East of Inferno - Thomas Engström - E-Book
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East of Inferno E-Book

Thomas Engström

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Beschreibung

Ein Agent, der nichts mehr zu verlieren hat. Politische Feinde, denen keiner entkommt ...

Ludwig Licht arbeitet für einen privaten Sicherheitsdienst in Tiflis, Georgien. Seine Kontakte zum amerikanischen Geheimdienst sorgen dafür, dass er in kürzester Zeit zwischen alle politischen, nationalen und auch religiösen Fronten gerät. Als eine Serie von Terroranschlägen das ganze Land in Panik versetzt, lassen Bekennerschreiben vom IS nicht lange auf sich warten. Doch Ludwig Licht ahnt, dass die wahren Strippenzieher ganz woanders sitzen. In den finsteren Bergregionen des Kaukasus steht ihm sein letzter und härtester Kampf bevor.

In dem großen Finale der preisgekrönten Agentenserie muss sich Ludwig Licht seinem größten Feind aus Stasi-Zeiten stellen.

»Thomas Engström entwickelt den klassischen Agententhriller genial weiter: Sein Stil ist rasant, die Spannung gigantisch und sein Humor absolut erfrischend!« Arne Dahl

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Seitenzahl: 356

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Inhalt

Ludwig Licht arbeitet für einen Sicherheitsdienst in Tiflis und wird täglich mit der explosiven Lage des Landes konfrontiert. Seine Kontakte zum amerikanischen Geheimdienst sorgen dafür, dass er in Georgien in kürzester Zeit zwischen alle politischen, nationalen und auch religiösen Fronten gerät. Dann bringt auch noch eine Serie von Terroranschlägen das Land in den Ausnahmezustand. Bekennerschreiben vom IS verbreiten Panik in der Bevölkerung, die Politik ist zum Handeln gezwungen. Licht ahnt dagegen, dass die wahren Strippenzieher ganz woanders sitzen …

In seinem letzten, härtesten Kampf muss sich Ludwig nicht nur seinem schlimmsten Feind aus Stasi-Zeiten stellen, sondern er entdeckt auch, dass es einen Menschen in seinem Leben gibt, den er mit allen Mitteln schützen will: seinen Sohn Walter …

Autor

Thomas Engström, 1975 geboren, ist Jurist und arbeitet seit vielen Jahren als Journalist, Übersetzer und Autor. East of Inferno ist der vierte und letzte Band seiner fulminanten Ludwig-Licht-Serie, zu der es eine spektakuläre ZDF-Verfilmung mit Wotan Wilke Möhring in der Hauptrolle gibt.

THOMASENGSTRÖM

EAST

INFERNO

EIN LUDWIG-LICHT-THRILLER

Aus dem Schwedischen von Lotta Rüegger und Holger Wolandt

C.Bertelsmann

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Öster om avgrunden bei Albert Bonniers Förlag, Stockholm

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2017 by Thomas Engström

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020

beim C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Published by agreement with Salomonsson Agency

Covergestaltung: bürosüd

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-18333-2V002

www.cbertelsmann.de

Für meine geliebte Mitausreißerin Margit

Mit besonderem Dank auch an

Mutter und Vater

Davit Maghradze

Nino Inasaridze

Paul Rodzianko

Jan Richard Baerug

Alexander Hay

Maurice Wolf & Helene Veilleux

und das Volk der Swanen

Der Weltuntergang kommt unausweichlich, aber nicht von allein. Er ist eine Aufgabe und keine Selbstverständlichkeit. Er ist aktive Metaphysik. Etwas Auszuübendes.

Alexander Dugin

PROLOG

KIEW, IM FEBRUAR 2014

Hotel Ukrajina

Maidan, Kiew

So., 23. Februar 2014

[7:15 MEZ+2]

Wenn eine Revolution siegt, dann stirbt sie, aber es dauert eine Weile, bis sie selbst es merkt. Also schlägt sie noch eine Zeitlang wie wild um sich. Zu guter Letzt will sie die Erinnerung an sich selbst auslöschen – und jetzt behaupten Sie bitte nicht, dass ihr das nicht gelingen könne.

Kiew badete in rosarotem Morgenlicht. Die Fassaden aus Kacheln und hellen Ziegeln wurden von einem violetten Glanz überzogen, der Himmel färbte sich von Weiß im Osten zu Taubenblau im dunkelsten Westen. Der enorme Dnjepr, den nur die eigene rastlose Kraft zu bewegen vermochte, schlängelte sich funkelnd südwärts.

Über dem Maidan thronte, eigentlich schon immer, das Hotel Ukrajina: ein hellgrauer Koloss, durchdrungen vom Machtanspruch alter Zeiten. Auf dem leicht abschüssigen Balkon der Suite in der zwölften Etage war eine einzelne Silhouette zu erkennen.

Sie war einundsiebzig Jahre alt und färbte schon des Längeren ihre Pagenfrisur leuchtend rot. Ihre zarte Gestalt stand in seltsamem Kontrast zu der massiven Energie, die ihre graugrünen Augen ausstrahlten. Kein Tag war in den letzten fünfundvierzig Jahren verstrichen, an dem sie nicht andere Menschen befehligt hätte. Manche Leute, darunter offenbar auch Frauke Koch, waren einfach nicht für das Rentnerdasein gemacht.

Die Stadt stank nach nassem Brennholz, Smog und verbranntem Müll. Kleinlaster und große Pick-ups standen kreuz und quer um den Platz herum, auf dem sich reguläre Armee-Einheiten, schwer bewaffnete Milizionäre und politische Aktivisten mit Spruchbändern und Baseballschlägern drängten. Vereinzelte Demonstrantengrüppchen drehten immer wieder aufs Neue ihre Runden, mehr um sich miteinander auszutauschen, als um zu demonstrieren, denn so früh morgens wurde ohnehin nicht gefilmt.

Es war etwas geschehen. Hier in Kiew herrschte kein Krieg mehr, aber etwas anderes war entstanden.

Frauke Koch hatte so etwas schon früher erlebt. Vom Embryo bis zum ausgewachsenen Monster hatte sie schon alles gesehen.

Wie der Mangel an Einsicht, Disziplin und Geduld bei manchen Menschen einen unreifen Trotz heraufbeschwor, der seinerseits die verfehlte Sehnsucht nach einem Aufruhr hervorbrachte. Wie verführerisch es den Leuten doch erschien, ihre eigenen Interessen zu verraten und sich destruktiven Impulsen hinzugeben, nur um ein falsches Gefühl von Macht zu erleben. Wie mühsam es war, etwas aufzubauen, und wie einfach, wie fürchterlich einfach, es wieder zu zerstören.

1989 hatte sie mit eigenen Augen die Mauer fallen sehen. Die Massen – die Massen! – hatten sich auf der Suche nach sich selbst durch die Absperrungen gedrängt. Bis heute drängten sie sich voran, ohne etwas gefunden zu haben.

Und dann Kiew. Hatte sie auch hier versagt? Es war, wie die Chinesen zu sagen pflegten, zu früh für eine Prophezeiung. Wahrscheinlich würde sie nicht lange genug leben, um das Resultat ihrer Bemühungen zu erleben.

Hinter ihr wurde die Balkontür geöffnet. Karl, seit Ewigkeiten ihre rechte Hand, räusperte sich und sagte:

»Der Präsident ist geflohen. Es ist vorbei. Genau wie du vorhergesagt hast.«

Frauke Koch nickte. »Vielleicht, mein Lieber. Vielleicht.«

»Die Angaben wurden von verschiedenen Seiten bestätigt. Er ist weg. Die Demonstranten haben gesiegt. Die Schweine haben die Macht ergriffen.«

»Aber ist es deswegen auch wirklich vorbei?«

Bei den Kriegern und ihren Groupies, die sich dort unten versammelt hatten, handelte es sich in den wenigsten Fällen um Neonazis, sondern um etwas viel Gefährlicheres: junge Männer ohne eine vernünftige Aufgabe. Junge Männer, die sich nach einem richtigen Krieg sehnten. Und dieser Traum würde garantiert in Erfüllung gehen. Sie würde dafür sorgen, dass man sie als Neonazis hinstellte. Die jüngsten Ereignisse brachten bei näherer Betrachtung enorme Vorteile mit sich. Der ukrainische Präsident war schwach und von eingeschränkter Auffassungsgabe gewesen. Ohne ihn würde man eine Propagandaoffensive einleiten können, die die Revolutionäre anschwärzte und in der Verlängerung ein massives Eingreifen der Russen zur Wiederherstellung der Ordnung rechtfertigte.

Sie fröstelte im Wind und kehrte dem Spektakel den Rücken zu. In der Suite, in der sie seit fast drei Jahren wohnte, standen bereits die gepackten Taschen mit ihren Habseligkeiten: Eine Makarow-Pistole mit Munition, zwei verschlüsselte Satellitentelefone und ein Laptop. Dazu zwei Regalmeter Bücher, vor allen Dingen Marx, Engels, Lenin und Stalin, aber auch sämtliche Schriften jenes Mannes, der als Einziger ihrer Helden noch lebte: Alexander Dugin, der russische Chefideologe, der einzige Denker des Universums, dem sie noch immer vertraute, der Mann, der die eurasische Ideologie in eine messerscharfe Waffe verwandelt und ein Warnfeuer gegen den USA-Imperialismus entzündet hatte.

»Das Taxi wartet«, sagte Karl, während er ihr ins Arbeitszimmer folgte.

Im Schlafzimmer, dessen Tür nur angelehnt war, schlummerte noch das Objekt von Frauke Kochs Begehren, aber auch tiefster Enttäuschung. Auf dem Fußboden stand ein Schachbrett. Die Partie hatte verfrüht abgebrochen werden müssen.

Und das wegen ein paar mickriger Rohypnol in einem Weinglas! Koch schüttelte den Kopf. Wenn es doch nur immer mit so harmlosen Waffen getan wäre.

»Na dann«, sagte sie nach einem letzten Blick auf den Schlafenden. Dann ergriff sie Karls Hände. »Wir sehen uns auf der anderen Seite des Schwarzen Meers, Genosse.«

AUF DEM BALKON EUROPAS: TIFLIS 2016

Rustaweli-Boulevard

Tiflis, Georgien

Fr., 1. Juli 2016

[7:20 MEZ+4]

Tiflis war dafür wie geschaffen.

Die Wellblechdächer schüttelten den nächtlichen Regen ab. Im Osten stieg die Sonne zentimeterweise in einen sich zusehends aufhellenden türkisfarbenen Horizont über den Bergkämmen.

Zeit für die schlagartig erwachten Hähne in den Gärten Tausender kleiner Häuser, die sich an den Steilhängen festklammerten, zu krähen. Zeit für die hungrigsten Taxifahrer dieses Tages auf den Prachtstraßen beidseits des Flusses, zwischen Wolkenkratzern und Hotels zu hupen.

Einer von ihnen befand sich gerade vor dem Marriott Hotel am Rustaweli-Boulevard. Er war größer und blonder als seine Kollegen und saß in einem schwarzen BMW X5. Das Lederpolster knarrte unter seinem khakifarbenen Trenchcoat, während er sich zurechtsetzte, ein paar Brotkrümel aus dem Bart klaubte und die zusammengeknüllte Serviette unter den Sitz warf. Er zog einen Flachmann aus der Manteltasche und trank ein paar Schlucke. Das Funkgerät knisterte.

»Sind Sie vor Ort?«

Der Amerikaner, der diese Frage stellte, klang nicht neugierig und eigentlich auch nicht ungeduldig. Er hielt sich nur an seine Vorschriften.

Ludwig Licht betrachtete den einstweilen noch spärlichen Verkehr auf der Prachtstraße der georgischen Hauptstadt. Er drückte die Sendetaste, räusperte sich und murmelte: »Schwer zu sagen.«

»Wieso?«

»Weil jemand«, antwortete Ludwig bedächtig, »diese verdammte Operation in der Annahme zusammengeschustert hat, dass Google Maps und die Wirklichkeit in diesem Teil der Welt irgendetwas miteinander zu tun hätten. Regionale GPS-Karten wären schlauer gewesen. Die Leute müssen einfach mal das Alphabet lernen. Sogar ich hab’s geschafft, und Ihre Leute sind ja ein gutes Stück jünger. So schwer kann das doch wirklich nicht sein!«

»Verstanden«, entgegnete Almond.

Jack Almond, ehemaliger Berliner CIA-Chef und jetziger Chef der EXPLCO-Niederlassung in Tiflis, war offenbar nicht in Laune, sich Kommentare über sein Personal anzuhören. Trotzdem konnte sich Ludwig eine weitere Bemerkung nicht verkneifen:

»Es gibt schon so genug Unwägbarkeiten, und da sollte man sich zumindest …«

»Ich habe verstanden«, wiederholte Almond.

Und damit basta. Aber die Zeit verstrich. Ludwig genehmigte sich noch einen Schluck und plauderte weiter.

»Also, erst schickt mich mein Handy den ganzen Weg bis zum Freiheitsplatz. Da ist auch ein Marriott. Manchmal frage ich mich, wie viele halb leere, gespenstische Hotels diese Stadt eigentlich braucht. Steckt Geldwäsche dahinter? Ich habe das sowieso nie kapiert, Geld ist doch nicht gratis, bloß weil man … Moment, da kommt sie.«

»Sind Sie sich da ganz sicher?«

Die Frau, die aus der Drehtür trat und dabei auf ihr Handy schaute, war Anfang sechzig, breitschultrig und groß gewachsen, bestimmt eins achtzig. Sie trug ein schwarzes Kleid, das ihr bis zu den Knien reichte – das Einzige an ihrer Garderobe, was an die ortsübliche Kleidung erinnerte. Dazu hatte sie beigefarbene Militärwanderstiefel an und zog einen gelben, kompakten Rollkoffer hinter sich her. Ihr weißes Haar war zu einem Knoten zusammengefasst. Ihre schrägen, dunklen Brauen verliehen ihr das Aussehen eines Waldkauzes.

Pauline Hollister, ohne jeden Zweifel. Ludwig hatte Dutzende Fotos von ihr gesehen.

»Das ist sie«, sagte Ludwig. »Dann lege ich los. Ab jetzt herrscht Funkstille.«

Er startete den Motor und ließ die getönte Scheibe auf der Beifahrerseite nach unten gleiten.

»Ich bin dieses Wochenende als Vertretung eingesprungen«, rief er auf Russisch.

Die Frau warf einen flüchtigen Blick auf die übrigen rostigen und klapprigen Gefährte, alte elfenbeinweiße Ladas aus den siebziger Jahren und dunkelgrüne Opel, die sich in dem Land, in dem sie hergestellt worden waren, nicht einmal an eine Kiffer-WG verschenken ließen. Nein. Die Zeiten, als sie illegale Taxis benutzt hatte, waren endgültig vorbei. Ludwig hatte herausgefunden, dass sie ihren Privatchauffeur auf Monatsbasis bezahlte und daher keinen Grund hatte, sich auf andere Weise fortzubewegen. Sie nickte, öffnete die rechte Hintertür und nahm in dem BMW Platz.

»Meinetwegen«, sagte sie. »Und was ist mit Dato?« Für eine Amerikanerin sprach sie ganz passabel Russisch.

»Familiäre Probleme«, erklärte Ludwig, während er Richtung Norden fuhr.

»Ich dachte, er sei unverheiratet?«

»Genau das scheint das Problem zu sein. Wohin soll es heute gehen?«

»Zum Flughafen«, antwortete Pauline Hollister, »glaube ich.«

Ludwig wartete.

»Wissen Sie«, sagte sie auf Englisch. »Ich habe die Tendenz, mich in allerletzter Sekunde zu entscheiden.«

Typisch Amerikaner, dachte Ludwig. Immer müssen sie einen mit ihrer Persönlichkeit und ihren Überzeugungen vollschwafeln.

»Privatjet«, dachte die Amerikanerin laut nach. »Es besteht also kein Grund zur Eile. Sie warten. Aber ist das nicht die falsche Richtung?«

Ludwig blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls die Sprache zu wechseln. Das war die große Schwäche des Plans: Mit seinem Aussehen und seinen lausigen Georgischkenntnissen konnte er keinen einheimischen Kollegen spielen. Die Sicherheitsfirma EXPLCO beschäftigte zwar einige Georgier, denen Almond aber nicht vertraute, also musste es so gehen.

»Alles dicht hier. Die Bullen sind um diese Tageszeit auf Zack, solange sie noch die Gelegenheit haben.« Er deutete auf einen der unzähligen dunkelgrauen Ford Interceptors, die die Polizei vermutlich im Zuge eines Entwicklungshilfe-Deals mit den USA an Land gezogen hatten. Die gedrungene, längliche Form und die aggressiven Stoßstangen erinnerten an Schwertwale.

»Nein«, fuhr Ludwig fort, »ich muss brav bis zur Philharmonie fahren. Erst dort kann ich wenden. Wie lange wohnen Sie schon in Georgien?«

»Wie bitte?«

»Wie lange haben Sie …«

»Weiß nicht. Zwölf Jahre, glaube ich.«

»Herrliches Land«, fuhr Ludwig fort. »Und Tiflis. Was für eine Stadt! Haben Sie schon mal in den Schwefelquellen gebadet? Ganz unglaublich. Und wohin fliegen Sie?«

»Nach Armenien.«

»Aha. Ich dachte, dass Leute wie Sie hauptsächlich zwischen Tiflis und Europa hin- und herpendeln.«

Natürlich gehörte Georgien auch zu Europa – zumindest nach Auffassung der örtlichen Politiker. Bei der übrigen Bevölkerung war mit diesem Wort etwas anderes gemeint: Westen, Weltläufigkeit und unerreichbarer Reichtum. Eine Welt, in der die Leute in ihren Häusern auf elektrisch geheizten Steinfußböden herumliefen. In Europa lebten alle Menschen wie kleine Oligarchen – obwohl sie nicht so genannt wurden, sondern bewusste Konsumenten.

»Leute wie ich?«, murmelte Hollister.

»Ach, Sie wissen schon. Leute, die beispielsweise nach London reisen.«

»Waren Sie schon mal dort?«

»Nein.«

Das stimmte tatsächlich.

»Eine blöde Stadt. Voller Russen, Araber und Schwarzer.«

»Ich mag Araber«, erwiderte Ludwig fröhlich. »Und Schwarze auch. Ich liebe sie.«

Wenige Herzschläge später brach Hollister in raues Lachen aus.

»Ich will mich abseilen«, sagte sie dann fast ausgelassen.

»Wie bitte?«

»Ich will mich abseilen. Darum spielen Sie mir doch dieses Theater vor, oder? Sie wollen mich für sich gewinnen, nicht wahr? Ich weiß nicht, woher Sie kommen, ob Sie Skandinavier oder Holländer oder was auch immer sind. Aber eines ist klar. Sie sind kein verdammter Fahrer. Selten haben die Buchstaben CIA so hell geleuchtet.«

So erstaunt war Ludwig Licht schon lange nicht mehr gewesen.

»Abseilen … wovon?«, fragte er schließlich.

»Gute Frage.«

Eine halbe Minute verging, vielleicht mehr.

»Interessant«, bemerkte Ludwig dann.

»Rufen Sie Ihre Vorgesetzten an und teilen Sie ihnen mit, dass ich gern die Seiten wechseln würde. Vielleicht hatten Sie ja andere Pläne für mich, aber so ist es besser. Ich könnte Ihnen nämlich einiges erzählen.«

»Ich komme nicht ganz mit«, meinte Ludwig versuchsweise.

»Rufen Sie Ihre Chefs an. Sonst nehme ich mir ein Taxi und marschiere direkt in die amerikanische Botschaft. Das wäre aber ziemlich indiskret.«

Nachdem er einige Sekunden an einer roten Ampel gezögert hatte, griff Ludwig zu seinem Funkgerät, drückte die Sendetaste und sagte:

»Die Situation hat sich verändert, ich wiederhole, veränderte Situation.«

»Wieso?«, fragte Almond sofort.

»Sie ist uns auf ihre alten Tage plötzlich wohlgesonnen.«

Fünf Sekunden verstrichen.

»Na dann«, murmelte Almond schließlich.

»Wie?«

»Bringen Sie sie vorbei.«

»Zu uns oder in die Botschaft?«

»Halten Sie die Botschaft bloß raus.«

Diese Aussage erinnerte Ludwig sehr an Almonds alten Lehrmeister GT. Ja, ja. Die Leute waren nur jung, solange sie davon profitierten.

»Verstanden.«

Die Fahrt ging weiter – allerdings in die andere Richtung.

»Sie haben sich gerade ganz schön viel Ärger erspart«, sagte Ludwig und warf der Frau einen kurzen Blick im Rückspiegel zu.

Ohne Vorwarnung warf sich ein kleiner gelber Marschrutka-Bus in den Verkehr. Ludwig musste mit einem halsbrecherischen Manöver, das von einem wütenden Hupkonzert begleitet wurde, auf die benachbarte Fahrbahn wechseln.

»Das wird sich zeigen«, erwiderte Hollister reserviert, als der BMW wieder seinen rechtmäßigen Platz im Verkehrsfluss eingenommen hatte.

Ludwig nickte. »Stimmt. In dieser Branche weiß man nie, was der nächste Tag bringt.«

Weiter nach Norden, dann schräg hinunter zum braunen, schäumenden Fluss. Die Ufer waren von Platanen gesäumt, die zwar immer als Letzte austrieben, aber jetzt, da der Sommer wirklich begann, sehr viel dringend benötigten Schatten spendeten.

Sie fuhren über eine der vielen Brücken, die sich auch über der Seine in Paris gut gemacht hätten.

»Was hatten Sie mit mir vor?«, erkundigte sich Pauline Hollister.

»Wollen Sie das wirklich wissen?«

»Obwohl mein verstorbener Mann immer das Gegenteil behauptet hat, bin ich ein unendlich neugieriger Mensch.«

»Okay. Wir wollten uns in den kommenden Monaten an Ihre Fersen heften, ohne dabei Ihren mutmaßlichen Bewachern aufzufallen. Mit etwas Glück wären wir auf einen Liebhaber oder eine Liebhaberin gestoßen, gerne auch auf etwas noch Schlimmeres. Dann hätten wir versucht, Sie durch Erpressung dafür zu gewinnen, für beide Seiten zu arbeiten. Oder für alle drei, sollte man in Ihrem Fall vielleicht sagen.«

Hollister lachte leise. »Allmählich beherrschen Sie das Spiel ganz gut, wie ich höre.« Sie zog eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Tasche, zündete sich eine an und fragte: »Kann ich auf den Knopf drücken, um das Fenster zu öffnen, oder fliegt dann das ganze Auto in die Luft?«

Ludwig erfüllte ihr mit der Zentralsteuerung ihren Wunsch.

»Wir haben das Spiel schon immer beherrscht«, bemerkte er nach einer Weile. »Aber Ihre Seite hat in der letzten Runde Unterlegenheit vorgetäuscht, was uns ganz schön demoralisiert hat. Es hat eine Weile gedauert, bis uns aufging, dass Sie wie gehabt weitermachen. Aber jetzt sind wir wieder am Ball.«

»Aber zu spät, wie Ihnen sicher klar ist.«

»Durchaus. Aber so ist es eigentlich immer. Man gewöhnt sich daran.«

»Dieses ganze Gerede über Seiten. Sie scheinen nicht zu wissen, wer ich bin.«

»Das könnte auf Gegenseitigkeit beruhen.«

»Hören Sie zu. Ich gehöre keiner Seite an. Oder vielleicht tue ich das ja, aber das wäre dann … die georgische.«

»Gibt es die überhaupt?«

»Wenn die Lage es erfordert, schon.«

Auf der Ostseite abwärts, rechts aufs andere Flussufer zu und dann Richtung Süden.

Ludwig konnte sich nicht mehr erinnern, wann er zuletzt den fünften Gang benutzt hatte. Die Stadt war zu eng für solche Exzesse. Zu viele Autos, Fußgänger, Straßenhunde und Schlaglöcher.

Oft trat er zu fest auf die Kupplung, weil er ein altmodischeres Fahrzeug gewohnt war. Er schaltete ständig zwischen dem dritten und vierten Gang hin und her. Dann eine Notbremsung vor einem Autowrack, das einfach dort stehen geblieben war, wo es seinen letzten Einsatz zum Nutzen der Menschheit geleistet hatte. Runter in den zweiten Gang. Rückspiegel, toter Winkel. Blinken. Ausscheren, überholen. Gas geben. Wieder in den dritten.

Es war eine billige und gesunde Methode, sich lebendig zu fühlen, indem man in dieser chaotischen Aneinanderreihung von Dörfern Auto fuhr. Und Tiflis war nun einmal nichts anderes, darüber konnten auch die vereinzelten Wolkenkratzer nicht hinwegtäuschen. Die Stadt sah aus, als wäre ein Gletscher durchs Land gezogen und hätte Tausende von Siedlungen vor sich hergeschoben und zu einem heillosen Durcheinander zusammengestaucht.

Im Rückspiegel sah er, dass die Amerikanerin den Kopf schüttelte. Dann geschah etwas mit ihrem Blick: ein kurzes Entsetzen, eine aufflammende Panik, die sofort wieder verschwand.

Die Witterung. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten nahm Ludwig wieder Witterung auf. Jetzt war er sich sicher, dass sich seine friedliche Büroexistenz einem abrupten Ende näherte. Die Augen der Frau hatten Bruchstücke unausweichlichen Grauens preisgegeben. Das Grauen der Zukunft.

Die Zukunft war ein Dämon mit der Tendenz, stets die Gegenwart einzuholen.

Wieder in den dritten Gang. Weiter. Die Witterung.

Dafür war er wie geschaffen.

WER DIE BLICKE DES WOLFS SPÜRT

Avlipi-Zurabaschvili-Straße

Avlabari, Tiflis, Georgien

Fr., 1. Juli 2016

[7:55 MEZ+4]

Am Rand des alten Stadtteils Avlabari, vier Straßen vom Ziel und einen halben Kilometer von seiner Wohnung entfernt, hielt Ludwig bei einer Autowaschanlage, die aus zwei Garagen bestand. Die Angestellten waren gerade damit beschäftigt, zwei frisch gewaschene Perserteppiche über die gelben Gasleitungen zu hängen. Dort würden sie in der Sonne trocknen, was mehrere Tage in Anspruch nahm, weil die Kostbarkeiten nachts zusammengelegt und im Haus aufbewahrt wurden.

Ludwig stellte den BMW auf einen der Autowaschplätze. »Bitte warten Sie«, sagte er zu seinem Fahrgast.

Die Amerikanerin zündete sich eine weitere Zigarette an.

Ludwig stieg aus und ging auf den Besitzer zu, dessen Dienste er schon früher privat in Anspruch genommen hatte.

»Ich sehe, dass Sie sich was Besseres zugelegt haben«, sagte der korpulente Eigentümer, der hohe Gummistiefel und eine Plastikschürze trug, und deutete auf den schwarzen SUV.

Wie die meisten anderen Georgier über fünfundvierzig sprach der Mann russisch, sobald er es mit Touristen oder anderen Zugereisten zu tun hatte.

»Das ist nicht meiner«, erklärte Ludwig. »Was mich aber nicht davon abhält, auf Sauberkeit zu achten.«

Der Eigentümer der Waschanlage nickte. »Natürlich. Aber dieser Wagen ist doppelt so groß. Also wird es etwas teurer. Zehn Lari, wenn Sie wollen, dass wir ihn auch innen reinigen.«

»Kein Problem. Wenn ich noch fünfzig Lari drauflege, stellen Sie mir vielleicht in der Zwischenzeit einen Leihwagen zur Verfügung?«

»Fünfzig?« Der Mann lachte. »Ausländer sind wirklich lustig. Wann gewöhnen Sie sich endlich an die georgische Denkweise? Einen Leihwagen hätten Sie gratis bekommen. Wenn Sie ihn mir aufgetankt zurückgebracht hätten. Sie müssen lernen, besser mit Ihrem Geld umzugehen.«

Fünfzig Lari waren ungefähr zwanzig Euro und entsprachen dem, was die Angestellten der Autowaschanlage an zwei bis drei Tagen verdienten.

»Falsch, Sie müssen lernen, wie die Westler zu denken«, meinte Ludwig. »Erst sagen Sie, ein Leihwagen würde fünfzig Lari kosten. Wenn der Kunde wegfahren will, fügen Sie noch hinzu, dass der Wagen vollgetankt zurückgegeben werden muss. Geld wird mit dem Kleingedruckten verdient, wenn man sich bereits handelseinig ist.«

»Das ist eine Unsitte.«

»Die freie Marktwirtschaft ist kein Zuckerschlecken. Aber ich kann den Wagen auch volltanken, weil sowieso mein Arbeitgeber zahlt.«

»Sagen Sie bloß nicht, dass Sie auch noch eine Quittung wollen.«

»Nein, wer will sich schon mit solchem Unsinn abgeben?«

»Sie lernen ja doch!«

Ludwig reichte dem Mann drei Zwanzig-Lari-Scheine und die Schlüssel des BMW. Im Gegenzug erhielt er die Schlüssel zu einem silbergrauen Mercedes aus den neunziger Jahren. Dieses Modell war auf den Tifliser Straßen oft zu sehen, denn es war bei den mehr oder minder arbeitslosen Unternehmern der Stadt sehr beliebt.

»Es könnte ein paar Stunden dauern«, meinte Ludwig. »Eventuell länger.«

Der Mann streifte ein Paar grüne Gummihandschuhe über. »Ich habe ja den BMW als Pfand. Das Beste, was mir passieren könnte, wäre, dass Sie gar nicht wiederkommen.«

Ludwig kehrte zu dem schwarzen SUV zurück, öffnete eine der hinteren Türen und sagte:

»Lassen Sie Ihr Handy hier liegen.«

Hollister lächelte, zog ein goldenes Sony aus der Tasche und legte es neben sich auf den Sitz.

Sie zogen in den Mercedes um. Ludwig stellte sich den Sitz und die Rückspiegel neu ein, ehe er anfuhr.

»Das Auto Ihres Privatchauffeurs kann schließlich nicht vor unserem Hauptquartier parken«, erklärte er.

»Elegante Lösung.«

»Mein Spezialgebiet, könnte man sagen.«

»Apropos Chauffeur: Was haben Sie mit ihm angestellt?«

»Ich habe gestern den Betrunkenen gespielt« – wobei »gespielt« vielleicht ein wenig untertrieben war – »und ihm ein paar schöne Gutscheine für das Casino Adschara geschenkt.«

»Ach so.«

»Man kann nie wissen, was einem so alles in den Drink gekippt wird. Vielleicht wacht er jetzt einige Tage lang nicht auf. Und verheiratet ist er schließlich auch nicht.«

»In dieser Branche könnte man mehr Leute wie Sie gebrauchen.«

Ludwig massierte sich die Schläfe, während er einen uralten Lastwagen überholte, der aus Gusseisen gemacht zu sein schien.

»In dieser Branche«, erwiderte er leise, »kann man wirklich alles gebrauchen.«

*

Ludwigs Arbeitsplatz lag seit einem guten Jahr an der Ausfallstraße zum Flughafen in dem schäbigen Grenzland zwischen der Stadt und den südöstlichen Vororten. Die Ausfallstraße hieß George-W.-Bush-Straße. Den Beginn markierte ein großes Bild des amerikanischen Expräsidenten, der einem unsichtbaren, begeisterten Publikum mit einem optimistischen Hyänengrinsen zuwinkte.

Das zweistöckige rosa Gebäude mit limettengrünen Fensterläden erinnerte an ein halb fertiggestelltes Hotel im Süden New Mexicos, wozu auch die auf immer erloschene Neonreklame beitrug:

URBANMYSTERYHOTEL

Nur zwei Autos standen auf dem kleinen Parkplatz hinter dem Gebäude. Die meisten der fünfzehn Angestellten der EXPLCO-Kaukasus-Niederlassung kamen mit dem Taxi und selten vor neun Uhr.

»Willkommen bei den Spitzenkräften der Spitzenkräfte«, sagte Ludwig zu der Amerikanerin und zog die Handbremse an.

»Ich wusste zwar, dass die CIA hierzulande nicht im Geld schwimmt, aber so schlimm …«

Ludwig stieg aus und öffnete ihr die Tür. »Wir sind auch nur ein bescheidenes Subunternehmen, allerdings laut der New Yorker Börse das wichtigste.«

Mit einem Mal war Hollister auf der Hut.

»Kommen Sie einfach mit«, fuhr Ludwig fort, »dann wird sich Ihnen dieses Wunder strategischen Unternehmertums bald offenbaren.«

Im Entree standen drei uniformierte Angestellte eines örtlichen Sicherheitsunternehmens. In ihren Holstern verwahrten sie neben den Dienstwaffen auch Zigaretten und Feuerzeuge. Jeden Abend musste irgendein armes Schwein den Kippenberg vor der Tür wegräumen. Ludwig war zu dem Schluss gelangt, dass die Wachmänner abwechselnd rauchten, hatte aber noch nie einen von ihnen dabei erwischt. Sie mussten ein ausgeklügeltes Frühwarnsystem besitzen.

»Gamarjoba«, grüßte Ludwig, und die drei nickten ernst.

Ludwig erklomm zusammen mit Hollister eine Treppe mit Schottenmusterteppich, der sich im Großraumbüro des Obergeschosses fortsetzte. Einige Türen führten in kleinere Büroräume. Eine davon stand ausnahmsweise offen.

Sie gingen an Ludwigs überladenem Schreibtisch vorbei und auf die offene Tür zu. Der Deutsche klopfte an den Türrahmen und trat ein.

»Darf ich Ihnen Pauline Hollister vorstellen?«, fragte er an Jack Almond gewandt, der zurückgelehnt auf einem Chefsessel saß und die Füße auf den Schreibtisch gelegt hatte. Er sah aus, als sei ihm das Licht am Ende des Tunnels bereits zu oft erloschen.

Der gekachelte Raum war nur sieben oder acht Quadratmeter groß. Das einzige Fenster besaß eine Milchglasscheibe. Wahrscheinlich war der Raum während des Baubooms ursprünglich als Badezimmer einer Hotelsuite vorgesehen gewesen. Aus einem Wasserhahn fielen in unregelmäßigen Abständen Tropfen in ein riesiges Marmorwaschbecken. Der Eindruck einer Gefängniszelle drängte sich auf.

Almond trug seine übliche Kleidung: hellblaues Hemd, Schlips, schwarze Anzughose, kein Jackett. Er erhob sich, gab seiner Landsmännin jedoch nicht die Hand. In dieser Branche existierten nur wenige Schranken, Verrat war eine davon.

»Was meinen Sie, inwiefern können wir Ihnen behilflich sein, Pauline?«, fragte er mit düsterer Miene und deutete auf die Besucherstühle.

Hollister nahm Platz, und Ludwig ließ sich auf den Stuhl neben ihr fallen.

»Ich muss sagen, dass mir Ihr Interesse an einer einfachen Weinbäuerin schmeichelt. Da frage ich mich ja, ob mein Dasein vielleicht doch aufregender ist, als ich bislang dachte.«

»Einstweilen hält sich mein Interesse in Grenzen«, erwiderte Almond.

»Lassen Sie einem Mädchen doch seine Träume«, entgegnete Hollister. Dann holte sie tief Luft. »Darf man hier rauchen?«

»Keinesfalls«, antwortete Almond.

»Was für eine Enttäuschung. Das ist immerhin einer der großen kulturellen Vorzüge dieses Landes.«

»Diese Kultur hat hier nichts zu melden.«

»Nein, vermutlich nicht.«

Dann wurde es still, wie immer, wenn alle in einem Zimmer darüber nachsinnen, wie wenig das Leben zu bieten hat.

Die Hupe eines Lastwagens dröhnte auf der Ausfallstraße, und Sekunden später hörten sie Reifen quietschen. Die drei erwachten aus ihren Grübeleien.

»Da Sie mich offenbar im Auge behalten haben, ist Ihnen sicher aufgefallen, dass ich über Kontakte verfüge, die für die Sicherheit dieses Landes wie auch der USA von größter Wichtigkeit sind.«

»Sie arbeiten für die Russen«, stellte Almond fest.

»Das hier ist der Kaukasus. Meine Erfahrung sagt mir, dass man gut daran tut, niemanden zu diskriminieren.«

»Sie haben Landesverrat begangen und sich an den Feind verkauft.«

Mit einem verzweifelten Blick wandte sich Hollister an Ludwig. »Was soll ich denn mit diesem Kindergärtner?«

Wieder einmal stellte Ludwig fest, dass Jack Almond den Wechsel in den privaten Sektor noch nicht so recht verinnerlicht hatte. Nach jahrelangen Sparmaßnahmen bei der Berliner CIA hatte er gekündigt und war von der EXPLCO mit offenen Armen aufgenommen worden. Trotzdem schien er in der Vorstellung gefangen zu sein, dass er die Regierung der USA vertrat.

»In dem Punkt hat er nicht so ganz unrecht«, meinte Ludwig loyal.

Hollister seufzte tief. Dann änderte sie ihre Strategie:

»Wer der Feind ist, ist Definitionssache. Ich bin eine einfache Geschäftsfrau mit einem ausgedehnten, vielfältigen Kontaktnetz. Falls ich jemandem auf die Zehen getreten sein sollte, bitte ich um Entschuldigung.«

»Haben Sie irgendwelche abweichenden sexuellen Neigungen, Pauline?« Almond stellte diese Frage wie ein Arzt beim Ausfüllen eines Formulars für die Krankenversicherung.

Hollister verschränkte die Arme. »Sie sind wirklich nicht nett. Ich glaube, mir gefällt Ihr Schwede besser.«

Es dauerte eine Weile, bis Ludwig begriff, dass er selbst damit gemeint war. Beinahe hätte er diesen Fehler korrigiert, verzichtete dann aber darauf.

»Ich erkundige mich nur«, erklärte Almond, »weil Sie in diesem Falle erpressbar wären.«

»Ich glaube nicht an Erpressung.«

»Wie bitte?«

»Ich glaube ganz einfach nicht daran. Sind Sie schon mal erpresst worden? Kennen Sie jemanden, der erpresst worden ist?«

Ludwig beschloss, die Unterhaltung in eine andere Richtung zu lenken.

»Sie haben gesagt, dass Sie die Seite wechseln wollen.« Er band sich seine langen Haare mit einem alten Gummiband zusammen.

»Richtig.«

»Wie stellen Sie sich eine Zusammenarbeit vor?«

»Ich erzähle, was ich weiß, und dafür verstecken Sie mich an irgendeinem Ort, wo ich meine letzten unglücklichen Tage verbringen kann. Früher habe ich mit Panama geliebäugelt, aber da scheint es jetzt auch ungemütlich zu werden. Die Zeiten ändern sich. Vielleicht Madagaskar. Dafür müsste ich nur mein Französisch ein wenig aufpolieren.«

Almond und Ludwig sahen sich an.

»Vor einem Monat haben Sie sich mit einem Oberst der russischen SWR getroffen«, sagte Almond. »Nichts von dem, was Sie bislang gesagt haben, überzeugt mich davon, dass Sie es ernst meinen. Woher soll ich wissen, dass das hier keine Falle ist?«

Der SWR war der russische Auslandsnachrichtendienst und vor dem Zerfall der Sowjetunion das erste Direktorat des KGB.

»Eine … Falle?«

»Stellen Sie sich nicht dumm.«

Hollister kicherte. »Da scheinen wir ja einen Angleton-Anhänger im Raum zu haben.«

Sie spielte auf James Jesus Angleton an, der ab Mitte der Fünfzigerjahre drei Jahrzehnte lang Chef der CIA-Kontraspionage und hochgradig paranoid gewesen war. Angleton war von der Überzeugung durchdrungen gewesen, dass ihm jeder Überläufer nur etwas vormachte, um dem KGB weiterhin Informationen liefern zu können.

»Angleton hatte nicht immer unrecht«, meinte Almond.

»Auch eine stehen gebliebene Uhr zeigt zweimal am Tag die richtige Zeit an«, pflichtete ihm Hollister bei.

Ludwig überdachte die Lage. Die Tifliser CIA-Niederlassung war kompromittiert. Die Russen hatten sorgfältige Nachforschungen angestellt und kannten die Rolle jedes einzelnen Angestellten. Für sie war es gewissermaßen ein Heimspiel, genauer gesagt: Die Amerikaner befanden sich auf fremdem Territorium. Das war der Hauptgrund, warum die CIA die EXPLCO angeheuert hatte, um eine parallele Organisation aufzubauen.

Seit dem Kaukasuskrieg2008, in dem Russland Südossetien besetzt hatte, besaßen die Russen keine Botschaft mehr in der georgischen Hauptstadt. Ihr Geheimdienst schien weit verstreut zu sein und quasi illegal, da man sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, die Agenten als Diplomaten und Konsulatsangestellte mit legalen Aufgaben zu tarnen. Das machte es äußerst schwierig, den Überblick zu behalten. Die ganze Situation erinnerte an asymmetrische Kriegsführung, bei der die Guerillakämpfer immer davon profitierten, dass niemand wusste, wo sie sich befanden.

Eine Schlussfolgerung drängte sich auf: Eigentlich durften sie Pauline Hollister von nun an nicht mehr aus den Augen lassen. Wenn sie ein Trojaner war, dann würde sie den Russen von der Anwesenheit der EXPLCO berichten.

Allerdings wollte man Überläufer in einer solchen Situation auch immer zu einer weiteren Runde bei ihren ehemaligen Dienstherren bewegen, um diesen weitere Informationen zu entlocken. Erst danach war man bereit, sie aus dem Verkehr zu ziehen und unter Schutz zu stellen. Alles andere käme einer Verschwendung kostbarer Mittel gleich.

Ludwig war klar, dass Pauline Hollister das alles wissen musste. Die Frage lautete daher vielleicht weniger, was die Russen für Pläne im südlichen Kaukasus hatten, sondern was Pauline Hollister angestellt hatte.

»Sie glauben also, wie Sie es so schön ausdrücken, dass ich für die Russen arbeite«, sagte Pauline Hollister grinsend. »Dabei arbeiten sie eigentlich in der Regel für mich. Ich bezahle sie, damit sie meine umfassende logistische Tätigkeit nicht stören. Haben Sie überhaupt eine Vorstellung davon, welche Möglichkeiten die Russen besitzen, legale Geschäfte zu stören? Wenn man in dieser Region irgendwohin gelangen will, muss man früher oder später entweder die russische oder die armenische Grenze überqueren, und das ist derzeit ja ungefähr dasselbe.«

Plötzlich lief ein Strahl Wasser aus dem Hahn, und Almond warf einen finsteren Blick in Richtung Waschbecken.

»Dann stellt sich natürlich die Frage, wie Sie sie bezahlt haben«, meinte er kühl.

»Ach ja? In bar. Das kann ich Ihnen versichern.«

»Und mit … Klatsch?«

Hollister zuckte die Achseln. »Man trifft sich und trinkt ein paar Gläser. Man unterhält sich. Was man sagt, spricht sich manchmal herum, natürlich. Aber das ist ein menschliches Grundbedürfnis. Leute wie Sie träumen von einer Welt, in der die Menschen nicht miteinander reden. Sie glauben, das würde die Sicherheit erhöhen. Was aber nicht stimmt. Ohne Ventile, durch die sich die große Frustration gelegentlich ein wenig Luft macht … ohne kleine Oasen der Kommunikation würde es andauernd Krieg geben.«

Almond stieß ein trockenes Lachen aus. »Sie sehen sich also als … Was sagte Margaret Thatcher noch gleich über die Devisenspekulanten?«

»Einen Schmierstoff«, schlug Ludwig vor.

»Einen Schmierstoff!« Pauline Hollister strahlte. »Das hätte ich nicht besser ausdrücken können.«

Wieder herrschte zu lange Stille im Raum. Dieses Mal war es Pauline Hollister, die das Schweigen brach:

»Sie haben mich einfach nicht verstanden. Hören Sie zu.« Sie wandte sich an Ludwig. »In diesem Land ist es so: Egal ob man in einem gottverdammten feuchtkalten Steinhaus aus dem 5. Jahrhundert ist oder in einem Haus aus den siebziger Jahren – der Unterschied ist ohnehin kaum zu sehen −, man erfriert fast. Selbst wenn die Außentemperatur vierzig Grad beträgt. Und wenn man sich in die Sonne begibt, was passiert da? Es brutzelt einem das Gehirn weg. Also, was soll man tun?«

Ludwig hielt das für eine rhetorische Frage. Pauline Hollister fuhr fort und beantwortete sie:

»Man geht raus, sucht sich ein paar dicht belaubte Bäume und stellt sich unter.«

»Unter die Bäume?«, fragte Almond.

»In den Schatten. In den Schatten, verdammt.«

»In die Grauzone«, meinte Ludwig vorsichtig.

»Ja, meinetwegen. Ich wollte es etwas bildlicher auszudrücken, aber meinetwegen.«

Almond verzog das Gesicht. »Ich bin mir nicht so sicher, dass Sie uns wirklich von Nutzen sein können, Pauline.«

»Nicht?« Pauline Hollisters Lächeln war siegesgewiss, aber auch ein wenig maliziös. »Lassen Sie uns später auf diese Frage zurückkommen. Erst müssen wir dafür sorgen, dass wir uns gewisser Voraussetzungen bewusst sind. Wo sind wir? Wo befinden wir uns?«

Niemand antwortete.

»Zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer«, beantwortete Pauline Hollister ihre eigene Frage. »Zwischen der Türkei und Russland, und das bedeutet zwei Dinge: zwischen der NATO und Russland und zwischen dem Islam und dem Christentum. Um die Sache noch komplizierter zu machen, ist Georgien sehr christlich. Von seinen drei Erbfeinden Türkei, Iran und Russland hat Georgien beschlossen, Russland derzeit für den gefährlichsten zu halten. Daher orientiert man sich lieber Richtung Türkei und Aserbaidschan. Und Aserbaidschan ist ja ein herrliches Land mit einer Diktatur, mit Gas, Öl und anderen nützlichen Zutaten! Iran wäre ebenfalls ein möglicher Verbündeter, und seit der Westen die Sanktionen aufgehoben hat, wurden die Verbindungen tatsächlich intensiviert. Aber der Iran ist mit Russland und dem Assad-Regime in Syrien verbündet, außerdem ist er, genau wie Russland, mit der Türkei verfeindet. Und die Türkei ist nicht nur der Feind Russlands, sondern außerdem in der NATO, der Georgien möglichst bald beitreten will. Und dann ist da noch das Nachbarland Armenien! Ebenfalls sehr christlich. Aber dort fürchtet man unter anderem aufgrund zurückliegender Völkermorde die Türken mehr als alles andere. Also haben die Armenier den Russen gestattet, ihre Truppen zu Tausenden in ihrem Land zu stationieren. Darüber hinaus haben sie die eigene Luftwaffe in der russischen aufgehen lassen. Für die Georgier wären die Armenier eigentlich die natürlichsten Verbündeten, aber diese haben nichts Besseres zu tun, als russische Vasallen zu werden! Also befindet sich das urchristliche Georgien in der seltsamen Lage, dass seine einzigen Freunde in der Nähe die muslimischen Nachbarländer Türkei und Aserbaidschan sind.«

»Eine wirklich hochexplosive Mischung«, gab Ludwig zu.

»Durchaus. Und siehe da, jetzt betritt der gute alte Uncle Sam die Bühne, der Golden Retriever der Weltpolitik. Dazu kommt noch die EU, die sich eher mit einer faulen Katze vergleichen lässt. Aber die Europäer haben Geld! Sie haben eine richtige Union! Und sie sind Christen! Also setzen die Georgier ihre ganze Hoffnung darauf, eines Tages dieser Gemeinschaft angehören zu dürfen. Was die EU betrifft, wird das so bald nicht der Fall sein. Und die NATO? Vielleicht. Und ein Vielleicht ist in diesem Teil der Welt viel wert. Ein Vielleicht ist nämlich weitaus besser als siebzig Jahre lang nur ein sowjetisches Nein. Und wie viele Vielleichts stehen momentan am Horizont! Im Herbst wird gewählt. Hier und in den USA. Und als sei das nicht genug, wird auch noch in Russland gewählt. Wäre ich Astrologin, würde ich jetzt zu den Sternkarten greifen.«

Demonstrativ schaute Almond auf seine Armbanduhr. »Wenn das alles ist, was Sie uns zu bieten haben, dann käme es uns vermutlich billiger, Georgia Today zu abonnieren und einen Kurs über Internationale Beziehungen an der Universität zu belegen.«

»Idiot«, sagte Hollister. »Wissen Sie, wie oft ich über den Gombori-Pass gefahren und von Wölfen beobachtet worden bin? So etwas spüre ich.«

»Was zum Teufel soll das schon wieder heißen?«

»Dass Sie mich brauchen. Sie brauchen jemanden, der ein Gespür dafür hat, was sich zusammenbraut.«

»Sie sagten, dass Sie sich abseilen wollen«, warf Ludwig ein. »Also können Sie nicht leugnen, dass Sie für die Russen gearbeitet haben.«

»Ich will mich nicht von den Russen abseilen, sondern von etwas viel Schlimmerem.«

»Und zwar?«, fragte Almond.

»Genau das will ich mit Ihrer Hilfe herausfinden.«

Urban Mystery Hotel

George-W.-Bush-Straße, Georgien

Fr., 1. Juli 2016

[9:00 MEZ+4]

Nach und nach strömten die Angestellten ins Büro, also erhob sich Almond von seinem Schreibtisch und schloss die Tür seines Kämmerchens. Er nahm nicht wieder Platz, sondern blieb an den Schreibtisch gelehnt stehen und sagte:

»Meiner Ausbildung gemäß hätte ich Sie als Allererstes fragen müssen: Gibt es Angriffspläne? Was ist momentan das größte Problem der Russen?«

Pauline Hollister wirkte erstaunt. »Wie soll ich so etwas wissen?«

»Fragen schadet nie«, erwiderte Almond.

»Natürlich nicht. Das größte Problem ist auch leicht benannt: die Wirtschaft.«

»Und die Kriegspläne?«

»Keine Ahnung. Wer hat im Augenblick schon Pläne? Alle improvisieren.«

»Das wäre dann also geklärt«, meinte Ludwig und warf Almond einen äußerst verärgerten Blick zu.

Dieser machte Anstalten, etwas Patziges zu erwidern, beherrschte sich dann aber.

Sie passten alles andere als gut zusammen. Ludwig wusste über Almond eigentlich nur, dass er 2011 Geheimnisse ausgeplaudert und GT hintergangen hatte, um dessen Chefposten bei der Berliner CIA zu übernehmen. GT gehörte nicht gerade zu Ludwigs absoluten Lieblingen, aber er empfand doch eine gewisse Verbundenheit und konnte ihn ziemlich gut einschätzen. Aber Jack Almond? Der Typ ging regelmäßig ins Solarium, obwohl er sich in einer Stadt aufhielt, in der die Temperaturen im Sommer auf fünfundvierzig Grad kletterten.

Eines musste man ihm jedoch lassen. Nach Antritt seines Postens bei der EXPLCO hatte er Ludwig angeheuert, dieses mit allen Wassern gewaschene russisch sprechende, postkommunistische Relikt. Obwohl Ludwigs Einsatzfähigkeit zu diesem Zeitpunkt recht begrenzt gewesen war. Die Berliner Monate nach seiner Rückkehr aus Florida, in denen er in einem Auto neben dem Flughafen Tempelhof hauste, waren seinem Allgemeinzustand nicht unbedingt zuträglich gewesen. Dieser sonnengebräunte Dummkopf mit der affigen Breitling und der unvermeidlichen Dose Handcreme hatte ihm also gewissermaßen das Leben gerettet.

Pauline Hollister räusperte sich. »Vor gut einem Monat erhielt ich eine Anfrage, oder wie immer man das nennen will. Der Mann, der mich aufsuchte, war Russe, aber nicht von der SWR.«

»Woher wollen Sie das wissen?«, konterte Almond sofort.

Ludwig griff sich an den Kopf. Vielleicht war der Mann ja einfach Scientologe.

»Er hatte Knasttätowierungen und war mit Amphetamin oder so zugedröhnt und ist einfach unangemeldet in einem alten Jeep Cherokee auf dem Weingut aufgetaucht. Meine Angestellten wollten ihn abwimmeln, aber er blieb stur. Also bin ich nach draußen gegangen, um mich selbst mit diesem schrecklich mageren Typen zu unterhalten. Er kam auf mich zu und hat versucht, meine Hände zu ergreifen. Dabei hat er so schreckhaft gewirkt wie ein geprügelter Hund. Wie auch immer. Seine Bestellung: drei Leichen, drei russische Leichen, vorzugsweise von Ortsansässigen. Daraufhin habe ich ihn gefragt, ob er noch ganz bei Trost sei und wie er auf die Idee käme, dass ich so etwas bewerkstelligen könne. Seiner Miene nach zu urteilen überlegte er sich wohl, ob eine Verwechslung vorliege, aber dann sagte er: ›Das dürfte doch für Sie mit Ihren CIA-Kontakten kein Problem sein.‹ Wie Sie verstehen werden, finde ich das geradezu lachhaft. Vor allem in meiner augenblicklichen Situation. Alle scheinen zu glauben, dass ich für alle arbeite. Für alle anderen, außer sie selbst, versteht sich. Auch der von Ihnen erwähnte SWR-Oberst war sich ganz sicher, dass ich mich im Auftrag der CIA in Georgien aufhalte. Warum hätte er sonst mit mir sprechen wollen? Um mich zu fragen, ob die kachetischen Quevri-Weine Chancen auf dem chinesischen Markt haben?«

»Und wer war das?«, fragte Ludwig. »Ich meine, der Junkie?«

»Keine Ahnung. Kein Georgier jedenfalls. So viel ist klar. Dann hätte er einen Akzent gehabt.«

»Manchmal, wenn Leute untertauchen wollen, täuschen sie ihren eigenen Tod vor«, dachte Ludwig laut nach. »Hat er gesagt, welches Geschlecht die Toten haben sollen? Welches Alter? Und wie sie zu Tode kommen sollen? Durch Enthauptung oder so?«

»Nein.«

»Na, dann weiß ich auch nicht.«

»Genau.«

»Haben Sie sich die Autonummer notiert?«, fragte Almond.

»Nein.«

»Warum nicht?«

Pauline Hollister zuckte mit den Achseln. »Ich war einfach nur froh, ihn loszuwerden.«

Ludwig erhob sich und verließ das Zimmer. Er öffnete den kleinen Kühlschrank auf seinem Schreibtisch und nahm ein kleines Glas Matsoni heraus, einen hausgemachten Joghurt, den er auf dem kleinen Basar in der Nähe seines Hause in Avlabari von einer düsteren älteren Dame kaufte, die jeden Morgen mit einem Transportmofa in die Stadt knatterte.

Außer dem weißen, frischen Milchprodukt enthielt das Glas einen Deziliter ukrainischen Wodka. Die perfekte Art, sich vor dem Mittagessen im Büro zu stärken, ohne der Diskretion halber die Toilette aufsuchen zu müssen. Nachmittags durfte dann ganz offen getrunken werden, denn nicht einmal Jack Almond konnte die Sitten des Geheimdienstrudels im Exil ändern.

Der Matsoni, der nicht einmal sonderlich fett, aber trotzdem zäh und ergiebig war, wirkte bei Gallenbeschwerden, Magenverstimmungen und vielen anderen Leiden wahre Wunder. Ludwig wünschte sich, dieses Allheilmittel schon viel früher kennengelernt zu haben.

Auf dem Rückweg in das Büro seines Vorgesetzten nahm er einen Plastiklöffel aus der kleinen Küche mit. Er nickte Anri zu, dem einzigen Georgier im Obergeschoss, den alle mochten, weil er als Dolmetscher einsprang. Der junge Mann war Anfang dreißig, sah aber mit seinem Bierbauch und seinem Glatzenansatz eher aus wie fünfundvierzig.

Als Ludwig wieder Platz nahm, stritten sich Pauline Hollister und Almond wie zuvor über die eigentliche Beschaffenheit der Weltordnung und über die daraus resultierende Verteilung der Verantwortung.

»Vielleicht sollten wir jetzt mal wieder zur Sache kommen«, meinte der Deutsche und rührte ein wenig in seinem Joghurt, ehe er ihn friedlich in sich hineinlöffelte.

Wie ein Italiener, der falsch geparkt hat, breitete Almond die Arme aus. Pauline Hollister schwieg.

»Sie scheinen interessante Leute anzulocken«, sagte Ludwig zu ihr. »Ich schlage vor, dass ich noch eine Weile als Ihr Fahrer arbeite, dann sehen wir weiter. Ist das Ihr BMW oder Datos?«

»Meiner.«

»Na dann. Wenn er anruft, sagen Sie einfach, Sie hätten jemand anderen angeheuert. Vermutlich wird er nicht zum ersten Mal gefeuert.«

Pauline Hollister nickte.

»Und was wird aus Ihrem anderen Auftrag?«, erkundigte sich Almond bei Ludwig.

»Der führt ohnehin zu nichts.«

»Na dann.«

»Entschuldigung«, sagte Pauline Hollister. »Aber ich bin mir nicht ganz im Klaren darüber, wie wir jetzt verblieben sind.«

»Das kann ich Ihnen ohne größere Probleme erklären«, sagte Almond höhnisch. »Sie sind eine Amerikanerin, die uns zu ihrem Schutz angeheuert hat, weil sie sich bedroht fühlt. Das kostet eigentlich zweitausend Dollar am Tag, aber wir haben beschlossen, eine Ausnahme zu machen und das Ganze pro bono abzuwickeln, da Sie eine so bedeutende und einnehmende Person sind.«