Echnatons Fluch - Constantin Schreiber - E-Book

Echnatons Fluch E-Book

Constantin Schreiber

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Beschreibung

Ägypten, heute: Nahe einer uralten Kultstätte am Nil hat sich eine Sekte angesiedelt, die sich völlig von der Außenwelt abschirmt. Die Mitglieder huldigen Pharao Echnaton – und prophezeien den nahenden Weltuntergang. Als mehrere Mitglieder der Sekte ermordet werden, rückt die isolierte Gemeinschaft ins grelle Licht der Öffentlichkeit. Kommissarin Theodora Costanda nimmt die Ermittlungen auf. Gehen die Morde auf religiöse Eiferer zurück? Oder steckt etwas ganz anderes dahinter? Theodora taucht immer tiefer in einen Fall, der sie tief in die Geschichte des Landes führt, bis hin zum düsteren Geheimnis eines seiner mächtigsten Pharaonen.

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Seitenzahl: 275

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Constantin Schreiber

Echnatons Fluch

Ägypten-Krimi

Krimi

Kapitel 1

Theodora Costanda hielt sich den Schal, den sie locker um den Hals trug, dicht vor den Mund und schlenderte durch die staubigen Gassen des Wüstendörfchens Deir el-Berscha. Ihr Gang war steif, und Theo spürte die Schmerzen in jedem Muskel. »In jeder Faszie«, korrigierte ihre Yoga-Lehrerin sie einmal lachend und erzählte ihr von den zarten Geweben, die die Muskeln umschlossen und den Körper zu einer strukturellen Einheit formten. Diese sanft zu trainieren, schmiere nicht nur den Körper, sondern öffne Seele und Geist, so die überzeugten Worte der Yogi. Theo verzog das Gesicht. Von sanft konnte hier wirklich nicht die Rede sein.

 

Seit vier Tagen war sie jetzt schon in diesem Yoga-Retreat, nur wenige Kilometer von Deir el-Berscha entfernt, mitten in der ägyptischen Wüste. Was so ein paar Kilometer ausmachen konnten, dachte Theo. Während im Wüstendorf direkt am Ufer des Nils wenigstens ein paar Dattelpalmen und Maulbeerfeigen wuchsen, hatte die Landschaft um das Yoga-Camp herum tatsächlich nicht mehr zu bieten als schmutzig-ockerfarbenen Schotter und geröllartige Hügel. Ein guter Ort, um sich auf sich selbst zu besinnen, dachte Theo ironisch. Hier gab es ja nichts anderes.

Ihre Auszeit in der Wüste hatte sie sich gänzlich anders vorgestellt. Feinpulverige, gelbe Sanddünen, durch die sie gedankenversunken stapfen konnte, um dann auf ihren Kuppen über die Weite des ägyptischen Hinterlandes zu blicken. Sie musste über sich selbst lachen, dass sie so einer Illusion aufgesessen war. Und schließlich war es auch egal, denn sie brauchte diese Pause dringend, ob nun in feinem Sand oder Geröll. Seit ihrem letzten Fall hatte sie sich verändert, das spürte sie selbst. Sie war ständig erschöpft, ertappte sich dabei, wie sie im Umgang mit anderen oder auch nur in Gedanken mal schrecklich weinerlich war, mal unangenehm ironisch. Es war an der Zeit, ihren alten Biss wiederzufinden, aber auch ihre alte Warmherzigkeit. Oder vielleicht auch, dachte Theo und dehnte sich vorsichtig, eine ganz neue Theodora Costanda, aber eine, die sie mochte.

Vielleicht fand sie die ja inmitten ihrer kleinen Gruppe inspirierter Frauen, die sich zum Sonnenaufgang morgens um kurz nach sechs das erste Mal auf der Yoga-Matte traf. Einige von ihnen waren ihr sehr sympathisch, und es gefiel Theo auch, dass die Frauen alle aus ganz unterschiedlichen Ländern kamen. Obwohl Theo Alexandria immer als ihre Heimat bezeichnete, wusste sie doch, dass andere sie häufig als agnabija ansahen, als Ausländerin. Vermutlich lag das an ihren blauen Augen, vielleicht auch daran, dass sie in Belgien geboren und aufgewachsen war. Ihre Mutter aber stammte aus Ägypten und war vor einigen Jahren, nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, mit Theo nach Alexandria gezogen, in die Nähe ihrer Verwandtschaft. Theo war es so vorgekommen, als wüsste sie endlich, was sie die ganzen Jahre vermisst hatte. Es gab etwas in diesem Land – fast würde Theo sagen, eine Energie, aber dieses Konzept widersprach ihrer logischen Art zu denken –, das sich in jedem Menschen hier zeigte, egal ob arm oder reich, gebildet oder nicht. Eine Art selbstverständlicher Stolz, eine Präsenz der Menschen, die sich nicht erklären musste, sie war einfach da. Das Erbe einer Hochkultur, die aus den brillantesten Künstlern, Baumeistern, Wissenschaftlern und natürlich Königen bestanden hatte. Ja, vielleicht war es auch das, was jeder hier in sich trug: das Erbe der Pharaonen – trotz des Chaos, das gleichzeitig in diesem Land herrschte. Nicht umsonst gab es diese Redensart: Fiha haga helwa. Es hat was. Ägypten hatte etwas, diese spezielle Magie, über die selbst ein verspäteter Bus mit einem platten Reifen nicht hinwegtäuschen konnte.

Sogar die Natur schien Theo majestätischer, als es die Sinterterrassen im türkischen Pamukkale, die Wasserfälle von Iguazú oder der Grand Canyon in den USA für sie jemals sein könnten.

Lächelnd schlenderte Theo durch die Gassen, auf der Suche nach dem Marktplatz. Die anderen Yogi-Frauen hatten sich für eine Bootstour auf dem Nil entschieden, aber Theo hatte es vorgezogen, das Alltagsgeschehen in sich aufzusaugen, und genoss das Getümmel in dem kleinen Dorf. Das war einer der Gründe gewesen, warum sie sich für diese Reise fernab des hektischen Alexandria entschieden hatte: Sie war nun Anfang dreißig und wollte Klarheit gewinnen, eine Antwort auf die Frage finden, ob sie weiter im Polizeidienst bleiben wollte. Sie war eine ausgezeichnete Kommissarin und Ermittlerin. Daran hatte auch sie selbst nach ihrem Fall im Oktober letzten Jahres keinen Zweifel mehr. Allerdings hatte sie in kemet, im Land der Schwarzen Erde, den einen großen unauslöschlichen Makel: Sie war eine Frau! Und Frauen genossen im Staatsdienst nach wie vor weder großen Respekt noch Ansehen. Da war es egal, wie verdient Theo sich um das Land und sogar um das kulturelle Erbe von Kleopatras Grab gemacht hatte. Und ob Theo sich dem aussetzen oder doch etwas Neues anfangen wollte, vielleicht sogar nach Belgien zurückkehren würde – darüber wollte sie sich in Ruhe Gedanken machen, während sie ihre Muskeln und Faszien ins Gleichgewicht brachte.

An den Ständen herrschte reges Treiben, überall wurde gebrüllt und gelacht und gefeilscht. Die Tische bogen sich unter dem Gewicht der riesigen Wassermelonen, in den Holzkisten wurden Feigen, Orangen und Äpfel angeboten. Die Luft war erfüllt vom Duft nach Gewürzen: Koriander, Paprika, Chili, Kumin, Knoblauch. Notdürftig gerupfte Hühner hingen kopflos an den silbernen, s-förmigen Metallhaken. Um sie herum surrten bereits Schwärme von Fliegen, die aufgeregt um das Festmahl herumflogen und ihre Eier ablegten. Ein Metzger mit blutverschmiertem Kittel hielt ihr lachend ein Stück Lammrücken entgegen. »Good meat, cheap price«, versuchte er es auf Englisch. Theo winkte ab und antwortete auf Arabisch, dass sie Vegetarierin sei, worauf der Schlachter einen harmlosen Fluch ausstieß und sich von ihr abwandte, auf der Suche nach einem neuen potenziellen Kunden. Theo schmunzelte in sich hinein und erstand bei den Süßwaren eine kleine Tüte mit Baklava, einem in Honig getränkten Blätterteiggebäck mit gehackten Nüssen, Pistazien und Mandeln. Die anderen Yogis würden es lieben, dachte Theo.

Sie wollte sich gerade auf den Weg zu einem Stand mit handbestickten Seidenkaftanen machen, als ihr ein Pritschenwagen auffiel, der am Rande des Marktplatzes hielt und von dessen Ladefläche acht Personen in hellgelben kuttenähnlichen Gewändern hinuntersprangen, sich kurz hinhockten, Hände und Kopf wie zum Gebet auf die Erde legten, um dann wieder aufzustehen und sich gezielt in den einzelnen Gängen des Marktes zu verteilen. Der Fahrer des Wagens blieb hinter dem Steuer sitzen. Sein Gesicht konnte Theo nicht erkennen, dafür war es im Innern des Mini-Trucks zu dunkel, und außerdem trug der Mann eine große Sonnenbrille. Merkwürdig, dachte Theo, was sind denn das für Gestalten? Ihre Kleidung war außergewöhnlich. Für die traditionellen Jalabiyas war der Stoff zu leicht und zu durchlässig. Auch die Farbe, dieses lichte Gelb, war ihr als traditionelle Körperbedeckung noch nie untergekommen. In ihren Gewändern erinnerten sie sie eher an buddhistische Mönche oder an die Anhänger der Hare-Krishna-Bewegung, die sie früher in Brüssel manchmal gesehen hatte. Aber gab es die auch im Niltal? Wie kleine Sonnen, dachte sie und sah ihnen hinterher, oder Glühwürmchen im Wind. Sie schienen sich auszukennen, ihr Gang war gezielt: Behände kauften sie große Mengen Obst, Fleisch und Gewürze, die sie in hellen Jutesäcken verstauten und flink zu dem Pritschenwagen brachten. Danach kamen vier von ihnen zurück, dieses Mal beladen mit gewebten Stoffen in leuchtend bunten Farben. Spätestens jetzt war Theos Aufmerksamkeit vollends geweckt. Sie folgte zwei Frauen, die offenbar Gebetsteppiche, Läufer und Schals über dem Arm zu einem Stand mit ebensolchen Waren trugen und sie vor dem Verkäufer auf den Boden legten. Wortlos zeigten sie auf ihre Waren, priesen sie dem Mann an, der sie offenbar in sein Sortiment aufnehmen sollte. »Handgemacht, Seide, Leinen«, sagte eine Frau in gebrochenem Englisch, dem Akzent nach keine Araberin. Theo stellte sich neben sie, beugte sich zu ihnen hinunter und erntete von einer der beiden gelb Gewandeten ein Lächeln. »Tausendfünfhundert«, sagte die Frau und wies auf einen breiten Schal in Türkistönen. Sie wirkte freundlich, aber auch ungewöhnlich blass für diese Klimazone, und unter den Augen hatte sie dunkle Ringe. Ob sie krank war? Theo überschlug den Preis im Kopf. Tausendfünfhundert ägyptische Pfund waren ungefähr dreißig Dollar. Sie fasste das Tuch an einer Ecke und rieb leicht den Stoff zwischen ihren Fingern. Wirklich sehr weich.

»Sehr gute Qualität«, sagte die Frau.

»Haben Sie das selbst gemacht?«, fragte Theo interessiert.

»Ja, handgemacht«, erwiderte sie, freundlich, aber auch mit sichtlicher Nervosität.

Theo überlegte noch, ob sie dieses Tuch, das sicher gut zu ihren blauen Augen passen würde, wirklich kaufen sollte, als ein Mann sich von der anderen Seite den beiden Frauen näherte und ihnen etwas zuraunte. Theo konnte die Worte nicht verstehen, nahm aber wahr, dass er die Schulter der einen ziemlich kräftig drückte.

Die beiden nickten, standen auf, drängelten sich an Theo vorbei und verschwanden aus ihrem Sichtfeld. Der Mann brachte das Geschäft mit dem ägyptischen Händler zum Abschluss.

Achselzuckend wandte Theo sich ab. Merkwürdige Bande. Sie würde im Retreat mal fragen, ob jemand diese Sonnenmenschen kannte. Langsam war es auch Zeit, sich mit den anderen Yogis am vereinbarten Treffpunkt für das Sammeltaxi einzufinden. Sie bahnte sich ihren Weg durch die Menge, als plötzlich die Lächelnde wieder vor ihr stand und ihr das türkisfarbene Tuch in die Hand drückte. »Hilfe!«, keuchte sie und sah nun überhaupt nicht mehr so glücklich aus wie noch wenige Augenblicke zuvor. »Bitte, Hilfe!« Theo war wie versteinert. Was war los? Bevor sie jedoch nachfragen konnte, war die junge Frau, unter deren Kapuze Theo gerade noch einen blonden Haaransatz erkennen konnte, wieder in der Menge und dann auf dem Pritschenwagen verschwunden. Als der Mini-Truck davonfuhr, winkten die Sonnenkinder zum Abschied in die Menge und sangen ein Lied, das in Theos Ohren äußerst melodisch klang. Fast wie ein gesungenes Gebet. Eine Lobpreisung.

Mit gerunzelter Stirn sah sie den eigentümlichen Besuchern hinterher. Brauchte die junge Frau wirklich Hilfe? Weshalb? Und wer waren diese gelben Leute überhaupt? Die Dringlichkeit in der Stimme der jungen Frau hatte Theo zutiefst beunruhigt. Andererseits wollte sie sich hier an diesem gottverlassenen Ort eigentlich keine neue Fragen stellen. Sie wollte ihre eignen beantworten, indem sie sich ausgiebig dehnte und streckte und auch ihre Abendmeditation gewissenhaft machte.

Komisch war es trotzdem.

Kapitel 2

Theodora leerte ihr zweites Glas Pfefferminztee und gähnte herzhaft. In der morgendlichen Session hatte Christiana ihnen vor allem die Druckpunkte am Fuß erklärt, und die Gruppe war eine halbe Stunde damit beschäftigt gewesen, sich die Zehen zu massieren, weil dadurch angeblich der komplette Halswirbelbereich entspannt werden sollte. Theo hatte es nicht geglaubt und sich danach dennoch so wattig-wohl gefühlt in ihrem Kopf, dass sie sich am liebsten noch einmal hingelegt hätte. Doch dafür reichte die Zeit nicht. Sie hatten jetzt knapp zwei Stunden bis zum Mittag, und dann sollte es schon wieder auf die Matte gehen oder alternativ nach Tell el-Amarna, um das Grab des »Ketzerkönigs« Echnaton zu besuchen.

Theo hatte sich noch nicht entschieden. Einerseits war sie für ihre wertvollen Yoga-Übungen hier, nicht, um Nachhilfe in ägyptischer Geschichte zu nehmen. Andererseits kannte auch sie wenig mehr als die berühmten Pyramiden von Giza und das Tal der Könige bei Luxor. Außerdem war ihr dieser Echnaton sympathisch. Er war ein Rebell, ein Aufrührer gewesen, hatte er doch als einziger Pharao versucht, eine monotheistische Religion basierend auf dem Sonnengott Aton zu etablieren. Ein Frevel, mit dem er so ziemlich alle gegen sich aufgebracht hatte: die Priester sowieso, weil die sich ihre durchaus nützlichen Götter nicht verbieten lassen wollten. Aber auch das Volk sah nicht ein, warum sie nicht länger ehrfürchtig an die Legenden von Isis und Osiris oder den Wüstengott Set glauben sollten. Echnatons Todesumstände waren bis heute ungeklärt, erinnerte Theo sich. Alt war er jedenfalls nicht geworden.

Dieses Grab anzuschauen, stellte sich Theo verlockend vor, zumal Echnaton seinerzeit die einzige Stadt errichtet hatte, die wie Alexandria entworfen und entsprechend herrschaftlich ausgefallen war, Tell el-Amarna. Eine Stadt, von der heute nur noch Ruinen übrig waren. Und wer weiß, vielleicht spürte man ja noch den Hauch von Echnatons Fluch, den er den Mythen nach ausgestoßen hatte, als ihm klar wurde, dass er mit seiner neuen Herrschaftslehre nichts anderes finden würde als den Tod.

Das alles war sehr reizvoll und vermutlich eine gute Abwechslung zum Yoga. Zumal es Theo auch für einen Moment von ihren Sorgen um ihre Mutter ablenken würde, die immer stärker in ihr Bewusstsein drängten. Sie versuchte nun schon zum dritten Mal innerhalb von vier Tagen vergeblich, ihre Mutter in Alexandria zu erreichen. Das war höchst ungewöhnlich, da ihre Mutter das Haus nicht oft verließ. Seit ihrer Rückkehr nach Alexandria war es ihrer Mutter nicht richtig gelungen, den Kontakt zu ihrer Verwandtschaft und ihren alten Freunden wieder aufzunehmen. Theo vermutete, dass ihre Mutter es nie ganz verwunden hatte, von ihrem Mann verlassen worden zu sein. Und wahrscheinlich hatte sie auch ihre Entwurzelung nie richtig verarbeitet. Ihre Mutter war kein Mensch, den man in eine europäische Abendgesellschaft steckte, um an der Seite ihres Mannes zu parlieren, einem inzwischen angesehenen Arzt. Das zumindest glaubte Theo. Gesprochen hatten sie nie darüber. Und so beunruhigte es Theo, dass ihre Mutter, die noch immer kein Handy besaß, partout nicht ans Telefon ging.

Theo brachte ihr Glas in die kleine Abseite, die nur durch einen Vorhang vom Gemeinschaftsraum abgetrennt war und in der zwei Schüsseln für den Abwasch standen und ein mit einer Gaskartusche betriebener Zwei-Platten-Herd. Das fließende Wasser kam aus einem Bottich oberhalb der mit Decken abgehängten Wände. Die Leitung wiederum bestand aus einem zwei Meter langen Schlauch, der bis in die »Küche« reichte und durch eine Metallklammer reguliert wurde. Fließend Wasser made in Egypt.

»Ahlan, Gurgina«, grüßte Theo die Köchin.

»Ahlan biki«, erwiderte die Köchin mit den glitzernden Goldzähnen. Gurgina war die gute Seele des Retreats und eine hervorragende Köchin, die sich ihren Ruf schon auf so manchen Camps erworben hatte, in das ausländische Touristen auf der Suche nach Abenteuern eingefallen waren. Das wiederum erinnerte Theo an die Truppe der gelb gewandeten Menschen auf dem Markt und an die junge blonde Frau, die sie um Hilfe gebeten hatte.

»Sag mal, Gurgina, du kommst doch viel herum. Kennst du diese Leute in gelben Kutten, die nach Deir el-Berscha auf den Markt zum Einkaufen fahren? Weißt du, wo die hingehören?«

Gurgina lachte ihr Goldzahnlachen. »Du meinst die Kinder der Sonne der Weisheit? Oder die Shams al-Marif, wie es auf Arabisch heißt? Die sind harmlos. Ganz liebe Menschen, nur ein bisschen plemplem.« Bekräftigend tippte sie sich mit dem Finger gegen die Schläfe.

Überrascht horchte Theo auf. »Du kennst sie?«

»Natürlich kenne ich sie. Ich habe ja schon mal für sie gekocht. Aber das ist lange her. Das war vor zwei Jahren, als sie sich gerade hier niederließen und ihren Tempel errichteten.«

»Ihren Tempel?«

»Na ja, was man so Tempel nennt. Sie haben hier eine kleine Gemeinde gegründet und beten den ganzen Tag, gemeinsam mit ihrem geistigen Anführer.«

»Sie beten? An wen oder was richten sich denn diese Gebete?«

»Theodora, habibti, du stellst Fragen.Was weiß denn ich? Sie haben sich angeblich von allem Weltlichen losgesagt, um die reine Liebe und Versöhnung mit Gott Aton und den Elementen zu vollziehen. Bleiben lieber unter sich. Deswegen musste ich da auch aufhören. Ganz liebe Leute.«

Theo war nicht überzeugt. »Wo ist denn dieser Tempel?«

»Gar nicht so weit von hier. In der Nähe der alten Ruinenstadt Amarna. Nur noch weiter in die Wüste rein.«

»Aha«, sagte Theo. »Und du weißt nicht zufällig, wer dieser geistige Anführer ist?«

»Na doch, ein Mann, den sie alle nur den ›Mustanir‹ nennen. Dem Akzent nach ein Amerikaner. Oder Kanadier oder so.«

»Der Erleuchtete.« Auch wenn Theodora es nicht zugeben wollte, war ihr Ermittlerinstinkt nun doch geweckt, und das Nachmittagsprogramm stand fest. Echnatons Grab.

 

Im Gegensatz zu den Hotspots ägyptischer Kultur waren die Ausgrabungsstätten südlich von el-Minia kein touristischer Knotenpunkt. Der Minibus mit den acht Teilnehmerinnen, die sich für diesen Ausflug angemeldet hatten, war der einzige, der auf dem sandigen Platz am Rande von kaum als solchen zu erkennenden Säulenresten zum Stehen kam. Es war aber auch ein ungünstiger Tag für eine Exkursion, dachte Theo, denn der Wind hatte aufgefrischt. Hier, in der Wüste, hieß das, dass die heiße Luft durchsetzt war von feinsten Sandkörnchen, die sich wie Betonstaub auf die Zunge legten, egal, wie fest man den Mundschutz sich auch vors Gesicht zog.

Theo hatte schon einige Sandstürme miterlebt, diese allerdings geschützt in den Häusern Alexandrias, wo man Türen und Fenster schließen konnte und einfach die Wohnung einen Tag nicht verließ. In den weiten Ebenen des Niltals und der Arabischen Wüste, die erst einige Kilometer weiter östlich von einer Bergkette eingerahmt wurde, suchte man diesen Schutz vergeblich.

Entsprechend eilig hatten es alle, sich in die windgeschützten Grabkammern der diversen Hohepriester, Ärzte und Schatzmeister im Hofstaat von Echnaton und Nofretete zu flüchten. Von ihrer einstigen Pracht war jedoch kaum noch etwas zu erkennen. Wind und Sonne hatten die Wandmalereien verblassen lassen. Und sollte es jemals Grabbeigaben gegeben haben, waren sie längst den Plünderern zum Opfer gefallen. Was blieb, waren felsige Kammern mit erodierenden Säulen, in denen nicht mal ein steinerner Sarkophag an die einstige Dynastie erinnerte. Außer einem etwas komplexeren Kammersystem unterschied sich auch das Grab des Echnaton – von dem bis heute nicht mal sicher gesagt werden konnte, ob der Sonnengott-Anbeter denn überhaupt dort begraben lag – kaum von denen des Merire, Ahmose oder Panehsi.

Enttäuscht bog Theo in dem verzweigten Tunnelsystem noch einmal nach rechts ab, um dort der Vollständigkeit halber auch das Grab der zweitältesten Tochter Echnatons, Maketaton, zu besichtigen. Die anderen Teilnehmerinnen hörte sie etwas weiter entfernt lachen und gruselige Rufe von sich geben, bestimmt, um das Echo in der muffigen Dunkelheit auszunutzen. Ihre eigenen Schritte hallten auf dem Stein wider, ein Schatten huschte über den Weg, wahrscheinlich eine Ratte. Dem Pfeil nach müsste sie noch ein paar Meter weiter geradeaus gehen, doch eine dunkle Nische rechts von ihr erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie spähte hinein, konnte jedoch in der Dunkelheit nichts erkennen. Offenbar war dies nicht der Weg, den Touristen einschlagen sollten. Theo nahm ihr Handy aus ihrem Beutel und schaltete die Taschenlampe an. Die Nische war ein etwa sechs Meter langer Gang, den sie abschritt und der dann einen Knick machte. Am Ende, noch mal ungefähr vier Meter weiter, befand sich ein kleiner Durchlass, so niedrig, dass selbst sie mit ihren 1,65 Meter sich bücken musste. Nach einem weiteren schmalen Gang gelangte sie in einen Raum. Sie leuchtete hinein. Er musste klein sein, vielleicht acht oder neun Quadratmeter. Auch hier ließen sich verblasste Malereien erahnen; sie zeigten eine Menge, die vor einer im Himmel aufragenden strahlenden Scheibe niederkniete. Sie symbolisierte demnach das Volk, das sich vor Aton verbeugte. Außerdem gab es in diesem Raum eine Art in den Stein eingelassene große Platte, die Theo nicht recht zuordnen konnte. Es war untypisch, in den Grabkammern noch Festtafeln oder Gesellschaftsräume zu symbolisieren. Theo machte einen Schritt in den Raum hinein und fotografierte die Platte. Sie würde Professor Hamdy die Aufnahme mailen und ihn fragen. Hamdy Abouleish war der Direktor der Bibliotheca Alexandrina, und sie hatte in ihrem letzten Fall schon sehr vertrauensvoll mit ihm zusammengearbeitet. Wenn sich jemand mit antiken Grabstätten auskannte, dann er. Erneut von Dunkelheit umgeben, tippte sie auf das Foto. Theo stutzte. Es war etwas unscharf geworden. Aber trotzdem. Sie tippte die Taschenlampe wieder an und trat einen Schritt an die Platte heran. Irgendetwas störte das Bild. Theo ging in die Hocke, wischte mit dem Finger über den dunkelgrauen Stein. Nichts. Ihr Finger hatte keine Spur auf der fast glatten Oberfläche hinterlassen. Wie konnte das sein? Wenn dieser Raum nicht genutzt wurde, wieso hatte sich dann nicht längst eine feine Staubschicht gebildet? Theo leuchtete den Raum weiter aus. Am Kopf der Platte stand eine kleine Vase aus Ton mit drei verwelkten Blumenstängeln darin. Das Verstörendste aber sah sie erst jetzt: Am Kopf und am unteren Ende der Platte ragten größere Metallhaken aus der Erde, an denen mittelstarke Eisenketten befestigt waren, und an deren Ende wiederum Handfesseln. Theo überlief ein eisiger Schauer. Was hatte sich hier abgespielt? Und wann? Ganz sicher stammten diese Vorrichtungen nicht aus der achtzehnten Dynastie des Alten Ägypten. Das hier war neu und sehr irdisch. Sie spürte, wie ihr Herz aufgeregt zu schlagen begann. Mit zitternden Fingern suchte sie auf ihrem Handy nach der Schwarzlicht-App, die sie sich während ihrer Ausbildung mal runtergeladen hatte. Die Kriminaltechnik arbeitete damit, wenn sie Flecken erkennen wollte, die für das bloße Auge nicht sichtbar waren. Einen Moment herrschte völlige Finsternis. Die Stimmen der Gruppe waren längst verstummt, so weit musste Theo inzwischen von ihnen weg sein. Sie unterdrückte einen Anflug von Panik. Sie würden schon merken, wenn sie nicht zurückkam. Aber davon konnte ja keine Rede sein, sie brauchte nur ein paar Minuten länger. Ihre Finger zitterten, als sie die App endlich gefunden hatte und antippte. Sie scannte die Platte mit dem Lichtkegel des Schwarzlicht-Simulators und atmete auf. Natürlich, da war nichts. Vorsichtig strahlte sie die Platte an den Seiten entlang ab, glitt über die Halterungen. Oben war ebenfalls nichts. Sie befahl sich zu atmen, leuchtete weiter hinab dorthin, wo auch die Handfesseln waren. Ihr stockte der Atem. Da war etwas. Ein Stein vielleicht, versuchte sie sich zu beruhigen. Sie befühlte mit der freien Hand den Boden. Da war kein Stein. Das, was sie da sah, waren längliche schmale Flecken, Spritzer, runde Tupfer. Sie schloss die App und machte die Taschenlampe wieder an. Nichts. Noch mal zurück, Schwarzlicht. Da waren sie wieder. Lauter kleine und mittlere Flecken, vermehrt an einzelnen Stellen, keine Spritzer. Sie wusste von den Kollegen der Spurensicherung, dass das kein Öl war. Öl hätte sie auch ohne das Licht gesehen. Sie kannte nur eine Substanz, die man mit dem UV-Licht gut sichtbar machen konnte. Blut.

Nervös kramte Theo in ihrem Beutel nach einer Packung Taschentücher, leerte sie aus, nahm die Plastikhülle und kratzte an den Stellen mit den dunklen Flecken etwas Erde oder Staub in den provisorischen Beutel. Sie würde das untersuchen lassen. Sie ging in der Hocke um den Stein herum auf die andere Seite, und hier zeigte sich dasselbe Bild: lauter kleine dunkle Flecken unterhalb der Stelle, wo man den Arm oder das Handgelenk eines Menschen vermuten konnte, den man in Ketten gelegt hatte. Abermals überlief Theo ein Schauer. Auf was war sie hier in den Abseiten von Echnatons Grab gestoßen? Theo schaltete erneut auf die Taschenlampe um. Sie musste sich beeilen, denn ihr Akku leuchtete bereits rot. Nicht mehr lange, und sie würde im Dunkeln stehen.

Hektisch erhob sie sich und lief aus dem Raum den Gang hinab und dann wieder nach rechts. Gleich musste sie auf den Hauptgang kommen, doch noch sah sie keine Lichter. Das kann doch nicht sein!, dachte Theo. So weit war es doch nicht gewesen. Sie ging zurück, versuchte die Abzweigung nach links. Auf dem Hinweg war ihr gar nicht aufgefallen, wie verwinkelt es hier war. Der Gang verlief in einem Halbrund. Nein, diesen Weg war sie nicht gekommen. Daran hätte sie sich erinnert. Ihre Kehle verengte sich, und sie hatte Mühe zu atmen. Mit einem Mal ging die Taschenlampe ihres Handys aus. Nein, bitte nicht, flehte sie stumm. Das durfte nicht passieren. Sie konnte doch jetzt nicht in einer ägyptischen Ausgrabungsstätte verloren gehen! Sowas passierte im modernen Ägypten nicht, beruhigte sie sich. Selbst wenn Echnatons Grab nicht zu den berühmtesten Fundstätten gehörte, konnte man hier nicht einfach verschwinden. Obwohl … Sie dachte an die Platte mit den Blutflecken. Offenbar fanden hier dennoch Dinge statt, von denen niemand wusste. Die Luft war kühl und muffig, und Theo meinte, sie würde eher noch kühler. Ging sie etwa weiter hinab in die Erde und die Grabkammern? Die Panik kehrte zurück. Es war stockdunkel, und Theo tastete sich an den rauen Mauern entlang. Plötzlich stieß sie mit dem Zeh gegen einen harten Gegenstand. Sie schrie auf. Eine Stufe. Vorsichtig machte sie einen Schritt. Noch eine Stufe. Sie führte aufwärts. Bemüht, nicht zu rennen, nahm sie Schritt für Schritt den Weg nach oben. Sie hatte keine Ahnung, wohin der führte. Kein Licht drang von oben zu ihr hinab. Zweiundzwanzig Stufen zählte sie, dann ein Gang, und nun sah sie von rechts einen schwachen Lichtschein. Fast hätte sie laut gejubelt! Sie lief der Helligkeit entgegen. Über eine Art Rampe kam sie schließlich in eine größere Halle, in der Lampen brannten. Sie hatte keine Ahnung, wo genau sie hier gelandet war, aber es musste ein erschlossener Teil der Grabanlagen sein. Theo versuchte, sich zu orientieren, bis sie einen Pfeil sah, dem sie blindlings folgte. Sie rannte weiter, immer den Pfeilen nach, ignorierte die anderen Schilder, die ihr die Sehenswürdigkeit erklärte, wollte nur noch raus. Und endlich, endlich kam sie an eine weitere Treppe, von der von oben milchiges Sonnenlicht hereindrang. Sie hastete nach draußen, sofort stachen ihr Sandkörner in die Haut wie feine Nadeln. Der Wind hatte sich nicht gelegt. Sie wickelte sich das Tuch um den Kopf und versuchte, sich zu orientieren. Sie erkannte eine halb abgebrochene Säule etwa einhundert Meter entfernt. Demnach war sie östlich des Haupteinganges zu Echnatons Grab herausgekommen, auf der Wüstenseite. Sie stemmte sich gegen den Wind und machte sich auf den Weg. Und dann, endlich, erkannte sie den weißen Minibus und eine Handvoll Menschen, die winkend die Arme in die Luft hoben.

Kapitel 3

Lustlos saß Fadi an seinem Schreibtisch und tippte gelangweilt den siebten Bußgeldbescheid in seinen Computer ein. Die Ordnungswidrigkeit lag schon drei Monate zurück, und wenn Fadi auf den Stapel schaute, den er noch nicht bearbeitet hatte und der sich täglich um mehr Zentimeter erhöhte, als er ihn in seinen acht Arbeitsstunden abbauen konnte, erschien ihm diese Beschäftigung reichlich sinnlos. Während seine Kollegin Theodora sich nach dem ersten gemeinsamen Fall schlauerweise hatte beurlauben lassen, war er insgeheim von einer Beförderung ausgegangen. Sie hatten in der Kleopatra-Sache gute Arbeit geleistet, sehr gute sogar. Offenbar jedoch waren sie dabei einem höchst einflussreichen Geheimbund etwas zu nah gekommen. Und zu dem, da war Fadi sich inzwischen sicher, gehörte auch der oberste Polizeichef, Faruk Hani. Statt Fadi also zum leitenden Mordermittler zu befördern, hatte man ihn in die Abteilung für Verkehrsdelikte gesteckt. In einer Millionenstadt wie Alexandria, wo gerade auf den Straßen sowieso jeder machte, was er wollte, ein hoffnungsloses Unterfangen. Neben den Bescheiden an sich gab es danach fast ebenso viele Beschwerdebriefe und Widersprüche. Manchmal standen aufgebrachte Bürger sogar bei ihm vor der Tür und gaben ihm sehr deutlich zu verstehen, was sie von ihm und der ägyptischen Bürokratie hielten. Einer hatte buchstäblich auf den Bescheid gespuckt und ihn im Flur der Polizeibehörde einfach fallen lassen. Wie Sisyphos den Stein täglich einen Berg hochzurollen, wäre da noch der Hauptgewinn gewesen, denn Fadis fensterloses Büro lag im Souterrain und verfügte lediglich über eine Art Luke, die zu einem Schacht führte. Nicht mal einen schönen Ort hatte man ihm für seine sinnlose Tätigkeit zugestanden.

Vor Wochen schon hatte Fadi ein Versetzungsgesuch nach Kairo geschickt. Wie erwartet wurde es abgelehnt. Man habe derzeit bedauerlicherweise keine Verwendung für ihn. Fadi wusste, dass das eine Lüge war. Aber er wusste auch, dass die Fäden der Crata Repoa so weit reichten.

Seufzend nahm er den nächsten Bescheid, um ihn in die Maske einzugeben, als sein Telefon klingelte. Sicher wieder ein erzürnter Bürger. Zu seiner Überraschung war es jedoch jemand ganz anderes. Jemand, so merkte Fadi, der diesen muffigen Tag fast ein weniger freundlicher machte.

»Hallo, Fadi, hier ist Theodora, wie geht’s dir? Störe ich dich gerade? Du hast ja eine neue Durchwahl! Die musste ich mir erst mal von der Zentrale geben lassen.«

»Theodora, was für eine Überraschung! Ja, ich bin jetzt Hauptkommissar und arbeite im sechsten Stock mit bester Aussicht über die Corniche.«

Einen Moment herrschte Schweigen in der Leitung. »Die Polizeidirektion hat nur fünf Stockwerke. Und die Corniche kann man von dort auch nicht sehen. Wo bist du, Fadi?«

Fadi seufzte. »Noch immer die Alte, blitzgescheit und nicht zu täuschen. Ich bin beim Verkehr.«

Hörte Fadi da ein unterdrücktes Lachen? »Findest du das etwa witzig?«, schob er mürrisch nach.

»Nein, nein, keinesfalls, entschuldige bitte. Es ist nur … wahrscheinlich eine Überreaktion. Ich bin gerade in Deir el-Berscha auf einem Yoga-Retreat in der Wüste.«

Nun musste Fadi seinerseits grinsen. »Du bist was? Das passt so gar nicht zu dir.«

»Schönen Dank auch, aber deswegen rufe ich nicht an«, sagte Theo und klang ein wenig verletzt.

»Nein, das dachte ich mir, also, worum geht’s?«

In knappen Worten berichtete Theo, was sie die vergangenen beiden Tage gehört und gesehen hatte: die Sonnenmenschen auf dem Markt, die blonde Frau, die sie um Hilfe gebeten hatte, die Gerüchte um eine Sekte mit einem Anführer namens El Mustanir, den bizarren Fund irgendwo in dem Labyrinth bei Echnatons Grab, die mutmaßlichen Blutflecken.

Fadi war bemüht, ihr zu folgen, was ihm nicht immer gelang, doch er wollte sich seine Fragen für den Schluss aufheben. Als Theo geendet hatte, brauchte er einen Moment, um sich zu sortieren. »Mit den alten Königen hast du es aber auch, hm?«, sagte er dann schließlich.

»Mit denen hat es ja wahrscheinlich gar nichts zu tun. Wahrscheinlich hat noch nicht einmal das eine mit dem anderen zu tun. Aber beides ist doch merkwürdig, findest du nicht?«

»Nein!«, kam es von Fadi wie aus der Pistole geschossen. »Wie du schon sagtest: Das eine ist eine Sekte, die dem Pfad der Erleuchtung folgt. Und das andere kann alles Mögliche sein. Ich sehe da keinen Zusammenhang.«

»Vielleicht bist du deswegen jetzt beim Verkehr und nicht bei der Mordermittlung«, konterte Theo spitz, um direkt anzufügen: »Entschuldige, das war gemein. Aber im Ernst, kannst du nicht mal recherchieren, ob du diese Sekte findest? Ich habe hier keinen Computer und natürlich auch keinen Zugang zu den polizeilichen Datenbanken. Wenn ich die Schlagworte einfach ins Handy eingebe, kommt da rein gar nichts, was mich wundert. Wie soll eine Gemeinde bitte ihre Schäfchen rekrutieren, wenn die Schäfchen die Gemeinde nicht finden?«

Fadi sah einer Fliege zu, die an seinem Bleistift hinaufkrabbelte. »Na ja, das hatten wir gerade«, gab er zu bedenken.

»Ja, aber das war ein Geheimbund! Der hat sich auch nicht in gelben Kutten auf dem Markt getroffen. Und wie gesagt, die Frau wirkte ernsthaft verängstigt. Das ist doch merkwürdig.«

»Ich glaube, dir ist einfach langweilig.«

»Nun komm schon, Fadi! Wirklich erfüllend klingt deine Beschäftigung auch nicht gerade. Ein bisschen kriminalistische Spurensuche tut deinen grauen Zellen sicher gut.«

Auch wenn Fadi es vor Theo nicht offen aussprechen wollte, gab er ihr im Stillen dennoch recht. Seine Kollegin war drei Jahre jünger als er, und dennoch hatte er manchmal das Gefühl, neben ihr wie ein Schuljunge zu wirken.

»Was weißt du denn noch außer den gelben Gewändern und dass der Anführer sich offenbar ›Der Erleuchtete‹ nennt und Amerikaner sein könnte? Einen bürgerlichen Namen hast du nicht zufällig?«

»Negativ«, erwiderte Theo. »Dieses Camp muss ziemlich genau östlich von Amarna liegen. Möglicherweise steht was im Melderegister.«

»Machst du Witze?«

»Ja«, sagte Theo und lachte wirklich kurz auf, was Fadi gefiel. Humor stand bislang nicht auf der Liste der Eigenschaften, die ihm zu der Ermittlerin eingefallen wären. Überhaupt merkte er, wie das Gespräch seine Sinne weckte und sein Herz erwärmte. Er hatte schon lange keinen so unterhaltsamen Arbeitstag mehr gehabt. Vermutlich spielte auch diese Überlegung bei seiner Antwort eine Rolle.

»Ist gut, ich hör mich mal um und sehe, was ich rausfinden kann. Bist du damit zufrieden?« Als es in der Leitung still blieb, hakte er nach: »Theo, bist du noch dran?«

»Ich hätte da noch eine private Bitte, wenn das möglich ist«, sagte sie nun deutlich leiser.

»Aha?«

»Ich kann meine Mutter schon seit fünf Tagen nicht erreichen, was wirklich sehr ungewöhnlich ist. Wäre es möglich … also könntest du eventuell …?«

Fadi kannte Theos Mutter nicht persönlich, wusste aber, dass sie in Alexandria lebte. »Nun gib mir schon die Adresse. Ich schau nach der Arbeit mal bei ihr vorbei. Sonst noch was? Eine Veggie-Pizza mit extra Käse ins Wüsten-Retreat vielleicht?«

Wieder hörte Fadi sie lachen, etwas kehliger und deutlich erleichtert.

»Du bist ein Schatz, Fadi. Ich danke dir.«

Damit legten sie auf.

Fadi versuchte, sich auf seine Bußgeldbescheide zu konzentrieren, doch seine Gedanken glitten immer wieder zu den bizarren Informationen, die seine Kollegin ihm durchgegeben hatte. Das eine war dieses dubiose Camp. Das beunruhigte ihn nicht weiter. Religiöse Spinner gab es überall, und besonders viele von ihnen im Nahen Osten, wo im Zweifelsfall niemand merkte, wenn ein paar Jungs ihre Zelte in der Wüste aufgeschlagen hatten.

Aber eine Steinplatte in den unterirdischen Gängen bei Echnatons Grab, an der schwere Eisenketten befestigt waren, um die herum Theo möglicherweise Blutspuren gefunden hatte – das fand auch er reichlich befremdlich. Einerseits konnte er sich nicht vorstellen, wie man in den Katakomben einer so öffentlichen Kultstätte eine geheime Kammer einrichtete. Andererseits wurden Menschen auch in Kellern von Neubausiedlungen gefangen gehalten, ohne dass jemand Verdacht schöpfte. Und Theo hätte sich in den Gängen fast verirrt, wenn er ihre an dieser Stelle eher verhaltenen Aussagen richtig interpretierte. Da war normalerweise also kein Mensch, und das unterirdische Gelände schien weitläufig.

Etwas zögerlich gab er ein paar Stichworte in die Suchmaske ein – Sekte, gelbe Kutten, Ägypten, Wüste, religiöse Gemeinschaft, Mustanir – und war wenig überrascht, als er damit keinen Treffer landete. Jedenfalls keinen, der ihm in der Sache weiterhalf. Das hatte Theo ja auch schon versucht.