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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. E-Book 1: Zwischen Pflicht und Liebe E-Book 2: Wo bist du, Mami? E-Book 3: Geborgen in der Familie E-Book 4: Du gehst zu weit, Adina E-Book 5: Zu dir möcht E-Book 6: Blick in die Zukunft E-Book 7: Manuel – ein Junge zum Liebhaben E-Book 8: Ende einer langen Reise E-Book 9: Im Stich gelassen E-Book 10: Verhängnisvoller Ehrgeiz
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Seitenzahl: 1384
Veröffentlichungsjahr: 2024
Zwischen Pflicht und Liebe
Wo bist du, Mami?
Geborgen in der Familie
Du gehst zu weit, Adina
Zu dir möcht
Blick in die Zukunft
Manuel – ein Junge zum Liebhaben
Ende einer langen Reise
Im Stich gelassen
Verhängnisvoller Ehrgeiz
Wieder einmal war es auf der Autobahn, in der Nähe von Maibach zu einem schweren Unfall gekommen. Der Himmel hatte alle Schleusen geöffnet, und so war ein Personenwagen beim Überholen ins Schleudern geraten. Der Fahrer hatte sein Auto nicht mehr unter Kontrolle gebracht, sondern war auf der anderen Fahrbahn frontal gegen einen Lastwagen geprallt. Zum Glück hatte es keine Massenkarambolage gegeben. Der Fahrer des Personenwagens und seine Beifahrerin waren tot. Wie durch ein Wunder überlebten jedoch die beiden Jungen, die sich auf dem Rücksitz befunden hatten.
Sie waren noch klein und saßen jeder in einem Kindersitz, das auf der Rückbank befestigt war. Beide schluchzten vor sich hin. Sie glichen sich wie ein Ei dem anderen. Sie waren Zwillinge. Als ein Krankenwärter sie aus dem Auto heben wollte, begann einer von ihnen zu schreien:
»Weg, geh weg. Mami, Papi!« Mit seinen Händchen wehrte er den Helfer ab.
»Nicht doch! Es ist alles gut.« Die Retter sprachen beruhigend auf den Kleinen ein. Es nützte nichts, er brüllte wie am Spieß. Man konnte ihn kaum festhalten, so wild schlug er um sich. Sein Bruder hingegen ließ alles willenlos mit sich geschehen.
Ein junger Arzt hatte sich des schreienden Kindes angenommen. »Nun ist aber Schluß«, befahl er energisch und hielt es von sich ab. »Du bist sicher ein lieber Junge, wenn du aber so brüllst, dann glaubt man das nicht.«
Es half nichts, das Schreien dauerte an.
»Hoffentlich hat der Kleine nicht einen Schock bekommen«, sagte der Krankenwärter.
»Wir nehmen die Jungen auf jeden Fall mit ins Krankenhaus«, entschied der Arzt.
Das hatte der Kleine verstanden. Noch heftiger begann er in den Armen des Arztes zu zappeln. Dabei schrie er erneut nach seinen Eltern.
»Arme Kinder«, meinte ein Polizist. »Wir haben Ausweispapiere gefunden. Es handelt sich um das Ehepaar Schönauer, wohnhaft in Frankfurt.«
»Was wird jetzt geschehen?« fragte der Arzt. Der Regen, der etwas nachgelassen hatte, wurde wieder stärker. »Die Kinder können nicht länger der Nässe ausgesetzt werden.«
»Nehmen Sie die beiden nur mit in die Klinik. Wir werden inzwischen Nachforschungen bezüglich näherer Verwandter anstellen.«
»Wie wäre es, wenn Sie Frau von Schoenecker benachrichtigen würden? Sie ist schon oft helfend eingesprungen. Im Krankenhaus wird kaum jemand Zeit haben, sich eingehend um die Kleinen zu kümmern. Es müßte aber geschehen, sonst ist ein dauerhafter seelischer Schaden nicht auszuschließen.« Der Arzt wandte sich wieder dem Jungen zu.
»Jetzt bist du ganz naß. Wir werden dir etwas Trockenes anziehen. Dazu gehen wir in den Krankenwagen.«
Die Schreie des Kleinen, die nicht mehr so gellend gewesen waren, wurden wieder lauter. Schluchzend und würgend stieß er ein »Nein« hervor.
Als der Arzt ihn trotzdem zum Krankenwagen trug, schrie er erneut nach seinen Eltern, dann: »Michael, Michael!« Seine Stimme überschlug sich fast, so brüllte er. Trotzdem hatte ihn der Arzt verstanden.
»Dein Bruder kommt doch auch mit. Sieh nur.« Er trat etwas zur Seite und ließ dem Krankenwärter mit dem anderen Kleinen, der noch immer leise vor sich hin wimmerte, den Vortritt.
»Michael!« Mit aller Kraft warf der kleine Bub sich seinem Bruder entgegen. Beinahe wäre er dem Arzt aus den Händen gerutscht.
»Du scheinst?der Temperamentvollere zu sein«, meinte er und zog ihn wieder fester an sich.
Im Inneren des Krankenwagens spielte sich wieder die gleiche Szene ab. Michael, der ein rotes Hemdchen trug, ließ alles mit sich geschehen, der andere Kleine hingegen protestierte immer wieder lautstark. Er gab erst etwas Ruhe, als er dicht neben seinem Brüderchen saß und dessen Händ-chen in seinem hielt. Er versuchte sogar, diesen zu trösten. »Michael lieb, sehr lieb«, sagte er und wischte ihm die Tränen von den Wangen.
Als sie das Krankenhaus betraten, sah Michael sich mit großen Augen um, dann verzog er ängstlich sein Gesicht. Der andere brüllte wieder los. Der Arzt reichte ihn weiter an eine Krankenschwester, aber auch diese konnte ihn nicht beruhigen. Er antwortete auf keine Frage, nannte auch seinen Namen nicht. Michael begann erneut, leise vor sich hin zu weinen, auch bei ihm half kein Zureden mehr. Trotzdem wurden die Zwillinge, so gut es ging, untersucht. Man überzeugte sich davon, daß sie beim Unfall nicht verletzt worden waren.
Die Stationsschwester sowie der Oberarzt waren erleichtert, als Frau von Schoenecker kam. Denise von Schoenecker war am Maibacher Krankenhaus bestens bekannt. Sie verwaltete in der Nähe der Kreisstadt ein Kinderheim für ihren Sohn. Sie war dafür bekannt, daß es ihr stets gelang, das Vertrauen eines Kindes zu gewinnen. Sophienlust, so hieß das Kinderheim, wurde das Heim der glücklichen Kinder genannt.
»Wir schaffen es wieder einmal nicht«, sagte Dr. Schifko und reichte der aparten, jugendlich aussehenden Frau die Hand. »Der eine der beiden ist besonders temperamentvoll und lebhaft. Im Moment dürfte er aber nur trotzig sein.«
»Die Kinder haben Furchtbares erlebt«, sagte Denise voller Mitgefühl. Der Polizeikommissar hatte ihr am Telefon von dem schrecklichen Unfall erzählt. »Sie sind nun Waisen. Wie heißen sie?«
»Der eine heißt Michael. Der andere hat es uns noch nicht verraten.«
»Wie alt sind die beiden?« fragte Denise weiter.
»Sie dürften ungefähr zwei Jahre alt sein«, gab der Oberarzt Auskunft. Er hielt inne und horchte. »Hören Sie, jetzt brüllt er schon wieder. Er fängt sofort damit an, wenn ihm etwas nicht paßt.«
»Das werden wir gleich haben.« Denise ging auf die Tür zu, hinter der das Brüllen erklang. Sie drückte die Klinke nieder und trat ein. Die Kinderschwester sah hoch. Dies nützte der kleine Junge aus. Er entwischte ihren Händen und rannte zur Tür. Dort hielt Denise ihn fest.
»Du hast es aber eilig«, meinte sie. »Wohin willst du denn nur so schnell?«
»Weg! Laß los!« Zornig, aber mit feuchten Augen, blickte der Kleine zu ihr auf.
»Etwa ohne deinen Bruder? Das hätte ich nicht von dir gedacht.«
Denise nützte seine Verwirrtheit aus. Rasch fragte sie: »Wie heißt du?«
»Andreas«, antwortete der Kleine automatisch.
»Michael und Andreas.« Denise lächelte. »Du bis also der Andreas? Du willst dein Brüderchen beschützen, nicht wahr?«
»Ich… ja.« Andreas nickte heftig. »Wir wollen zu Papi und Mami.« Er schnupfte auf.
»Das geht nicht, aber ihr könnt mit zu mir kommen.« Denise hatte An-dreas wieder losgelassen. Freundlich sah sie ihn an.
»Mit dir? Wer bist du?« Neugierig musterte Andreas Denise. Offensichtlich gefiel sie ihm. Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln.
Denise kniete sich auf den Boden. »Ich bin die Tante Isi. Kannst du das sagen?«
Andreas nickte, dann wiederholte er klar und deutlich: »Tante Isi.«
»Gut.« Denise hob die Hand und fuhr Andreas über das blonde Köpfchen.
Nun kam die Schwester näher. Sie rechnete mit Andreas’ Widerstand, aber nichts dergleichen geschah. Der Junge hielt still.
Dr. Schifko atmete erleichtert auf. Er nickte der Stationsschwester zu. In seinen Augen stand Bewunderung. Denise von Schoenecker hatte es wieder einmal geschafft. Der kleine Junge war zahm geworden.
Andreas drehte sich nach seinem Bruder um. »Michael auch«, forderte er.
»Michael, komm her!« Denise streckte die Hand nach dem anderen Kleinen aus. Er lehnte an der Wand. Noch immer weinte er still vor sich hin.
»Michael weint«, sagte Andreas.
»Ja«, bestätigte Denise. »Wollen wir ihn trösten?«
Wieder nickte Andreas. »Michael holen.« Er sah Denise an, wartete bis diese zustimmend nickte, dann drehte er sich um und tappte zu seinem Bruder hin. »Michael, komm!« Seine Stimme klang fordernd, und als Mi-chael darauf nicht reagierte, packte er ihn einfach am Arm und zog ihn mit – bis zu Denise hin. »Tante Isi ist da«, sagte er und ließ ihn los.
Michael sah nicht hoch, er schluchzte auf.
»Aufhören«, befahl Andreas. Er versetzte seinem Bruder einen Stoß.
Erschrocken verstummte Michael.
»Er ist lieb«, sagte Andreas und legte seinen Arm um die Schultern von Michael. »Sag doch, daß du lieb bist.«
»Lieb«, echote Michael.
Andreas nickte zufrieden und schaute abwartend auf Denise.
»Fein, nun sehe ich, daß ihr beide lieb seid.« Denise strich auch Mi-?chael über das Haar.
Wieder nickte Andreas, dann verkündete er: »Und jetzt gehen wir zur Mami.«
Denise beugte sich hinunter und nahm ihn auf den Arm. Ehe sie etwas sagen konnte, forderte Andreas: »Michael auch, Michael ist auch lieb.«
»Natürlich.« Die Verwalterin des Kinderheims hob den zweiten Kleinen ebenso hoch und setzte sich mit den beiden auf einen Stuhl. Erstaunt stellte die Stationsschwester fest, daß Andreas seine Ärmchen zutraulich um Denises Hals schlang.
Denise zog die Kinder enger an sich, dann meinte sie: »Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr mich begleiten würdet.«
»Mitgehen«, stimmte Andreas zu. Doch dann schränkte er ein. »Mami soll auch mitgehen.«
»Ich will deine Mami gern mitnehmen, aber…«
Andreas ließ Denise nicht ausreden. »Mami will sicher«, rief er und rutschte von ihren Knien. »Ich gehe zu Mami.« Er lief zur Tür, dort wurde er von der Stationsschwester aufgefangen. Sofort brüllte er wieder los.
Andreas stellte sein Brüllen ein, er wandte sich zu Denise um. »Sie soll weg.«
»Aber, Andreas, die Schwester ist doch lieb.«
»Nein! Sie muß weg.« Sein Gesichtchen verzog sich wieder trotzig. Wie auf ein Kommando begann Michael vor sich hinzuschluchzen.
»Siehst du, was du nun wieder angerichtet hast?« fragte Denise. Sie sah Andreas an, bis dieser den Kopf senkte. Langsam kam er zu ihr zurück.
»Tante Isi, bist du böse?« fragte er scheu.
»Andreas darf nicht immer so schnell brüllen.« Denise strich liebevoll über das gesenkte Köpfchen. »Michael erschrickt sonst und weint wieder.«
»Michael soll nicht weinen.« An-dreas nagte an seiner Unterlippe. Noch immer blickte er nicht auf.
»Dann mußt du lieb sein.«
Andreas seufzte abgrundtief, dann entschied er. »Bin lieb!«
»Dann ist ja alles wieder gut.« Denise hielt den schluchzenden Michael etwas von sich. »Hast du gehört? Es ist alles gut. Andreas ist wieder da. Er geht nicht weg.«
Michael schluchzte weiter.
»Laß!« Andreas stieß Denises Arm zur Seite. »Ich kann.« Er trat dicht an seinen Bruder heran. Liebevoll streichelte er dessen Wange. »Es ist gut, alles ist gut. Ich bin da.«
Es war ein entzückendes Bild. Die blonden Köpfchen berührten sich nun. Es waren hübsche Jungen. Denise lächelte, sie konnte sich die Begeisterung der Kinder von Sophienlust vorstellen.
Was Denise nicht gelungen war, gelang Andreas. Er konnte seinen Bruder trösten. Friedlich stapften beide, einer an Denises rechter, der andere an ihrer linken Hand aus dem Zimmer. Den Oberarzt und die Stationsschwester sowie die junge Schwester hatte Andreas geflissentlich übersehen.
*
»Was ist denn das?« Heidi, ein fünf-jähriges Mädchen und das jüngste Dauerkind von Sophienlust, traute seinen Augen nicht.
»Das sind Michael und Andreas«, erwiderte Denise.
Andreas löste sich von ihrer Hand. Er ging auf Heidi zu. Unbekümmert tippte er ihr auf die Brust und fragte: »Und du?«
»Ich bin Heidi«, antwortete die Kleine. Dann jubelte sie: »Tanti Isi, ist der niedlich.«
»Andreas, ich bin Andreas.« Der Kleine stampfte mit dem Fuß.
»Stimmt«, sagte Denise. »Und er ist sehr energisch.«
»Und der andere?« Heidi lief an Andreas vorbei. Vor Michael blieb sie stehen. Dieser klammerte sich ängstlich an Denises Hand. Seine Augen wurden schon wieder feucht.
Andreas war Heidi nachgegangen. Fürsorglich ergriff er die Hand seines Bruders. »Michael, das ist Michael.«
»Hallo, Michael«, sagte Heidi. Sie wollte ihn anfassen, aber Michael wich zurück.
»Was hat er?« fragte Heidi.
Andreas zuckte die Schultern, dann klopfte er sich gegen die Stirn.
»Nein«, empörte Heidi sich. »Er ist nicht dumm. Er ist lieb. Er sieht genauso aus wie du.«
»Michael ist lieb«, stimmte An-dreas sofort zu.
»Ihr seid beide lieb«, sagte Heidi friedfertig. »Tante Isi, darf ich mit ihnen spielen?«
Denise kam nicht zum Antworten. Ihr Jüngster stürmte in die Halle. »Mutti, da bist du endlich. Was ist eigentlich los? Tanta Ma sagte nur, daß du von der Polizei angerufen worden bist.«
»Das ist los!« Heidi packte An-dreas und schob ihn vor sich her.
»Mensch, Mutter! Bleibt er bei uns?«
»Das weiß ich noch nicht.« Denise drehte sich um. Wo war Michael?
»Wir haben zwei davon«, rief da auch schon Heidi. »Michael, wo bist du?« Sie sah sich ebenfalls um und entdeckte den zweiten Jungen. Er stand neben dem offenen Kamin, das Gesicht zur Wand gedreht. Seine Schultern zuckten vor verhaltenem Weinen.
»Michael! Was ist denn los?« Heidi lief zu dem kleinen Jungen hin. Liebevoll schloß sie ihn in die Arme. »Du darfst nicht weinen. Bei uns ist es sehr schön. Hier schimpft niemand mit dir. Tante Isi, Schwester Regine und Tante Ma sind sehr lieb.« Da Michael nicht reagierte, rief Heidi verzweifelt nach Henrik. »Henrik, so sag ihm doch, daß das stimmt. Er ist so niedlich, er darf nicht weinen.«
Nun bemühte sich auch Henrik um den Kleinen, aber dessen Tränenstrom wollte nicht versiegen. Der Neunjährige holte schließlich sein Taschentuch hervor. Er besichtigte es, stellte fest, daß es noch verhältnismäßig sauber war und begann, dem Kleinen die Tränenspuren von den Wangen zu wischen.
»Laß mich!« Andreas griff nach dem Taschentuch. »Michael wieder lieb«, kommandierte er. »Da!« Er reichte dem Bruder das Taschentuch, und als dieser nicht danach griff, hielt er es ihm direkt unter die Nase. Mi-chael schneuzte sich tief.
»So ist es gut«, lobte Andreas. »Komm!« Er legte seinem Bruder den Arm um die Schultern. Andreas sprach in ernstem, mahnendem Ton. Es war offensichtlich, daß er die Mutter nachmachte.
»Ich werde verrückt!« Henrik schlug die Hände zusammen. »Die sehen ja ganz gleich aus. Die kann ich nie auseinanderhalten. Wer ist Mi-chael und wer ist Andreas?«
»Michael weint immer«, meinte Heidi. Sie sah Denise an. »Tut ihm etwas weh? Soll ich ihm Schokolade geben?«
»Lade.« Begehrend streckte An-dreas seine Hände aus.
Heidi lachte. »Eigentlich wollte ich deinem Bruder Schokolade geben, aber du bekommst natürlich auch welche. Ich hole sie dir.« Heidi lief zur Treppe hin, die hinauf in den ersten Stock führte. Dort befanden sich die kleinen Schlafzimmer der Kinder, mit je zwei Betten.
»Heidi, bleib hier«, rief Henrik. »Mutti spendiert sicher eine Schokolade! Nicht wahr, Mutti, oder muß ich Magda darum bitten?«
»Das ist Erpressung. Wenn ich jetzt nein sage, dann läufst du in die Küche, und Magda gibt dir eine Schokolade.«
»Ganz sicher, besonders, wenn sie die beiden Kleinen sieht.« Henrik grinste. »Mensch, Mutter, ich finde es spitze, daß du sie mitgebracht hast. Woher hast du sie denn?«
»Das ist eine traurige Geschichte.« Denise wurde ernst. »Lauf lieber ins Büro. In der Schreibtischschublade liegt eine Tafel Schokolade.«
Henrik jedoch rührte sich nicht. »Mutti, erzähl schon! Du weißt, ich mag Geschichten.«
»Nicht jetzt«, wehrte Denise ab.
Henriks Unterlippe schob sich nach vorne. »Ich darf nie etwas erfahren. Nick würdest du es sofort erzählen. Mutti, das ist unfair. Einmal möchte ich etwas zuerst hören.«
Denise verstand ihren Sohn. Er war eifersüchtig auf seinen älteren Bruder Nick. Dominik von Wellentin-Schoenecker war der eigentliche Erbe von Sophienlust. Denise verwaltete das Kinderheim für ihn bis zu seiner Großjährigkeit.
»Nick darf alles«, maulte Henrik da auch schon weiter.
»Wenn ich ins Bett muß, geht er noch mit Pünktchen spazieren. Er weiß alles, jeder sagt ihm alles.«
»Henrik.« Heidi zupfte den Jungen am Ärmel. »Du kannst doch mit Tante Isi später streiten. Jetzt mußt du die Schokolade holen. Michael weint noch immer.«
»Ich möchte wissen, warum er weint«, erklärte Henrik, dann trollte er sich aber doch ins Büro. Er mußte dazu nur die Halle des Kinderheims durchqueren. Sie war der Mittelpunkt. Von hier führten Türen zu allen im Erdgeschoß liegenden Zimmern. Wenig später kam er mit der Schokolade zurück. Er brach sie auseinander. »Die eine Hälfte ist für Andreas.«
»Ich will Michael die Schokolade geben«, bat Heidi. »Schnell! Er soll nicht länger weinen.«
Michael hörte jedoch nicht auf. Als Heidi ihm die Schokolade hinhielt, schüttelte er den Kopf.
»Ich«, sagte Andreas, und ehe Heidi sich versah, hate er ihr die Schokoladenhälfte, die für seinen Bruder bestimmt war, aus der Hand genommen. »Ich esse sie. Lade ist gut.«
»Und was ist mit Michael?« Vorwurfsvoll sah Heidi den Kleinen an. Er hatte beide Schokoladenhälften hinter seinem Rücken verborgen.
»Michael mag nicht.« Andreas schielte zu seinem Bruder hinüber.
»Wir müssen Michael aber trösten. Er sieht so traurig aus. Da, er weint schon wieder.«
Andreas schnitt eine Grimasse. Er ging zu Denise, hielt ihr die Schokoladenhälften hin. »Halten für An-dreas. Bitte«, setzte er hinzu. »Ich muß schimpfen. Schimpfen mit Mi-chael.«
Denise nahm ihm die Schokolade ab. Sie war genauso neugierig wie Heidi und Henrik, was Andreas nun tun würde. Dieser zögerte nicht. Er stemmte die Hände in die Seiten und nahm vor seinem Bruder Aufstellung. »Aufhören, lieb sein! Sofort!«
»Nicht.« Heidi lief zu Andreas. »Vielleicht tut ihm etwas weh. Kann er nicht sprechen?«
»Doch!« Andreas machte ein grimmiges Gesicht. »Los!«
»Mami, ich will zu Mami.« Mi-?chael schluchzte laut.
Auch Henrik hatte Mitleid mit dem Kleinen. Er eilte ebenfalls heran und zog Michael in seine Arme. »Nicht, du mußt nicht weinen. Natürlich darfst du zu deiner Mami. Onkel Henrik wird dafür sorgen. Ich verspreche es dir.« Über den Kopf des Kleinen sah er seine Mutter vorwurfsvoll an.
»Henrik!« Denises Stimme klang mahnend. In seiner Hilfsbereitschaft schoß ihr Sohn gern über das Ziel hinaus.
»Aber, Mutter! Die beiden sind doch noch so klein. Sie brauchen ihre Mami.«
»Zu Mami gehen«, forderte nun auch Andreas. Er packte Henriks Hand. Die Schokolade schien er vergessen zu haben. »Mami wecken. Mami schlafen.«
»Deine Mami schläft, ja, dann ist alles kein Problem. Dann müssen wir nur so lange warten, bis sie aufgewacht ist. Wißt ihr was, bis dahin spiele ich mit euch.« Henrik war Feuer und Flamme. Zu seiner Mutter schaute er nicht mehr hin. Er mußte jedoch eingestehen, daß Michael nicht so leicht zu beruhigen war.
»Mami, will zu Mami. Bitte, bitte.« Er schniefte, dann legte er mit einer treuherzigen Geste seine Händchen gegeneinander.
»Gut, wir werden nicht warten, bis deine Mami aufgewacht ist.« Henrik warf sich in die Brust. Hoheitsvoll stiefelte er auf seine Mutter zu. »Mutti, du mußt etwas tun.«
»Henrik, ich kann nichts tun«, sagte Denise ernst.
»Man muß ihre Mutter wecken. Wo schläft sie denn? Ich verstehe überhaupt nicht, wie man unterwegs schlafen kann.« Temperamentvoll blitzten Henriks Augen.
»Langsam, mein Junge.« Denise legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wenn ich etwas tun könnte, dann hätte ich es getan.«
»Du kannst nicht?« Henriks Gesicht wurde lang.
»Nein, ich kann nicht.« Denise sah ihrem Sohn in die Augen, dann suchte ihr Blick die Zwillinge. Michael weinte schon wieder leise vor sich hin. Sie unterdrückte einen Seufzer, dann sagte sie: »Hol Schwester Regine, dann gib Magda Bescheid. Sie soll für die Zwillinge eine Kleinigkeit zum Essen richten. Ich weiß nicht, wann sie das letztemal etwas bekommen haben. Sicher sind sie auch müde«, fuhr sie fort. »Der Tag war für sie sehr anstrengend.«
»Sie bleiben also bei uns.« Henrik war zufrieden. »Magda soll etwas Besonderes für die beiden machen. Vielleicht Grießbrei mit sehr viel Schokolade.«
Unwillkürlich lächelte Denise. Grießbrei hatte ihr Jüngster einst für sein Leben gern gegessen.
»Soll ich die beiden nicht gleich mit in die Küche nehmen?« fragte Henrik. Aber dazu kam es nicht. Er schnappte auf, was Andreas brabbelte. Heidi hatte inzwischen versucht, den Kleinen auszuhorchen.
»Was hast du gesagt?« Henrik fuhr herum. Er sah Andreas an. Da dieser ihm nicht schnell genug antwortete, fragte er Heidi: »Red schon, was hat Andreas da gerade erzählt?«
»Ich wollte wissen, woher er kommt«, gab Heidi Auskunft.
»Ja, und was hat er gesagt?« Ungeduldig trat Henrik von einem Bein auf das andere.
»Auto macht bum«, verkündete Andreas. Dann verzog sich sein Gesichtchen. »Mami nicht mehr sprechen. Wo ist Mami?«
»Auto…« Langsam begann Henrik zu verstehen. Seine Augen weiteten sich. Er sah seiner Mutter ins Gesicht. Diese nickte.
»Es gab einen Verkehrsunfall. Michael und Andreas saßen auf dem Rücksitz.«
»Auto macht bum«, wiederholte Andreas.
»Nicht mehr daran denken«, sagte Henrik mitleidsvoll.
»Auto putt«, fuhr Andreas jedoch fort, »Mami… ganz still.«
»Was ist mit seiner Mutter?« Henrik sah Denise erneut an. »Ist sie…?« Er wagte nicht weiterzusprechen. Wieder nickte Denise.
»Sie sind noch so klein.« Henrik mußte schlucken. Rasch lief er dann zu seiner Mutter. Denise beugte sich zu ihm hinunter, und er flüsterte ihr ins Ohr: »Mutti, Michael und Andreas dürfen das nicht erfahren. Wir müssen alle ganz lieb zu ihnen sein.« Er mußte wieder schlucken. Der Kloß im Hals war sehr dick.
»Was habt ihr denn?« fragte Heidi. »Streitest du dich schon wieder mit deiner Mutti? Soll ich in die Küche gehen?«
»Nein. Ich werde dafür sorgen, daß Michael und Andreas etwas ganz Gutes bekommen. Ich werde mich um die beiden kümmern. Ich werde es auch den anderen sagen.« Plötzlich war Henrik wieder sehr geschäftig. Er wollte alles zur gleichen Zeit machen. Dabei fuhr er sich aber verstohlen über die Augen.
Als die anderen Kinder vom Spielplatz kamen, hatte Magda bereits den Grießbrei fertig. Sie war seit vielen Jahren Köchin auf Sophienlust. Sie konnte nicht nur vorzüglich kochen, sondern wachte auch oft wie eine Glucke über die Kinder. Sie war etwas beleibt, aber sehr mütterlich. Die Zwillinge hatten es ihr sofort angetan, und sie war nur zu gern bereit, sie unter ihre Fittiche zu nehmen. So saß sie jetzt auch am Küchentisch und hielt Andreas auf ihrem Schoß. Vor ihr stand ein Teller mit süßem Brei. An-dreas schien es offensichtlich zu schmecken, und er genoß es auch, gefüttert zu werden. Immer wieder öffnete er begierig sein Mündchen. Er war mit dem Schlucken sehr schnell, Magda hatte Mühe, sich seinem Tempo anzupassen.
Denise hielt Michael auf dem Schoß. Der Teller, der vor ihr stand, war noch ganz gefüllt. Michael hatte sein Mündchen noch kein einziges Mal geöffnet. Fest hielt er seine Lippen aufeinandergepreßt. Trotzdem probierte Denise es immer wieder aufs neue.
»Es schmeckt wirklich sehr gut. Willst du es nicht doch versuchen?«
»Mami, will zu Mami«, kam es nun leise von Michaels Lippen. Er drehte den Kopf zur Seite.
»Geben Sie ihn doch einmal her«, sagte Magda resolut. Sie schob den Teller etwas beiseite, da jedoch protestierte Andreas.
»Essen, noch Hunger. Ham.« Weit sperrte er sein Mäulchen auf.
»Gleich, gleich. Du wirst doch deinem Brüderchen auch etwas gönnen. Wir haben ja genug.« Sie rückte An-dreas auf ihrem rechten Knie zurecht. »So, hier haben wir noch Platz.« Auffordernd sah sie zu Frau von Schoenecker hin.
Denise erhob sich. Vielleicht hatte Magda wirklich mehr Glück. Zuerst schien es nicht so, Michael fing nun sogar zu weinen an.
»Aber, aber, man kann doch nicht immer weinen! Wenn du dich nicht beeilst, dann ißt Andreas dir alles weg.« Sie hielt Michael den gefüllten Löffel vor den Mund. Andreas war wirklich schneller. Er schob Magdas Hand in seine Richtung, und schon schnappte er zu. »Mhm, gut.« Er lächelte unschuldig.
»Nein, nein, so geht es nicht. Du mußt deinem Bruder auch etwas lassen. Michael, jetzt mußt du dich wirklich beeilen. Schnell, mach den Mund auf.«
Zuerst reagierte Michael wieder nicht. Erst, als Andreas sich erneut auf den Löffel stürzen wollte, öffnete er den Mund.
»So, nun mußt du nur noch schlucken«, sagte Magda zufrieden. Sie und Denise waren erleichtert, als er das auch wirklich tat.
»Jetzt aber ich«, forderte Andreas.
»Gut, dann aber wieder Michael«, meinte Magda. Sie lächelte.
Von da an ging es anstandslos. Andreas knurrte nur einmal: »Schneller.« Aber er aß seinem Bruder keinen Löffel mehr weg. Nach einer Weile erklärte er jedoch ganz bestimmt: »Bin satt.«
»Gut, dann gehört jetzt alles Mi-chael ganz allein«, behauptete Magda. Doch das zog nicht, jetzt hatte Michael auch keine Lust mehr. »Nur noch ein Löffelchen«, lockte sie, aber es nützte nichts.
Andreas war von Magdas Schoß gerutscht, sachlich stellte er fest: »Michael mag nicht.«
»Michael muß aber etwas essen«, meinte Denise.
»Morgen, Michael morgen essen«, sagte Andreas. Treuherzig sah er zu Denise auf. Er war sowieso der Zutraulichere.
»Wenn du meinst«, gab Denise nach. »Dann wollen wir zu Bett gehen.«
»Ja, mit Mami!« Andreas’ Augen leuchteten auf.
»Das geht nicht. Aber du hast Michael. Du gehst mit Michael ins Bett. Ich werde heute nacht bei euch schlafen.«
Damit war Andreas einverstanden. Er nahm seinen Bruder an der Hand und sagte bestimmt: »Mit Tante schlafen.«
Denise hatte in Sophienlust auch ein Zimmer. Es lag im ersten Stock. Dorthin zog sie sich zurück, wenn sie ausspannen wollte. Hin und wieder übernachtete sie auch da. Das kam aber höchst selten vor, weil das Familiengut Schoeneich nicht weit von Sophienlust entfernt war. Heute aber hatte sie beschlossen hierzubleiben. Alexander, ihr Mann, würde dies sicher verstehen.
*
Helga Berger hatte sich in die Ecke gelehnt. Die Augen hielt sie geschlossen. Sie dachte an ihren Freund. Sicher würde Tonio zornig sein. Der Zug verlangsamte sein Tempo. Erschrocken öffnete Helga die Augen. Sie war eine junge Frau von zweiundzwanzig Jahren. War sie schon am Ziel?
»Wohin wollen Sie denn, Fräulein?« fragte ihr Nachbar.
»Ich muß nach Sophienlust, ich meine Wildmoos. Aber das ist keine Bahnstation.«
»Richtig. Da müssen Sie jetzt aussteigen. Wir sind gleich in Maibach, der Kreisstadt. Von hier aus müssen Sie mit dem Bus weiterfahren.« Der Alte nickte zu jedem seiner Worte.
Helga sah aus dem Fenster. Sie bemerkte, daß der Zug bereits in den Bahnhof einfuhr. »Danke«, sagte sie. Rasch nahm sie ihre Tasche aus dem Gepäcknetz und hastete aus dem Abteil. Ziemlich atemlos stand sie wenig später auf dem Bahnsteig. Sie kam sich sehr verlassen vor. Die letzten zwei Jahre hatte sie keinen Schritt ohne Tonio gemacht. So lange lebte sie schon mit ihm zusammen.
Sie atmete tief durch. Fast bereute sie ihre Fahrt schon. Hatte sie nicht voreilig gehandelt? Was wollte sie eigentlich hier? Doch dann strafften sich ihre Schultern. Sie dachte an die zwei entzückenden Babys. Sie hatte sie nur einmal gesehen – damals waren sie vier Monate alt gewesen. Die beiden hatten nun niemanden mehr, außer ihr. Dieser Gedanke trieb Helga die Tränen in die Augen. Durch die Polizei hatte sie von dem Tod ihrer Schwester und ihres Schwagers erfahren. Entschlossen packte sie ihre Reisetasche. Sie folgte der Menschenmenge, die dem Ausgang zu drängte.
Als sie in dem Bus saß, der von Maibach nach Wildmoos fuhr, kamen ihr erneut Bedenken. Sie hatte impulsiv gehandelt, und dies noch gegen Tonios Willen. Der Gedanke, daß ihre Neffen in?einem Kinderheim leben sollten, war ihr unerträglich. Sie hatte zwar in den letzten Jahren kaum Kontakt mit ihrer Schwester gehabt. Sie hatte gewußt, daß Katrin ihre Lebensweise ablehnte. Und trotzdem – mußte sie sich jetzt nicht um die Zwillinge kümmern?
Helga zerknüllte ihr Taschentuch zwischen den Händen. Sie merkte es nicht. Zum erstenmal seit zwei Jahren hatte sie selbständig gehandelt. Sie wollte sich der Zwillinge annehmen, aber konnte sie das?
Die junge Frau sah während der Busfahrt kein einziges Mal hoch. Viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Ratlos und deprimiert verließ sie in Wildmoos den Bus. Nun stand sie am Marktplatz. Das Angstgefühl wurde stärker. Am liebsten wäre sie jetzt umgekehrt. Der Bus hatte die Haltestelle längst wieder verlassen, da stand Helga noch an der gleichen Stelle. Unschlüssig sah sie sich um.
Denise von Schoenecker befand sich auf der Heimfahrt. Sie überquerte den Marktplatz, da fiel ihr Blick auf Helga Berger. Unwillkürlich trat sie auf die Bremse. Die junge Frau wirkte so hilflos. Dicht vor ihr brachte sie ihren Wagen zum Stehen. Sie kurbelte das Fenster herunter und fragte: »Kann ich Ihnen behilflich sein? Suchen Sie etwas?«
»Ja, ich will in ein Kinderheim, Sophienlust ist der Name. Mir wurde gesagt, daß es in der Nähe von Wildmoos liegt.«
»Stimmt!« Freundlich sah Denise die junge Frau an. Helga war erleichtert. »Sie kennen das Heim? Ist es noch weit von hier?«
»Sie können mit mir fahren. Ich bin auf dem Weg dorthin.« Einladend öffnete Denise die Autotür.
Helga zögerte.
»Wollen Sie jemand in Sophienlust besuchen?« fragte Denise.
»Ja, aber ich sollte wahrscheinlich zuerst dort anrufen. Ich bin eben erst angekommen. Ich muß mir noch ein Zimmer suchen.« Helga hob den Kopf und sah zu dem Gasthof hinüber, der auf der gegenüberliegenden Seite stand.
»Besucher sind in Sophienlust jederzeit willkommen«, meinte Denise.
»Glauben Sie? Ich weiß nicht so recht. Vielleicht war es ein Fehler herzufahren.«
»Kommen Sie von weit her?« wollte Denise wissen. Sie fragte nicht aus Neugierde. Ihr war nicht entgangen, daß die junge Frau immer unsicherer wurde.
Helga nickte. »Aus Hamburg. Ich bin sehr zeitig aufgebrochen.«
»Nun bin ich aber wirklich gespannt, wen Sie besuchen wollen«, erklärte Denise ehrlich. »Ich bin Denise von Schoenecker.«
»Sie sind Frau von Schoenecker! Dann muß ich mich gleich bei Ihnen bedanken.« Helga streckte ihre Hand zum Autofenster hinein. »Der Polizist, der mich anrief, hat gesagt, daß Sie sich gleich um die Kinder gekümmert haben. Sie sind ja noch so klein. Es ist schrecklich. Nun sind sie ganz allein.«
»Sie meinen sicher Michael und Andreas.« Denise war erfreut. »Sind Sie verwandt mit den beiden?«
Helga nickte. »Ich bin ihre Tante – Frau Schönauer war meine Schwester.« Beklommen sah sie Denise an.
»Kommen Sie, steigen Sie doch ein! Die Kinder freuen sich sicher über Ihren Besuch.«
Helga stieg ein. Sie sah auf ihre Hände. Leise sagte sie: »Das können sie gar nicht, sie können sich sicher nicht mehr an mich erinnern. Ich habe sie auch nur ein einziges Mal gesehen.«
»Wichtig ist, daß Sie gekommen sind. Ich habe schon gedacht, daß Michael und Andreas überhaupt keine Verwandten haben.«
»Es gibt auch sonst keine! Daher möchte ich mich gern um die beiden kümmern. Aber wahrscheinlich war es voreilig von mir, hierher zu kommen. Ich weiß gar nicht, wie es weitergehen soll. Ich…« Helga verstummte.
Denise startete ihr Auto. Sie hatte nicht die Absicht, die junge Frau zu bedrängen. »Wollen Sie Ihre Tasche nicht auf den Rücksitz stellen?« fragte sie freundlich.
»Natürlich, entschuldigen Sie.« Helga tat es. Nachdem sie sich angeschnallt hatte, sah sie Denise an. Kurz wandte diese den Kopf und lächelte ihr zu. Das gab Helga den Mut zu fragen: »Sie sind die Besitzerin des Kinderheims?«
»Ich verwalte es. Der eigentliche Erbe ist mein Sohn. Er ist aber erst sechzehn Jahre alt.«
»Gestern nachmittag rief die Polizei an. Da erfuhr ich von dem Unfall. Ich würde so gern helfen.« Helga hatte sich etwas nach vorn gebeugt. Um ihre Mundwinkel zuckte es.
Denise mußte sie nicht ansehen, um zu wissen, daß es ihr ernst war. »Es ist schön, daß Sie gekommen sind«, sagte sie warm.
»Ich weiß nicht«, meinte Helga ehrlich. »Ich kenne die Kinder doch gar nicht. Ich bin eine Fremde für sie. Was kann ich schon tun?« Sie sank auf dem Sitz zusammen. »Mein Freund wird wütend sein. Als ich wegging, schlief er noch. Er hat sicher nicht erwartet, daß ich tatsächlich fahren würde.«
»Sie können ihn von Sophienlust aus anrufen«, meinte Denise.
»Und was soll ich ihm sagen? Er hat ja recht, ich bin wirklich nicht geeignet, mich um die Kinder zu kümmern.«
»Das wird sich noch herausstellen.«
»Aber ich kann es eigentlich gar nicht. Ich habe ja nichts, das heißt, ich muß arbeiten.« Helga hatte ihren Kopf gesenkt. Ihr Gesicht, ihre Haltung, drückten Verzweiflung aus.
»Nun sehen Sie sich die Zwillinge erst einmal an«, versuchte Denise zu trösten. »Jetzt haben Sie die Möglichkeit, Ihre Neffen kennenzulernen.«
»Das will ich doch. Nur… Was ist, wenn sie mich nicht mögen?«
»Darauf lassen Sie es erst einmal ankommen. Michael weint noch immer wegen jeder Kleinigkeit. Er vermißt seine Mutter mehr als sein Brüderchen. Vielleicht gelingt es Ihnen, ihn aufzuheitern.«
»Das wäre schön. Dann wäre meine Reise nicht umsonst gewesen.« Ein zaghaftes Lächeln erschien auf Helgas Gesicht.
»Umsonst ist sie auf gar keinen Fall«, erklärte Denise bestimmt. Auch wenn die junge Frau auf sie einen unausgeglichenen Eindruck machte, so war sie ihr nicht unsympathisch. Denise verließ sich gern auf ihren ersten Eindruck. »Wie heißen Sie übrigens?«
Helga wurde rot. »Entschuldigen Sie. Mein Name ist Berger, Helga Berger.«
»Gut, ich werde Sie Helga nennen. Natürlich nur, wenn es Ihnen recht ist.« Wie immer traf Denise genau den richtigen Ton.
Helga verlor etwas von ihrer Befangenheit. »Natürlich. Und Sie glauben, ich werde Gelegenheit haben, die Kinder öfter zu sehen?«
»Sooft Sie wollen«, sagte Denise erfreut. Noch wußte sie nichts von Helga Berger, aber sie fühlte, daß dieser die Kinder wirklich am Herzen lagen.
Helga richtete sich auf. »Ich werde meinen Freund anrufen. Ich werde ihm sagen, daß ich einige Tage hierbleiben will. Ich nehme mir in Wildmoos ein Zimmer. Ich habe festgestellt, daß es dort einen Gasthof gibt.«
»Dies ist nicht nötig. Sie können in Sophienlust übernachten. Wir haben dort Gästezimmer. Zur Zeit ist keines belegt.«
»Ich will Sie nicht belästigen.«
»Aber es ist praktischer, wenn Sie in Sophienlust wohnen«, meinte Denise. »So können Sie sich intensiver um die Zwillinge kümmern.«
»Das wäre schön. Wissen Sie, ich habe meine Schwester um die beiden fast beneidet. Im letzten Brief sandte sie mir Fotos.« Helga sprach nicht weiter. Sie verschwieg, daß Katrin ihr die Fotos nur gesandt hatte, um sie zur Heimkehr zu bewegen. Dieser Brief lag nun auch schon fast ein Jahr zurück.
»Wir sind da«, sagte Denise. Sie lenkte ihr Auto durch das schmiedeeiserne Tor. Von diesem führte die Auffahrt bis zu dem großen, einstöckigen Gebäude.
Helga hob den Kopf und staunte. Ein Kinderheim hatte sie sich ganz anders vorgestellt. Nichts an diesem Haus war trostlos. An den weißen großen Fenstern befanden sich grüne Fensterläden, und das Dach war mit grauen Schindeln gedeckt.
»Das soll ein Kinderheim sein!« entfuhr es Helga.
»Das ist Sophienlust«, bestätigte Denise lächelnd. Sie ließ ihr Auto vor der Freitreppe ausrollen. Sie war das Erstaunen der Besucher gewöhnt. Aus dem ehemaligen Herrenhaus war das Kinderheim entstanden. Es lag in einem großen Park mit altem Baumbestand.
»Ich dachte immer, ein Kinderheim wäre einem Gefängnis ähnlich«, gestand Helga verwirrt. »Leben hier wirklich Kinder?«
»In jeder Altersstufe«, erwiderte Denise. »Kommen Sie, Sie werden meine Schutzbefohlenen gleich kennenlernen.«
Wie zur Bestätigung öffnete sich das große Portal. Einige Kinder kamen herausgesprungen, allen voran ein fünfjähriges Mädchen. »Es gibt sofort Kakao und Kuchen«, rief sie Denise zu. »Ich habe mir schon die Hände gewaschen – diesmal besonders sauber. Vielleicht gibt mir Magda dann auch noch Erdbeeren.«
»Da kommen wir ja gerade recht«, meinte Denise.
Helga war ausgestiegen. Die Kinder entdeckten sie erst jetzt und grüßten höflich.
»Magst du auch Erdbeeren?« fragte die Kleine, die Heidi hieß.
»Ich weiß nicht.« Helga wußte wirklich nicht, was sie tun sollte. Mit Kindern war sie bisher kaum in Berührung gekommen.
»Wenn du sie nicht magst, dann kannst du sie mir abgeben«, sagte Heidi.
»Das ist Tante Helga«, erklärte Denise. Sie berührte Helga leicht am Arm. »Ich hoffe, daß sie einige Tage bei uns bleibt.«
Heidi hatte die junge Frau inzwischen eingehend gemustert. »Fein«, rief sie nun. »Dann kann sie ja mit mir spielen.«
»Mein Schatz, Tante Helga ist nicht wegen dir gekommen. Aber darüber sprechen wir später. Zuerst wird Tante Helga mit mir Kaffee trinken und Kuchen essen. Kommen Sie nur, Helga. Wenn Sie sich gestärkt haben, mache ich Sie mit den Bewohnern von Sophienlust bekannt.«
Dankbar folgte Helga Frau von Schoenecker. Im Vorbeigehen strich sie dem kleinen Mädchen über das blonde Köpfchen. Heidi quittierte dies mit einem lieben Lächeln.
*
»Tanti Isi, spielst du mit?« Heidi hatte Denise von Schoenecker entdeckt. Wie ein kleiner Wirbelwind rannte sie nun auf diese zu. Denise öffnete die Arme, um sie aufzufangen.
»Auch Tante Isi«, rief Andreas. Er stieß Helga Bergers Hand zur Seite. Munter stapfte er durch die Sandburg, die er gerade mit Helgas Hilfe gebaut hatte, auf Denise zu. Helgas Arme sanken herunter. In ihrem Gesicht spiegelte sich die Enttäuschung. Sie sah dem Kleinen nach. Mit strahlendem Gesicht lief er auf Denise zu. »Hopp«, forderte er, als er vor ihr stand.
Helga seufzte. So beliebt wie Frau von Schoenecker müßte man sein. Sobald sie nur auftauchte, liefen ihr die Kinder nach. Sie mußte aber auch zugeben, daß die Verwalterin für jeden stets ein verständnisvolles Wort hatte.
»Spielen«, forderte eine Stimme neben ihr. Ein kleines Händchen zupfte sie an der Bluse. »Mit Michael spielen.« Zwei blaue Augen blickten sie an, und Helga wurde es warm ums Herz.
»Willst du nicht Tante Isi begrüßen?« fragte sie.
Michael schüttelte den Kopf. »Will bei Tante Helga bleiben.« Treuherzig sah er zu ihr hoch, dann lächelte er.
Glücklich schloß Helga ihn in die Arme. Michael schmiegte sich an sie. Bisher hatte er das noch nie getan. Er hatte sich stets abgesondert und still in einer Ecke gesessen.
»Wir wollen Tante Isi begrüßen«, entschied Helga befriedigt. Mit Mi-chael auf dem Arm erhob sie sich. »Er hat gelächelt«, sagte sie nicht ohne Stolz. Dabei zog sie den Kleinen noch enger an sich.
»Das ist einzig und allein Ihr Verdienst«, stellte Denise fest. Sie hatte den Spielplatz nur aufgesucht, um zu sehen, ob Helga mit den Kindern zurechtkam. Was sie gesehen hatte, gefiel ihr. Die junge Frau hatte sich in den drei Tagen, die sie nun auf Sophienlust weilte, sehr zu ihrem Vorteil verändert. Hatte sie sich zuerst aus Unsicherheit zurückgehalten, so spielte sie jetzt unbefangen mit den Kindern. Sie holte nicht mehr für alles, was sie tat, die Zustimmung von Schwester Regine oder Frau Rennert, der Heimleiterin, ein.
»Glauben Sie?« Helga errötete, diesmal vor Freude. »Es sind entzückende Kinder – alle, nicht nur Michael und Andreas.«
Denise lächelte. Sie wußte, daß Helga besonders die Zwillinge in ihr Herz geschlossen hatte. »Sie haben erreicht, was von uns noch keiner geschafft hat. Wir dachten schon, Mi-chael habe das Lachen verlernt.«
»Ich möchte ihnen so gern die Mutter ersetzen. Es stimmt nicht, daß Kinder einem auf die Nerven gehen.«
»Wer hat das gesagt?« fragte Denise bestürzt. Spürte sie doch deutlich, daß Helga nur die Meinung eines anderen wiedergab.
Helga senkte den Blick. Erst nach einigen Sekunden antwortete sie: »Mein Freund.« Sie hob den Kopf und sah Denise wieder an. »Aber er weiß es nicht besser. Er ist nie mit Kindern zusammen. Wenn er Michael und Andreas kennenlernt, dann ändert er sicher seine Meinung.« Helga redete sich in Eifer. In ihrem Innersten ahnte sie, daß dies nie der Fall sein würde. Aber noch wollte sie es nicht wahrhaben.
»Wollen Sie und Ihr Freund bald heiraten?« fragte Denise. Helga hatte bisher kaum von sich erzählt.
»Heiraten!« Gedehnt kam das Wort aus Helgas Mund. »Ich weiß nicht. Darüber haben Tonio und ich noch nicht gesprochen.« Abweisend zogen sich ihre Augenbrauen zusammen. »Es spielt auch keine Rolle. Tonio und ich gehören zusammen.«
»Sicher.« Denise wollte Helga nicht vor den Kopf stoßen, daher wählte sie sorgfältig ihre Worte: »Man verzichtet heute gern auf den Trauschein. Nur, wenn Sie die Zwillinge zu sich nehmen wollen, dann muß vor dem Gesetz alles seine Ordnung haben.«
»Heiraten.« Helga schluckte. »Ich glaube nicht, daß Tonio das will.« Ehe Denise etwas dazu sagen konnte, begann sie, ihren Freund zu verteidigen: »Tonio ist seine Freiheit gewohnt. Das heißt nicht, daß er das ausnützt. Seit zwei Jahren kümmert er sich nur um mich. Wären wir verheiratet, würde dies seinem Ruf schaden. Er besitzt in Hamburg ein gutgehendes Lokal. Er verdient viel Geld damit.«
Denise überlegte. Konnte sie die nächste Frage stellen? Sie mußte wissen, in welchen Verhältnissen Helga Berger lebte. Sie war für die Zwillinge verantwortlich. »Und was machen Sie?« fragte sie. Sie schaute dabei aber Helga nicht an, sondern setzte Andreas, den sie noch immer auf den Armen hielt, und der bereits ungeduldig zappelte, auf dem Boden ab.
»Ich… ich helfe meinem Verlobten. Das ist doch selbstverständlich, oder?« sagte Helga.
»Das ist sicher schön. So haben Sie die gleichen Interessen.« Da Andreas zum Sandhaufen zurückgetappt war, richtete Denise sich auf und sah Helga an.
»Ja… nein.« Verlegen nestelte Helga an Michaels Hemdchen.
Denise erkannte, daß die junge Frau nicht glücklich war. Impulsiv legte sie ihr die Hand auf den Arm. »Wollen Sie sich nicht aussprechen?«
»Ich… ich wüßte nicht, worüber ich mich beschweren sollte! Mir geht es in Hamburg ausgezeichnet. Tonio sorgt gut für mich. Ich bin sehr glücklich mit ihm. Meine Schwester glaubte das nicht…« Helga lachte kurz auf. »Sie kannte Tonio ja kaum. Ein einziges Mal hat sie ihn gesehen, und gleich wollte sie urteilen.«
»Sie haben sich mit Ihrer Schwester also nicht verstanden?« stellte Denise fest. Sie provozierte Helga nun bewußt. Sie wollte diese zum Sprechen bringen. Da sie keinen Blick von ihr wandte, sah sie, daß ihr das Blut ins Gesicht schoß.
»Das habe ich nicht gesagt.« In ihrer Erregung drückte Helga Michael so fest an sich, daß dieser einen protestierenden Laut von sich gab.
»Heidi, Fabian, spielt doch mal mit Michael und Andreas«, rief Denise.
Das ließen sich die beiden nicht zweimal sagen. Sie kamen her und zogen die Kleinen gleich mit sich fort. Helga sah ihnen nach. »Sie werden sich hier bald eingelebt haben. Sicher haben sie ihre Eltern schnell vergessen.«
»Sie gehören in eine Familie«, meinte Denise. »Sie brauchen ein Nest.«
Helga preßte die Lippen aufeinander, dann sagte sie: »Michael und Andreas sind hier gut aufgehoben. Daran gibt es keinen Zweifel.«
»Trotzdem, die Eltern können wir ihnen nicht ersetzen«, widersprach Denise.
»Ich würde mich gern um die beiden kümmern. Es wäre sehr schön, aber es geht nicht.«
»Warum nicht, Helga?« Denise war sich bewußt, daß sie an einen wunden Punkt rührte. Aber sie wollte endlich wissen, was mit der jungen Frau los war. Hatte sie sich doch selbst davon überzeugen können, daß Helga eine ausgezeichnete Mutter abgeben würde.
»Es geht nicht. Es wäre besser gewesen, ich hätte auf Tonio gehört. Er weiß schon, was möglich ist, und was nicht.«
»Michael hat sich Ihnen bereits völlig angeschlossen. Er braucht Sie«, meinte Denise.
»Ich hätte auf Tonio hören sollen«, sagte Helga erneut.
»Unsinn. Michael und Andreas sind Ihre Neffen. Sicher werden Sie eine Möglichkeit finden, sie zu sich zu nehmen.«
Statt einer Antwort wandte Helga sich halb ab. So fuhr Denise fort: »Ich bin Ihnen gern dabei behilflich.«
»Wozu?« kam es schroff von Helgas Lippen. »Ich habe alles, was ich brauche, Tonio sorgt für mich.«
»Dann wird Tonio sicher auch für die Zwillinge sorgen«, meinte Denise leichthin, im Grunde war ihr aber beklommen zumute.
»Nein, warum sollte er?« Helga straffte sich. »Nun werden Sie sicher auch gleich über Tonio herfallen. Ich sage Ihnen jedoch, er ist ein herzensguter Mensch. Ich bekomme von ihm alles, was ich will.«
Denise furchte die Stirn. Helgas plötzliche Heftigkeit erstaunte sie. »Daran zweifle ich nicht. Ich kenne Ihren Tonio nicht.«
»Karin hat ihn auch nicht gekannt. Sie war gegen ihn, von Anfang an war sie gegen ihn.«
»Erzählen Sie mir von ihm.« Denise begleitete ihre Worte mit einem aufmunternden Lächeln. Doch es verfehlte diesmal seine Wirkung.
»Nein! Sie denken doch genauso wie Karin. Sie würden Tonios Lebensweise sowieso nicht akzeptieren.«
»Das kommt darauf an«, meinte Denise ehrlich.
»Tonio ist Ausländer«, erklärte Helga trotzig.
»Ich hege kein Vorurteil Ausländern gegenüber«, stellte Denise ernst fest.
»Er lebt auch schon sehr lange in Hamburg. Er hat es nicht leicht gehabt. Immer wieder will man ihm etwas in die Schuhe schieben.«
Denise schüttelte langsam den Kopf. »Warum verteidigen Sie Ihren Freund die ganze Zeit?« fragte sie.
»Ich… das tue ich doch nicht.« Helga schaute auf ihre Schuhspitzen. Sie wirkte wieder sehr unsicher.
»Kommen Sie!« Denise warf einen raschen Blick auf die Kinder, die Ringelreihen spielten. »Setzen wir uns.«
»Nein. Ich will nicht über Hamburg sprechen. Bitte, entschuldigen Sie mich.« Ehe Denise etwas sagen konnte, drehte Helga sich um. Sie wollte davoneilen, aber Michael ließ das nicht zu. Blitzschnell löste er sich aus dem Kreis.
»Tante Helga! Warten, will mit.« So schnell er konnte, lief er hinter ihr her.
Helga blieb stehen. Sie drehte sich um, und Denise sah, daß sie unter Tränen lächelte.
»Tante dableiben«, plapperte der Kleine. »Mit Michael bauen. Große Burg.«
»Ja, mein Schatz, wir bauen weiter.« Helga nahm den Kleinen auf die Arme. Sie ging zum Sandkasten zurück. Vor Denise hielt sie kurz an. »Auch Karin glaubte, mir helfen zu müssen. Das ist nicht notwendig. Ich werde nochmals mit Tonio sprechen. Ich möchte… ich sollte schon längst wieder in Hamburg sein. Tonio wird bereits auf mich warten.«
Denise unterdrückte einen Seufzer. So lange Helga nicht offen über ihre Probleme sprach, konnte sie ihr wirklich nicht helfen. »Sie können hierbleiben, so lange Sie wollen. Sie sind uns eine große Hilfe«, sagte sie daher nur, und sie meinte es ganz ehrlich.
»Danke.« Helgas Stimme klang gepreßt. Gern hätte sie mit Denise von Schoenecker gesprochen, aber sie wußte, daß Tonio damit nicht einverstanden gewesen wäre.
»Tante bauen«, forderte Michael. Sein Gesichtchen verzog sich. Er spürte die Spannung.
»Kann ich mich wieder um die Kinder kümmern?« fragte Helga. »Wir wollten eine ganz große Burg bauen. Sie haben doch nichts dagegen?«
»Natürlich nicht.«
»Und wenn ich etwas falsch mache? Ich bin sicher keine gute Erzieherin.«
»Sie machen es schon richtig«, entgegnete Denise. »Ich lasse Sie mit den Kindern wieder allein. Eine Stunde haben Sie noch Zeit, dann kommen die Großen von der Schule, und es gibt Mittagessen.«
»Wir werden pünktlich sein«, versicherte Helga.
Bevor Denise sich abwandte, sah sie, daß Helga Michael und Andreas liebevoll an sich zog. Michael schlang sofort seine Ärmchen um ihren Hals. Er akzeptierte Helga. Gedankenverloren ging Denise durch den Park zurück zum Haus. Wie lange würde sie noch hierbleiben? Besonders für Michael würde es schmerzlich sein, wenn sie nach Hamburg zurückging. Offensichtlich war Fräulein Berger nicht fähig, eine Entscheidung zu treffen. So, wie es schien, war sie völlig von ihrem Freund abhängig.
In der Halle kam Denise Schwester Regine, die Kinder- und Krankenschwester von Sophienlust, entgegen. »Ich habe Sie bereits gesucht. Wir hatten einen eigenartigen Anruf. Es war ein Mann am Apparat. Er nannte seinen Namen nicht, wollte nur wissen, ob Helga Berger wirklich hier sei. Als ich ihm das versicherte, verlangte er von mir, daß ich sie sofort nach Hamburg zurückschicke. Als ich ihm sagte, daß ich hier nur die Kinderschwester sei, wurde der Mann ausfällig. Er wollte sofort mit der Heimleiterin sprechen.«
»Tonio«, murmelte Denise. Eine erste Ahnung stieg in ihr hoch.
»Was meinen Sie?« fragte Schwester Regine.
»Oh, nichts. Was haben Sie getan?«
»Schwester Regine hat mich an den Apparat geholt«, erwiderte Frau Rennert. Man sah ihr die Erregung noch an. »Dieser Mann ließ mich jedoch nicht einmal ausreden. Stellen Sie sich vor, er drohte mir!«
»Das ist ja noch schlimmer, als ich vermutet habe.« Denise war bestürzt.
Frau Rennerts Empörung hatte sich noch nicht gelegt. »So eine Frechheit ist mir wirklich noch nie untergekommen.«
»Bitte, beruhigen Sie sich! Gehen wir ins Büro. Ich möchte genau wissen, was der Mann gesagt hat.«
»Nicht viel«, erklärte Frau Rennert. »Er verlangt, daß wir Fräulein Berger wegschicken. Als ich das zurückwies, wurde ich beschimpft.«
»Und sonst ist Ihnen nichts aufgefallen?« fragte Denise weiter. Sie hatte die Tür zum Empfangsraum geöffnet. Sie trat zur Seite und ließ Frau Rennert und Schwester Regine eintreten. Beide hielten sich hier oft auf.
»Er muß Ausländer sein«, fügte Schwester Regine hinzu. »Er sprach zwar ausgezeichnet deutsch, aber beim Fluchen kam sein Akzent durch.«
»Das wollte ich wissen.« Denise setzte sich ebenfalls. Sie legte die Fingerspitzen gegeneinander. »Es dürfte sich also um Helgas Freund handeln.« Sie erzählte, daß Helga einen gewissen Tonio erwähnt hatte. »Sie wollte aber nicht über ihn sprechen. Ich möchte Sie daher bitten, diesen Anruf zu verschweigen. Wenn Helga davon erfährt, würde sie wahrscheinlich sofort abreisen.«
Das sahen Frau Rennert und Schwester Regine ein. Sie nickten zustimmend. Auch ihnen war Fräulein Berger nicht unsympathisch.
*
»Sie, wohin wollen Sie?« Schwester Regine kam vom 1. Stock. Da die teppichbespannte Treppe ihren Schritt verschluckte, hörte der Fremde sie nicht kommen. Er hatte die Halle durchquert und gerade eine der Türen geöffnet. Die Stimme ließ ihn herumfahren.
»Na, endlich! Ich dachte schon, der Kasten ist ausgestorben.«
»Zu wem wollen Sie denn?« Verwundert kam Schwester Regine, eine hübsche Frau von achtundzwanzig Jahren, näher.
»Zu wem denn wohl?« Spöttisch blitzten sie die Augen des jungen Mannes an. »Natürlich zur Heimleiterin. Sie ist doch für diesen Kasten zuständig.«
»Meinen Sie Frau Rennert oder Frau von Schoenecker? Sie verwalten das Kinderheim.«
»Ich dachte, Frau von Schoenecker ist die Heimleiterin.« Der dunkelhaarige Mann kratzte sich hinter dem Ohr, dann grinste er Schwester Regine verbindlich an. »Ich möchte natürlich diejenige sprechen, die hier bestimmt, die am meisten zu sagen hat. Verstanden?«
»Das kommt darauf an, was Sie wünschen.« Schwester Regines Miene verschloß sich.
»Ich möchte mich mit einer der Damen unterhalten – einfach nur unterhalten.« Wieder grinste der Mann. Er zeigte dabei blendend weiße Zähne, und unwillkürlich stellte Schwester Regine fest, daß er sehr gut aussah. »Und Sie, wie kommen Sie eigentlich in diesen Laden?« fuhr der Mann fort, dabei zuckte es spöttisch um seine Mundwinkel.
»Ich bin hier angestellt«, gab Schwester Regine widerwillig Auskunft.
»Sagen Sie bloß, Sie hüten die Waisenkinder. Dazu sind Sie doch viel zu schade. Eine Frau, die so aussieht wie Sie, gehört in die Großstadt. Hamburg wäre gerade das richtige.«
»Ach so.« Langsam dämmerte Schwester Regine, wen sie vor sich hatte.
»Ja«, bestätigte da Tonio auch schon. »Ich habe Ihre Stimme gleich wiedererkannt. Wir haben gestern miteinander telefoniert.« Jetzt lächelte er charmant. »Verzeihen Sie, wenn ich da ein wenig grob war. Ich habe jedoch nicht gern, wenn mir etwas abhanden kommt. Mir ist schleierhaft, warum man Fräulein Berger hier Unterkunft bietet. Nun, jetzt bin ich hier, um nach dem Rechten zu sehen. Fräulein Berger ist sehr unberechenbar. Es könnte sonst sein, daß sie eine Dummheit macht.«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.« In Schwester Regines Miene spiegelte sich deutlich Mißbilligung.
»Machen Sie doch nicht so ein strenges Gesicht. Ich bin keiner Ihrer Zöglinge.« Tonio lachte. »Ich weiß genau, was hier gespielt wird. Ihr wollt Helga die Zwillinge andrehen. Sie hat ein weiches Herz. Sie kann nicht nein sagen. Aber so geht das nicht!« Er rieb sich die Hände. »Nun, Schwester, wen können Sie mir empfehlen? Mit wem kann ich mich über dieses Problem unterhalten?«
»Fräulein Berger macht gerade mit den Kindern einen Spaziergang.«
Abwehrend hob Tonio die Hände. »Nein, nein… mit Helga spreche ich erst am Schluß.« Sekundenlang verfinsterte sich sein Gesicht. »Sie sieht sicher ein, daß ich auch ein Wörtchen mitzureden habe.« Dann lachte er kurz auf. »Alle Achtung, ihr habt Fräulein Berger gleich als Kindermädchen eingespannt.«
»Es war ihr eigener Wunsch.«
»Gut, mir soll es recht sein. Nur jetzt ist Schluß damit. Das können Sie Ihrer Frau von Schoenecker gleich sagen. Nein, ich werde es ihr selber sagen. Bringen Sie mich nun endlich zu ihr, oder muß ich mich wieder auf die Suche machen?«
»Bitte, warten Sie hier.« Schwester Regine wies auf einen mit braunem Leder bezogenen Sessel, der in der Nähe des offenen Kamins stand.
»Wozu? Ich habe nicht die Absicht, länger zu bleiben.« Mit einer herausfordernden Geste strich Tonio sich die schwarz Haarlocke aus der Stirn.
Schwester Regine sah über ihn hinweg. »Ich hole Frau von Schoenecker.« Sie drehte sich um und ging zu dem büroähnlichen Empfangsraum. Sie wußte, daß Denise von Schoenecker Briefe schrieb. Sie öffnete die Tür, da erst merkte sie, daß der Mann ihr gefolgt war. Jetzt schob er sie einfach zur Seite.
»Oh!« entfuhr es ihm, als er der aparten schwarzhaarigen Frau ansichtig wurde. Denise von Schoenecker war Tänzerin gewesen. Sie hatte kaum etwas von ihrer einstigen Schönheit eingebüßt. Tonio blickte sie bewundernd an.
»Der Herr kommt aus Hamburg«, verkündete Schwester Regine, jedes Wort betonend.
»Ach so!« Denise erhob sich. »Ich habe mit Ihrem Besuch gerechnet.«
»Sie haben mit meinem Besuch gerechnet?« Tonio wirkte verblüfft. »Ja, wissen Sie überhaupt, wer ich bin?«
»Ich kann es mir denken. Leider weiß ich Ihren Nachnamen nicht.« Denise sah Schwester Regine fragend an. »Hat er sich vorgestellt?«
»Oh, Verzeihung. Wie unhöflich von mir. Gestatten…« Tonio machte eine übertriebene Verbeugung. »Mein Name ist Saretti, Tonio Saretti.«
»Denise von Schoenecker«, entgegnete Denise. »Ihr Vorname war uns bereits bekannt. Wollen Sie sich nicht setzen?« Sie kam hinter dem Schreibtisch hervor und ging zu der Sesselgarnitur, die am anderen Ende des Zimmers stand.
Tonio folgte ihr auf dem Fuß. Er setzte sich nicht, sondern blieb vor dem Sessel stehen. »Woher wissen Sie meinen Vornamen?« Zornig blitzten seine Augen. »Sagen Sie, hat Helga geplaudert? Was hat sie erzählt?« Er packte Denise am Oberarm.
Ruhig schob diese seine Hand zur Seite. »Setzen Sie sich, bitte«, wiederholte sie und wandte sich dann an Schwester Regine. »Bitte, sorgen Sie dafür, daß wir Kaffee und Gebäck bekommen.«
Schwester Regine nickte, zögerte jedoch mit einem Blick auf Tonio Saretti. Man merkte, daß sie Frau von Schoenecker nicht gern mit diesem Mann allein ließ.
»Gehen Sie nur«, munterte Denise sie auf. »Ich habe mit Herrn Saretti zu reden. Nehmen Sie doch endlich Platz.« Sie musterte den jungen Mann. »Es ist nicht so, wie Sie vermuten. Ihre Freundin hat mir nichts erzählt. Leider, denn so weiß ich nicht, ob ich ihr die Zwillinge anvertrauen kann!«
»Was soll das heißen?« Tonio, der sich gerade gesetzt hatte, fuhr wieder auf. »Sie kann sich nicht um die Kinder kümmern. Das dürfen Sie mir glauben! Helga hat nichts, sie ist nichts. Sie ist von mir abhängig.«
»So etwas Ähnliches habe ich mir schon gedacht«, meinte Denise. Sie lehnte sich zurück. »Fräulein Berger ist nun mal die einzige Verwandte.«
»Und?« Herausfordernd sah Tonio Denise an. »Können die Kinder nicht bei Ihnen bleiben? Helga kann sie jedenfalls nicht zu sich nehmen. Sie lebt bei mir.«
»Sie ist von Ihnen abhängig, das erklärten Sie bereits.«
»Ja, und es stimmt.« Tonio ließ sich wieder in den Sessel fallen. »Sie lebt seit zwei Jahren bei mir. Ohne mich wäre sie… nun egal. Was hat sie Ihnen erzählt?«
»Nichts.«
»Aber sie ist hier, nicht wahr? Sie spielt hier Kindermädchen.« Denise wollte etwas sagen, aber Tonio schnitt ihr unhöflich das Wort ab. »Mir ist das gleich. Nur, nun ist Schluß damit! Ich hole Helga wieder ab.«
»Schade! Sie wäre eine gute Mutter geworden.«
»Helga und eine Mutter!« Tonio lachte. »Verzeihen Sie, aber als Mutter kann ich mir Helga wirklich nicht vorstellen.«
Lena, ein älteres Hausmädchen, brachte den Kaffee. Ihr folgte Schwester Regine. Sie trat zu Denise und sagte leise: »Fräulein Berger ist gerade mit den Kindern gekommen.«
»Gut, dann bitten Sie sie herein.«
»Aber…« Schwester Regine betrachtete Herrn Saretti kurz.
»Helga muß die Entscheidung selbst treffen«, meine Denise.
»Helga!« Tonio erhob sich. »Ist Helga zurück? Dann kann sie gleich ihre Sachen zusammenpacken.« Er wollte zur Tür.
»Bleiben Sie.« Diesmal duldete Denise wirklich keinen Widerspruch. »Schwester Regine wird Helga holen. Für einen Kaffee werden Sie doch wohl noch Zeit haben. Sie können aber auch gern ein Glas Wein bekommen.«
»Danke! Ich weiß nur nicht, was das soll! Sie glauben doch nicht, daß Sie Helga überreden können.«
»Ich habe nicht die Absicht, dies zu tun.« Denise nahm Lena die Kaffeekanne aus der Hand. »Danke, ich schenke schon selbst ein.« Sie füllte ihre Tasse, dann fragte sie: »Wollen Sie nun Kaffee?«
»Wenn es sein muß, trinke ich auch Kaffee.« Tonio sah zur Tür. Schwester Regine und das Hausmädchen waren bereits hinausgegangen. Vor der Tür hörte man ein Protestgeschrei, gleich darauf trat Helga ein. Einen der Zwillinge hielt sie auf dem Arm.
»Na, da staunst du, nicht?« Mit langsamen Bewegungen ging Tonio auf sie zu. Er ließ sie dabei nicht aus den Augen.
Helga brachte keinen Ton heraus.
»Du machst ja Sachen.« Nun stand er dicht vor ihr.
»Ich… ich habe doch nichts getan. Ich sagte dir doch, daß ich einige Tage hierbleiben will. Morgen wäre ich zurückgefahren.«
Schwester Regine, die Helga hereinbegleitet hatte, konnte nicht an sich halten: »Sie wollten uns morgen wirklich verlassen?«
»Sie haben es doch gehört«, wies Tonio sie zurecht, ehe Helga etwas sagen konnte. Er grinste.
»Ja, das habe?ich. Ich verstehe es nur nicht.«
»Wenn dies Helgas Entscheidung ist, dann müssen wir uns fügen. Helga, bitte setzen Sie sich doch. Jetzt trinken wir zuerst einmal Kaffee«, meinte Denise.
»Und Michael?« Helga hielt den Kleinen etwas von sich.
»Den nehme ich mit. Er bekommt Kakao.« Schwester Regine wollte ihn ihr abnehmen.
»Nein! Kann er nicht bei mir bleiben?« Enger umschlossen sich Helgas Arme um den Kleinen, dem das gefiel. »Michael gibt Kuß«, rief er, und schon drückte er sein Mündchen auf Helgas Wange.
»Ist er nicht süß? Tonio, so sieh ihn dir nur einmal an!«
»Was soll das?« entgegnete Tonio ungeduldig. »Er ist ganz nett, aber du hast wirklich schon lange genug Kindermädchen gespielt. Es wird Zeit, daß du Vernunft annimmst. Gib ihn endlich der Schwester. Sie ist für ihn zuständig.«
Helga gehorchte. Da Michael aber sein Gesichtchen verzog, strich sie ihm rasch nochmals über das Haar und sagte: »Sei lieb. Später spielen wir wieder.«
»Dazu wirst du wohl kaum mehr Zeit haben. Los, setz dich und trink deinen Kaffee.« Tonio packte Helga ziemlich unsanft am Arm und drückte sie in einen Sessel. »Trink deinen Kaffee, damit wir fahren können.«
Helga senkte den Blick. Sie wagte es nicht, Denise anzusehen. Diese schob ihr eine Tasse hin. »Hier ist auch Gebäck.«
»Danke.« Helga schüttelte den Kopf. Sie hätte jetzt keinen Bissen hinuntergebracht.
»Stell dich doch nicht so an, sei froh, daß ich gekommen bin! Was glaubst du, was mich der Spaß kostet?« Tonio warf Helga einen finsteren Blick zu, dann griff er ebenfalls nach der Tasse.
Helga betrachtete ihn nicht. Endlich brachte sie den Mut auf, Denise anzublicken. »Was wird nun mit Michael und Andreas werden?« fragte sie.
»Sie können bei uns bleiben. Die Entscheidung liegt aber nicht bei mir. Es wird ja auch jemand als ihr Vermögensverwalter eingesetzt werden.«
Helga nickte. »Ich darf sie doch hin und wieder besuchen?«
»Glauben Sie wirklich, daß Sie das tun werden?« fragte Denise. »Ich glaube nicht, daß Herr Saretti dies wünscht.«
Tonio hatte sich etwas nach vorn gebeugt. »Sie sprachen von einem Vermögensverwalter. Was meinen Sie damit?«
»Die Zwillinge haben ihre Eltern beerbt«, gab Denise Auskunft.
Tonio wandte sich an Helga. »Und du, du hast nichts bekommen?«
»Katrin hatte kein Geld. Ihr Mann hat alles mit in die Ehe gebracht.« Helga sagte es gleichgültig. Das Geld interessierte sie nicht. Bittend sah sie ihren Freund an. »Ich möchte noch hierbleiben – nur noch zwei, drei Tage. Jetzt bist du doch da. Du hast mir schon lange Ferien versprochen.«
»Du hast sie dir jetzt selbst genommen«, knurrte Tonio.
»Die Kinder, Tonio – sie sind so lieb! Sie werden dir auch gefallen.« In ihrer Verzweiflung begann Helga zu schluchzen.
»Gut!« Tonio erhob sich. »Von mir aus bleibe hier. Ich fahre in den Ort und nehme mir ein Zimmer. Vielleicht hast du dann am Abend für mich Zeit. Um 18 Uhr hole ich dich hier ab.«
»Oh, Tonio!« Helga sprang auf. Sie war bereit, ihrem Freund um den Hals zu fallen, doch dieser schritt einfach an ihr vorbei aus dem Zimmer.
»Sehen Sie!« Helga schaute Denise an. »Er ist nicht hart! Er hat ein Herz. Die Zwillinge gefallen ihm sicher.« Ihre Augen leuchteten.
*
»Der Onkel wird gleich kommen. Wißt ihr noch, was ihr mir versprochen habt?« Helga beugte sich zu den Zwillingen hinunter. Diese trippelten munter neben ihr auf das große schmiedeeiserne Tor zu.
»Ja«, sagte Andreas. »Ich laufe dem Onkel entgegen.« Schon rannte er schneller.
»Müssen lieb sein«, rief Michael hinter ihm her. »Tante hat gesagt, wir müssen lieb sein.«
Andreas hielt an. »Bin lieb.« Er eilte zu Helga zurück, dann forderte er: »Tante sag, daß ich lieb bin.«
»Das werden wir erst sehen, wenn der Onkel da ist.« Helga strich ihm über das Haar. Da sich gleich darauf Michael an sie schmiegte, tat sie es auch bei ihm.
Helgas Herz begann wild zu klopfen. Vor dem schmiedeeisernen Tor hielt ein Auto. Tonio stieg aus. »Hallo«, rief er ihr entgegen. »Spielst du noch immer Kindermädchen?«
»Ich dachte… ich bin doch wegen der Kinder hiergeblieben.« Unwillkürlich faßte Helga die Kleinen an der Hand.
»Das Denken überlaß lieber mir«, meinte Tonio. »Hast du noch nicht begriffen, daß nichts dabei herauskommt, wenn du es versuchst?«
Helga konnte nicht antworten, sie mußte sich um Michael kümmern, der prompt zu weinen anfing.
»Bring die Kinder zurück, aber schnell! Ich will nicht ewig auf dich warten«, fuhr Tonio sie erneut an.
»Der Onkel ist aber nicht lieb«, rief Andreas. »Ich auch nicht lieb, pah!«
Er streckte Tonio die Zunge heraus.
»Na warte, dir werde ich schon noch Anstand beibringen.« Tonio hob die Hand.
Entsetzt schrie Helga auf.
Schlagartig glättete sich Tonios Miene wieder. »Keine Sorge, ich vergreife mich schon nicht an ihm. Jetzt jedenfalls noch nicht«, fügte er grinsend hinzu.
»Tante, will gehen«, jammerte Michael. Ängstlich hatte er sich an Helga gedrückt.
»Das Kind ist vernünftiger als du«, meinte Tonio höhnisch. »Nun mach schon, bring die Kinder zurück. Ich habe mit dir etwas zu besprechen.«