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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. E-Book 86: Ein Bub ohne Elternliebe E-Book 87: Dem Stiefvater davongelaufen E-Book 88: Wenn ein Mädchen Toni heißt E-Book 89: Geliebte Stieftochter E-Book 90: Die kleine Puppenmutter E-Book 1: Ein Bub ohne Elternliebe E-Book 2: Dem Stiefvater davongelaufen E-Book 3: Wenn ein Mädchen Toni heißt E-Book 4: Geliebte Stieftochter E-Book 5: Die kleine Puppenmutter
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Seitenzahl: 777
Ein Bub ohne Elternliebe
Dem Stiefvater davongelaufen
Wenn ein Mädchen Toni heißt
Geliebte Stieftochter
Die kleine Puppenmutter
»Sie kommen, sie kommen!«, schrie Henrik von Schoenecker aus Leibeskräften. Er war auf einen Baum geklettert, um den Rolls-Royce auch ganz bestimmt als Erster zu erblicken. Denn für ihn und alle Kinder von Sophienlust war es hochinteressant, dass ein fünfjähriger Junge in einem Rolls-Royce ankommen sollte.
Henrik wusste das von seinem Vater. Alexander von Schoenecker hatte dieselbe Schule besucht wie der Vater von Bastian Schlüter. Bei einem Abituriententreffen waren die beiden einander vor Kurzem wiederbegegnet, nachdem sie sich zuvor vollkommen aus den Augen verloren hatten. Kurt Schlüter hatte Alexander von Schoenecker bei dem Wiedersehen erzählt, dass er für drei Monate auf Reisen gehen wollte. Was hatte da nähergelegen, als dass Alexander von Schoenecker sofort von Sohienlust berichtet und dem Schulkameraden von ehedem die Aufnahme seines Jungen angeboten hatte?
Während der große Wagen sich langsam dem Herrenhaus von Sohienlust näherte, versammelten sich die Kinder in der Nähe des Eingangs, um nur ja die Ankunft Bastian Schlüters nicht zu versäumen.
»Seinen Hund bringt er auch mit. Eine Dogge«, äußerte Dominik von Wellentin-Schoenecker. »Vati hat erzählt, dass es ein besonders wohlerzogener Hund ist.«
Der Lärm, den die Kinder gemacht hatten, war im Hause nicht unbemerkt geblieben. Denise und Alexander von Schoenecker, die beide von Schoeneich nach Sophienlust gekommen waren, um Alexanders Schulfreund mit seinem Sohn willkommen zu heißen, traten in dem Augenblick vors Haus, als der Rolls-Royce gerade vor der Freitreppe hielt. Es war ein imponierender Anblick.
Jetzt sprang ein livrierter Chauffeur aus dem Wagen und riss den Schlag auf. Ein ziemlich korpulenter Mann, den man gut und gern zehn Jahre älter als Alexander von Schoenecker geschätzt hätte, obwohl er doch gleichaltrig sein musste, stieg schwerfällig aus. Er würdigte die Gruppe von Kindern keines Blickes, sodass diese, die sonst die Gäste herzlich begrüßten, es nicht wagten zu lächeln oder gar zu winken.
Nun stieg Bastian Schlüter aus. Er war ein blasser kleiner Kerl mit kurz geschorenen Haaren. Ihm folgte die Dogge Wiking.
Es war vor allem das Verhalten des Tieres, das den Kindern von Sophienlust den Atem verschlug. Der Hund sprang nicht etwa aus dem Auto, sondern stieg langsam aus – jeder Zoll Würde und gutes Benehmen. Dann stolzierte er gemessenen Schrittes einen halben Meter hinter Bastian Schlüter her. Vater, Sohn und Hund wirkten alle drei zusammen wie aufgezogene Puppen.
»Willkommen, Kurt«, sagte Alexander von Schoenecker indessen laut und herzlich. »Denise, das ist also mein ehemaliger Schulkamerad Kurt Schlüter.«
Denise reichte dem dicklichen Herrn mit dem hochmütigen, blasierten Gesicht die Hand. Er gefiel ihr nicht. Aber darauf kam es jetzt nicht an. Es ging schließlich nicht um den Vater, sondern um den Sohn.
»Halte dich gerade, Bastian!«, zischte Kurt Schlüter seinem Sohn zu. »Sag anständig guten Tag.«
Der kleine Kerl reckte sich auf und verbeugte sich wie eine Marionette vor Denise und Alexander.
»Ich habe nicht viel Zeit, gnädige Frau«, verkündete Kurt Schlüter mit wichtiger Miene. »Vielleicht können wir die nötigen geschäftlichen Dinge sofort regeln. Mein Sohn darf wohl inzwischen bei den Kindern warten.«
Die drei Erwachsenen wandten sich dem Haus zu, während Henrik sich ein Herz fasste und auf den Jungen zuging. »Bist du Bastian?«, fragte er.
»Ja, ich bin Bastian Schlüter, der Sohn des Generaldirektors Schlüter.« Dabei warf der Junge seinem Vater einen ängstlichen Blick zu, als wollte er fragen, ob es so auch recht sei.
Die großen Kinder fingen an zu kichern. Deutlich konnte man dann Pünktchens Stimme vernehmen. »Der hat wohl eine mittelgroße Meise. Das interessiert uns doch überhaupt nicht.«
Vicky war so entrüstet, dass sie den erschrockenen Jungen grob anfuhr: »Was dein Vater ist, hat auf Sophienlust gar keine Bedeutung. Es ist uns schnuppe und wurscht. Das kannst du dir gleich hinter die Ohren schreiben. Wir sind hier alle dasselbe – Kinder von Sophienlust. Wem das nicht genug ist, der braucht gar nicht erst zu kommen. Überlege dir lieber noch, ob du mit eurem piekfeinen Chauffeur nicht lieber wieder zurückfahren willst. Deinen affigen Köter kannst du auch gleich mitnehmen. Der hat wohl einen Quirl verschluckt? Oder ist er etwa krank?«
Bevor der arme Bastian etwas erwidern konnte, war Denise schon umgekehrt und hatte ihren Arm um den kleinen Buben gelegt. Davon, dass der Generaldirektor rot anlief vor Ärger, nahm sie keine Notiz, aber Bastians Reaktion bereitete ihr Sorgen. Der Junge war ganz blass geworden.
»Vicky«, sagte Denise mahnend und sah das kleine Mädchen dabei vorwurfsvoll an, sodass Vicky beschämt die Augen senkte. Das Temperament war mit ihr durchgegangen. Zu spät fiel ihr ein, dass man Gästen gegenüber höflich sein musste, auch wenn einem nicht alles richtig erschien, was sie taten.
»Bastian wollte uns nur sagen, wie er heißt und was sein Vater ist. Jetzt wissen wir es, Vicky«, meinte Denise und strich dem Buben über das kurze Haar. »Er bildet sich bestimmt nichts darauf ein. So dumm ist Bastian nicht.«
Ein dankbarer Blick aus den treuherzigen braunen Jungenaugen traf Denise. Rasch ermutigte sie das Kind. »Du wirst dich schon mit ihnen vertragen, Bastian. Ich kümmere mich später noch um dich. Jetzt muss ich erst mit deinem Vater sprechen, weil er nicht viel Zeit hat.«
»Ja, gnädige Frau. Vati hat nie viel Zeit«, antwortete Bastian.
»Du brauchst nicht gnädige Frau zu mir sagen«, entgegnete Denise lächelnd. »Alle Kinder in Sophienlust nennen mich Tante Isi. Also bis später, Bastian.«
»Was für ein freches, vorlautes kleines Mädchen«, äußerte der Generaldirektor abfällig, bevor er mit den anderen Erwachsenen das Herrenhaus betrat.
Henrik streckte Bastian die Hand hin. »Willkommen in Sophienlust. Es wird dir bestimmt bei uns gefallen. Wir haben viele Tiere hier, und dein Hund wird sich sicher auch bald bei uns zu Hause fühlen. Wie heißt er denn?«
Henrik gab sich alle Mühe, den ungünstigen Eindruck, den Vickys spontane Äußerung hervorgerufen hatte, zu verwischen. Ihm imponierte der Rolls-Royce, wenn er auch das Verhalten der Schlüters und ihres Hundes reichlich verwunderlich fand.
»Wie heißt du, bitte?«, fragte Bastian höflich. »Der Hund heißt Wiking. Er ist ein gut erzogenes Tier und darf immer mit am Tisch essen.«
»Stimmt das?«, fragte Nick mit krauser Stirn. »Das gibt es doch gar nicht. Und wenn, dann ist es ziemlich unappetitlich.«
»Es ist gar nicht unappetitlich. Wiking wartet, bis seine Wurst in kleine Stückchen geschnitten ist. Dann nimmt er sie ganz manierlich vom Teller«, verkündete Bastian, dessen erschüttertes Selbstbewusstsein allmählich wiederkehrte.
»Na, wir werden es ja erleben«, entgegnete Angelika zweifelnd. »Außerdem bleibt die Frage, ob Tante Ma das duldet.«
Sofort füllten sich Bastians Augen mit Tränen. »Wenn mein Wiking nicht bei mir sein darf, fahre ich gleich wieder ab. Ihr habt ja sowieso gesagt, dass ich nicht bleiben soll, wenn’s mir nicht gefällt.« Das klang trotzig und zugleich angeberisch.
Pünktchen legte den Arm um den kleinen Jungen, fast genauso lieb und mütterlich wie zuvor Denise von Schoenecker. »Es wird schon irgendwie klappen, Bastian. Tante Ma ist unsere Heimleiterin und wahnsinnig nett. Vielleicht erlaubt sie es, wenn dein Hund wirklich so ein Wundertier ist.«
»Sie muss machen, was mein Vati sagt«, trumpfte Bastian auf. »Mein Vati hat nämlich alles zu bestimmen.«
Pünktchen verzog den Mund. »Ach, so ist das«, murmelte sie betreten. »Nun, wir werden es ja erleben.«
»Einstweilen können wir Bastian unsere Tiere zeigen. Wir haben nämlich Ponys auf Sophienlust. Interessiert dich das?«, mischte sich Nick ein, der sich für den Ablauf der Geschehnisse in gewisser Weise verantwortlich fühlte. Denn ihm war Sophienlust als Erbe seiner Urgroßmutter Sophie von Wellentin zugefallen. Er stammte aus der ersten Ehe seiner Mutter, die in zweiter Ehe Alexander von Schoenecker geheiratet hatte. Der Gutsherr von Schoeneich war verwitwet gewesen und hatte zwei größere Kinder, Sascha und Andrea, mit in die Ehe gebracht. Jetzt studierte Sascha in Heidelberg, Andrea aber war bereits verheiratet. Der jüngste Sproß der glücklichen Familie, deren Wohnsitz das unweit von Sophienlust gelegene Gut Schoeneich war, war Henrik, der nun schon die Dorfschule besuchte.
Nick war von Bastian Schlüter nicht sonderlich entzückt, aber er ließ es sich nicht anmerken, sondern gab sich alle Mühe, sich als vorbildlicher Hausherr zu zeigen. Je älter Dominik, genannt Nick, wurde, desto mehr wuchs er zur Freude seiner Eltern in seine künftige Aufgabe als Herr auf Sophienlust hinein. Doch im Augenblick wurde das Kinderheim – nach dem Willen der Erblasserin Sophie von Wellentin im ehemaligen Herrenhaus eingerichtet – noch von seiner Mutter mit Unterstützung der tüchtigen Frau Rennert geleitet. Die Verwaltung des Gutsbetriebes hatte dagegen Nicks Stiefvater Alexander von Schoeneich übernommen.
Die Erwähnung der Ponys machte den verwöhnten, affektierten Neuling ein bisschen neugierig. Einigermaßen einträchtig zog die Kinderschar los, um Bastian Schlüter Sophienlust zunächst einmal zu zeigen.
*
Die Unterhaltung, die sich zur gleichen Zeit im Biedermeierzimmer des Herrenhauses von Sophienlust abspielte, war für Alexander und Denise von Schoenecker nicht gerade erfreulich. Längst hatte Alexander sein spontanes Angebot an den früheren Klassenkameraden bereut. Kurt Schlüter lebte jetzt in Augsburg und besaß dort eine Fabrik. Er war zu großem Reichtum gekommen, doch das war ihm leider entsetzlich zu Kopf gestiegen. Schon die Art, wie er seinen Sohn dazu angehalten hatte, jedermann zu verkünden, dass er der Sprössling des Herrn Generaldirektors sei, wirkte auf so natürliche Menschen wie die von Schoeneckers abstoßend. Auch sonst hatte Alexander, der sich inzwischen eingehend über Kurt Schlüter erkundigt hatte, allerlei Ungünstiges zu hören bekommen. Doch er hatte die einmal gegebene Zusage nicht rückgängig machen wollen.
Jetzt also saß das Ehepaar von Schoenecker zusammen mit Kurt Schlüter im ehemaligen Wohnzimmer Sophie von Wellentins, deren Ölgemälde auf jeden Besucher von Sophienlust herabblickte. Dieses Zimmer war so geblieben, wie es zu Lebzeiten von Nicks Urgroßmutter gewesen war. Denise hielt manchmal mit dem Bild der alten Dame stumme Zwiesprache und holte sich auf diese Weise Rat und Kraft, wenn sie in einer ausweglosen Situation nicht mehr weiter wusste. Denn mit den Kindern hatten schon viele schwere Schicksale in Sophienlust Einzug gehalten, das gelegentlich auch in Not geratenen Erwachsenen Zuflucht bot.
Was Kurt Schlüter allerdings zu berichten hatte, das veranlasste Alexander von Schoenecker, seiner Frau einen schuldbewussten Blick zuzuwerfen. Nein, damit hatte er denn doch nicht gerechnet!
»Wir sind ja unter uns, und ich brauche kein Blatt vor den Mund zu nehmen«, begann Kurt Schlüter, nachdem man sich über Pensionspreis und Dauer des Aufenthalts von Bastian rasch einig geworden war.
»Selbstverständlich, Kurt, sprich dich nur aus«, warf Alexander ein. »Meine Frau legt Wert darauf, die persönlichen Verhältnisse unserer Kinder kennenzulernen. Das erleichtert ihr den Umgang mit einem neuen Kind, wie du dir gewiss vorstellen kannst.«
»Nun ja, ich sagte dir bereits, dass ich für drei Monate auf eine Weltreise gehen werde. Aber im Rahmen unseres Abituriententreffens fand ich keine Gelegenheit, dir die Einzelheiten zu erläutern. Schau, ich werde nicht allein reisen. Hoffentlich finden Sie das nicht schockierend, gnädige Frau.«
Denise lächelte ihn scheinbar unschuldig an. »Ich nehme an, Sie reisen mit Ihrer Frau, Herr Schlüter«, sagte sie. Dabei wusste sie genau, dass sie ihn damit ein bisschen in Verlegenheit brachte.
»Nein, nicht mit Angela. Wir beide haben uns leider völlig auseinandergelebt«, versetzte Kurt Schlüter betont kalt. Denises Frage war ihm nicht einmal peinlich. »Gerade Sie werden verstehen, dass man in einer gewissen gesellschaftlichen Stellung mit einem Bäckermeistertöchterlein nichts anfangen kann. Sie passt einfach nicht mehr in die Landschaft. Sie wird unsicher, wenn bei mir bekannte und berühmte Leute im Haus aus und ein gehen, ja, sie benimmt sich meist ganz unmöglich und bringt mich in die unangenehmsten Situationen. Es ging einfach nicht mehr mit Angela und mir. Das hat sie auch eingesehen. Allerdings sind wir bis jetzt nicht geschieden. Das muss in der richtigen Weise geschehen, damit es keinen Skandal gibt. So etwas kann ich mir in meiner Stellung natürlich nicht leisten. Sie verstehen doch, gnädige Frau, und du auch, Alexander?«
Weder Denise noch Alexander von Schoenecker antworteten darauf. Doch selbst das erschütterte den Herrn Generaldirektor nicht. Er fuhr fort: »Ich reise mit Hella von Walden, meiner Freundin. Sie stammt aus verarmtem Adelsgeschlecht und ist eine schöne Frau. Sowie die Sache mit Angela geregelt ist, werden wir heiraten. Aber erst einmal will ich drei Monate lang alles hinter mir lassen und mich gründlich erholen. Ich hatte entsetzlich viel Arbeit in den letzten beiden Jahren und habe eine Ausspannung dringend nötig. Hella wird mich begleiten und ablenken. Wenn wir wiederkommen, sehen wir weiter.«
»Wird Ihre Frau Bastian besuchen kommen?«, erkundigte sich Denise reserviert.
Kurt Schlüter schüttelte den Kopf. »Nein, sie weiß gar nichts davon, dass ich verreise, und soll es auch nicht erfahren. Dass ich Bastian hierherbringe, habe ich ihr ebenfalls nicht mitgeteilt, nur, dass der Junge sich in einem erstklassigen Heim befindet. Sie wird sich damit zufriedengeben, denn sie hat keine Zeit, sich um Bastian zu kümmern. Starrköpfig, wie sie immer schon war, lehnt sie jede finanzielle Unterstützung von mir ab und ist berufstätig – glücklicherweise nicht in Augsburg. Das wäre doch zu geschmacklos. Sie haust irgendwo in einem möblierten Zimmer und schmollt. Aber ich bin überzeugt, dass sie mir wegen der Scheidung keine Schwierigkeiten machen wird. Die Ehe mit ihr war ein Irrtum von beiden Seiten. Es fing schon damit an, dass wir jahrelang vergeblich auf Nachwuchs warteten. Dann endlich stellte sich Bastian ein. Aber er ist ein schwächliches Kind, hält sich schlecht und ist schwer zu erziehen. Ich mache mir Sorgen, wie er mal mein Nachfolger werden soll. Es sieht bis jetzt so aus, als hätte er dazu gar nicht das Zeug. Er hat zu viel von Angela. Aber das ist nun leider nicht zu ändern.« Kurt Schlüter seufzte, als sei er von einem schweren, ungerechten Schicksalsschlag betroffen worden.
Alexander von Schoenecker beendete die peinliche und unerfreuliche Unterredung. Fast unhöflich machte er Kurt Schlüter darauf aufmerksam, dass schon fast eine halbe Stunde verstrichen sei und dass er es doch eilig hatte.
Schon wenige Minuten später begleitete das Ehepaar von Schoenecker Kurt Schlüter zu seinem Rolls-Royce, der von Henrik und einigen anderen Jungen in der Zwischenzeit aus ehrfürchtiger Entfernung bestaunt worden war. Wegen des Chauffeurs, der steif wie eine ausgestopfte Schaufensterfigur hinter dem Steuer saß, trauten sich die Buben nicht näher heran. Sie schlossen sich schließlich den anderen Kindern an, die Bastian Sophienlust zeigten.
Kurt Schlüter verzog ein bisschen die Nase, als Bastian nach einigem Suchen ausgerechnet im Schweinestall entdeckt wurde, wo Nick ihm gerade eine Sau mit einem Wurf von vierzehn Ferkeln gezeigt hatte.
»Im Schweinestall warst du?«, wandte er sich an seinen Sohn. »Das ist auch nicht der richtige Aufenthalt für dich. Also, benimm dich hier so, wie es Herr und Frau von Schoenecker von dir erwarten können, mein Sohn. Ich werde dir von unterwegs Postkarten schreiben. Dann kannst du immer im Atlas nachsehen, wo ich bin. Wenn ich zurückkomme, werde ich fragen, ob du es noch weißt.«
Bastian verabschiedete sich von seinem Vater wie von einem fremden Herrn und mit dem Ernst eines Erwachsenen. Wäre das unkindliche Verhalten des kleinen Buben nicht so herzergreifend unnatürlich gewesen, hätte es fast lächerlich wirken können.
Denise griff unwillkürlich nach ihres Mannes Hand, als der Chauffeur den Wagenschlag geschlossen und am Steuer des Rolls-Royce Platz genommen hatte. Es ist überstanden!, dachte sie erleichtert. Doch wie wird es mit dem Jungen werden?
*
»Ich brauche aber ein Zimmer für mich allein«, erklärte Bastian etwas später Frau Rennert. »Mein Vati sagt, dass man sich nichts gefallen lassen darf. Ich mag den anderen Jungen nicht leiden. Außerdem schläft Wiking im Bett in meinem Zimmer – in seinem eigenen Bett natürlich.«
Frau Rennert kam aus dem Staunen nicht heraus. »Wie bitte? Ein Hund in einem richtigen Bett und dann noch in deinem Zimmer? Dies ist ein Kinderheim und kein Tierhotel, mein lieber Junge. Ein Tierheim haben wir in Bachenau bei Tante Andrea. Aber die Hunde haben dort ihre Körbchen und keine Betten wie Menschen. So etwas mögen Hunde nämlich gar nicht.«
»Mein Hund mag es aber. Wiking war extra in einer Schule und hat alles gelernt, was ein feiner Hund können muss. Vati hat viel Geld dafür bezahlt. Wiking isst manierlich am Tisch, bellt nicht laut und stört überhaupt nie. Sie werden es schon sehen.«
Frau Rennert legte dem Jungen die Hand auf die Schulter. »Du kannst mich Tante Ma nennen wie alle Kinder, Bastian. Aber die Sache mit deinem Hund müssen wir uns noch gründlich überlegen. Stell dir mal vor, jedes Kind würde einen Hund mit ins Schlaf- und Esszimmer bringen. Es wäre gar nicht auszudenken. Außerdem ist dein Wiking auch noch so riesengroß. Wenn er einmal richtig mit seinem Schwanz wedelt, wird er die Teller vom Tisch werfen oder sonst Schaden anrichten.«
»Du, Tante Ma, so etwas gibt es wirklich«, ließ sich von der Tür her Pünktchen vernehmen. Sie hatte die Szene bis jetzt schweigend verfolgt. Die schwarz-weiße Dogge, um die es ging, hatte währenddessen artig und still auf dem Fußboden gesessen und der Schule, von der Bastian gesprochen hatte, alle Ehre gemacht. »Ich hab’ da mal was in einer Illustrierten gelesen«, fuhr Pünktchen, die eigentlich Angelina Dommin hieß und diesen lustigen Spitznamen den Sommersprossen auf ihrer Nase verdankte, fort. »Es gibt in Deutschland ein Hunde-Internat, ›Schule der feinen Hunde‹ oder so heißt es. Dort lernen die Hunde von verrückten reichen Leuten, wie man vornehm bellt, graziös das Pfötchen gibt und in Hotels artig am Tisch sitzt und vom Teller frisst. Auch wie man im Bett schläft und im Auto sitzt, ebensodass man nicht mit dem Schwanz wedelt, wenn man sich als Hund freut, und so weiter. Richtig spleenig ist es, kann ich dir sagen.«
Bastian stampfte mit dem kleinen Fuß auf. »Mein Hund ist nicht spleenig. Du bist eklig, Pünktchen.« Aller guten Erziehung zum Trotz streckte er Pünktchen die Zunge heraus, was der wohldressierte Hund Wiking sicherlich nie getan hätte.
»Also, Pünktchen, wenn das stimmt, haben wir zwar einen Wunderhund in Sophienlust, aber wir werden trotzdem nicht dulden, dass er bei Bastian im Zimmer schläft. Frau Dr. Frey würde uns mit Recht vorwerfen, dass wir die einfachsten Grundsätze der Hygiene missachten. Wir sind tierlieb in Sophienlust, aber wir lassen den Tieren ihren eigenen Schlafplatz. Deshalb werde ich für diesen Riesenköter einen Korb unten im Wintergarten aufstellen. Du kannst mal zu Justus laufen und fragen, ob er etwas Passendes hat. Und Bastian wird mit Fritzchen das Zimmer teilen, ob es ihm nun passt oder nicht.«
Bastian war anderer Meinung. Doch Frau Rennert – im Umgang mit Kindern sehr erfahren – setzte ihren Willen durch. Immerhin wurde bereits an diesem ersten Tag deutlich, dass man mit Bastian Schlüter einen schwierigen Neuling aufgenommen hatte, der Frau Rennert, Denise und allen anderen im Heim noch manche Nuss zu knacken geben würde.
Schon beim Abendessen ergab sich das nächste Problem. Bastian erschien mit seinem Hund und nötigte das Tier auf einen Stuhl neben dem seinen. Alle waren so fasziniert, dass selbst Frau Rennert zunächst kein Verbot aussprach, sondern sich – genau wie die Kinderschar – auf die Zirkusvorführung freute.
»Was isst denn dein Hund?«, fragte Angelika Langenbach spöttisch.
»Eine Wurst oder ein Stück Fleisch. Habt ihr denn nichts für einen Hund in der Küche?« Hochnäsig, vermutlich so, wie sein Vater zu Hause mit den Dienstboten zu reden pflegte, stellte der Knirps diese Frage.
Nick, der mit seinem Bruder aus lauter Neugier zum Abendessen in Sophienlust geblieben war, erbot sich, bei Magda in der Küche ein Hundegericht zu holen. Allerdings bestand die Köchin darauf, dass Wiking einen Emailleteller erhielt und nicht vom gleichen Geschirr wie die Kinder aß.
Nun konnten die Kinder tatsächlich etwas Erstaunliches erleben. Sie wussten genau, dass jeder normale Hund sich sofort und gierig schmatzend auf sein Futter stürzte und es in wenigen Augenblicken verschlang. Nicht so Wiking. Er blieb angesichts der beiden prächtigen Schnitzel vollkommen ungerührt auf seinem Stuhl sitzen und wartete geduldig.
Triumphierend blickte sich Bastian im Kreise um. Er genoss es sichtlich, im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu stehen.
»Seht ihr, Wiking ist ein besonderer Hund«, sagte er stolz. Dann nahm er sein Messer und schnitt in das Fleisch kleine Stücke. »So, Wiking, nun guten Appetit«, erklärte er.
Jetzt begann die Dogge sehr manierlich Stückchen für Stückchen zu fressen. Es war kaum ein Laut zu hören dabei.
»Der könnte im Fernsehen auftreten«, meinte Vicky. »Trotzdem kommt es mir albern vor, wenn ein Hund sich nicht wie ein richtiger Hund benimmt.«
»Aber er darf immer mit am Tisch essen«, trumpfte Bastian auf.
»Ich fürchte, das wird sich bei uns nicht einrichten lassen, Bastian«, erklärte Frau Rennert. »Alle Kinder, besonders die Kleinen, gucken nur noch auf den Hund. Wir kommen gar nicht zum Essen, und wenn wir das Tischgebet sprechen, gehört Wiking auf den Fußboden oder eigentlich gar nicht ins Speisezimmer.«
Bastian zog einen Flunsch. Trotzdem ließ er sich Magdas Abendessen schmecken. Die Köchin hatte schon zu Lebzeiten Sophie von Wellentins auf Sophienlust gekocht, und ihre Küche erfreute sich bei allen Kindern der größten Beliebtheit. Auch bei Bastian fand sie Anklang. Es gab an diesem Abend Rührei mit Schinken und Bratkartoffeln, dazu einen bunten Salat.
Wenig später musste Bastian mit den anderen kleineren Kindern schlafen gehen, obwohl er laut protestierte und behauptete, zu Hause habe er immer noch im Fernsehen die Tagesschau und manchmal auch einen Krimi ansehen dürfen. Vor neun oder halb zehn sei er nie zu Bett gegangen.
»Du musst dich hier schon nach den anderen richten, Bastian«, erklärte Frau Rennert ungerührt. »Außerdem glaube ich, dass du bald nicht mehr so dünn und blass aussehen wirst, wenn du am Abend rechtzeitig ins Bett kommst.«
Bastian versuchte noch einmal seinen Kopf durchzusetzen, aber Frau Rennert hatte den längeren Atem. Sie verfrachtete den aufsässigen Neuling schließlich ins Bett – den Hund dagegen im Wintergarten in einen Korb, der mit einer schönen weichen Decke ausgepolstert worden war. Auch eine Schale mit Wasser stellte sie für Wiking hin, denn man war äußerst tierlieb in Sophienlust. Es gab allerlei Tiere hier. Weder Frau Rennert noch Denise noch Nick hätten genau sagen können, wie viele Katzen, Hunde, Meerschweinchen, Zwerghasen und Kanarienvögel sich zu diesem Zeitpunkt in Sophienlust befanden. Aber ein Hund wie die Dogge Wiking war tatsächlich noch nie dagewesen.
*
»Also, den Jungen habe ich erst einmal gut untergebracht. Alexander von Schoenecker ist mit mir zur Schule gegangen. Honoriger Mann. Das Heim ist in einem schlossartigen Herrenhaus eingerichtet. Man kann nichts dagegen einwenden. Ich hoffe, dass Bastian dort in meinem Sinne erzogen wird, Hella.«
Hella von Walden saß mit ihrem Freund Kurt Schlüter im teuersten Restaurant der Stadt. Soeben war Kaviar serviert worden. Als Nächstes sollte Räucherlachs folgen. Das ausgefallendste und anspruchsvollste Menü war dem Generaldirektor für seine vierundzwanzigjährige junge Freundin gerade gut genug. Er wollte sie verwöhnen und darüber hinwegtrösten, dass es mit der Hochzeit noch ein bisschen dauern musste. Denn bisher hatte sich Angela zu seinem Leidwesen der Scheidung widersetzt.
»Dann können wir also reisen, Liebster?«, flüsterte die hübsche Hella und schenkte Kurt Schlüter einen schmachtenden Blick.
»Ja, in ein paar Tagen. Ich habe bereits einen außerordentlich geschäftstüchtigen Mann gefunden, der mich während meiner Abwesenheit in der Fabrik vertreten wird. Nach so vielen Jahren brauche ich endlich einmal vollkommene Ruhe. Wir werden die ganze Welt sehen und wahnsinnig glücklich sein, Hellachen.«
»Ja, Liebster, ich freue mich schon wahnsinnig darauf. Aber ich fürchte, dass ich nicht genug Garderobe habe für eine Reise mit dir.«
»Kein Problem. Wir fliegen als Erstes nach Paris. Dort werde ich dich einkleiden. Es ist selbstverständlich, dass du standesgemäß auftreten musst. Das ist es ja, was ich an meiner Frau immer vermisst habe. Sie hat einfach kein Gefühl dafür, dass es Verpflichtungen mit sich bringt, wenn man mit mir in der Öffentlichkeit erscheint. Du sollst die am besten angezogene Frau sein – wo immer wir uns aufhalten. Das verspreche ich dir, Hellachen.«
»Wäre es nicht einfacher, wenn ich mir schon jetzt einiges kaufte, Kurt? Es hält uns auf in Paris …«
»Wir haben Zeit. Paris wird unsere erste Station sein, und es wird mir ein besonderes Vergnügen bereiten, deine Kleider mit auszusuchen.«
Hella von Walden schwieg. Sie war mit dieser Regelung nicht ganz einverstanden. Zwar erfüllte ihr Kurt Schlüter jeden Wunsch, doch er gab ihr so gut wie nie Geld in die Hand. Und gerade darauf war sie aus. Sie wollte selbst über größere Summen verfügen und vor allem etwas auf die Seite bringen können. Doch leider schien Kurt Schlüter in dieser Beziehung vollkommen taub zu sein.
Auf den Lachs folgte ein Rehrücken, danach eine raffinierte Süßspeise und schließlich noch eine Käseplatte.
»Mokka, Hella?«, erkundigte sich Kurt Schlüter.
»Danke, nein, Liebster. Sonst kann ich die ganze Nacht nicht schlafen. Ich habe morgen einiges vor.«
Er nickte. »Ich denke, dass wir am Dienstag starten können. Ich rufe dich noch an.«
»Dienstag – wunderbar, Liebster. Du weißt gar nicht, wie sehr ich mich freue. Die ganze Welt zu sehen, das war schon immer mein heimlicher Traum. Aber ich hätte nie gedacht, dass er sich einmal verwirklichen lassen würde. Ich verdiene so viel Glück gar nicht, Kurt.«
Er küsste ihr rasch die Hand. »Du bist eine schöne Frau, Hella. Du und ich, wir passen zusammen. Wenn wir erst verheiratet sind, werden wir jedes Jahr eine große Reise machen. Du kannst dir die Ziele aussuchen.«
»Kurt, das hört sich an wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht«, flüsterte Hella von Walden. »Aber jetzt möchte ich nach Hause. Es ist schon reichlich spät geworden. Ich bin müde.«
»Wie du willst, Hella. Du hörst noch von mir. Wie gesagt – Dienstag, spätestens Mittwoch fliegen wir nach Paris.«
Kurt Schlüter zahlte und verließ mit seiner attraktiven Begleiterin das Restaurant. Der Rolls-Royce fuhr sofort vor, denn Henry, der Fahrer, der eigentlich Heinrich hieß, hatte die ganze Zeit aufmerksam die Tür beobachtet, damit sein Herr und Frau von Walden nur ja nicht warten mussten.
Wenig später setzte Kurt Schlüter Hella von Walden vor dem Appartementhaus ab, in dem sie – selbstverständlich auf seine Kosten – eine anspruchsvolle Dreizimmerwohnung hatte.
»Bei dir brennt Licht, Hella«, sagte Kurt Schlüter, als er am Haus in die Höhe blickte.
»Wirklich? Da muss ich wohl vergessen haben, es auszuschalten. Es ging so schnell. Außerdem finde ich es ganz nett, wenn man nicht in die stockdunkle Wohnung zurückkommt. Also, Kurt, bis bald.«
Er nahm ihre Hand und führte sie nochmals an die Lippen. Zu weiteren Zärtlichkeiten kam es nicht, denn Henry war ja dabei.
Hella wartete, bis der Rolls-Royce abgefahren war. Dann betrat sie das Haus und fuhr im Lift hinauf in ihre Wohnung, wo sie auf die Kingel drückte. Drinnen wurden Schritte laut. Ein Lächeln glitt über Hellas hübsches Gesicht. Sie dachte daran, dass Kurt Schlüter keinen Verdacht geschöpft hatte wegen der erleuchteten Fenster.
»Na, endlich! Ich dachte schon, du kommst überhaupt nicht mehr nach Hause.«
Der Mann, der die Tür öffnete, war nicht allzu groß, hatte schwarzes glattes Haar und eine olivfarbene Haut. All das bildete zu der blonden Hella mit ihren eisblauen Augen einen auffälligen Gegensatz. Er breitete die Arme aus und zog das Mädchen in seine Arme.
»Schön siehst du aus, Hella. Wie war’s mit dem alten Schlüter?«
Sie küsste ihn zärtlich. »Langweilig wie immer. Dienstag oder Mittwoch geht die Reise los, Hanko. Leider ist es mir nicht gelungen, ihm ein bisschen Geld aus der Tasche zu ziehen. Er ist so knickerig, wie es nur reiche Leute sein können. Nur lumpige zweihundert hat er mir gegeben, damit ich ein paar Kleinigkeiten einkaufen kann. Es ist zum Davonlaufen.«
»Macht nichts, Hella. Eines Tages sahnen wir ab bei ihm. Im Augenblick habe ich noch etwas Betriebskapital. Du musst mir hierher telegrafieren, sobald eure Reiseroute feststeht. Dann können wir uns unterwegs verabreden. Wenn ich dich drei Monate lang überhaupt nicht sehen soll, halte ich das nämlich nicht aus.«
Er legte den Arm um ihre Schultern und führte sie ins Wohnzimmer, wo er es sich bei Whisky und Radiomusik gemütlich gemacht hatte.
Nach einer zärtlichen Umarmung sprachen die beiden wieder von Kurt Schlüter.
»Er ist ein dicker Geldsack, und er soll sich bloß nicht einbilden, dass ich ihn liebe«, kicherte Hella. »Übrigens glaube ich, er macht sich auch nicht viel aus mir. Aber es schmeichelt ihm, dass er eine Frau haben wird, die eine geborene von Walden ist! Außerdem meint er, dass ich mich auf dem gesellschaftlichen Parkett richtig bewege. Er selbst scheint sich da nicht so sicher zu fühlen, sonst würde er nicht krampfhaft nach jemandem wie mir Ausschau halten. Na, jedenfalls kommen sich unsere Interessen zunächst mal entgegen. Wie es weitergeht, wird die Zukunft zeigen. Gern heirate ich ihn nicht, Hanko. Aber wenn es sich nicht vermeiden lässt, beiße ich halt in den sauren Apfel. Dass ich allein dich wirklich liebe, weißt du, mein Hanko.«
»Du bist ein kleines Luder. Hundertprozentig ist man bei dir nie sicher, woran man ist«, antwortete Hanko Borek lächelnd. »Jedenfalls bleibe ich so lange hier in der Wohnung, bis ich etwas von dir höre. Die zweihundert Mäuse brauchst du hoffentlich nicht selbst.«
»Ich habe nur noch hundert. Aber bis Paris wird das reichen. Kurtchen wird hoffentlich keine Abrechnung von mir verlangen. Wenn ich denke, was er für das Abendessen heute ausgegeben hat. Bloß mir gegenüber ist er so knauserig. Er kauft mir zwar das, was ich möchte, aber bares Moos rückt er einfach nicht heraus, das dicke Ekel.«
»Du schaffst es schon. Vor allem musst du erreichen, dass er ein Testament aufsetzt, das dich zur Erbin macht. Das kannst du schließlich verlangen, wenn er dir einerseits die Ehe verspricht, andererseits aber noch gar nicht von seiner Verflossenen geschieden ist. Mit dem Testament bist du finanziell erst einmal abgesichert. Alles weitere überlegen wir später. Um die Reise mit Schlüter könnte man dich beinahe beneiden. Aber vergiss nicht, dass du die Zeit gut nutzen musst.«
»Erstens würde ich lieber mit dir reisen als mit Schlüterchen, und zweitens vergesse ich ganz gewiss keine Minute, was wir vorhaben, Hanko. Ich bin doch nicht dumm. Es ist außerdem ziemlich gemein von dir, dass du sagst, ich wäre nicht zuverlässig. Ich bin dir treu wie Gold, und das weißt du ganz genau.«
Hella schmiegte sich zärtlich an Hanko. Er streichelte ihr Haar und lächelte über ihren Kopf hinaus ins Leere. Ja, die blonde Hella von Walden war ihm – Hanko Borek – hörig. Er selbst benutzte sie allerdings nur als Mittel zum Zweck. Als Mittel dafür, an die Millionen von Kurt Schlüter heranzukommen, und zwar um jeden Preis.
*
Während Hella von Walden und Hanko Borek Zärtlichkeiten austauschten, saß Kurt Schlüter in seiner prunkvollen Villa am Schreibtisch und addierte Zahlen. Das war seine Lieblingsbeschäftigung. Er tat es sogar noch nachts, denn er wollte ganz sichergehen, dass im Laufe seiner dreimonatigen Abwesenheit alles, aber auch alles genau nach seinen Weisungen und Plänen durchgeführt wurde.
Endlich kam er bei seiner Rechnerei zu einem Abschluss. Nun schloss er die Augen und dachte an seine Frau Angela, die sich so hartnäckig gegen eine Scheidung sträubte. Er dachte auch an seinen kleinen Sohn Bastian, der für seinen Geschmack viel zu weich und schwächlich war, und schließlich an Hella von Walden, die Frau, mit der er in Zukunft in der Gesellschaft glänzen wollte. Sie war seiner Ansicht nach die richtige Partnerin für einen Mann wie ihn. Sie würde die Feste in seinem Haus zu arrangieren wissen und auch Bastian so erziehen, wie es für den Sohn von Kurt Schlüter unerlässlich war. Bastian würde eine Erziehung erhalten, wie sie früher den jungen Adeligen auf den großen Gütern zuteil geworden war – eine Erziehung zu stahlharten Männern! Er durfte sich nicht mit Kleinigkeiten aufhalten, sondern musste stets die große Linie im Auge behalten und konnte sich Zimperlichkeiten nicht leisten.
Nun, Hella von Walden war sicherlich nicht zimperlich. Kurt Schlüter gab sich keinen Illusionen über dieses schöne blonde Mädchen mit den eisblauen Augen hin. Hella liebte wahrscheinlich nicht ihn, sondern nur sein Geld und seine Stellung in der Gesellschaft. Auch er selbst empfand für das Mädchen keine echte Zuneigung. Hella sah sehr gut aus und entsprach aufs Haar seiner Vorstellung von der Frau, die er an seiner Seite haben wollte, aber Liebe … Ach, Liebe gab es im Leben des Generaldirektors Schlüter schon lange nicht mehr. An die Stelle der Gefühle war das Bankkonto gerückt. Für sein Geld konnte sich Kurt Schlüter aus vollem Herzen begeistern – und immer wieder für sein gesellschaftliches Ansehen für die Rolle, die er in Wirtschaftskreisen spielte.
Bastians Vater klappte die Arbeitsmappe zu. Er löschte die Lampe auf dem Schreibtisch und begab sich zu Bett. Henry, der zugleich die Rolle des Butlers im Haus wahrzunehmen hatte, gähnte verstohlen und wünschte eine gute Nacht. Es wurde oft sehr spät im Haus des Generaldirektors. Trotzdem musste Henry am Morgen Punkt sechs wieder zum Dienst antreten. Denn Kurt Schlüter war nun einmal auch nicht zimperlich.
*
»Also, es geht nicht mehr, Andrea! Kannst du diesen unglücklichen Hund im Tierheim aufnehmen?«
Denise von Schoenecker saß ihrer hübschen, jung verheirateten Stieftochter gegenüber, die ihr soeben eine Tasse Tee vorgesetzt hatte. Andrea war mit dem Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn verheiratet. Neben der Praxis hatten die beiden ein Tierheim eröffnet, das nach ihrem Dackel getauft worden war. Es hieß Waldi & Co., das Heim der glücklichen Tiere! Der Untertitel war eine Parallele zu Nicks Bezeichnung für das Kinderheim in Sophienlust, das er das Haus der glücklichen Kinder nannte.
»Im Tierheim? Aber du hast mir doch eben erzählt, dass diese Dogge gewohnt ist, in einem Bett zu schlafen, bei Tisch zu essen und so weiter.«
Denise nickte. »Es ist unerträglich. Die Kinder finden den Hund ganz einfach lächerlich, und Bastian Schlüter, der das Tier mitgebracht hat, spielt sich fürchterlich auf mit seinem Hund. Ich sehe keinen anderen Ausweg, als den Jungen eine Weile von dem Tier zu trennen, sonst wird er sich in Sophienlust nie und nimmer einleben, sondern ständig mit Wiking herumstolzieren und den Hund kommandieren wie ein General. Das muss ja den Charakter eines Kindes auf die Dauer ruinieren. Was der Vater sich bloß dabei gedacht hat, dem Jungen diesen Hund zu schenken?«
Andrea hob die Schultern. »Wahrscheinlich wollte er seinem Sohn frühzeitig beibringen, wie man Untergebene behandelt«, spottete sie, denn ihre Eltern hatten ihr bereits von Kurt Schlüter erzählt und diesen nicht gerade als sympathischen Zeitgenossen geschildert. »Aber ich kann Wiking natürlich hier aufnehmen. Allerdings garantiere ich nicht dafür, dass er den gelernten Zirkusunsinn beibehält, den man ihm eingedrillt hat. Wahrscheinlich wird er bald mit Severin Freundschaft schließen und mit meiner schwarzen Dogge um die Wette aus dem Napf schmatzen, sobald das Futter nur in Reichweite ist. Dann wird es mit dem manierlichen Essen sehr bald vorbei sein.«
Andrea besaß eine bildschöne schwarze Dogge, die Severin hieß und von ihr einst gesund gepflegt worden war.
»Die Manieren des Hundes Wiking sind mir ziemlich gleichgültig. Ich könnte mir allerdings denken, dass Bastians Hund glücklicher wäre, wenn er sich nicht dauernd beherrschen und sozusagen gegen seine normalen Instinkte leben müsste. Man fragt sich manchmal, ob solche Dressuren nicht an Tierquälerei grenzen und verboten werden sollten.«
»Recht hast du, Mutti. Also, betrachten wir Wiking als einen notleidenden Hund und nehmen wir ihn im Tierheim Waldi & Co. auf. Hoffentlich nimmt es der kleine Junge nicht zu tragisch.«
Denise schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Er liebt den Hund nicht. Er ist bloß stolz darauf, dass er ein so außergewöhnliches Tier besitzt und alle damit tyrannisieren kann. Wenn wir aus Bastian einen normalen Jungen machen wollen, muss der Hund für eine Weile aus seiner Reichweite entfernt werden. Ich verliere sonst eines Tages noch die Geduld. Frau Rennert ist auch schon ganz nervös geworden.«
»Also gut, ich bin einverstanden, Mutti. Bringt mir das Wundertier. Ich habe Wiking ja neulich in Sophienlust schon bewundert. Besonders schön finde ich ihn nicht. Aber vielleicht hat er eine schöne Seele. Bei uns kommt es auf ein Tier mehr oder weniger nicht an.«
Das entsprach genau den Tatsachen. Im Tierheim Waldi & Co. gab es eine Braunbärin mit zwei Jungen, zwei Schimpansen, eine Ringelnatter, den alten Esel Benjamin, mehrere Hunde, vor allem Waldis Familie, und noch einiges mehr. Für die Dogge Wiking würde sich auch ein Platz finden, wenn auch nicht gerade am Esstisch der jungen Tierarztfamilie und auch nicht im Gastbett!
Mutter und Tochter plauderten jetzt noch eine ganze Weile über den kleinen Neuling in Sophienlust.
»Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass ein eitler, größenwahnsinniger Vater aus einem fünfjährigen Jungen einen so komplizierten kleinen Burschen machen kann«, seufzte Denise. »Wir haben kaum je mit einem Kind derartige Schwierigkeiten gehabt. Aber irgendwie wird es schon werden, denn Bastian kann ja selbst gar nichts dafür. Er ist bestimmt im Grunde ein herzensgutes Kerlchen und fühlt sich in seiner aufgezwungenen Rolle nicht einmal wohl.«
»Du siehst aber auch in jedem einen guten Kern – gleichgültig, ob es sich um einen Erwachsenen oder um ein Kind handelt, Mutti. Glaubst du nicht, dass es auch böse Kinder gibt?«
Denise schüttelte den Kopf. »Nein, Andrea, das glaube ich nicht. Es ist immer die Schuld der Erwachsenen, wenn ein Kind böse wird. Ich will Bastian ja auch nicht strafen, indem ich ihm den Hund fortnehme. Ich will ihm nur helfen, zu sich selbst zu finden.«
Andrea umarmte ihre Mutter. »Du bist eine wunderbare Frau, Mutti. Sicher schaffst du es mit Bastian Schlüter. Wie weit ich allerdings mit dem komischen Hund komme, müssen wir noch abwarten.«
Denise blickte auf ihre Uhr. »Es wird Zeit für mich, Andrea. Tut mir leid, dass ich Hans-Joachim versäume. Grüße ihn herzlich von mir. Wir erwarten euch am Sonntag in Schoeneich zu Tisch. Sascha will auch kommen übers Wochenende. Dann habe ich meine Familie endlich einmal wieder vollzählig um mich versammelt.«
»Wir kommen wirklich schrecklich gern, Mutti. Vielen Dank für die Einladung.«
Andrea begleitete ihre Mutter bis vors Haus, wo der Wagen stand. Denise küsste Andrea und streichelte ihr das dunkle Haar. »Leb wohl, mein Kind. Vielen Dank, dass du den Hund nehmen willst. Ich schicke morgen jemanden herüber. Wahrscheinlich lasse ich Bastian mitfahren, damit er sich das Tierheim ansehen und sich davon überzeugen kann, dass sein Hund gut und sachgemäß untergebracht ist. Sonst macht er uns sicherlich wieder eine Szene. Wie gesagt, unsere Nerven sind durch diesen kleinen Kerl schon fast verbraucht.«
Andrea lachte. »Aber er hat ein gutes Herz, nicht wahr, Mutti?«
»Ja, Kind, davon bin ich felsenfest überzeugt.«
Denise von Schoenecker steckte den Zündschlüssel ins Schloss und ließ ihren Wagen an. Wenig später fuhr sie in Richtung Sophienlust davon.
»Grüß Vati«, rief Andrea hinter ihr her.
*
Bastian war wütend. So wütend, wie man es einem Fünfjährigen kaum zugetraut hätte. Er trampelte mit beiden Füßen und schrie, bis er krebsrot und dann sogar blau wurde. Aber die Entscheidung war gefallen: Wiking sollte nach Bachenau ins Tierheim Waldi & Co.
»Du darfst selbst mit hinfahren und es dir ansehen«, legte sich Nick etwas unbehaglich ins Mittel, denn solche Szenen waren in Sophienlust durchaus nicht üblich. Wenn die Kinder auch keine Engel waren, so herrschte doch im allgemeinen eine freundliche Stimmung. Aber mit dem kleinen Bastian und seiner riesigen Dogge Wiking hatten Unruhe und Ärger Einzug in Sophienlust gehalten. Deshalb hatte Denise auch den Entschluss gefasst, den Hund für eine Weile ins Tierheim Waldi & Co. zu geben.
»Ich will das blöde Heim gar nicht sehen«, schrie Bastian.
»Angucken kannst du es dir doch wenigstens. Es gibt dort sogar ein Bärengehege wie in einem richtigen Zoo«, meinte Nick, der eigens mit seiner Mutter von Schoeneich herübergekommen war, um den Transport der Dogge nach Bachenau zu begleiten.
Denise legte sich ins Mittel und redete in ihrer sanften, gütigen Art dem kleinen Burschen zu, bis er sich endlich, wenn auch widerwillig, fügte.
Wiking kletterte artig in den Wagen. Er saß still und kerzengerade wie ein feiner Herr im Auto. Aber eigentlich wirkte er mehr wie ein ausgestopfter Hund. Das jedenfalls raunte Pünktchen Angelika Langenbach ins Ohr, als Denise und Nick ebenfalls einstiegen. Bastian zog ein saures Gesicht und hockte unglücklich neben seinem Hund. Sein Groll hatte sich noch nicht gelegt.
Die Fahrt dauerte nicht lange. Schon waren sie in Bachenau.
Andrea von Lehn hatte alles getan, um Bastian und seinen Hund würdig zu empfangen. Betti, ihr Hausmädchen, hatte Pflaumenkuchen gebacken und Kakao gekocht.
Wiking benahm sich vorbildlich wie immer und fing mit Severin und Waldi keinerlei Streit an.
»Er wird sich schnell bei uns eingewöhnen«, meinte Andrea zuversichtlich und tätschelte den mächtigen Kopf der Dogge. Dass sie ihren Severin viel schöner fand als Wiking, sagte sie natürlich nicht. Denn sie wollte Bastian nicht kränken. Stattdessen ließ sie von Betti die Tassen füllen und den Kuchen herumreichen.
»Ist meine große Schwester nicht eine prima Hausfrau, Bastian?«, fragte Nick strahlend. Er hatte sich gleich drei Stück Kuchen auf den Teller gelegt.
»Hm, das schon, aber Wiking soll nicht ins Heim.« Bastian hatte den langgestreckten Bau des Tierheims bisher nur aus der Entfernung gemustert, denn zunächst gab es ja Kuchen.
»Es wird dir schon gefallen«, entgegnete Andrea freundlich. »Unsere Tiere fühlen sich alle wohl. Du wirst dich wundern, was wir dir alles zeigen können.«
Bastian antwortete nicht, sondern stopfte sich den Mund trotzig voll Kuchen, den er dann mit Kako hinunterspülte.
Andrea blinzelte ihrer Mutter zu. Es war nun einmal beschlossen, dass Wiking ins Tierheim kam, also würde die Dogge auch hierbleiben, und wenn Bastian noch so viel Theater machte.
Der Junge fing auch bald damit an. Er wollte, dass Wiking an den Tisch geholt wurde und eine Wurst bekam. Doch Denise machte ihm klar, dass die Tiere erst am Abend ihr Futter erhielten. Außerdem hatte Wiking ja mittags in Sophienlust etwas erhalten. Wieder einmal gelang es dem erbosten Bastian nicht, den Kopf durchzusetzen.
Später führte Nick den Jungen zusammen mit Helmut Koster durch das Tierheim. Obwohl der Knirps es nicht recht zugeben mochte, machten ihm die beiden Schimpansen doch großen Spass. Sie waren noch jung und spielten wie übermütige Kinder miteinander. Aber auch das Liliput-Pferdchen gefiel Bastian. Er wollte gar nicht glauben, dass es nicht größer werden sollte. Die Ponys von Sophienlust wirkten dagegen wie richtige große Pferde.
Helmut Koster, der Tierpfleger, der den Widerstand des Jungen spürte, gab sich alle Mühe, Bastians Anteilnahme zu erwecken. »Siehst du, hier kann ich dir etwas besonders Interessantes zeigen«, erklärte er dem Jungen. »Unsere Henne Susi hat sich nämlich im Datum geirrt und noch einmal gebrütet, obwohl wir schon Pflaumen ernten und die Küken normalerweise gar nicht mehr aufwachsen können. Aber ich habe hier eine besondere Wärmeglocke konstruiert. Darunter können sich die Küken verkriechen, sobald es nicht mehr warm genug ist, besonders auch nachts. Ich denke, wir werden sie durchbringen.«
»Und wenn man den Strom abschaltet?«, fragte Bastian wissbegierig.
»Dann wird es zu kalt für die kleinen Küken. Dann werden sie krank oder gehen ein«, erklärte Helmut Koster. »Doch in ein paar Wochen werden sie kräftig genug sein, um mit den anderen Hühnern in den Stall zu gehen.«
»Hm, und wo schläft Wiking?« Bastian schien sich also doch damit abgefunden zu haben, dass der Hund im Heim bleiben sollte.
»Dort! Es ist ein schöner Korb mit einer Decke. Alle Hunde schlafen hier, und jeder hat seinen eigenen Korb. Nur die Dackelfamilie hat eine gemeinsame Schlafstätte. Die Dackel sind nicht zu trennen. Sie liegen wie die Würstchen in der Nacht beisammen.«
»Na ja.« Zufrieden war Bastian nicht. Aber er schimpfte wenigstens nicht mehr. Dann ging er noch einmal zum Affenkäfig und wurde nicht müde, den Schimpansen zuzusehen.
Beim Aufbruch gab es dann aber doch noch eine Szene, die nur dadurch zu beenden war, dass Andrea versprach, Bastian an einem der nächsten Tage noch einmal einzuladen.
»Sobald jemand nach Bachenau fährt, darfst du mitkommen, Bastian, und nachsehen, wie es Wiking geht«, redete sie dem Knirps zu. »Du siehst doch, dass er hier bei mir viel Gesellschaft findet und ganz bestimmt keine Langeweile haben wird.«
»Machst du wieder Kuchen, wenn ich komme, Tante Andrea?«, fragte Bastian.
»Wenn du Glück hast, haben wir Kuchen da. Wenn nicht, wird es vielleicht auch ein Honigbrot tun«, gab Andrea ruhig zurück. »Aber jetzt darfst du die arme Tante Isi nicht länger warten lassen.«
Bastian stampfte ein letztes Mal mit dem kleinen Fuß auf den Boden. »Wir hätten ja nicht zu fahren brauchen. Warum muss mein Wiking denn überhaupt hierher?«
Andrea zog es vor, die ungezogene Frage nicht zu beantworten. Sie nahm Bastian bei der Hand und führte ihn zu ihrer Mutter. »Hier kommt Bastian, Mutti. Wenn jemand von euch morgen oder übermorgen nach Bachenau fährt, dann möchte Bastian gern mitgenommen werden, damit er noch einmal nach Wiking sehen kann. Geht das?«
»Natürlich, Andrea. Der Oberförster kommt morgen bestimmt vorbei. Herr Bullinger macht das schon. Er holt Bastian auch auf dem Rückweg wieder ab.«
»Siehst du, Bastian, du hast großes Glück.«
Doch das finstere Gesichtchen des Jungen hellte sich nicht auf. Dafür bestand er jetzt trotzig darauf, vorn neben Denise zu sitzen. Um keinen weiteren Ärger zu haben, wurde ihm dieser Wunsch sogar erfüllt, und der allzeit freundliche Nicki begnügte sich mit dem Rücksitz.
»Das wäre für den Anfang geschafft«, seufzte Andrea erleichtert, als der Wagen abfuhr. Sie streichelte Wiking, der dem Auto nachblickte. »Bist ein guter Hund, Wiking. Es wird dir schon bei uns gefallen. Aber so fein wie bei der Familie Schlüter brauchst du dich jetzt nicht mehr zu benehmen. Jetzt kannst du mit Severin, Waldi, Hexe und ihren Kindern herumtollen, so viel es dir nur Spaß macht.«
*
»Genug für heute, Frau Schlüter«, sagte der Professor und klappte sein Buch zu.
Angela Schlüter arbeitete seit mehreren Monaten in Heidelberg bei Professor Fabricius als Privatsekretärin. Sie war froh, dass sie als junges Mädchen Stenografie und Maschineschreiben gelernt und anfangs ihrem Mann auch allerlei schriftliche Arbeiten abgenommen hatte. Aber seit er reich geworden war, gab es in seinem Betrieb nichts mehr für sie zu tun. Im Gegenteil, es war Kurt Schlüter jetzt sogar peinlich, wenn er daran erinnert wurde, dass seine Frau ihm einmal geholfen hatte, aus dem kleinen Betrieb ein riesiges Werk aufzubauen. Er tat so, als wäre er von Anfang an der reiche Mann gewesen, dem es auf einen Tausender nicht ankam.
Angela dagegen fürchtete sich vor dem vielen Geld. Sie hatte Kurt aus Liebe geheiratet. Solange sie ihr gutes Auskommen gehabt hatten, aber nicht im Geld geschwommen waren, war ihre Ehe glücklich gewesen. Damals war ihr Mann noch der gewesen, als den ihn auch Alexander von Schoenecker in Erinnerung gehabt hatte: ein zielstrebiger, selbstbewusster Mann, aber weder aufgeblasen noch größenwahnsinnig.
Jetzt zog Angela Schlüter das sauber getippte Blatt aus der Maschine und legte es auf den Stoß der anderen Blätter, die sie bereits nach dem Diktat des Professors geschrieben hatte. Sie war zu stolz und zu verletzt, um von ihrem Mann Geld anzunehmen. Nein, sie konnte ihren Unterhalt selbst verdienen, wenn er sie schon aus dem Haus trieb und nicht mehr mit ihr zusammenleben wollte!
Professor Fabricius klingelte. Seine Haushälterin – er war schon seit vielen Jahren verwitwet – erschien und brachte wie jeden Tag ein Tablett mit Tee und belegten Broten. Angela füllte die Tassen. Dieser Abschluss des Arbeitstages war nun schon zur Tradition geworden, ehe sie in ihr bescheiden möbliertes Zimmer zurückkehrte. Sie tat die Arbeit bei dem Professor ausgesprochen gern. Zwischen dem weißhaarigen alten Herrn, der an einem wissenschaftlichen Werk arbeitete, und ihr, hatte sich eine Art Vater-Tochter-Verhältnis entwickelt.
»Nun, Frau Angela, wollen wir heute noch einmal über Ihr Problem sprechen, oder ist Ihnen nicht danach zumute?«, fragte der Professor, nachdem die Haushälterin wieder gegangen war.
»Doch, ich bin Ihnen dankbar, Herr Professor. Sie sind der einzige Mensch, bei dem ich mich aussprechen kann. Manchmal kommt mir alles wie ein böser Traum vor.«
»Trotzdem glaube ich nicht, dass es viel Sinn hat, wenn Sie sich weiterhin der Scheidung widersetzen. Ihr Mann wird alle rechtlichen Mittel ausschöpfen und am Ende behaupten, dass Sie aus eigenem Antrieb weggegangen seien.«
»Aber er hat mich fortgeschickt, Herr Professor. Er kann doch nicht die Tatsachen auf den Kopf stellen.«
»Wenn jemand eine Scheidung erzwingen will, ist ihm leider jedes Mittel recht, liebes Kind. Er wird behaupten, Sie hätten ihn verlassen, und daraus lässt sich ziemlich leicht ein Scheidungsgrund konstruieren, bei dem er sogar Ihnen die Schuld in die Schuhe schieben kann. Da er Wert auf sein sogenanntes gesellschaftliches Ansehen legt, wird ihm das besonders willkommen sein. Also ist es besser, Sie gehen auf seine Forderungen ein und retten wenigstens eine ordentliche Abfindung für sich.«
Angela Schlüter machte eine müde Handbewegung. »Das Geld ist mir schrecklich gleichgültig, Herr Professor. Ich kann für mich immer genug verdienen. Millionen anderer Frauen müssen das auch. Das Geld hat unsere Ehe zerstört. Ich hasse es.«
»Trotzdem sollten Sie nicht auf das verzichten, was Ihnen zusteht, liebe Frau Angela. Sie könnten auch einmal krank werden und das Geld benötigen. Außerdem steht Ihnen nach dem Gesetz ungefähr die Hälfte des Vermögens Ihres Mannes bei einer Scheidung zu, denn alles ist ja erst im Laufe Ihrer Ehe, und zwar mit Ihrer Hilfe, erworben worden.«
»Wenn ich den Jungen bekäme, würde ich auf alles verzichten«, seufzte Angela. »Ich weiß jetzt nicht einmal, wo er sich aufhält. Kurt hat mir mitgeteilt, dass Bastian in einem Heim oder Internat sei, wo er standesgemäß erzogen würde. Aber er ist doch erst fünf Jahre alt und braucht in erster Linie Liebe. Früher waren wir glücklich mit unserem Kleinen, der uns erst nach so langen Jahren geschenkt wurde. Kurt war außer sich vor Stolz über seinen Stammhalter. Jetzt aber ist alles anders geworden, und aus Bastian soll ein kleiner Generaldirektor gemacht werden, noch ehe er lesen und schreiben kann. Es ist eine Tragödie, wenn man als Mutter nichts gegen so viel Unverstand und Grausamkeit unternehmen kann. Schon aus diesem Grund bin ich froh, dass ich arbeiten muss und keine Zeit zum Nachdenken finde, Herr Professor.«
Professor Fabricius schob ihr den Teller mit den leckeren Broten hin. »Essen Sie erst einmal ein bisschen. Ich denke, Sie sollten sich den besten Anwalt nehmen. Ich habe mich erkundigt und empfehle Ihnen Dr. Immerling. Er ist ein Experte auf dem traurigen Gebiet der Ehescheidungen und wird bestimmt dafür sorgen, dass Sie zu Ihrem Recht kommen.«
»Trotzdem wird Kurt erzwingen, dass er den Jungen behält und ich ihn höchstens einmal im Monat zu sehen bekomme. Sie kennen meinen Mann nicht, Herr Professor. Wenn er etwas durchsetzen will, erreicht er es auch gegen den besten Rechtsanwalt der Welt.«
Unendliche Mutlosigkeit und Resignation sprachen aus den Worten der unglücklichen Frau.
»Aber wenn es so bleibt wie jetzt, werden Sie den Jungen auch nicht wiedersehen«, entgegnete Professor Fabricius sanft. »Im Gegenteil. Sie setzen sich ins Unrecht. Besprechen Sie Ihren Fall doch einmal ausführlich mit Dr. Immerling. Er kann dann einen Brief an Ihren Mann aufsetzen. Möglicherweise lässt sich am Ende doch erreichen, dass Sie das Kind bekommen. Sie haben sich nichts zuschulden kommen lassen. Es ist Ihr Mann, der auf die Scheidung drängt.«
Angela seufzte. »Ich bin ziemlich am Ende. Auf die Dauer wird man ganz einfach zermürbt und fügt sich. Sie meinen also, dass ich Hoffnung hätte, Bastian für mich zu bekommen?« Ihre hellen Augen leuchteten sehnsüchtig auf. »Bastian ist ein liebes Kind. Ich fürchte, er ist schrecklich unglücklich und kann sich gar nicht erklären, wo seine Mutter geblieben ist. Ich weiß nicht einmal, was mein Mann ihm gesagt hat. Es ist eine schlimme Situation, in der ich mich befinde.«
»Die juristische Seite muss Dr. Immerling mit Ihnen klären. Die menschliche wäre, dass wir alles versuchen, um Ihnen Ihr Recht zu verschaffen und dem Kind die Mutter wiederzugeben. Liebe ist für ein Kind immer wichtiger als Geld und ein schönes Haus oder ein kostspieliges Internat.«
Angela rannen Tränen über die Wangen.
»Nicht weinen, Frau Angela, es kommt schon irgendwie in Ordnung – aber sicherlich nicht, wenn Sie den Kopf in den Sand stecken und gar nichts unternehmen.«
Angela Schlüter trank einen Schluck Tee und beruhigte sich etwas. »Sie haben sicherlich recht, Herr Professor. Ich werde mir die Adresse von Herrn Dr. Immerling notieren.«
»Nein, nein, wir rufen ihn gleich an und vereinbaren einen Termin. Verstehen Sie mich recht, Frau Angela. Ich will Sie nicht zur Scheidung drängen. ich bin ein alter Mann und meine wie Sie, dass der Mensch das, was Gott zusammengefügt hat, nicht scheiden sollte. Aber irgendetwas müssen Sie jetzt unternehmen, sonst kommt Ihr Mann zum Ziel, ohne dass Sie sich in irgendeiner Weise dagegen zur Wehr setzen können.«
Angela ließ den Professor, von dem sie wusste, dass er es aufrichtig mit ihr meinte, gewähren. Er hatte sich die Telefonnummer und Adresse von Dr. Immerling notiert und wählte die Nummer sofort. Wenig später war der Termin vereinbart. Noch am gleichen Abend nach sechs Uhr sollte Angela den Anwalt aufsuchen. Er wollte in der Kanzlei auf sie warten.
»Danke, Herr Professor«, flüsterte Angela Schlüter. »Dann werde ich jetzt rasch nach Hause fahren, um die Briefe meines Mannes herauszusuchen, die er mir in dieser Angelegenheit geschrieben hat. Ich nehme an, dass der Anwalt die Unterlagen benötigen wird.«
»Sehr vernünftig, Frau Angela. Ich sehe, Sie nehmen die Sache jetzt entschlossen in die Hand. Morgen müssen Sie mir erzählen, was Dr. Immerling gesagt hat.«
»Natürlich, Herr Professor.« Angela leerte ihre Tasse und stand auf.
»Viel Glück, mein gutes Kind. Wenn Sie sich mit Dr. Immerling beraten, brauchen Sie nicht gleich einen Entschluss zu fassen. Lassen Sie sich Zeit.«
»Ja, Herr Professor.«
Angela verließ das schöne alte Patrizierhaus des Professors und fuhr mit dem Bus nach Hause, um die Briefe ihres Mannes, um derentwillen sie schon viele Tränen vergossen hatte, herauszusuchen, und sich auf den Weg in die Rechtsanwaltskanzlei zu machen.
War dies der Anfang vom Ende? Gab es keinen Weg mehr zur Versöhnung zwischen Kurt und ihr? Würde sie ihren süßen kleinen Bastian für immer verlieren?
Angela Schlüter wusste genau, dass ihr Mann die junge, schöne Hella von Walden heiraten wollte. Sie wusste auch, dass er Bastian um jeden Preis behalten und zu einem Jungen genau nach seinen Idealen formen wollte. Würde der Anwalt in der Lage sein, sich gegen die eiserne Härte ihres Mannes durchzusetzen?
Angela Schlüter war so verzweifelt und zermürbt, dass sie wenig Hoffnung hatte. Trotzdem ging sie den Weg, den der wohlmeinende Professor ihr gewiesen hatte.
Kurt hat mich verstoßen, dachte sie, er liebt mich nicht mehr. Es ist sicher das Beste, wenn ich in die Scheidung einwillige. Es ist das Letzte, das ich noch für ihn tun kann. Vielleicht hat er dann wenigstens ein Einsehen und lässt mich meinen süßen kleinen Jungen ab und zu sehen.
Zugleich ahnte und fürchtete Angela, dass ihr Mann Bastian so erziehen wollte, dass er mit einer einfachen Frau, wie sie es geblieben war, nichts mehr zu tun haben wollte. Er sollte ein stolzer kleiner Prinz werden, dem Geld mehr galt als Mutterliebe. Das war Kurts Ziel.
Das Gespräch mit dem Rechtsanwalt dauerte sehr lange. Als Folge davon schrieb Dr. Immerling einen Brief an den Generaldirektor in Augsburg, in dem er ihm mitteilte, dass seine Frau sich der Scheidung nicht länger widersetze, sofern man zu einem gewissen gegenseitigen Einverständnis komme und das wohlverstandene Interesse des Sohnes Bastian gewahrt bleibe.
Dieser Brief hätte den Generaldirektor gewiss gefreut, wenn er noch in seine Hände gelangt wäre. Doch Kurt Schlüter war bereits seit drei Tagen in Paris, als der Brief in seinem Sekretariat eintraf. Da er strengste Anweisung hinterlassen hatte, dass seine private Post ungeöffnet aufbewahrt werden sollte, wanderte der wichtige Brief zunächst ungelesen in eine dicke Mappe, wo er mit anderen Schreiben auf die Rückkehr des Empfängers warten musste.
*
Bastian war nun schon zum dritten Mal im Tierheim Waldi & Co. Doch sein Zorn darüber, dass man ihm die Dogge Wiking entführt hatte, war immer noch nicht verraucht.
An diesem Tag hatte ihn Wolfgang Rennert, der Sohn der Heimleiterin und Hauslehrer von Sophienlust, im Wagen mitgenommen und beim Tierheim abgesetzt. Andrea von Lehn war nicht zu Hause, sie hatte ihren Mann auf ein Gut begleitet, dessen Besitzer mit der Familie von Lehn schon lange befreundet war. Deshalb hatte Andrea die Gelegenheit wahrgenommen, dort einen Besuch zu machen und Kaffee zu trinken.
Eigentlich kümmerte sich an diesem Nachmittag niemand so recht um Bastian, denn Wolfgang Rennert hatte wichtige Besorgungen in der kleinen Ortschaft zu erledigen, und Helmut Koster war im Garten beschäftigt. Betti aber hatte im Haus zu tun.
Bastian betrachtete wie immer die Schimpansen und lachte leise über ihre Späße. Magda, die Köchin von Sophienlust, hatte ihm ein paar Bananen für die beiden lustigen Burschen mitgegeben, die er nun stückchenweise an sie verfütterte. Für Wiking, der nicht von der Seite seines kleinen Herrn wich, hatte er Hundekuchen mitgebracht.
Wiking schien sich im Tierheim glücklich zu fühlen. Gemeinsam mit der schwarzen Dogge Severin pflegte er Andrea auf Schritt und Tritt zu folgen. Aber jetzt erinnerte er sich doch an seinen kleinen Herrn und leckte ihm sogar die Hand. Das war früher als »unfein« verboten gewesen, aber im Tierheim war so etwas erlaubt. Der kluge Wiking probierte es nun auch gleich einmal bei Bastian aus. Tatsächlich sagte dieser nicht »pfui«, sondern tätschelte seinen Kopf.
»Es ist blöd hier, nicht wahr, Wiking?«, schimpfte der Junge leise.
»Wau, wau«, antwortete Wiking, aber das konnte vieles bedeuten.
»Weißt du, man sollte ihnen einen Streich spielen, weil sie so gemein sind«, fuhr Bastian fort. »Aber was?«
Bastian war noch klein, aber alles andere als dumm. Außerdem hatte er von seinem Vater oft genug gehört, dass man sich nichts, aber auch gar nichts gefallen lassen dürfe. Allzu oft hatte Kurt Schlüter in Gegenwart des Jungen voller Stolz erzählt, dass er es diesem oder jenem Menschen heimgezahlt und sich für irgendetwas gerächt habe. Jetzt wollte sich auch Bastian rächen, weil er sich ungerecht behandelt fühlte. Also sah er sich im Tierheim nach einer Möglichkeit um.
Sollte er die Braunbärin mit den Jungen rauslassen? Nein, das war vielleicht gefährlich. Sie würde ihn anfallen und beißen. Oder die Affen aus ihrem Gehege lassen? Na, so ganz traute Bastian den beiden wilden Schimpansen doch nicht. Sie schienen ziemlich kräftig zu sein und waren nicht viel kleiner als er selbst. Leider nicht!
Aber die Küken – diese albernen, kleinen Biester – ja, das war ganz einfach! Er würde den Strom abstellen, und dann würden die Küken krank werden oder vielleicht auch sterben. Das hatte Helmut Koster doch gesagt.
Bastian verließ die Schimpansen und ging zu dem kleinen Verschlag, in dem die Küken an diesem kühlen Herbsttag eifrig unter ihrer Wärmeglocke herumspazierten und piepsten. Ein bisschen musste er suchen, dann hatte er den elektrischen Schalter gefunden. Knips, schon war die Wärmeglocke ausgeschaltet. Und natürlich würde das zunächst kein Mensch merken.
»Ich zeig’s euch schon!«, flüsterte Bastian mit geballten Fäusten. »Ja, ich zeig’s euch. Vati wäre stolz auf mich, wenn er wüsste, dass ich mir nichts gefallen lasse.«
Bastian ging wieder zu den Schimpansen, als wäre nichts geschehen. Etwa eine halbe Stunde später erschien Betti und rief ihn. »Herr Rennert fährt zurück, Bastian. Hast du dich mit deinem Hund schön beschäftigt? Es gefällt ihm gut bei Tante Andrea.«
Bastian streckte ihr die Zunge heraus. »Es gefällt ihm überhaupt nicht«, gab er ungezogen zurück, folgte Betti aber doch zum Auto Wolfgang Rennerts, das vor der Tür wartete.
An diesem Abend zeigte sich Bastian in Sophienlust zum ersten Mal von einer etwas liebenswürdigeren Seite. Frau Rennert begann Hoffnung zu schöpfen, dass der schwierige kleine Junge, der ihnen so viele Nüsse zu knacken gegeben hatte, sich nun doch einleben würde.
In Wirklichkeit aber war es nur das Gefühl der Vorfreude auf seine Rache, das Bastian so sehr beschäftigte und ihm den Anschein von Freundlichkeit und Zufriedenheit gab.
Schon früh am anderen Morgen kam ein Anruf aus Bachenau. Andrea war am Telefon. Sie berichtete von dem Unglück, das geschehen war, und davon, dass Helmut Koster felsenfest überzeugt sei, dass nur Bastian der Übeltäter gewesen sein könnte.
Schweren Herzens informierte Frau Rennert Denise von Schoenecker. »Ich fürchte, er ist ein boshafter Junge, Frau von Schoenecker«, seufzte sie. »Was machen wir nur mit ihm? Wenn wir ihn jetzt zur Rede stellen, wird er wahrscheinlich auch noch lügen. Das macht die Sache schlimmer und schlimmer.«
»Ich rede mit ihm – nein, ich werde mit ihm zu Andrea fahren, Frau Rennert. Bitte, rufen Sie Andrea an und sagen Sie, dass man die Küken so liegen lassen soll, wie Helmut Koster sie vorgefunden hat. Wir sind in zwanzig Minuten drüben. Ich möchte keine Zeit verlieren.«
»Wie Sie wollen, Frau von Schoenecker«, erwiderte Frau Rennert. Sie hoffte dabei, dass Denise auch diesmal wieder den richtigen Weg finden werde, so schwer es mit Bastian auch sein mochte.
»Hast du den elektrischen Schalter bei den Küken abgedreht?«, hörte sie Denise den Jungen später fragen, denn die schöne Herrin von Sophienlust war sofort von Schoeneich herübergekommen.