ersten Blick in dich verliebt, was?«
Der Student zuckte die Schultern.
»Das weiß ich net«, sagte er. »Aber, um das herauszufinden, deshalb muß ich nach Sankt Johann.«
»Sag’ mal, was meint denn eigentlich Ines zu dieser Geschichte?« wollte Eberhard wissen. »Oder weiß sie gar nix darüber?«
Wolfgang zuckte unwillkürlich zusammen, als der Name seiner ehemaligen Freundin fiel.
»Wie kommst’ jetzt ausgerechnet auf Ines?« fragt er zurück. »Das ist doch längst vorbei.«
»Na, bist’ dir da sicher?« entgegnete der Freund mit einem süffisanten Lächeln. »Am Sonntagmorgen habt ihr doch noch zusammen gefrühstückt...«
Wolfgang biß sich auf die Lippen. War Ines’ ›Auftritt‹ also doch nicht unbemerkt geblieben. Na ja, Krach genug hatte sie ja gemacht!
»Eigentlich war sie nur gekommen, um mich zum Mittagessen bei ihren Eltern einzuladen«, antwortete er schulterzuckend.
»Aber natürlich war ihr dieser Auftrag net unangenehm«, lachte Rolf. »Mir scheint, ihr kommt irgendwie net voneinander los. Ich möcht’ mir net ausmalen, was passiert, wenn sie davon erfährt, wo du deinen Urlaub verbringst. Und vor allem, warum!«
Wolfgang sah die beiden beschwörend an.
»Kein Sterbenswörtchen zu ihr, falls sie sich tatsächlich bei euch erkundigen sollte«, forderte er sie zur Verschwiegenheit auf. »Die ist imstande und kommt mir hinterhergefahren.«
Er sah auf die Uhr.
»So, letzter Tag«, sagte er. »Ich glaub’, die Vorlesung beim Hohlbaum schenk’ ich mir ausnahmsweise. Ich hab’ ohnehin noch einiges zu erledigen. Morgen geht’s in aller Frühe los.«
»Schad’, hättest mal eher was davon erzählen soll’n«, meinte Eberhard Langner. »Ich wär’ vielleicht mitgekommen.«
»Ich glaub’ net, daß du da Glück gehabt hättest«, erwiderte Wolfgang. »Mit einer Unterkunft schaut’s net so üppig aus. Dieses Sankt Johann muß ein ziemlich gefragter Urlaubsort sein. Ich hab’ mit Müh’ und Not noch ein Zimmer in einer Pension bekommen.«
Er stand auf und räumte sein Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine.
»Also, bis später.«
Die beiden Mitbewohner nickten und blieben sitzen. Rolf hatte schon am Morgen angekündigt, daß er die Vorlesungen heute würde ausfallen lassen, und Eberhard beabsichtigte, erst zur zweiten Stunde in die Uni zu gehen.
Wolfgang fuhr mit dem Bus. Das Auto benutzte er während der Woche nur selten. Mit Bus und Straßenbahn kam er meist viel schneller an sein Ziel, außerdem war er ein umweltbewußter Mensch, der es vermied, unnötig mit dem Auto zu fahren.
Und dann gab es noch einen ganz anderen Aspekt, warum er öffentliche Verkehrsmittel benutzte. Während der Fahrt hatte er immer die beste Gelegenheit, noch einmal einen Blick in seine Studienunterlagen zu werfen.
Doch an diesem Morgen ließ er die Bücher unbeachtet auf seinem Schoß liegen. Seit dem sonntäglichen Besuch im Hause Raitmayr beschäftigte ihn der Vorschlag, den Ines’ Vater ihm gemacht hatte. Wenn er es recht bedachte, dann war das wie ein Geschenk des Himmels. Noch nicht einmal fertig studiert, hatte er die Zusage auf eine Stellung in der Tasche, in der er nach nicht einmal einem Jahr zum Prokuristen aufsteigen würde.
Konnte er es überhaupt besser treffen? Er müßte doch ein Dummkopf sein, wenn er das Angebot ausschlug!
Und doch war da etwas, das ihn nachdenklich machte. Allein die Tatsache, daß er ein recht fleißiger Student war, und Walter Raitmayr ihn deswegen besonders schätzte, rechtfertigte dieses Angebot noch lange nicht. Nach Wolfgangs Meinung mußte noch etwas anderes dahinterstecken. Eine Firma wie das Unternehmen Raitmayr war gewiß nicht auf einen ›grünen‹ Studenten angewiesen, der gerade seinen Abschluß in der Tasche hatte. Eine Anzeige in einem der Wirtschaftsblätter, und hundert andere, qualifiziertere Bewerber würden sich daraufhin melden.
Er wurde einfach den Verdacht nicht los, daß Ines ihren Vater überredet hatte, ihm dieses Angebot zu machen.
Und das war etwas, was er überhaupt nicht wollte – abhängig sein, von ihrer Gunst!
Seufzend sah er auf. Der Bus war an der Haltestelle direkt vor der Uni angelangt, und er mußte aussteigen.
Immerhin war es ja noch ein bissel Zeit, überlegte er. Er hatte Walter Raitmayr gegenüber erklärt, daß er sich während seines Urlaubs über die weiteren Schritte klar werden wollte. Und bis dahin würde er sich entschieden haben. Jetzt war es ihm erst einmal nur wichtig, daß er Kathie Sonnenlechner wiederfand. Alles andere war zweit-rangig.
*
Thomas Angerer stellte müde seine Tasche ab und zog die Jacke aus. Elena nahm sie ihm ab und hängte sie an die Garderobe. Die Tierärztin lächelte mitfühlend.
»Anstrengender Tag, was?«
Thomas nickte. Zehn Höfe im Wachnertal hatten sie an diesem Nachmittag besucht, und wenn der junge Tierarzt auf jedem dieser Höfe den angebotenen Begrüßungsschnaps getrunken hätte, dann wäre er kaum noch in der Lage gewesen, geradeaus zu gehen. Elena Wiesinger hatte ihn davor bewahrt, indem sie die Bauern auf eine andere Gelegenheit vertröstete.
»Am Samstag ist der Herr Angerer auf dem Tanzabend, im Löwen«, hatte sie gesagt. »Da findet sich bestimmt ein Augenblick zum Anstoßen.«
»Sind die hier immer so?« hatte Thomas lachend gefragt, als sie nach St. Johann zurückfuhren.
»Oh ja«, schmunzelte Elena Wiesinger. »Hart, aber herzlich, und was den Obstler angeht – da können s’ schon einiges vertragen. Mir ist schon welcher vor dem Frühstück angeboten worden, wenn ein Kalb oder Fohlen auf die Welt kam.«
»Du lieber Himmel«, stöhnte Thomas. »Da steht mir ja noch was bevor.«
An diesem Nachmittag war keine Sprechstunde mehr, und die beiden Tierärzte freuten sich auf ihren wohlverdienten Feierabend. Bis zum Abendessen war es noch Zeit, und Thomas beschloß, einen Spaziergang zu machen. Viel hatte er von dem Dorf, das ihm für einige Monate seine Heimat sein würde, noch nicht gesehen. Gleich am Montagmorgen hatte er in der Praxis angefangen und sofort gemerkt, wieviel Arbeit da auf ihn wartete. Er fragte sich, wie die Kollegin das alles allein bewältigt hatte und zollte Elena Wiesinger den nötigen Respekt.
Das einzige, was ihn von der Arbeit ein wenig ablenkte, war der Gedanke an das Madl, mit dem er im Zug hier hergefahren war. Kaum eine Minute, in der er nicht an Kathie Sonnenlechner dachte. Jetzt hoffte er, sie würde ihm vielleicht auf seinem Spaziergang begegnen.
Allerdings wurde Thomas da enttäuscht. Viele Menschen begegneten ihm. In St. Johann war Hochsaison, und die Touristen liefen in Scharen durch das Dorf. Doch, so sehr er auch Ausschau hielt, Kathie sah er nirgendwo.
Natürlich hatte er ins Telefonbuch geschaut, um herauszufinden, wo das Madl wohnte. Dr. Wiesinger zu fragen traute er sich denn doch nicht. Doch zu seinem Erstaunen mußte Thomas feststellen, daß es gleich vier Familien mit dem Namen Sonnenlechner gab, und den Vornamen Kathie suchte er vergebens.
Nach einem Feierabendbier, das er im Wirtshaus trank, schlenderte der Tierarzt zur Kirche hinüber. Pfarrer Trenker war ihm immer noch gut im Gedächtnis geblieben, und von den Wiesigers hatte er erfahren, daß das Gotteshaus eines der schönsten sei, das es in der ganzen Gegend gäbe.
Und noch einen Grund hatte er, mit dem Geistlichen zu sprechen. Seit Jahren war er nicht mehr in den Bergen gewesen, und Elena Wiesinger hatte im Gespräch erwähnt, daß Hochwürden ein begeisterter Wanderer und Kletterer war.
»Fragen S’ ihn doch mal«, sagte die Tierärztin. »Bestimmt nimmt er er Sie mal mit, wenn er wieder aufsteigt. Über Ihren freien Tag haben wir doch gesprochen. Dann nehmen S’ sich den eben, wenn Hochwürden für eine Tour Zeit hat.«
