Echo des Schweigens - Markus Thiele - E-Book
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Echo des Schweigens E-Book

Markus Thiele

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  • Herausgeber: Benevento
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Recht oder Gerechtigkeit? Ein spannender Roman um einen schockierenden Justizskandal Strafverteidiger Hannes Jansen steht vor dem brisantesten Fall seiner Karriere: Er vertritt einen Polizisten, der wegen Mordes an einem Asylbewerber angeklagt ist. Seine Kontrahentin ist ausgerechnet die Frau, die er liebt: Rechtsmedizinerin Sophie Tauber, die ein neues rechtsmedizinisches Gutachten erstellt hat, das die Unschuld von Jansens Mandant in Frage stellt. Hat dieser Justizskandal die Macht, die Beziehung scheitern zu lassen? Wie viel Wahrheit verträgt die Liebe zweier Menschen, wenn sie sich auf unterschiedlichen Seiten von Recht und Gerechtigkeit wiederfinden? Moral, Gerechtigkeit und Schuld sind mehr als abstrakte Konstrukte – sie bestimmen über Leben und Tod. Der Autor und Rechtsanwalt Markus Thiele zeigt das äußerst eindringlich in seinem Roman "Echo des Schweigens". - Ein Anwalt zwischen Gesetz und Moral: packend erzähltes Justizdrama - Inspiriert von einem der größten Justizskandale der Bundesrepublik: dem Fall Oury Jalloh in Dessau - Spannendes Lesevergnügen für Fans von Ferdinand von Schirach und Bernhard Schlink - Auch als Hörbuch bei Sony Music Fakten und Indizien, Rechtsmedizin und Strafverteidigung – wer bekommt Recht? Liebe oder juristische Integrität – wofür wird sich Hannes Jansen entscheiden? Doch auch Sophie Tauber steht vor schwierigen Fragen: Ein jahrzehntelang verschwiegenes Verbrechen, das in die NS-Zeit zurückreicht, offenbart tiefe Risse in ihrer Familiengeschichte. Kann sie sich auf ihren moralischen Kompass noch verlassen? Markus Thiele kennt den Gerichtssaal in all seinen Facetten. Gekonnt verwebt er in seinem Roman Fiktion und Realität am Beispiel eines wahren, bis heute ungeklärten Kriminalfalls. Ein tiefgründiges und hochaktuelles Buch!

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Seitenzahl: 533

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MARKUS THIELE

ECHO DES SCHWEIGENS

ROMAN

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2020

Copyright deutsche Erstausgabe © 2020 Benevento Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Minion Pro, Bison Bold

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagmotiv: © gettyimages / Alberto Cabanillas / EyeEm

ISBN: 978-3-7109-0091-4eISBN 978-3-7109-5099-5

Für Laurenz und Greta

Ein bloßes Ungefährwissen ist nirgendwo gefährlicher als in der Rechtswissenschaft.

Gustav Radbruch

Inhalt

JULI 2018

· TEIL 1 ·

1 SEPTEMBER 2017

2 OKTOBER 2017

3 OKTOBER 2017

4 NOVEMBER 1938

5 OKTOBER 2017

6 FEBRUAR 1941

7 OKTOBER 2017

8 OKTOBER 2017

9 OKTOBER 2017

10 FEBRUAR 1941

11 NOVEMBER 2017

12 NOVEMBER 2017

13 NOVEMBER 2017

14 FEBRUAR 1941

15 FEBRUAR 1941

16 NOVEMBER 2017

17 FEBRUAR 1941

18 NOVEMBER 2017

19 FEBRUAR 1941

20 NOVEMBER 2017

21 FEBRUAR 1941

22 NOVEMBER 2017

23 DEZEMBER 2017

· TEIL 2 ·

24 SEPTEMBER 1941

25 MÄRZ 2018

26 DEZEMBER 1941

27 DEZEMBER 1941

28 17. JULI 2018

29 17. JULI 2018

30 MÄRZ 1942

31 MÄRZ 1942

32 AUGUST 1942

33 AUGUST 1942

34 DEZEMBER 1948

35 FEBRUAR 1979

36 17. JULI 2018

37 18. JULI 2018

38 MÄRZ 1979

39 19. JULI 2018

40 20. JULI 2018

41 20. JULI 2018

42 21. JULI 2018

43 25. JULI 2018

44 AUGUST 2018

45 AUGUST 2018

EPILOG SEPTEMBER 2018

NACHWORT

DISCLAIMER

DANKSAGUNG

JULI 2018

Hannes Jansen erhob sich. Der dreiundvierzigste Verhandlungstag hatte begonnen, der letzte Prozesstag, der Tag seines Plädoyers. Er schloss den obersten Knopf seiner Robe. Im Schwurgerichtssaal des Landgerichts Magdeburg war außer dem Atmen der Zuschauer nichts zu hören. Alle Augen waren auf eine einzige Person gerichtet: Jansen.

Die Zeitungen würden morgen einen Verteidiger loben, der die Anklage mit dem Florett filetiert und ihre Schwächen den Richtern zum Fraß vorgeworfen hat. Einen Mann mit durchgestrecktem Rücken und wachem Blick. Ein Anwalt, von dem man noch hören wird.

Jansen wandte sich zu seinem Mandanten, Kriminaloberkommissar Maik Winkler, der zu ihm aufsah, voller Erwartung. Gekleidet mit weißem Hemd, Ehemann und Vater einer kleinen Tochter, er vermisste sie, Jansen gegenüber redete er von nichts anderem.

Staatsanwaltschaft und Mordkommission hatten präzise gearbeitet, die Indizien gegen Winkler waren erdrückend. Er hatte in jener Nacht Dienst gehabt und als Einziger einen Schlüssel zur Zelle besessen, in der der Senegalese verbrannt war. Dennoch: Die Indizien würden nicht reichen, nicht für Mord. Es mangelte am letzten Glied der Kette, am entscheidenden Beleg: einer Zeugenaussage oder einer Kameraaufzeichnung. Der Anklage fehlte das Unumstößliche.

Jansen sah zur Uhr. In zwei Stunden würde er zurück in der Kanzlei sein. Die Champagnerflaschen lagen bereits kalt.

Winkler kaute auf der Unterlippe. Die Vorsitzende bat Jansen zu beginnen. Er ließ den Blick zur Staatsanwältin gleiten, zur Richterbank, ins Publikum. Er hatte alles vorbereitet, noch bis in die vergangene Nacht hinein. Aber er brauchte seine Aufzeichnungen nicht, jedes Wort war verinnerlicht. Eine mathematische Herleitung: Der Angeklagte war mit seinem Kollegen auf Streife gewesen. Unmöglich, dass er das Feuer in der Zelle entfacht hatte.

»Hohes Gericht«, hob Jansen an, da öffnete sich die Saaltür, und seine Referendarin, Regina Kaiser, stand im Raum. Mit rotem Kopf bat sie um Entschuldigung, es sei wichtig. Aus den Zuschauerreihen ein Raunen, einer hustete, andere flüsterten mit dem Nachbarn. Jansen ließ unterbrechen. Auf dem Flur gab die Referendarin ihm ein Notizbuch, die Seiten waren ausgefranst, die Ecken geknickt. Er müsse das lesen, von Anfang bis Ende. Es habe entscheidenden Einfluss auf den Prozess.

»Wo kommt das her?«

»Er hat alles gesehen«, sagte sie.

»Ich will wissen, woher Sie das haben.«

»Das ist nicht wichtig. Lesen Sie es, bitte. Winkler ist schuldig.«

Die Referendarin sah ihn mit schmalem Mund und flackerndem Blick an und verschwand.

Wann hatte ein Gericht zuletzt eine Unterbrechung mitten im Plädoyer der Verteidigung erlebt? In der jüngeren deutschen Rechtsgeschichte wahrscheinlich noch nie. Das wirkte unbeholfen, konzeptlos. Aber es half nichts, Jansen musste unterbrechen. Ohne guten Grund hätte seine Referendarin ihm dieses Buch nicht gegeben. Nicht jetzt.

Er ging in den Toilettenraum, es stank nach Urin und Klostein. In einer Kabine schlug er das Büchlein auf. Zeilen wie Schreibübungen, rechtschreibfehlergetränkt. Auf der ersten Seite ein Name: Lars, darunter das Alter: zehn. Jansen blätterte, nahm die Seiten in sich auf, Satz für Satz, Wort für Wort. Die Luft wurde stickiger, die Kabine kleiner, er löste seinen Krawattenknoten und öffnete den obersten Hemdknopf. Immer schneller flog sein Blick übers Papier. Da waren Zeichnungen, kindliche Striche, ein Raum, ein Bett, Flammen. Da waren Figuren, eine von ihnen mit riesigen Augen und aufgerissenem Mund, eine andere in Uniform, Polizei stand daneben. Wörter hielten sich nicht mehr an den Zwang der Linien und flossen quer über die Seiten. Tot gemacht, stand da und Sein Schreien tut in meinen Ohren weh. Durchstreichungen, Korrekturen, Auslassungen. Tintenkleckse groß wie Einschusslöcher. Wörter der Furcht, bis zur letzten Seite. Dort hatte Lars notiert: Schwarzer Mann mit Rauch.

Jansen schloss die Augen, zündete sich eine Zigarette an. Das Nikotin beruhigte.

Der Anwalt ist Organ der Rechtspflege, er ist dem Gesetz verpflichtet. Aber auch dem Mandanten.

Der letzte Mosaikstein. Das Unumstößliche. Jansen hatte es in der Hand. Von einem Moment zum anderen war er in diesem Fall zum Stellwerk geworden.

Eine Partnerschaft in der Kanzlei – bis eben war sie nur noch ein Plädoyer entfernt gewesen. Es hätte keine dreißig Minuten gedauert. Freispruch für Maik Winkler, ein Kinderspiel. Es wäre Jansens Verdienst gewesen. Und jetzt das hier. Ein Tumor, der die Akte Winkler aus dem Nichts befallen hatte.

Jansen betrachtete das Büchlein von allen Seiten. Er zog an seiner Zigarette und blies den Rauch aus. Vielleicht war es gar nicht so unumstößlich. Womöglich erlaubte sich irgendjemand einen schlechten Scherz mit ihm, vielleicht seine Referendarin selbst, sie war ihm von Anfang an etwas weltentrückt vorgekommen. War es überhaupt echt? Es konnte ebenso gut ein Fake sein, hingekritzelt, um ihm, Hannes Jansen, den Prozess zu verhageln. Andererseits war das Papier der Seiten knitterig und angegilbt. Auf dem Buchdeckel streckte Bob der Baumeister seine rot-blaue Bohrmaschine gen Himmel, so was gab es heutzutage wahrscheinlich gar nicht mehr zu kaufen. Das Buch war alt, daran bestand kein Zweifel.

Der Rechtsanwalt ist zur Verschwiegenheit verpflichtet. Diese Pflicht bezieht sich auf alles, was ihm in Ausübung seines Berufes bekannt geworden ist.

Die Vorschrift aus dem Berufsrecht für Anwälte hing als Leitmotiv in der Kanzlei, Jansen kam jeden Morgen daran vorbei. Er hatte immer Strafverteidiger werden wollen, einer von den Bedeutenden, einer, über den die Medien berichteten. Boogs persönlich hatte ihm diesen Fall übertragen, der Altvordere, der Meister. Boogs hatte seine Fliege am Hemdkragen gerichtet und ihm die Akte in die Hand gedrückt – Jansens große Chance. Jetzt saß er rauchend auf einem Klo und hätte am liebsten geschrien. Wenn das Büchlein echt war, war sein Mandant ein Mörder. Die Staatsanwaltschaft würde Lars finden. Ein Augenzeuge. Schwarzer Mann mit Rauch. Sein Schreien tut in meinen Ohren weh. Besonders Schöffen reagieren auf so etwas. Unumstößlich.

Jansen konnte das Büchlein einfach entsorgen, er konnte nach draußen auf die Straße gehen, sein Feuerzeug drunter halten und es verbrennen oder mit Steinen beschwert in irgendeinem Gewässer versenken. Niemand würde etwas bemerken, außer die Kaiser, aber was sollte sie schon ausrichten? Eine Zeugin vom Hörensagen, unbrauchbar für eine Mordanklage. Das Unumstößliche wäre umgestoßen, eigentlich ganz einfach. Nur, Jansen war nicht Strafverteidiger geworden, um Beweismaterial zu vereiteln. Das war die rote Linie, kein Erfolg rechtfertigte es, sie zu überschreiten.

Jemand betrat den Raum. Jansen schmiss die Zigarette ins Klo.

»Hallo?« Es war einer der Wachtmeister. Jansen spülte und öffnete die Kabinentür. Der grimmige Schmidt sah ihn aus seinem Pausbackengesicht an.

»Ach, Sie sind’s, Herr Doktor. Rauchen is hier aber nich erlaubt.«

»Ich weiß.«

»Denn lassen Se dit ma besser.«

»Was lassen?«

»Na, det Rauchen ofm Klo.«

»Ich? Ich habe nicht geraucht.«

Schmidt zog die Augenbrauen zusammen. »Nix für unjut, Herr Doktor. Aber det glob ick jetz nich.«

»Wissen Sie was, Schmidt, ich verrate Ihnen mal ein Geheimnis. Wenn Sie mal beschuldigt werden, streiten Sie alles ab. Denn der andere muss Ihnen die Schuld beweisen. Verstehen Sie?«

»Hm«, machte Schmidt.

»Es ist ganz einfach. Nehmen wir an, Sie müssten als Zeuge zu der Frage aussagen, ob ich hier auf der Toilette geraucht habe. Was würden Sie antworten?«

»Na, det Se’s jemacht ham.«

»Vorsicht, ich könnte Sie beeiden lassen. Bei einem Meineid gibt’s mindestens ein Jahr Knast. Also: Können Sie mit Sicherheit sagen, dass ich es war?«

»Ick …«

»Haben Sie definitiv gesehen, dass ich hier geraucht habe? Können Sie hundertprozentig ausschließen, dass es nicht vielleicht doch ein anderer war?«

»Na ja, det hat nach frischem Qualm jestunken, und Sie waren hier der Enzigste. Und draußen ufm Flur war och keener, keene Menschenseele.«

»Und? Was besagt das?«

»Na, det nur Sie es jewesen sein können, der hier jeraucht hat.«

Jansen sah ihm in die Augen. »Aber tatsächlich gesehen haben Sie mich nicht, richtig?«

»Ne, det nich.«

»Und trotzdem behaupten Sie, dass ich es war. Wäre das nicht eine Lüge?«

»Wees ick nich. Hätt’ ja nur jesacht, was ick globe!«

»Glauben ist aber nicht wissen.«

»Hm.« Schmidt wölbte die Lippen. »Is ja och egal. Beim Jericht wird ja doch nur jelogen, det sich die Balken biegen!« Er lachte und zog kopfschüttelnd ab.

Jansen ging zurück. Die Tür zum Verhandlungssaal war geschlossen, die Bühne dahinter wartete. Ein Stück in fünfundvierzig Akten. Im letzten stirbt immer der Held.

· TEIL 1 ·

1

SEPTEMBER 2017

Ein blauer Mittagshimmel rahmte den Genfer Flughafen, die Leute suchten Schattenplätze in den Cafés. Sophie Tauber bestellte einen doppelten Espresso und ein paar Vanillekipferl. Seit fünf Uhr früh war sie auf den Beinen. Nach dem Anruf des Arztes heute Nacht hatte sie nicht mehr in den Schlaf zurückgefunden, hatte stattdessen ein Ticket gebucht und eilig ein paar Sachen gepackt. An Essen war nicht zu denken gewesen, jetzt knurrte ihr Magen. Der Kellner servierte lächelnd. Sie nahm den ersten Bissen mit geschlossenen Augen, und während sie aß, verstummten die Geräusche um sie herum, ein Moment im Vakuum. Die Kipferl waren frisch und süß und nicht zu bröselig, aber mit denen ihrer Mutter nicht zu vergleichen. Mutter hatte immer ein Geheimnis aus ihrer Rezeptur gemacht, doch Sophie war schon als Kind dahintergekommen: Marzipan – Mutter hatte immer eine Spur Marzipan dazugegeben. Kaum zu schmecken und doch unverwechselbar.

Sophie zahlte, band sich die blonden Haare zu einem Zopf und verließ das Café. Ihr grüner Peugeot stand am alten Platz hinter der Tankstelle, dort, wo sie ihn vor einigen Wochen zurückgelassen hatte. Sie war öfter hier gewesen in den letzten Monaten, Mutters Krankheit hatte es erforderlich gemacht. Eine krustige Staubschicht lag auf Lack und Scheiben, doch auch heute versagte er nicht den Dienst und sprang beim dritten Versuch an.

Bis rauf nach Visp, der letzten wirklichen Zivilisation auf dem Weg zum Matterhorn, waren es knapp zweieinhalb Stunden. Sommerstraßen, Bergpässe, trocken und touristenfrei. Nur ein paar Radfahrer suchten an den Steigungen den Kampf mit sich selbst.

Das Lenkrad klebte in Sophies Händen, der Innenraum des Wagens kam ihr ungewöhnlich klein vor. Die stickige Luft nahm ihr schier den Atem.

Sie hielt an, stieg aus und sog ihre Lunge voll Luft. Kalte, klare Bergluft. Am Straßenrand fiel die Sennenschlucht ins Nirgendwo. Als Kind hatte sie sich gewünscht, am Fuße der Schlucht den Bachlauf entlangzustiefeln, auf der Suche nach verbotenen Höhlen und dunklen Geistern. Ihre Mutter hatte nur den Kopf geschüttelt.

Sophie lehnte sich ein Stück nach vorn und blickte nach unten, wo der Bach sich glitzernd durch bemooste Felsvorsprünge schlängelte. Irgendwann würde sie dort unten entlangspazieren. Nur nicht jetzt. Jetzt wartete der Arzt. Sie ging zurück und stieg wieder in den Wagen.

Ein Straßenschild zeigte sechshundert Meter über dem Meer, der Peugeot hangelte sich Kilometer für Kilometer vorwärts. Sie trat aufs Gas.

In Visp stellte Sophie den Wagen im Touristenparkhaus ab und nahm für die restlichen dreißig Kilometer die Bahn; seit Jahren waren in Zermatt Verbrennungsmotoren verboten.

Im Abteil hing Schweißgeruch, ein dicker Mann auf dem Sitz gegenüber mochte dafür verantwortlich sein. Neben ihm saß ein schmächtiger Bengel, Mitte zwanzig vielleicht. Sein Gesicht war blass, die Augen gerötet. Auf der Stirn hatte er kleine rote Pickel, und er blinzelte unentwegt. Er trug breite Kopfhörer, Sophie konnte Gitarren und eine Frauenstimme hören, und schaute starr durch die Fensterscheibe. Sophie stand auf und öffnete das Klappfenster. Draußen zogen Wiesen vorbei, auf denen hellbraune Kühe grasten.

Abrupt bremste der Zug, der Rückstoß drückte Sophie zurück in den Sitz. Der Gestank von verbranntem Gummi kroch ins Abteil. Sie standen mitten in der Walachei. Der Junge wandte sich um und starrte dem Dicken ins Gesicht. Der Dicke klopfte ihm auf den Oberschenkel und lächelte dabei in Sophies Richtung. Sie hörte den Wind draußen wehen, als der Junge die Augen aufriss und den Kopf zu ihr drehte.

Er begann zu husten. Zunächst war es nur ein Hüsteln, einzelne Stöße ließen seinen Oberkörper zucken. Die Intervalle wurden kürzer, sein Gesicht wurde rot. Er riss sich die Hörer vom Kopf. Er hustete in einem fort, er rang nach Luft, die Augen waren riesig und traten hervor. Bronchiale Hyperreagibilität, zweifellos Asthmatiker.

»Kann ich helfen?«, fragte Sophie.

Der Dicke stellte den Jungen auf die Beine, schüttelte seinen Körper. Der Junge drehte sich, stieß den Dicken weg, der stolperte und fiel zurück in den Sitz. Sophie stand auf und sprach auf den Jungen ein. Er hatte den Kopf nach oben gerissen, Augen und Mund weit offen, und griff mit beiden Händen um seinen Hals. Er fiel auf die Knie, kramte hastig in seinem Rucksack. Seine Hände gehorchten ihm nicht. Er hustete immer weiter, immer kehliger. Sophie entriss ihm den Rucksack und kippte den Inhalt auf den Boden. Sofort stürzte sich der Junge auf einen Inhalator, aber seine Finger waren steif, er bekam das Spray nicht zu fassen. Sophie wollte eingreifen, doch der Dicke drängte sich dazwischen. Er nahm die kleine Dose und steckte das Frontstück in den Mund des Jungen. Zwei Stöße, danach einen weiteren. Der Junge zog das Aerosol tief in seine Bronchien. Er schloss die Augen. Seine Atmung beruhigte sich, das Husten ebbte ab. Der Dicke tupfte ihm mit einem Taschentuch die Stirn trocken.

»Asthma«, erklärte der Mann und hob den Jungen auf den Sitz. Sophie half ihm, den Rucksack einzuräumen.

»Ja«, sagte Sophie. »Ich bin Ärztin.«

»Wir sind auf dem Weg ins Sanatorium, oberhalb von Zermatt. Es soll sehr gut sein.«

»Das ist es«, sagte Sophie. »Es liegt mitten in den Bergen, etwas abgeschieden, aber bis runter nach Zermatt sind es nur ein paar Autominuten. Wirklich sehr schön.«

Der Junge öffnete die Augen.

»Wieder besser?«, fragte sie ihn.

»Mein Sohn spricht nicht«, sagte der Mann.

»Oh.« Sophie lächelte. »Das Sanatorium genießt jedenfalls einen hervorragenden Ruf. Wird ihm sicher guttun.« Sie räusperte sich und sah wieder aus dem Fenster. Die Kühe grasten unverändert auf der Weide. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung und fuhr durch ein Waldstück, das ihr als Kind unendlich vorgekommen war.

»Mein Sohn heißt Lars«, sagte der Dicke.

Sophie sah den jungen Mann an. »Hallo, Lars.« Sie hielt ihm die Hand entgegen.

»Er mag keine Berührungen von Fremden. Aber er ist ein guter Kerl.« Der Dicke wuschelte ihm durchs Haar.

Sophie zog ihre Hand zurück. Der Mann schloss das Fenster, sein Sohn ließ sie nicht mehr aus den Augen.

Die Bahnhofshalle von Zermatt war kalt und feucht. Sophie wickelte sich ihren Schal um und ging nach draußen. Der Dicke und sein Sohn wurden abgeholt, sie stiegen in ein weißes Elektro und verschwanden. Sie winkte einem Taxi.

Das Krankenhausgebäude ragte steil empor, fast schien es auf sie herabzukippen. Schnell ging sie hinein. Die Frau am Empfang nannte ihr die Station, Sophie lief über Flure mit Neonlicht. Es roch nach Desinfektionsmittel. Der Fahrstuhl brachte sie hoch zur Elf. An einer Satinglastür klingelte sie und nannte ihren Namen. Das Schloss surrte, ein weiß bekittelter Mann begrüßte sie. Dr. Maurer stand auf dem Schild an seiner Brust, ein Stethoskop hing um seinen Hals. Seine Augen waren klein, die Haut grau.

»Kommen Sie«, sagte er und ging voraus. In seinem Büro nahm sie das angebotene Glas Wasser und leerte es in einem Zug. Dr. Maurer schenkte nach. Sie setzte sich vor seinen Schreibtisch.

»Ihre Mutter ist ruhig eingeschlafen.« Er räusperte sich. »Sie hat nicht gelitten.«

Nicht gelitten. Sophie nahm es ihm nicht übel, sie selbst sagte diese Worte oft zu Angehörigen. Bei den ersten Toten fallen sie schwer, mit der Zeit wird es Routine. Dr. Maurer betrieb das, was Ärzte betreiben, wenn die Grenzen ihres Fachs überschritten sind: Floskelflucht.

»Wussten Sie, dass meine Mutter Krankenschwester war?«

»Ach, wirklich? Hier im Haus? Auf welcher Station war sie?«

»Innere. Ein paar Jahre, bis sie nach oben ins Sanatorium wechselte.«

»Oh, sehr schön. Das Zermatter Sanatorium ist berühmt. Viele Prominente.«

Ob der Junge prominent war? Oder sein Vater? Sie sahen nicht danach aus. Aber wie sehen Prominente schon aus? Vielleicht sitzen sie in einem Zugabteil neben dir, und du erkennst sie nicht.

»Ich möchte zu ihr«, sagte Sophie.

»Natürlich.« Dr. Maurer zog die Schreibtischschublade auf. »Das hier«, sagte er, »hat mir Ihre Mutter für Sie gegeben.« Er überreichte ihr einen vergilbten Umschlag.

Ein Brief, nach so langer Zeit. Er war an ihre Mutter adressiert und mit einer kanadischen Briefmarke frankiert. Sophie hielt ihn gegen das Licht, ein Poststempel aus dem Jahr 1979.

»Alles in Ordnung?«, fragte der Arzt.

Sophie nickte.

»Die Stationsschwester wird Sie bringen«, sagte er und verließ den Raum.

Sophies Augen brannten, ihre Finger zitterten. Das Arztzimmer – Linoleumboden, der Medikamentenschrank weiß und steril – wirkte hell und freundlich, fast wie ihr eigenes Büro im Institut. Aber es verfehlte seine Wirkung. Schwere erfasste Sophie, ließ die Erkenntnis sacken, dass es ihre Mutter nicht mehr gab.

Eine Schwester betrat den Raum und sagte leise: »Kommen Sie.«

Sie führte Sophie über den Stationsflur in ein Zimmer am Ende des Gangs. Ihre Mutter lag mit geschlossenen Augen auf einem Bett. Ein Kruzifix an der Wand wachte über sie. Ihre faltigen, kleinen Hände ruhten übereinandergeschlagen auf der Brust, das Gesicht hatte sich gelblich gefärbt. Sie war eine schöne Tote. Sophie erschrak über diesen Gedanken. Sie zog einen Hocker heran und setzte sich. Die Wangen ihrer Mutter waren kalt, und doch fühlten sie sich an wie immer, weich, etwas schlaff hingen sie herab. Sophie nahm ihre linke Hand, streichelte sich damit über das Gesicht und küsste die knochigen Finger. Sie legte ihren Kopf auf die Brust ihrer Mutter und schloss die Augen.

Das Haus würde sie verkaufen müssen. Es befand sich in einem furchtbaren Zustand, Mutter hatte Jahre nichts daran gemacht. Das Dach war undicht und das Holz der Fassadenblenden morsch. Die Fenster entsprachen schon lange nicht mehr den energetischen Anforderungen und überhaupt: Kein Mensch kaufte heute noch ein Haus in einem aussterbenden Bergdorf, auch wenn Zermatt nicht weit war.

Sophie setzte sich aufrecht und holte den Brief hervor. Sie nahm die Seiten heraus. Meine liebe Milla, las sie. Und sie las weiter, nahm die Zeilen in sich auf und berührte sie mit den Fingerspitzen. Die Entscheidung war richtig, ich konnte nicht bleiben. Sophie hörte den Klang der unbekannten Stimme, eine gesprochene Umarmung. Ich vermisse Dich so sehr. Aber es ging nicht anders. Sie stellte sich den Mann vor. Groß war er und fein. Er besaß gepflegte Hände und trug einen Anzug. Seine ergrauten Haare waren kurz geschnitten, ein Lächeln auf den Lippen. Tränen fielen Sophie auf die Hand.

Ihre Mutter lag da und schien ihrer Tochter zuzuhören, wie sie wortlos die Zeilen des Briefes las. Sie blätterte weiter und spürte die Wärme, die von den Zeilen ausging. In Liebe, Richard. All die Jahre hatte ihre Mutter geschwiegen, hatte ihn für sich behalten, diesen Mann, hatte ihn im Herzen getragen und sich der Tochter nicht offenbart. Bis jetzt.

Richard. Ein schöner Name. Einer, bei dem sich Sophie geborgen gefühlt hätte. Eine kanadische Briefmarke. Gezackte Ränder, ein Brief ohne Absender. Die Empfängeradresse war mit Füllfederhalter geschrieben, die Buchstaben des Namens Milla Tauber waren leicht zerlaufen und wie Wolken nach unten verschwommen. Sie steckte den Brief zurück in die Handtasche.

In Liebe, Richard.

Sophie küsste ihrer Mutter die Stirn. Sie roch nach Vanillekipferl. Mit einer Spur Marzipan.

2

OKTOBER 2017

Es war tatsächlich noch ein Tisch frei im Café Paris, ein Zweiertisch am Fenster in einer hölzernen Nische, und das an einem Samstagmittag. Hätte Jansen es nicht besser gewusst, dann hätte er es als Zeichen für einen guten Tag gehalten.

Die kleine, tageslichtdurchflutete Halle des Café Paris wurde von einer vier Meter hohen, gewölbten Jugendstildecke überragt, die – ebenso wie die Wände – cremefarben gekachelt war. Der lange Mahagonitresen, die Bar dahinter mit Flaschen von Pastis und Cointreau, die Bilder und Schilder mit französischen Retromotiven und die Vitrine, freundlich gefüllt mit Birnentarte und Macarons, vor allem aber die umtriebige Stimmung und die regelmäßige Schlange von Gästen, die bei einem Gläschen Champagner auf einen Tisch warteten, vermittelten ein einzigartiges Frankreich-Flair inmitten der Hamburger Innenstadt. Jansen liebte es.

Er schnappte sich eine Tageszeitung vom Tresen, bestellte Milchkaffee und ein Croissant und zwängte sich durch die engen Stuhlreihen und die sich unterhaltenden oder lesenden Gäste zum letzten unbesetzten Platz. Er schlug die Zeitung auf, überflog die Überschriften, konnte sich aber nicht auf den Inhalt der Artikel konzentrieren. Die Menschen um ihn herum waren zu laut. Dazu zischte die Espressomaschine, Geschirr klapperte. Er nahm sein Handy und prüfte den Stand seines Girokontos. Der Dispokredit war ausgereizt, Mitte des Monats, zwölf Prozent Zinsen auf gut zehntausend Euro. Das musste ein Ende haben, die Bank rief inzwischen häufiger an, zuletzt sogar im Büro. Die Trennung kostete Geld, die zusätzliche Wohnung, der doppelte Haushalt, das zweite Auto und nicht zuletzt der Unterhalt für Rieke. Er könne nicht mit Geld umgehen, hatte sie ihm erst neulich vorgeworfen, als es mal wieder um die Höhe seiner Zahlungen an sie gegangen war. Sie konnte nicht verstehen, dass er unvermeidbare Ausgaben hatte. Als Anwalt in einer solchen Kanzlei konnte er nicht mit Billiganzügen antreten und auch nicht mit Mandanten beim Griechen um die Ecke Gyros essen. Jansen hatte, auch wenn Rieke über dieses Bild den Kopf schütteln mochte, gerade den Blinker gesetzt und war nach links auf die Überholspur ausgeschert. Und auf der Überholspur tat man im Wesentlichen eines: überholen. Das kostete Geld, aber das waren Investitionen in die Zukunft. Zugegeben, sein Segelboot auf der Alster war Luxus, auch wenn das Boot nur neun Meter maß. Und auch die ein oder andere Flasche Champagner am Wochenende in den Bars der Stadt müsste nicht sein, genauso wenig wie die gelegentlichen Wetteinsätze beim Pferderennen. Aber Rieke ließ dabei außer Acht, dass er siebzig Stunden in der Woche arbeitete. Ein Wunder, dass ihm überhaupt Zeit zum Geldausgeben blieb. Und in dieser knapp bemessenen Zeit außerhalb von Büro oder Gerichtssaal gehörte ein wenig Dolce Vita für ihn dazu. Jansen winkte der Kellnerin und bestellte ein Glas Prosecco.

Aber es war schon richtig: An seiner Vermögenssituation musste sich dringend etwas ändern, die rote Zahl mit dem Minus davor wuchs wie ein Geschwür.

Und jetzt noch der Brief von Kollmann. Jansen kramte ihn aus der Jackentasche. Rechts – von oben nach unten – die Namen der Partner, Kollmann an vierter Stelle. Er hatte es geschafft, er war Partner in einer Kanzlei mit über zwanzig Anwälten. Nicolai Kollmann, juristisch talentfrei, zu Studentenzeiten hatten sie ihn ausgelacht. Kein Mensch verstand, wie er das zweite Examen bestanden hatte. Doch das war lange her, heute fragte keiner mehr nach Noten. Heute war Kollmann ihnen allen zwei Schritte voraus.

Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Jansen, lieber Hannes. Er sah das Grinsen in Kollmanns Pausbackengesicht und las bis zum Ende. Daher bitte ich Dich vielmals um Verständnis, dass meine Mandantin nunmehr Ausgleich der Forderung binnen zwei Wochen erwartet, anderenfalls müsste Klage erhoben werden.

Die Kellnerin, eine zierliche Frau, höchstens zwanzig, stellte lächelnd Milchkaffee, Prosecco und einen Teller mit dem Croissant vor Jansen ab. Er rührte Zucker in den Kaffee und biss in das noch warme Croissant, das vor Butter troff – genau so musste es sein. Kollmanns Brief faltete er wieder zusammen und steckte ihn zurück in die Jackentasche. Jansen nahm das Glas und trank einen Schluck Prosecco.

Draußen hatte der Wind aufgefrischt, er zerrte an den Haaren der Passanten. Sonne und Wolken wechselten sich ab, der seit Tagen anhaltende Regen hatte heute früh aufgehört. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite versuchte ein Mini Cooper, in eine Lücke zwischen zwei Fahrzeugen einzuparken – ein Schauspiel. Immer wieder setzte die Fahrerin vor, schlug ein, fuhr zurück. In die Parkbucht hätten zwei Autos von der Größe ihres Minis gepasst, doch was sie auch tat, sie brachte ihren Wagen nicht hinein. Inzwischen war die Vorführung auch anderen Gästen aufgefallen. Einige lachten, und ein junger Kerl mit Vollbart zeigte mit dem Finger nach draußen und schüttelte den Kopf. Irgendwann hatte sie es geschafft und ihren Wagen zum Stehen gebracht, wenngleich etwas schräg, mit dem rechten Hinterrad stand sie auf dem Gehweg. Als sich die Wagentür öffnete, stieg ein Mann mit langen, zu einem Zopf gebundenen Haaren aus. Jansen schüttelte über sich selbst den Kopf und musste leise lachen. Die Fahrerin, die ein Fahrer war, nahm einen Einkaufskorb aus dem Kofferraum und ging in Richtung Alster, ohne sich ein einziges Mal zum Café oder seinem Mini umzusehen. So leicht konnte man sich täuschen.

Kollmann. Damals hatten sie ihn Lippe genannt, wegen seiner wulstigen Mundpartie. Vielleicht stimmte das Sprichwort tatsächlich, nach dem man sich im Leben immer zwei Mal sah. Das zweite Mal war jetzt gekommen, und es war sturmflutartig über Jansen hereingebrochen: Die Kreditlinien waren fast überschritten, die Verbindlichkeiten durch Unterhalt und sonst was wurden größer, und genau jetzt setzte Kollmann dem Ganzen das Sahnehäubchen auf – eine Forderung so groß wie Kollmanns Überlegenheit. Jansen winkte der Kellnerin, zahlte und ging.

Zum Büro nahm er die Straßenbahn, bis vierzehn Uhr war es noch etwa eine Stunde. Boogs hatte es vorhin am Telefon dringend gemacht, vermutlich hatte Kollmanns Schreiben virusartig schon die ganze Kanzlei infiziert, und jetzt war Jansen zum letzten Appell befohlen. Allerdings kannte niemand aus dem Büro den Inhalt des Schreibens, Kollmann hatte die Güte besessen, »persönlich/vertraulich« zu adressieren, sodass Jansen den Umschlag heute früh verschlossen auf seinem Schreibtisch vorgefunden hatte. Nicht einmal Frau Lange hatte in besonderer Weise darauf reagiert, obwohl sie es in der Regel als persönlichen Affront empfand, wenn sie ihren Pflichten als Sekretärin nicht nachkommen und Post nicht öffnen durfte.

An der Haltestelle Rödingsmarkt stieg Jansen aus und lief die letzten paar Hundert Meter zu Fuß. Die Kanzlei war erst vor Kurzem in die Hafencity umgezogen und belegte dort die beiden obersten Stockwerke eines gläsernen Bürohauses, das die Form eines Kreuzfahrtschiffes hatte und das den Anwälten einen Blick auf die Elbe bereithielt.

In der Eingangshalle grüßte der Mann vom Sicherheitsdienst freundlich hinter seinem Tresen. Er trug wie immer einen dunkelblauen Anzug mit weißem Hemd und eine Helmut-Schmidt-Mütze, die er zum Gruß kurz und kantig anhob.

Jansen nahm die Treppe bis in den elften Stock. Etwas außer Atem hielt er seine Chipkarte vor den Scanner, trat durch die surrende Glastür und ging in sein Büro. Akten stapelten sich auf dem Sideboard, er drehte die Heizung herunter und öffnete ein Fenster. Kaum hatte er die Jacke ausgezogen, klingelte das Telefon.

»Sehr gut«, sagte Boogs am anderen Ende ohne jede Einleitung. Zigarrentenor, keine Gefühlsregung. »Lassen Sie uns keine Zeit verlieren. Kommen Sie in mein Büro!«

Auch wenn Hannes die schroffe Art seines Chefs inzwischen kannte – ein solcher Anruf rief noch immer schlagartig Unwohlsein in ihm hervor. Ein Unwohlsein, das er aus Kindertagen kannte, wenn er etwas ausgefressen hatte. Wenn der Vater mit der Gerte im Stall auf ihn wartete und der kleine Hannes nur zu gut wusste, wie die Gerte ein brennendes Tänzchen auf seinen Handrücken vollführen würde. Ob Boogs seine Kinder auch mit Prügel erzogen hatte? Eher nicht. Boogs mochte es subtiler. Er war zu schlau für körperliche Gewalt.

»Kommen Sie rein. Kaffee?«

»Gern.«

Boogs, wie immer mit Tweedanzug, beigem Hemd und Fliege, reichte Jansen eine Tasse und goss ihm aus einer Kanne ein. Er lächelte und brannte sich eine Pfeife an. »Wie geht es Ihrem Vater, dem alten Haudegen?«

Rauch stieg empor, der Tabak roch nach Vanille und Pflaumen.

»Sie sehen ihn vermutlich öfter als ich. Sagen Sie es mir.« Jansen führte die Tasse mit beiden Händen zum Mund und trank.

Boogs lachte. »Er hat mir neulich ein Pferd verkauft, einen zweijährigen American Standardbred, pechschwarz und kraftvoll. Ein wunderbares Tier, aber noch ungestüm, ein ungeschliffener Rohdiamant.«

»Was haben Sie mit ihm vor?«

»Trabrennen. Ich werde ihn zum Trabrennpferd ausbilden lassen. Sie kennen sich damit doch aus, nicht?«

»Ich bin ein paar Jahre Mitteldistanz gelaufen. Mein Sulky steht bis heute bei meinem Vater im Gestüt. Lange her.«

»Ach, und wenn schon. Vielleicht kommen wir ja eines Tages auch in der Welt des Pferdesports mal zusammen.« Boogs ging hinter seinen Schreibtisch, auf dem sich nur eine einzige, dünne Akte befand. Das Leder knarzte, als er sich in den Sessel fallen ließ und die Rücklehne nach hinten wippte.

»Ich fürchte, mit Anfang vierzig bin ich dafür zu alt.«

»Ach, Unsinn«, entgegnete Boogs. »Man ist nie für etwas zu alt. Aber bitte, nehmen Sie doch Platz.«

Jansen setzte sich an den Besprechungstisch direkt neben dem Fenster. Die Glasplatte war frisch poliert, im Lichtschein, der von draußen hereinfiel, spiegelte sich der Raum. An den unbehandelten, rauen Betonwänden hingen mehrere Kandinsky-Gemälde, abstrakte Kunst, mit der Jansen wenig anfangen konnte. Kandinsky war Boogs’ Leidenschaft, er hielt ihn für einen Meister der Präzision. Es passte zu Boogs, im Zusammenhanglosen Zusammenhänge zu erkennen.

Vor dem Fenster zogen zwei Schlepper ein großes Kreuzfahrtschiff Richtung Hafen, die Passagiere winkten den Zuschauern am Ufer. Jansen wandte sich um. »Chef, Sie haben mich sicher nicht hergebeten, um mit mir über Pferderennen zu plaudern. Worum geht’s?«

Boogs stopfte den Tabak in der Pfeife nach und brannte ihn erneut an. Für einen Moment verschwand er hinter einer Rauchwolke, die sich jedoch schnell verflüchtigte. »Wie lange sind Sie jetzt bei uns, Jansen?«

»Seit knapp sechs Jahren.«

»Seit knapp sechs Jahren«, wiederholte der Alte. »Und gefällt Ihnen der Job?«

Inzwischen fuhren draußen ein paar Segeljachten stromaufwärts und zwangen den Kreuzfahrer zum Stopp. An Deck der beiden Schlepper gestikulierten Männer mit den Armen und forderten die Segler auf, den Weg frei zu machen.

»Darf ich ehrlich sein?«, fragte Jansen.

Der Alte nickte. »Das schätze ich an Ihnen.«

»Ich kann mehr.«

»Wie meinen Sie das?« Boogs legte die Pfeife auf den Rand des Aschenbechers.

»Ich kann mehr als Gelegenheitsdealer vertreten oder Ärzte mit Kunstfehlern.«

»Oh, das glaube ich Ihnen, junger Mann. Aber Doktor Stantien ist ein verdammt wertvoller Mandant, er hat immer wieder Aufträge für uns, meistens sehr lukrative.«

»Das ist mir bewusst. Mischkalkulation und so weiter, schon klar. Ich scheue mich gar nicht, die unspektakulären Mandate zu übernehmen. Aber ich will an die großen Sachen.«

»Was ist mit dem Bonzio-Fall? War der nicht groß genug?«

Miroslav Bonzio, ein stinkreicher Industrieller, ihm gehörten eine Reihe von Firmen, angeblich verdiente er sein Geld mit dem Import von Tee und Kaffee. Es gab jedoch Gerüchte, er sei in internationale Drogengeschäfte verwickelt. Seine Frau hatte sich von ihm getrennt, es hieß, sie habe die geschäftlichen Verstrickungen ihres Mannes gegenüber den Ermittlungsbehörden offenbaren wollen. Einen Tag nach ihrem Auszug aus dem Anwesen an der Elbchaussee hatte man in einer Seitenstraße ihren Jaguar gefunden, sie saß mit aufgeschlitzter Kehle auf dem Fahrersitz.

»Mein erster Mord«, sagte Jansen. »Der einzige bislang.«

»Sie waren hervorragend«, sagte Boogs. »Ihr Riecher mit den Stofffasern aus dem Wagen von Bonzios Frau – besser kann man nicht verteidigen.«

»Ich bin bis heute nicht sicher, ob er es nicht doch war. Der Freund, der angeblich den Abend mit Bonzio verbracht hat, war nicht besonders glaubwürdig.« Jansen trank den letzten Schluck aus der Tasse, der Kaffee war kalt und schmeckte bitter.

»Ein Indizienprozess«, sagte Boogs. »Sie haben getan, was ein guter Verteidiger tut: Sie haben geredet, wo es zu reden galt. Und Sie haben geschwiegen, wenn Schweigen das einzig Richtige war. Ein guter Verteidiger weiß, dass es nicht seine Aufgabe ist, Lücken der Anklage zu füllen. Ein brillanter Verteidiger hingegen vermag es, diese Lücken überhaupt erst aufzutun. Streue Sand ins Getriebe, wo immer du kannst. Der Ankläger ist es, der jedes einzelne Korn beiseite räumen muss. Bonzio verdankt Ihnen die Freiheit. Und Sie haben sich nichts vorzuwerfen. Das ist es, was zählt – egal ob er es war.«

Neben der Akte auf dem Schreibtisch lag ein silberner, vermutlich sündhaft teurer Füllfederhalter, daneben ein Aschenbecher aus grünem Glas und eine Leuchte, die man mit einem kleinen Bändchen an- und ausschalten konnte.

Die Sonne kämpfte sich durch aufreißende Wolkenfelder und ließ die Elbe wie einen Scherbenhaufen glitzern. Die Segler hatten Platz gemacht, die Schlepper zogen den Kreuzfahrer weiter.

»Kommen wir zum Punkt«, sagte Boogs. »Der junge Hengst, den Ihr Vater mir verkauft hat, heißt Agonis. Wissen Sie, was der Name bedeutet?«

»Nein, was bedeutet er?« Der Name klang nach einem römischen Feldherrn oder einem griechischen Liebesgott – beides nicht unpassend für einen jungen Hengst.

»Der Erhabene. Schön, nicht?« Boogs nahm seine Pfeife in die Hand und stand auf. »Ich beobachte Sie, Jansen. Schon eine ganze Weile. Vor ein paar Monaten, im Bonzio-Prozess, da haben Sie gar nicht bemerkt, dass ich ein paar Mal im Zuschauerraum saß. Sie waren voll und ganz auf die Sache fokussiert, haben sich durch nichts aus der Konzentration bringen lassen. Haben die Angriffe der Staatsanwältin pariert, den medizinischen Sachverständigen vorgeführt und selbst dem Vorsitzenden eine Nachhilfestunde in Beweisverwertungsverboten erteilt. Sie waren gut. Verdammt gut.«

Der Alte setzte sich zu Jansen an den Tisch. Seine Gesichtshaut war gebräunt, Jansen wusste, dass er ständig ins Sonnenstudio rannte, um den Verfolgern des Alters zu entkommen. Boogs’ Haut sah ledern aus, Wangen und Stirn waren mit Falten überzogen und mit kleinen Leberflecken gesprenkelt. Aus der Nähe wirkte er wie ein Greis. Doch davon durfte man sich nicht täuschen lassen, Boogs besaß einen hellwachen Verstand und wusste ihn einzusetzen.

Jansens Rollkragen kratzte am Hals. Es war zu warm für Oktober. Wie war er heute Morgen nur auf die Idee gekommen, einen Rollkragen anzuziehen? Er fuhr mit der Hand unter den Stoff und versuchte ihn zu weiten, aber es half nichts, die Fasern zogen sich immer wieder zusammen und juckten auf der Haut.

»Vielen Dank«, sagte er. »Aber ich weiß noch immer nicht, worauf Sie hinauswollen.«

Boogs rückte näher an Jansen heran. »Auf Ihre Chance will ich hinaus.« Er griff nach der Akte auf dem Schreibtisch und drückte sie Jansen in die Hand. »Lesen Sie. Lesen Sie alles. Die fünfundvierzig dazugehörigen Ordner stehen in meinem Sekretariat, acht Umzugskartons. Montag in einer Woche erwarte ich Ihren Bericht. Neun Uhr früh, hier im Konferenzraum.« Er stand auf und trat ans Fenster.

Jansen schlug die Akte auf, Mordanklage gegen Maik Winkler. Der Ermittlungsrichter hatte Verdunkelungsgefahr angenommen und Untersuchungshaft angeordnet. Der Beschuldigte saß seit gestern in der JVA Burg, in der Nähe von Magdeburg. Dort hatte er bereits vor einigen Jahren gesessen, als er wegen desselben Vorwurfs schon einmal angeklagt, später aber freigesprochen worden war.

Jansen kannte den Fall aus Boogs’ damaligen Akten und hatte aktuell einiges in den Zeitungen gelesen. 2005 waren gegen Winkler, außerdem gegen einen seiner Kollegen und gegen den Dienststellenleiter Strafverfahren eingeleitet worden. Alle drei waren freigesprochen worden, der Freispruch gegen den Dienststellenleiter wurde allerdings vom Bundesgerichtshof aufgehoben und zur neuen Verhandlung an die untere Instanz zurückverwiesen. Ein großes prozessuales Durcheinander, das inzwischen zum Politikum geworden war. Die Linken im sachsen-anhaltischen Landtag forderten einen Untersuchungsausschuss. Da wirkte die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Maik Winkler schon jetzt wie ein großes rotes Ausrufezeichen.

»In zwei Wochen ist Termin zur Haftprüfung«, sagte Boogs und öffnete einen Fensterflügel. Der Wind ließ sein weißes Haar wie Spinnweben flattern. Im Gegenlicht war sein Gesicht schwarz, die Augenhöhlen erschienen Jansen ungewöhnlich tief. Einer der bekanntesten Anwälte der Stadt, von Richtern und Staatsanwälten geschätzt und gefürchtet, von Mandanten verehrt, stand da und starrte hinaus auf die Elbe, deren Wellen im Wind spielten wie tollende Welpen.

Jansen blätterte durch die Akte. Maik Winkler, Polizeibeamter, verheiratet, Vater einer Tochter, tadelloses Führungszeugnis. Spross einer Arbeiterfamilie aus dem Sächsischen, hatte sich bis zum Abitur gekämpft und war als einer von hundert bei der Polizeiakademie aufgenommen worden, Abschluss mit Auszeichnung. Zehnkämpferstatur, ehrgeizig, berechnend, aber immer charmant und mit einem Lächeln auf den Lippen.

»Fahren Sie zu ihm«, sagte Boogs. »Hören Sie ihn sich an. Dann sehen wir weiter.«

Jansen stand auf und stellte sich neben Boogs ans Fenster. Er schlug den Rollkragen um, was ohne Zweifel nicht besonders elegant aussah, aber nur so konnte er sich aus der Baumwollenge befreien. Die Luft war kalt, sie tat gut auf der Haut. Unten auf dem Wasser waren Schlepper und Kreuzfahrer nicht mehr zu sehen. Stattdessen hingen jetzt ein paar Optimisten in Luv und kreuzten scharf gegen die aufkommenden Wellen. »Sehen Sie.« Boogs zeigte auf die kleinen weißen Segel. »Der Nachwuchs hat Spaß an den Naturgewalten.«

Jansen nickte. »Warum ich? Und warum jetzt?«, fragte er.

Boogs verschränkte die Arme vor der Brust. »Es gibt zwei Dinge, die Sie wissen sollten, junger Freund. Das eine ist, dass ich sehr viel Potenzial in Ihnen sehe. Wenn der Prozess so läuft, wie ich es mir vorstelle, dann mache ich Sie zum Partner. Umgehend.«

Trockene Luft stieg vom Heizkörper unter der Fensterbank auf, die Rohre knackten. Winzige Staubpartikel tanzten in der Luft. Draußen schoss ein Vogelschwarm vorbei, unnatürlich schnell, aber in Formation, wie Metallspäne hinter einem Magnet.

»Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das ist …«

»Mein voller Ernst«, unterbrach ihn Boogs. »Schauen Sie, Jansen, Ihr Vater und ich kennen uns jetzt seit mehr als einem halben Jahrhundert. Wir haben viel zusammen erlebt, und noch nie hat er mir ein Pferd verkauft, das nicht seinen Preis wert gewesen wäre. Ich vertraue ihm, und deshalb vertraue ich Ihnen. Sie haben das Zeug dazu, groß rauszukommen. Und wenn ich ehrlich bin: Wir haben schon viel zu lange damit gewartet.«

Die warme Heizungsluft klebte an Jansens Gaumen. »Könnte ich etwas zu trinken bekommen?«, fragte er.

Boogs ging zum Schrank und nahm eine Colaflasche aus der Minibar.

Jansen trank in einem Zug, bis die Kälte in den Lungen brannte.

Es gab genau zwei Möglichkeiten. Erstens: Der Alte hatte die Aussichtslosigkeit der Verteidigung längst erkannt und suchte einen Dummen, der die Schmach des verlorenen Prozesses auf sich nahm. Dafür sprach Boogs´ unbeirrbares Gespür für Erfolg. Doch neben Jansen arbeiteten von den dreißig angestellten Anwälten mindestens zehn schwerpunktmäßig im Strafrecht, und die Frage war berechtigt, warum Boogs ausgerechnet Jansen für diesen Fall ausgesucht hatte. Wenn nur ein Fünkchen von dem stimmte, was Boogs gesagt hatte, dann sah er in Jansen tatsächlich Potenzial. Einen solchen Kollegen verheizte man nicht, das wäre töricht, denn schließlich musste auch ein Harald Boogs sich – mit seinen mittlerweile einundachtzig Jahren – allmählich Gedanken über die nachfolgende Generation der Kanzlei machen; sie war es, die ihm die Altersrente in Form einer siebenstelligen Abfindung sicherte. Ein Pferd, das ausbaufähig war, setzte man nicht bei unbedeutenden Rennen ein, das Verletzungsrisiko war viel zu groß.

Die zweite Möglichkeit bestand also schlicht darin, dass Boogs es ernst meinte mit Jansen. So einfach war das: Der Alte gab Hannes Jansen die erste große Chance, auf der Überholspur Gas zu geben, und wenn Jansen es recht bedachte, erschien ihm diese zweite Möglichkeit als die einzig konsequente.

»Chef, Sie sehen mich sprachlos.«

»Sprachlos? Sie? Und das auf meine alten Tage. Wunderbar!«

Zwei der Optimisten auf dem Wasser waren zusammengestoßen, ihre Segel hatten sich ineinander verkeilt.

»Jugendlicher Leichtsinn«, sagte Boogs und deutete auf die Boote.

Jansen stellte die Colaflasche auf den Tisch. »Ich will offen sein. Wenn ich das Mandat übernehme, mit dieser Chance, dann muss ich Ihnen etwas sagen. Es ist mir unangenehm, und ich …«

Boogs lachte. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich weiß von Ihrem kleinen – sagen wir mal – unternehmerischen Ausrutscher. Vermutlich auch eine Art jugendlicher Leichtsinn. Kann passieren.«

Boogs wusste also bereits von Kollmanns Schreiben, er kannte die Forderung, die vonseiten der Bürgschaftsbank gegen Jansen erhoben wurde. Wie hatte er nur davon erfahren? Vielleicht auf der Trabrennbahn, als er neben einem der Bankvorstände stand, Champagner in der Hand, und mit ihm ins Gespräch kam? Oder über einen Partner von Kollmann, den Boogs aus dem Golfklub oder von den Rotariern kannte? Fest stand: Der Alte war im Bilde über Jansens finanzielle Schwierigkeiten, und dennoch ließ er sich nicht davon abbringen, ihm das Mandat anzuvertrauen.

»Wie haben Sie davon erfahren?«, fragte Jansen.

»Wie viel ist es?«, fragte Boogs.

Jansen zog Kollmanns Schreiben aus der Hosentasche und gab es dem Alten.

Boogs schlug das Papier auf. »Zweihundertfünfzigtausend. Weniger, als ich befürchtet hatte. Wir halten diesen Kollmann hin, bis der Winkler-Prozess beendet ist. Dann bekommen Sie einen kleinen Bonus und gleichen diese lästige Unannehmlichkeit aus – mit Zinsen. Und die Gebühren des Kollegen Kollmann überweisen Sie dann auch noch davon, und zwar mit einem Lächeln auf den Lippen.«

Die Optimisten hatten ihre Minihavarie behoben, die Segel standen wieder fest im Wind.

»Ich hatte einem sehr guten Freund vertraut – und an seine Geschäftsidee geglaubt«, sagte Jansen. »Ich war ziemlich naiv.«

»Sie waren überzeugt von einer Idee«, entgegnete Boogs. »Manchmal liegen Überzeugung und Naivität dicht beieinander. Trotzdem sollten Sie sich niemals von Ihren Überzeugungen abbringen lassen.«

»Was ist, wenn ich den Prozess verliere?«, fragte Jansen.

»Das wird nicht passieren. Vertrauen Sie mir. Cognac?«

»Einen großen, bitte.«

Unwillkürlich lachten beide.

Fünfundvierzig Aktenordner hatte Boogs gesagt, acht Umzugskartons. Heute war Samstag, Jansen hatte eine gute Woche. Realistischerweise bestand ein Aktenordner aus fünfhundert bis sechshundert Blatt, bei Bildanlagen, eingehefteten Gutachten und großformatigen geografischen Karten oder technischen Zeichnungen, die auf A4-Format zusammengeknickt waren, deutlich weniger. Allein das gewissenhafte Studium dieses Umfangs an Papier ließ sich unmöglich in dieser kurzen Zeit bewerkstelligen.

Boogs schenkte zwei Gläser voll und stieß mit Jansen an.

»Bis wann, sagten Sie, erwarten Sie den Bericht von mir? Montag in einer Woche?«

»Ist das ein Problem?«, fragte Boogs.

»Nein«, sagte Jansen und ging gedanklich die zehn Tage durch, die ihm blieben. Er würde sein Aktenstudium zunächst auf die bisherige Prozesshistorie konzentrieren, auf die Aussagen Winklers und der Zeugen. Vor allem aber auf ein neues rechtsmedizinisches Gutachten, das die erneute Anklage gegen Winkler überhaupt erst hatte möglich werden lassen. Jansen hatte davon in der Zeitung gelesen, ein aufsehenerregender Umstand, der bereits vorab in den Medien hohe Wellen schlug: Ne bis in idem – der lateinische Grundsatz, nach dem dieselbe Tat nicht zweimal angeklagt werden durfte, war in Artikel 103 des Grundgesetzes verfassungsrechtlich verankert. Von diesem Grundsatz ließ das Gesetz nur enge Ausnahmen zu. Die neuen Feststellungen eines Rechtsmediziners aus Berlin hatten offenbar ein solches Gewicht, dass sie diese Ausnahme rechtfertigen konnten. Das machte die Verteidigung nicht gerade einfacher.

Die Segler unten auf der Elbe ließen sich Richtung Hafen treiben. Ihre Segel gerade im Wind, Naturgewalten und jugendlicher Leichtsinn hatten einander versöhnt.

Boogs war Jansen noch eine Erklärung schuldig. »Was ist das Zweite?«, fragte er. »Was ist das Zweite, das ich wissen sollte?«

Boogs legte Jansen eine Hand auf die Schulter. »Das Zweite ist, dass ich einem Freund noch einen – sagen wir – Gefallen schuldig bin.«

»Einen Gefallen? Warum machen Sie es dann nicht selbst? Es gibt kaum einen besseren Strafverteidiger.«

»Tja, vielleicht«, sagte Boogs. »Aber vielleicht liegt meine beste Zeit auch schon hinter mir. Ich bin zu alt für eine solche Nummer.«

»Ach, Unsinn«, sagte Jansen leise. »Man ist nie für irgendetwas zu alt.«

Der Alte blickte auf und sah ihm direkt in die Augen. »Touché, Herr Kollege.«

Jansen schwenkte behutsam seinen Cognac. Ein samtiger Tropfen, hellbraune Färbung und ein Aroma aus Nelken, Leder und Feigen. Jansen musste seinen Vater wieder mal besuchen, viel zu lang hatte er ihn nicht mehr gesehen. Bei dem Gedanken an die Stallungen konnte Jansen die Silage beinahe riechen. »Zeigen Sie ihn mir?«, fragte er.

»Wen?«, fragte Boogs.

»Ihren Hengst. Agonis.«

Boogs nickte und hob sein Glas. »Ein ungeschliffener Rohdiamant. Er wird Ihnen gefallen.«

3

OKTOBER 2017

Der erste Nachtfrost hatte die Hausdächer gepudert. Hier in den Schweizer Bergen begann der Winter nahtlos, wenn der Sommer zu Ende ging. War es gestern noch erträglich warm gewesen, fluchten die Dorfbewohner heute über bissige Kälte. Mitunter kam es vor, dass die Leute nicht mehr miteinander sprachen, weil einer den anderen für den biblischen Wettereinbruch verantwortlich machte. Dann grummelte man sich auf der Straße an, und die Hunde knurrten. Als Kind hatte Sophie das oft erlebt, und ihre Angst vor den Alten im Dorf war sie nie ganz losgeworden.

Sie machte Feuer im Kamin und brühte Kaffee auf. Das Matterhorn sah ihr zu, seine schneebedeckten Gipfelzacken strahlten gelb zum Küchenfenster herein. Um neun hatte sie einen Termin mit dem Pfarrer und dem Bürgermeister, eine knappe Stunde blieb ihr noch, sie setzte sich mit dem Kaffeebecher vors Feuer. Es war seltsam, ganz allein in diesem Haus. Oft hatte sie hier gesessen, in Mutters Lehnstuhl, die Knie an die Brust gezogen und einen dampfenden Kakao in der Hand, während Mutter am Herd eine Züpfe vorbereitete, einen mit Butter und Eigelb bestrichenen Hefezopf. Es war eigenartig: Solange Mutter gelebt hatte, schien Sophie ein Gespräch mit ihr, eine Aussprache verschiebbar, bis zuletzt. Mutter war immer da gewesen, hier in diesem Haus, Sophie hätte nur zu ihr fahren müssen und mit ihr reden, sie hätte sie konfrontieren können mit den Fragen nach der Vergangenheit, hätte sie zur Rede stellen können, warum sie über ihren Vater schwieg. Flüge gingen ständig von Berlin nach Zürich, los, Sophie, nächstes Wochenende, nein, passt nicht, dann aber das darauffolgende. So ging es weiter, Woche für Woche, Monat für Monat. Bis vor ein paar Tagen, als die Nachricht aus dem Krankenhaus kam. Es war wie eine Ohrfeige, plötzlich die Gewissheit zu haben, nicht mehr bereinigen zu können, was zuletzt zwischen Mutter und Tochter gestanden hatte. Eine Ohrfeige, die einen dauerhaft roten Abdruck auf der Wange hinterließ.

Sophies Magen knurrte. Der Kühlschrank hielt gähnende Leere bereit, sie hatte vergessen, ein paar Lebensmittel einzukaufen, und stattdessen unten im Dorf gegessen. Die Kekse, die im Brotfach lagen, zerfielen bereits zu Staub. Die letzten Tage über hatte sie Inventur gemacht im Haus, sich mit den nötigen Vorkehrungen beschäftigt. Die Gemälde im Flur und in der Wohnstube waren billige Drucke, sie kamen zum Müll. Und die Möbel würde sie im Dorf verschenken, einige der alten Einwohner freuten sich gewiss darüber. Sie hatte die Kleidung ihrer Mutter aussortiert und ihre Dokumente gesichtet. Aus dem Küchenschrank kramte sie jetzt ein paar Dosen hervor. Was Mutter alles angehäuft hatte. Getrocknete Wiesenkräuter für den Tee, kleine, gerundete Handschmeichlersteine, die sie sicher im Bachlauf hinterm Haus gesammelt hatte, und eine Unmenge rostiger Schlüssel, die zweifellos vor Jahren ihre Bestimmung verloren hatten. Ganz hinten aus der Schrankecke zog Sophie jetzt eine hölzerne Zigarrenkiste hervor, die mit einem Einweckgummi umspannt war. Sie setzte sich an den Tisch und zog den Gummi ab. Fünf Fotos lagen in dem Kistchen, alle in Schwarz-Weiß. Auf einem: Männer in Uniform, in ihrer Mitte kniet eine Frau auf der Straße, ihre Einkaufstüte liegt auf dem Boden, und sie versucht, Äpfel und Kartoffeln und kleine Pappschachteln einzusammeln. Dann das Porträt einer Frau, nein: einer Dame. Sie hat eine Wasserwelle im schulterlangen Haar, ihre Augen sind dunkel geschminkt, und sie scheint glänzenden Lippenstift aufgetragen zu haben, das war sogar auf der alten Schwarz-Weiß-Aufnahme zu sehen. Verschmitzt dreht sie den Kopf zur linken Schulter und lächelt in die Kamera. Ein Blick, der Männer um den Verstand bringen kann. Zwei weitere Bilder kannte Sophie, auf ihnen war ihre Großmutter, Lea Rosenbaum, zu sehen. Kräftiges, vergilbtes Papier mit Zackenrand. Sie schaut ernst in die Kamera, sie ist vollkommen schwarz gekleidet und hat das Haar zu einem Dutt hochgesteckt. Eine stolze Person. Sie war im Krieg geblieben. So hatte es Mutter immer gesagt.

Die fünfte Aufnahme zeigte eine Waldlichtung, darin zwei Männer in Jagdtracht und mit Gewehren auf dem Rücken, die Herren rauchen Zigarre. Einer von ihnen hat sein rechtes Bein auf ein erlegtes Wildschwein gestellt, auf der Rückseite des Fotos der handschriftliche Vermerk: Mit Heinrich in Lutterloh, März ’35. Ein Riss ging durch das Papier, genau zwischen den beiden Männern hindurch, etwa bis zur Mitte, er war mit einem vergilbten Tesa-Streifen geflickt worden.

Warum hatte ihre Mutter diese Bilder aufbewahrt? Es gab hier nichts anderes aus ihrer eigenen Vergangenheit. Zumindest war Sophie, als sie sich die letzten Tage im Haus umgesehen hatte, nichts Besonderes aufgefallen. Jetzt allein diese wenigen Fotografien und der Brief. Mehr nicht? Sie steckte die Bilder und den Brief in ihre Handtasche.

Als ihr Handy klingelte und sie die Nummer im Display sah, überlegte sie einen Augenblick, ob sie das Gespräch entgegennehmen sollte. Das Institut und ihre Arbeit in Berlin lagen, obwohl sie erst ein paar Tage fort war, in einer anderen Welt, und jene Welt, mit ihrer sterilen Ordnung und dem Lärm der Straßen, gehörte nicht hierher, nicht in die Berge, nicht zu Mutter, nicht in Sophies Kindheit. Aber sosehr sie hier die Ruhe und den Duft der Wiesen genoss, sosehr brauchte sie inzwischen die Stadt zum Atmen.

»Guten Morgen, Herr Professor Bender.«

»Guten Morgen, Frau Doktor Tauber. Ich möchte nicht lange stören, ich weiß, Sie haben ganz andere Dinge im Kopf. Aber eines sollten Sie wissen. Baier hat mich eben angerufen, die Oberstaatsanwältin aus Magdeburg. Sie wird gegen Winkler Anklage erheben. Ich gratuliere!«

Wochenlange Arbeit, unzählige Versuchsreihen, zuletzt mit einem Schweinekadaver, und die nicht endenden Diskussionen mit dem Team, die Fotodokumentationen, die Auswertungen der Brandanalysen und das Zusammenfassen der endgültigen Ergebnisse – anscheinend hatte sich das alles wirklich gelohnt.

Sophie ließ sich in den Lehnsessel fallen. »Sitzt Winkler in Untersuchungshaft?«

»Seit gestern Abend.«

»Wegen Mordverdachts?«

»Ja, wegen Mordverdachts. Wann sind Sie zurück in Berlin?«

»Was für ein Tag ist heute?«

»Samstag.«

»Ich kann Montagnachmittag im Institut sein.«

»Wunderbar«, sagte Bender. »Wir besprechen alles Weitere dann. Gute Arbeit, Frau Tauber. Wirklich gute Arbeit.«

Als Bender aufgelegt hatte, ging Sophie ins Bad und sah in den Spiegel. Sie betrachtete ihren Mund, der unweigerlich breiter wurde. Es stimmte: Sophie sah mit ihren achtunddreißig Jahren ihrer Mutter immer ähnlicher, die kleine, etwas nach oben gebogene Nase, die schmalen Lippen, die kräftigen Augenbrauen, alles an ihr glich der Mutter, wie sie auf Fotos aus den Sechzigern aussah, bis hin zum blonden Haar, das Sophie inzwischen auch nur noch schulterlang trug.

Dreißig Minuten später hielt der Pfarrer mit fleischigen, kraftlosen Fingern Sophies Hand und kondolierte. Auffällig: seine Knollennase, Rosazea, umgangssprachlich: Kupferrose. Hervorgerufen vermutlich – wissenschaftlich nicht belegt – durch Stress. Wodurch hatte ein katholischer Geistlicher Stress? Sie hatte den Mann viel jünger und energischer in Erinnerung, doch er schien sich dem natürlichen Lauf der Dinge hingegeben zu haben. Er wollte nicht mehr ändern, was nicht zu ändern war, und alterte mit den übrigen Dorfbewohnern allmählich dem Ende entgegen.

»Mein Kind«, sagte er, und Sophie zwang sich zu einem Lächeln.

Der Bürgermeister ließ sich entschuldigen, der Pfarrer sprach von unaufschiebbaren Amtsgeschäften, die ihm dazwischengekommen seien. Amtsgeschäfte waren natürlich wichtiger als der Tod einer Dorfbewohnerin; Tote können nicht wählen. Aber er werde, und das versprach der Pfarrer ihr bei der Heiligen Jungfrau Maria, dem Bürgermeister berichten und alles Notwendige veranlassen.

Sie redeten über eine Stunde miteinander. Milla Tauber hatte sich immer eine Bergbachbestattung gewünscht, was dem Pfarrer offenkundig ein Dorn im Auge war. Für ihn, einen Mann vergangener Generationen, gehörte ein Leichnam auf den Dorffriedhof, wobei nicht auszuschließen war, dass diese Überzeugung auch mit den damit einhergehenden Friedhofsgebühren für die Gemeinde in Zusammenhang stand. Das würde er natürlich niemals zugeben. Gott sei Dank war der Letzte Wille bindend, und so brauchte Sophie nicht viele Worte. Die Bestattung würde hinterm Haus im Grieztbach erfolgen. Die Kollekte sollte dabei der Reparatur der Kirchenorgel zugutekommen, wodurch Pfarrer und Gemeinde eine gewisse Satisfaktion für entgangene Friedhofsgebühren erlangten, was ihm, dem Mann Gottes, dann doch noch ein friedvolles Lächeln auf die Lippen zauberte.

Sophie nahm zwei der Fotos aus der Tasche. »Kennen Sie diese Frau oder einen der beiden Männer? Einer von ihnen heißt offenbar Heinrich, steht hinten drauf.«

Die Aufnahme mit den beiden Männern in Jägertracht legte der Pfarrer gleich wieder beiseite. Das Foto mit der schönen Frau sah er sich länger an. Dabei ließ er sich in seinen Sessel fallen. Er betrachtete das Foto, als sei viel mehr darauf zu sehen als nur eine einzige Frau. Schließlich gab er es Sophie zurück.

»Alle haben sie nur Daphne genannt. Ob das ihr richtiger Name war und wie sie mit Familiennamen hieß, wusste niemand, ich glaube, nicht einmal Milla. Ich habe Daphne Ende der Siebzigerjahre kennengelernt, ja, 1978 muss das gewesen sein. Es war mein erstes Jahr hier oben, und ich bin direkt in diesen furchtbaren Winter geraten. Wir waren von Schneemassen umgeben und von der Außenwelt abgeschnitten, die Lebensmittel wurden knapp. Und plötzlich stand diese Frau auf dem Marktplatz. Sie hatte der Bergwacht unten in Zermatt so lange Feuer unterm Hintern gemacht, bis ein Trupp mit schwerem Gerät zu uns vordrang. Sie verteilten Tee und Obst und für die Kinder Schokolade. Es war ein Freudenfest.« Der Blick des Pfarrers verlor sich im Raum. An der Wand hing ein großes Kruzifix mit einer Jesusfigur, deren Füße und Hände auf das Holz genagelt waren.

»1978«, sagte Sophie. »Im Juli 1979 wurde ich geboren. Wie alt war diese Daphne damals?«

»Das war es ja, was alle so faszinierte. Sie war weit über sechzig, und dennoch nahm sie diese körperlichen Strapazen auf sich.«

»Hm.« Sophie sah sich die Aufnahme noch einmal an. Darauf war Daphne höchstens zwanzig, eine bildhübsche, junge Frau, die etwas von Marlene Dietrich hatte, wenn sie im Blauen Engel Professor Unrath um den Verstand brachte.

»Warum hat sie das getan? Was hat sie hier hochgetrieben?«, fragte Sophie.

Der Pfarrer sah aus dem Fenster. Vor den Bergen waberte ein Wolkenschleier, die schneebedeckten Gipfel schimmerten weiß. »Ich habe keine Ahnung, mein Kind. Manche im Dorf hielten sie für ein Geschenk Gottes. Sie war häufig zu Besuch bei deiner Mutter, und die Leute im Dorf kannten und mochten sie. Im Dezember ’78 blieb sie einige Wochen. Danach habe ich sie nie wieder hier gesehen.«

»Woher kannte sie meine Mutter?«

»Das weiß ich nicht. Das weiß niemand.«

Sophie stellte sich neben den alten Ledersessel ans Fenster. Hier in den Bergen bestimmte die Natur das Leben der Menschen. Es gab Jahre, da kam der Schnee bereits im Oktober und blieb bis April. Wer vom Skiverleih lebte, freute sich, während die Bauern eine schlechte Ernte befürchteten und übellaunig wurden. Dann suchten sie Trost in der Kirche und im Wein und beteten jeden Tag zu Gott. Sophies Mutter war das Wetter einerlei gewesen. Als Krankenschwester im Zermatter Spital kam sie höchstens zu spät, wenn eine Lawine die Straßen verschüttet hatte oder ein paar Elektros auf glatter Fahrbahn ineinander geraten waren. Für Milla Tauber war immer Winter. Oder immer Sommer. Sie fuhr zur Arbeit und kam heim. Sie kochte Essen, schlug Holz für den Ofen und fütterte die Ziegen hinterm Haus. Sie wusch die Wäsche und ging jeden zweiten Tag in die Kirche. Alles blieb gleich. Tag für Tag. Eine Pulskurve ohne Ausschlag. Das Leben: eine Linie.

»Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?«

»Natürlich?«

»Kennen Sie einen Richard?«

Der Pfarrer drehte den Kopf zur Seite und sah überrascht zu ihr auf.

»Ist er … mein Vater?«

Der Pfarrer erhob sich mühsam aus dem Sessel, stellte sich neben Sophie ans Fenster und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Waren Sie schon einmal zur Beichte, Sophie?«

»Ja, gewiss. Warum?«

»Dann haben Sie sich schon einmal Gott anvertraut. Glauben Sie, Ihre Beichte ist bei ihm in guten Händen?«

»Ja, natürlich. Aber …«

»Das Sakrament der Beichte ist uns heilig. Der Büßer kann sich darauf verlassen, dass die Sünden, die er Gott anvertraut hat, niemandem sonst zur Kenntnis gelangen.«

»Ich verstehe nicht …«

»Ihre Mutter war bei mir, viele Male, sie hat ihre Seele gereinigt. Und Frieden mit Gott geschlossen. Lassen wir ihr diesen Frieden.« Dann ging er zur Tür und öffnete sie.

Sophie trat an dem Pfarrer vorbei in den Flur, drehte sich noch einmal um. »Lebt er noch? Richard, meine ich.«

Der Pfarrer holte tief Luft. »Das weiß ich nicht. Ich kannte ihn ja kaum. Er hatte damals eine Apotheke in Zürich. Hier in Zermatt war er nur an den Wochenenden, er hatte das Stieglerhaus unten am Markt gemietet und gab nicht viel preis von sich. Wir trafen uns hin und wieder, sprachen über das Leben in der Großstadt und spielten Schach, er war ein sehr guter Spieler, ich mochte ihn. Doch die Leute nannten ihn nur abfällig einen Städter, wollten nichts mit ihm zu tun haben. Milla hatte aber wohl schnell ein Auge auf ihn geworfen, und die beiden wurden ein Paar, haben schon bald geheiratet. Aber das war vor meiner Zeit hier oben.«

»Sie hat nie über meinen Vater gesprochen, wissen Sie«, sagte Sophie. »Sie hat nicht einmal seinen Namen erwähnt in all den Jahren, egal wie oft ich sie gefragt habe. ›Das Einzige, das du wissen musst‹, hat sie immer zu mir gesagt, ›ist, dass er uns sitzen gelassen hat.‹ Ich frage mich, was damals passiert ist. Warum er gegangen ist.«

»Das kann ich Ihnen leider auch nicht beantworten«, sagte der Pfarrer. »Milla und Richard waren außen vor hier im Dorf. Und Milla hat sich nicht darum geschert, was die Leute sagten, hat ihre Angelegenheiten immer für sich behalten. Ich glaube, sie hat ihn sehr geliebt. Man sah die beiden nur selten, manchmal im Café, von den Dörflern beäugt. Montags in der Früh fuhr er nach Zürich, am darauffolgenden Freitag kam er dann wieder zurück ins Dorf. Bis er eines Tages einfach fort war.«

»Wie meinen Sie das: einfach fort?«

Der Pfarrer zuckte mit den Schultern. »Es war ein Samstag, er war plötzlich nicht mehr da, die Fenster im Stieglerhaus blieben dunkel. Er war einfach weg, es gab keinen Richard Tauber mehr. Ich habe ihn nie wieder gesehen.«

Sophie griff nach seiner Hand. »Richard ist mein Vater, nicht wahr?«

Der Pfarrer sah zum Kruzifix an der Wand. »Er hatte einen guten Freund in Zürich, einen Herrn Eichbauer. Franz hieß er, glaube ich. Vielleicht kann er Ihnen weiterhelfen. Mehr weiß ich wirklich nicht.«

»Ist Richard mein Vater? Sagen Sie es mir, bitte.«

Der Pfarrer löste seine Hand aus Sophies und streichelte ihre Wange. Abermals holte er Luft. Und dann nickte er, ganz leicht, sodass man es kaum sah.

4

NOVEMBER 1938

Zuletzt hatte Carl seinen schwarzen Anzug bei Vaters Beerdigung getragen, im Sommer, es war erst wenige Monate her. Es war ein heißer Tag gewesen, und die ausladende Trauergemeinde, mit ihren bleiernen Gesichtern und den nicht endenden Beileidsbekundungen war in einem einzigen Schwitzen geeint gewesen. Viele waren in Uniform gekommen, tadellose, glatte Stoffe und glänzende Stiefel, die Vater das letzte Geleit gegeben hatten.

Carl betrachtete sich im Spiegel. Er kämmte sich das dicke blonde Haar aus der Stirn und zog den Krawattenknoten zu. Wie verkleidet sah er aus, wie ein Kellner ohne Gäste. Aber es musste sein, der Anzug war die richtige Wahl, ein Anzug unterstrich die Bedeutung, die Carl der Unterredung beimaß. Heinrich würde das sofort erkennen.