Ich will keinen neuen Vati - Patricia Vandenberg - E-Book

Ich will keinen neuen Vati E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird.

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Sophienlust Bestseller – 78 –

Ich will keinen neuen Vati

Patricia Vandenberg

Es war ein wunderschöner Frühlingsmorgen. Das große Knospen und Blühen hatte begonnen, und die Kinder in Sophienlust rüsteten sich zu ihrem ersten großen Ausflug. Ihre kleinen Rucksäcke aufgeschnallt, versammelten sie sich im Gutshof zum Abmarsch und waren schon voller Ungeduld.

Denise von Schoenecker musste ihren Jüngsten zurückhalten, der auch mitgehen wollte. Der reizende kleine Junge zappelte wild und schrie tief gekränkt: »Auch mitgehn, auch mitgehn!«

»Unser Henrik ist noch zu klein«, tröstete ihn Denise. »Wenn du mal größer bist, mein Liebling, darfst du auch mitgehen.«

»Henrik groß«, widersprach der Kleine und reckte seine Hand in die Höhe, so hoch er nur konnte. »Sooo groß ist Henrik.«

»Wir können ihn ja im Wagen mitnehmen«, meinte Dominik, dem der kleine Bruder leidtat.

»Das fehlte noch«, seufzte Denise. »Über Stock und Stein, da bekommt er ja eine Gehirnerschütterung. Henrik darf nachher mit Vati in die Stadt fahren.«

Das tröstete den kleinen Burschen halbwegs, aber es gab doch noch ein paar Tränchen, als die Kinder schwatzend und lachend davonzogen. Begleitet wurden sie heute von Carola und Gretli. Malu und Andrea waren schon so vernünftig, dass sie auf die kleinen Kinder ebenfalls etwas aufpassen konnten. Wolfgang Rennert hatte nicht mitgehen können, da ihm ein Weisheitszahn gezogen werden musste.

»Pünktchen, du sollst nicht dauernd zurückbleiben«, ermahnte Dominik seine kleine Freundin, der er besonders zugetan war.

»Wenn ich doch aber so hübsche Blümchen sehe«, entgegnete sie. »Und da ist ein Marienkäferchen. Schau mal, Nick, ist das nicht goldig?«

»Es ist rot«, brummte er. »Und es hat viele schwarze Pünktchen.«

Sie strahlte ihn an. »Ich habe blonde«, erklärte sie eifrig.

»Du hast Sommersprossen«, belehrte er sie.

»Aber deswegen hast du mich doch Pünktchen genannt.«

Er seufzte abgrundtief. Gegen Pünktchen kam selbst er manchmal nicht an. Sie wusste immer eine Erwiderung, aber Nick fand, dass sie von Tag zu Tag netter wurde.

Andrea, die ein sehr hübsches Mädchen geworden war, machte es Spaß, einmal einen ganzen Tag lang mit den Kindern von Sophienlust beisammen zu sein.

»Schade, dass Sascha nicht auch mitkommen konnte«, sagte Malu.

»Er hat Zwischenprüfung, da muss er mächtig lernen«, meinte Andrea.

»Er ist ja auch fast schon ein Mann«, mischte sich Angelika ein.

Andrea lachte übermütig. »Der und ein Mann! Ein richtiger Lausejunge ist er jetzt.« Aber man merkte ihr doch an, dass sie stolz auf ihren großen Bruder war.

»Hat er eine Freundin?«, erkundigte sich Malu.

»Mehrere«, erwiderte Andrea, »aber keine richtige. Er ist eben Kavalier, das mögen die Mädchen.«

Das Gespräch ging hin und her. Sie kamen vom Hundertsten ins Tausendste, wie es bei Mädchen ihres Alters üblich war. Aber auch die Kleineren fanden immer wieder etwas zu schwatzen. Carola und Gretli hatten nicht viel Mühe mit ihnen. Die Kinder waren alle folgsam.

»Da steht ein Auto«, stellte Pünktchen plötzlich fest. »Es ist aber leer.«

»Ein schönes Auto«, meinte die kleine Vicky.

»Ihr bleibt jetzt hübsch zusammen«, ermahnte Carola die Kinder sofort. Ein leeres Auto bedeutete immerhin, dass ein Fremder im Wald sein konnte. Vorsicht war da in jedem Fall angebracht.

»Hier gibt es keine Verbrecher«, behauptete Pünktchen.

»Das weiß man nie«, widersprach Dominik, sodass Pünktchen sich sofort ängstlich an ihn klammerte. »Brauchst ja keine Angst zu haben«, raunte er ihr zu. »Ich beschütze euch schon.« Aber noch war weit und breit niemand zu sehen.

*

»So ein Picknick im Wald ist schön, Muttilein«, sagte der kleine Rolf begeistert. »Das könnten wir öfter machen.«

»Ist dir auch nicht kalt?«, erkundigte sich Amelie Stein besorgt.

»Die Decke ist ja schön warm«, erwiderte er. »Müssen wir denn weiterfahren? Mir gefällt es hier so gut.«

Rolf hatte dieser Reise von Anfang an Widerstand entgegengesetzt, so als ahne er etwas. Amelie versank in wehmütige Betrachtungen. Wenn der Junge nun Adrian ablehnte, wie sollte sie sich dann entscheiden? Sie stand zwischen dem Mann, den sie nach bitteren Erfahrungen in ihrer ersten Ehe lieben gelernt hatte, und ihrem kleinen Sohn. Heute nun hatte sie einen Versuch machen wollen, Adrian Bork und Rolf auf unverfängliche Weise zusammenzubringen, um so die Einstellung ihres Kindes zu erforschen.

»Ich höre was«, ließ Rolf sich vernehmen, nachdem er eben herzhaft in ein belegtes Brot gebissen hatte. So klang seine Stimme undeutlich.

Amelie achtete nicht darauf, weil ihre Gedanken weitergewandert waren. Seit zwei Tagen fraß quälende Angst in ihr. Auch darüber wollte sie mit Adrian Bork sprechen. Gunther Mosbach, ihr geschiedener Mann, war in der Stadt aufgetaucht, in der sie eine neue Heimat gefunden hatte. War es Zufall, oder hatte er ihre Spur gesucht und gefunden, obgleich sie wieder ihren Mädchennamen angenommen hatte? Sie wusste auf diese peinigende Frage keine Antwort, war aber vor allem darauf bedacht, dass Rolf diesen Mann nicht mehr sah, seinen Vater, der aber nie ein richtiger Vater gewesen war. Noch immer hatte das Kind den Schock nicht überwunden, den es durch die ewigen Streitereien erlitten hatte. Rolf besaß eine Scheu vor allen Männern. Sobald einer in Amelies Nähe auftauchte, wappnete er sich sofort mit Abwehr. Würde es bei Adrian auch so sein?

»Ich höre etwas«, wiederholte Rolf. »Es sind Kinder. Sie singen, Mutti.«

Helle Stimmen schallten jetzt durch den Wald. Sie kamen näher. Rolfs Augen begannen zu glänzen. Männer mochte er nicht, aber Kinder schon.

»Wer recht in Freuden wandern will«, war jetzt ganz deutlich zu vernehmen.

»Darf ich nicht mal gucken, Mutti?«, fragte Rolf.

»Bleib bitte hier«, ermahnte sie ihn, als er sich erhob.

»Nur ein bisschen möchte ich gucken«, bettelte er. »Es sind bestimmt viele Kinder.«

Da tauchten auch schon die ersten auf, allen voran Dominik von Wellentin-Schoenecker, der wachsam Ausschau hielt, ob ja nicht eine finstere Gestalt in der Nähe war.

»Na, wer sagt’s denn«, rief er erleichtert aus, »es ist nur ein Junge. Und eine Dame. Guten Tag«, fuhr er höflich fort.

»Wir machen Picknick«, sagte Rolf. »Das dürfen wir doch?«

»Freilich«, erwiderte Dominik. »Gehört das grüne Auto euch?«, erkundigte er sich dann aber doch vorsichtshalber.

Rolf nickte. Amelie Stein aber fragte rasch: »Ist der Wald Privatbesitz?«

»Deswegen brauchen Sie nicht zu erschrecken«, meinte Carola freundlich. »Hier ist jeder willkommen.«

Das hörte Rolf gern. »Es ist sehr schön hier«, erklärte er.

»Na klar, der Wald gehört ja auch zu Sophienlust«, stellte Dominik fest.

»Was ist Sophienlust?«, fragte Rolf.

Dass jemand, der sich hier aufhielt, noch nichts von Sophienlust gehört hatte, erschien Dominik verwunderlich. »Unser Kinderheim«, erwiderte er. »Da kommen wir alle her.«

Rolf sah ihn nachdenklich an. »Da wohnt ihr? Da schlaft ihr auch?«

»Freilich, was sonst«, meinte Dominik. »Aber jetzt müssen wir weiter. Wir machen nämlich einen Ausflug.«

»Ich möchte auch lieber einen Ausflug mit Kindern machen, Mutti«, flehte Rolf.

»Kannst ja mitkommen«, erklärte Dominik großzügig.

»Wirklich, kann ich das? Oh, Mutti, darf ich nicht hierbleiben, bis du von Lindau zurückkommst?«

Amelie sah sich überrumpelt. Sie war noch gar nicht dazu gekommen, ein Wort mit dem jungen Mädchen zu wechseln, das einen sehr sympathischen Eindruck auf sie machte.

»Mein Sohn kommt kaum mit Kindern zusammen«, erläuterte sie. »Entschuldigen Sie, dass er Sie so lange aufhält.«

»Das macht gar nichts«, lächelte Carola. »Wir haben viel Zeit und sind daran gewöhnt, dass Kinder Fragen stellen. Mein Name ist Carola Dahm. Ich gehöre auch nach Sophienlust. Und das sind unsere Trabanten.«

Amelie nannte ebenfalls ihren Namen und ließ ihren Blick dann in die Runde schweifen. Ein Kind sah so nett und gepflegt aus wie das andere. Vielleicht wäre es für Rolf gut, wenn er in Gesellschaft von fröhlichen Kindern einmal seine Angst vergessen würde, ging es ihr durch den Sinn.

Bisher war es ihr unmöglich erschienen, sich von dem Jungen zu trennen, aber nun sah sie, wie sehr er sich nach so lebhafter Gesellschaft zu sehnen schien.

»Nehmen Sie noch Kinder auf?«, fragte sie Carola.

»Das müsste Frau von Schoenecker entscheiden«, erwiderte das junge Mädchen freundlich. »Platz wäre schon noch. Kamen Sie deswegen hierher?«

»Nein«, erwiderte Amelie, »es ist ein ganz impulsiver Entschluss. Ich spüre zum ersten Mal, was meinem Jungen fehlt.«

Hier wäre er auch sicher vor Gunther, dachte Amelie weiter. Niemals würde er auf den Gedanken kommen, dass ich Rolf in ein Heim gegeben habe.

Aber sie musste nach Lindau. Sie durfte Adrian nicht warten lassen. Er machte sich ohnehin schon genügend Sorgen um sie.

»Bitte, bitte, Muttichen, lass mich doch hier«, bettelte Rolf. »Du kannst mich doch wieder abholen, wenn du zurückkommst.«

»Das geht doch nicht so einfach«, meinte sie zögernd.

»Es ginge schon, wenn Sie uns den Jungen anvertrauen wollen«, warf Carola ein. »Wir werden gegen fünf Uhr wieder in Sophienlust sein. Im Forsthaus machen wir Mittagsrast, dann besuchen wir noch unsere Baumschule. Verhungern wird der kleine Mann also auch nicht.«

Ich könnte in aller Ruhe noch einmal mit Adrian sprechen, überlegte Amelie. Vielleicht wäre das sogar besser.

»Ich bin auch ganz brav, Mutti«, bettelte Rolf weiter. »Es sind ja auch keine Männer da.«

Carola und auch Dominik horchten auf, als er das sagte. Pünktchen aber stahl sich vor und sah Amelie erwartungsvoll an.

»Wir sind bestimmt ganz nett zu ihm«, versicherte sie. Es war immer interessant, wenn ein neues Kind in ihre Runde kam. Da erfuhr man mal etwas anderes.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht?«, meinte Amelie zögernd zu Carola.

Fröhlich winkte diese ab. »Bei so vielen Kindern? Es wird ihm bestimmt Spaß machen. Wie heißt du denn, kleiner Mann?«

»Rolf«, erwiderte er. »Rolf …« Er zögerte, sagte dann aber rasch: »Rolf Stein.« Er blickte zu Dominik empor. »Und wie heißt du, großer Junge?«

»Nick, aber du wirst uns schon noch alle kennen lernen, wenn du mitkommst.«

Und so geschah es, dass der kleine Rolf Stein, der ungern Mosbach heißen wollte, mit den Kindern von Sophienlust weiterwanderte, statt mit seiner Mutti nach Lindau zu fahren. Er hatte sie zum Abschied zärtlich und dankbar geküsst, und Amelie versprach, ihn abends abzuholen.

*

»Ich bin richtig froh«, sagte Rolf. »In Lindau gibt’s bestimmt auch viele Männer.«

»Was hast du denn gegen Männer?«, wollte Dominik wissen.

»Sie sind gemein. Sie schimpfen immer und werfen Gläser an die Wand und andere Sachen auch.«

Dominik runzelte die Stirn. »Doch nicht alle Männer«, widersprach er.

»Aber Väter«, behauptete Rolf. »Ich mag nicht darüber sprechen.«

Dominik wusste schon, dass er nicht neugierig sein durfte, wenn ein Kind etwas nicht sagen wollte. Doch er war gescheit genug, um zu kombinieren, dass Rolf keinen freundlichen Vater hatte.

Pünktchen marschierte an Rolfs anderer Seite. Sie äußerte sich erst recht nicht zu diesen Worten, denn in ihrem Leben hatte es eine Zeit gegeben, wo sie gar nichts gesagt hatte.

»Erzählt mir was von eurem Kinderheim. Sophienlust klingt so richtig heimelig«, bat Rolf.

»Da ist es auch heimelig«, bestätigte Pünktchen. »Wir haben alles. Sogar Habakuk – das ist ein Papagei, der ganz toll reden kann. Und Blödsinn macht er auch.«

»Darf er das?«, fragte Rolf.

»Freilich«, erwiderte Dominik. »Wir haben doch Spaß dran.«

»Ich hatte auch mal ein Vögelchen«, erzählte Rolf. »Das konnte nicht sprechen, aber ich hatte es lieb. Der Mann hat es fortfliegen lassen. Er hat gesagt, es macht nur Dreck. Das war aber gar nicht wahr.«

»Das muss ein komischer Mann gewesen sein«, brummte Nick.

»Er war nicht komisch, er war böse. Wir sind froh, dass er weg ist. Aber warum reden wir schon wieder von ihm?«

»Ponys haben wir auch«, lenkte Pünktchen rasch ab. »Und viele Hunde, große und kleine. Eine Schildkröte und noch vieles andere. Du kannst ja alles begucken, wenn wir nachher nach Sophienlust kommen.«

Für Rolf wurde es immer aufregender. Von Männern wurde nicht mehr gesprochen, das beruhigte ihn ungemein. Es sollte wohl auch so sein, dass der Förster gerade nicht anwesend war, als sie im Forsthaus ihr Mittagsmahl einnahmen, sondern nur die freundliche Förstersfrau und ihre beiden flachshaarigen Kinder. So gefiel Rolf das Leben. So müsste es immer sein, meinte er. Und er dachte nicht darüber nach, warum seine Mutti nach Lindau gefahren war.

*

»Schluss für heute«, sagte Dr. Adrian Bork zu seiner Sprechstundenhilfe. Endlich hatte er den letzten Patienten abgefertigt. Nun konnte Amelie kommen. Trotz seiner jungen Jahre hatte Adrian Bork schon eine große Praxis. Er war ein gefragter Internist und wegen seiner menschlichen Qualitäten überaus beliebt. Auch sein Äußeres war sehr sympathisch, und dass seine Hilfe ein grauhaariges gutmütiges Wesen war, das rundete den guten Eindruck ab, den er auf alle Patienten machte.

»Sie können es wohl gar nicht erwarten, Herr Doktor«, meinte Schwester Gustel nachsichtig. »Essen dürften Sie wenigstens.«

»Eigentlich müssten sie schon da sein«, murmelte er und blickte auf die Uhr.

»Es ist ein schöner Tag, da wird viel Verkehr sein«, versuchte ihn Schwester Gustel zu beruhigen. Sie wusste, warum ihr junger Chef so ungeduldig war. Er hatte sie in seine Zukunftspläne eingeweiht und ihr auch ein Bild von seiner zukünftigen Frau gezeigt.

Selbstlos, wie sie war, wünschte Schwester Gustel Dr. Bork alles Glück, das er nach ihrer Ansicht in reichem Maße verdiente. Dass Amelie Stein, ihre Stimme kannte sie vom Telefon und mochte sie schon deshalb gern, einen Sohn mit in die Ehe brachte, störte sie nicht.

»Wenn ich mich nachher mit dem Kleinen beschäftigen soll, sagen Sie es ruhig. Sie wollen doch sicher ein Stündchen für sich haben, da Sie sich so selten sehen.«

»Es wird bald anders werden, Schwester Gustel«, meinte er zuversichtlich. Doch dann wurde er abgelenkt. Amelies Auto fuhr vor. Er hatte das Geräusch gleich gehört und eilte hinaus.

»Amelie«, begrüßte er sie zärtlich, aber ganz gedämpft, um dann suchend um sich zu blicken. »Wo ist Rolf?«, fragte er rasch.

»Das erzähle ich dir später«, erwiderte sie leise. »Ich bin froh, dich zu sehen, Adrian. Es ist gut, dass wir allein miteinander sprechen können.«

»Aber zuerst musst du Schwester Gustel kennen lernen. Sie brennt schon darauf.«

Sie mochten sich auf den ersten Blick. Schwester Gustel war von der anmutigen, zierlichen jungen Frau sofort angetan.

»Der Kleine ist ja gar nicht dabei«, meinte sie enttäuscht.

»Er hat sich für eine Kinderschar begeistert«, erzählte Amelie. »Es ist wohl ganz gut so.« Ihr Gesicht hatte sich überschattet. »Rolf ist ein bisschen schwierig, Schwester Gustel.«

Na, hoffentlich gibt’s da keine Probleme, dachte die treue Seele.

Dr. Bork nahm Amelies Arm. »Gehen wir essen, oder bist du mit meiner Junggesellenkost zufrieden, Liebes?«, fragte er, nachdem Schwester Gustel sich diskret zurückgezogen hatte. »Oder willst du erst dein zukünftiges Heim anschauen?«

Das letztere war Amelie am liebsten. Das gemütliche Haus, das Adrian von seinen Eltern geerbt hatte, vermittelte ihr sofort ein Gefühl der Geborgenheit. Sie war sicher, dass es sich gut darin leben ließ.

»Nun möchte ich dich aber erst einmal richtig begrüßen«, murmelte er und zog sie in seine Arme. »Mein Liebes, du weißt nicht, wie ich mich nach dir sehne.«

Seine zärtlichen Küsse bewiesen es ihr. Für Minuten vergaß sie alles. Noch vor Kurzem hatte sie geglaubt, niemals wieder einem Mann vertrauen zu können, aber Adrian hatte es verstanden, sie behutsam von ihren quälenden Vorstellungen zu befreien.

Jetzt kannten sie sich schon mehr als ein Jahr. Langsam war die Liebe zwischen ihnen gewachsen, von seiner Seite aus sofort übermächtig. Aber er hatte unendliche Geduld mit ihr gehabt, und obwohl sie sich nur selten sehen konnten, war doch niemals ein Zweifel in ihm gewesen, dass sie eines Tages zusammengehören würden.

Eine plötzliche schmerzhafte Gastritis, die Amelie auf einer Fahrt nach Zürich überfallen hatte, hatte sie zufällig in seine Praxis gebracht, und Adrian Bork hatte sich auf den ersten Blick in diese mädchenhafte Frau verliebt. Unverdrossen hatte er sich seitdem bemüht, ihre Zuneigung und ihr Vertrauen zu erringen, und schließlich war auch Amelie zu der Überzeugung gekommen, dass Adrian Bork der richtige Mann für sie sei.

»Was ist nun mit Rolf?«, fragte er.

»Erzähle, Liebes.«

Amelie berichtete, was sie an diesem Tag erlebt hatte. Er unterbrach sie mit keinem Wort. Seine Augen wurden immer nachdenklicher.

»Wenn er sich wohlfühlt, wäre es vielleicht eine gute Übergangslösung, mein Liebstes«, meinte er. »Ich möchte dich endlich bei mir haben. Du sollst dich nicht mehr ängstigen. Ich habe keine Ruhe, wenn ich dich allein weiß.«

»Vielleicht mache ich mir unnütze Gedanken«, murmelte sie. »Was kann er noch von mir wollen?« Sie vermied es, den Namen des Mannes auszusprechen, der so viel Kummer in ihr Leben gebracht hatte. Viel anders als Rolf erging es ihr eben auch nicht, nur wusste sie, dass sie bei Adrian Bork Schutz und Geborgenheit fand.

»Wir werden so bald wie möglich heiraten«, drängte der Arzt. »Rolf wird sich an mich gewöhnen. Ich habe Geduld, Amelie.«

»Ich weiß es«, sagte sie zärtlich.

*

»Ich bin ehrlich gespannt, was sie heute angeschleppt bringen werden«, sagte Denise von Schoenecker zu ihrem Mann. »Von flügellahmen Vögeln bis hin zum waidwunden Reh haben wir ja wohl schon alles durchexerziert.«

»Wie ich diese Trabanten kenne, finden sie bestimmt etwas Neues«, lächelte er. »Aber das ist ja das Nette an ihnen allen, dass sie so warmherzig sind. Wo findet man das heute noch.«

»Psst, Henrik schläft«, sagte sie, als er lachte. »Er hat mir genug zu schaffen gemacht. Jetzt will er schon überall dabei sein. Er wird ein richtiger Wildfang.«

»Willst du ihn anders haben?«, fragte Alexander von Schoenecker. Zärtlich betrachtete er seinen kleinen Sohn, der selig und süß schlummerte. »Er wird dir immer ähnlicher, Denise.«