Die Wahrheit der Dinge - Markus Thiele - E-Book

Die Wahrheit der Dinge E-Book

Markus Thiele

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  • Herausgeber: Benevento
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Wo verlaufen die Grenzen von Schuld und Gerechtigkeit? Frank Petersen ist Strafrichter aus Leidenschaft. Er ist von der Unfehlbarkeit des Rechts und von der Kraft des Gesetzes überzeugt. Seine Urteile sind gerecht und objektiv. Als er wegen eines umstrittenen Rechtsspruchs heftig in Kritik gerät, droht sein Leben aus den Fugen zu geraten. Seine Familie wendet sich von ihm ab. Seine Frau macht ihm, dem Mann des Gesetzes, den schlimmstmöglichen Vorwurf: Er sei selbstherrlich und lasse sich von Vorurteilen leiten. Die Geschehnisse reißen ein altes Trauma auf: Corinna Maier, die in seinem Gerichtssaal den rechtsradikalen Mörder ihres Sohnes erschossen hat, bevor Petersen sein Urteil verkünden konnte. Plötzlich sind all die Themen von damals wieder präsent: Vorurteile, Fremdenhass, Selbstjustiz und die Grenzen des Rechtsstaats. - Wenn ein Richter über sich selbst richten muss: Blick in die Grauzonen des Justizsystems - Für Fans von True-Crime-Krimis und Politthrillern: inspiriert von zwei wahren Justizfällen - Moralisch brisante Fragen: Wo beginnt Schuld? Was ist Gerechtigkeit? - Spannende und kluge Unterhaltung für Leser von Ferdinand von Schirach und Bernhard Schlink Ein tiefgründiger Roman, der Fiktion und Realität verwebt Als Rechtsanwalt kennt Autor Markus Thiele den Gerichtssaal in all seinen Facetten. In seinem anspruchsvollen Justizdrama leuchtet er juristische Grauzonen aus. Aus der Verbindung von Fiktion und Realität entsteht ein scharfsinniger Roman, der zum Nachdenken anregt. Frank Petersen muss sich selbst mit Fragen konfrontieren, die er sich nie zu stellen getraut hat: Wer, wenn nicht er, trägt die Verantwortung für sein Handeln? Der Autor zeichnet das Psychogramm eines Mannes nach, der von sich glaubt, er wüsste, wo die Wahrheit liegt – und der an diesem Irrglauben zu scheitern droht. Ein hochaktueller Roman, der auf wahren Kriminalfällen basiert!

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MARKUS THIELE

DIE WAHRHEIT DER DINGE

ROMAN

Die Verwendung des Zitats aus Homo faber auf S. 67 erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags und stammt aus:

Max Frisch, Homo faber. Ein Bericht. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1957

Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr.

Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2021

Copyright deutsche Erstausgabe © 2021 Benevento Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Minion Pro, Bison Bold

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagmotiv: Marta Orlowska/Trevillion Images

ISBN: 978-3-7109-0093-8eISBN: 978-3-7109-5101-5

Für Marion

Inhalt

PROLOG

2015

1989

2015

1989

2015

1989

2015

1990

2015

1990

2015

1990

2015

9. JANUAR 1991

2015

14. SEPTEMBER 1992

2015

4. MÄRZ 2010

2015

2015

2015

2015

2015

EPILOG

NACHWORT

DISCLAIMER

Prüft euch nur, ob ihr gerecht sein könnt, wenn ihr es wolltet.

Friedrich Nietzsche

PROLOG

Er habe nicht hingesehen. Das werden die Worte des Pförtners sein, wenn er später vor der Schwurgerichtskammer als Zeuge vernommen wird. Er hat eine Glatze und einen roten Vollbart, und seine Augenlider scheinen unentwegt zu zittern. Er wird aussagen, er könne sich nicht erinnern, bei der Frau eine Eingangskontrolle durchgeführt zu haben. Aber er sei ein gewissenhafter Justizbeamter, darauf wird er bestehen, während seine Blicke keinen Halt finden im Gerichtssaal. Natürlich habe er sie sofort erkannt. Man habe sich gegrüßt und bestimmt auch ein paar Worte miteinander gewechselt, wie die Male zuvor. Dass man sich kenne, sei zu viel gesagt, aber über die Wochen hinweg habe man ein Lächeln für den anderen übrig gehabt, auch wenn ihr das vermutlich schwergefallen sei. Ihr ungeschminktes Gesicht habe oft müde gewirkt, niedergeschlagen; die helle Haut, die eingefallenen Wangen, ihre tränenlosen Augen. Sie habe ihm leidgetan. Den Satz wird er mehrmals sagen.

An jenem Vormittag ist der Oktoberhimmel über Hamburg klar und blau. Die Nacht hat Frost gebracht, er hat sich auf die kahlen Bäume gelegt und funkelt wie Glassplitter im frühen Sonnenlicht. Um 4.30 Uhr ist Corinna Maier aufgestanden, hat Kaffee gekocht und auf ihrem Balkon eine Zigarette geraucht. Danach hat sie in der Dusche eine Stunde lang heißes Wasser auf sich regnen lassen und sich gewünscht, es wäre Abend ohne Tag davor. Sie kann nicht essen, schläft in Versatzstücken und denkt ständig an die Verhandlung. Nach der Dusche war ihr übel, Kaffee und Magensäure schossen ihr die Kehle empor. Sie musste sich übergeben. Danach zog sie sich an, packte ihre Handtasche und ist in die Straßenbahn. Sechs Stationen. Die Fahrt dauerte ewig.

Der Staatsanwalt wird nach diesem vierunddreißigsten Verhandlungstag sagen, die Nebenklägerin sei ruhig und in sich gekehrt gewesen, wie immer. Auffälligkeiten habe sie nicht gezeigt. Ihr Anwalt wird anderer Ansicht sein. Er will eine Veränderung bei seiner Mandantin festgestellt haben, sie sei ihm ungewöhnlich nervös vorgekommen, auch wenn sie kaum ein Wort gesprochen habe. Für ihn sei die Frau zur Überzeugung gelangt, dass für ihren psychischen Druck die Ventile des Rechtsstaats nicht mehr ausreichten.

Dieser Montag, der 25. Oktober 2010, ist einer der kältesten seit der modernen Wetteraufzeichnung. Corinna Maier trägt Schal, Wollmütze und Wintermantel. Auf die spätere Frage, warum sie ihre Handtasche unter dem Mantel getragen habe und nicht darüber wie sonst, wird sie antworten, sie sei sich dessen nicht bewusst gewesen. Als sie gegen 8.30 Uhr das Hamburger Strafgerichtsgebäude am Sievekingplatz betreten will, sind ihre Augen und Wangen gerötet vom eisigen Wind. Vor dem riesigen Renaissancegebäude hat sich bereits eine Menschentraube gebildet. Kamerateams säumen die sechs Stufen bis zur Tür und das Sandsteinplateau davor. Reporter drängen auf Corinna zu, stecken ihr Fragen ins Ohr, halten ihr Mikrofone vors Gesicht. Sie nimmt Frauen wahr, die ihr eine Daumendrückgeste zuwerfen, auf einem Stoffbanner liest sie: »Macht endlich Schluss!« Wie ein Mückenschwarm flirrt alles um sie herum, und sie ist schon im Begriff, die Flucht zu ergreifen, als einer der Pförtner ihren Arm greift und sie mit sich durch die Masse zieht. Im Gebäude schickt er sie durch den Detektor. Als er zu piepen beginnt, lächelt der Pförtner, macht eine abwinkende Geste und sagt, das sei schon in Ordnung. Es ist ihr Lieblingspförtner, der Glatzkopf mit dem roten Bart.

Eine Gerichtsreporterin wird später schreiben, Corinna M.’s Blick sei an diesem Morgen ein anderer gewesen, unterkühlter, abseitiger als sonst, verloren. Als ob ihr schwindelig sei und sie Sorge habe, augenblicklich das Bewusstsein zu verlieren. Die Reporterin will in dem Blick erkannt haben, dass der Dreiundvierzigjährigen das eigene Leben gleichgültig geworden sei.

Als sich der Saal mit Zuschauern füllt, sieht Corinna Maier nicht auf. Noch nicht. Ihr Blick ruht auf der Tischplatte, selbst als der Angeklagte zu seinem Platz geführt wird. Es ist der vierunddreißigste Verhandlungstag, der letzte, der Tag der Urteilsverkündung. Staatsanwaltschaft und Verteidigung haben ihre Plädoyers gehalten. Der Angeklagte hat bisher geschwiegen, jetzt hat er das letzte Wort, das Gesetz sieht es so vor.

Während er aufsteht, erhebt sich auch Corinna Maier. Sie zieht eine Pistole aus ihrer Handtasche und schießt ihm acht Projektile in Kopf und Bauch, ein ganzes Magazin.

Mit einem dumpfen Schlag fällt die Waffe zu Boden. Sofort stürmen Wachleute los und nehmen die Frau fest. Sie leistet keinerlei Widerstand. Auf dem Weg zum Ausgang sagt sie immer wieder:

»Hoffentlich ist er tot.«

2015

Motorsägen. Bestimmt zwei oder drei. Ihr Kreischen schneidet durch die Luft. Petersen sieht Britta und Jannis vor sich, er will sie anfassen, will sie umarmen, um sich ihrer Echtheit zu versichern. Seine Frau und sein Sohn stehen auf einem Ponton, während er auf einem Dampfer an der Reling steht und winkt und das Schiff sich immer weiter entfernt. Sonnenlicht sticht ihm in die Augen, die Luft schmeckt salzig und riecht nach Hafenmodder. Britta und Jannis winken nicht, sie stehen nur da und sehen zu, wie Petersen auf die offene See gezogen wird, ein unbeherrschbares Hinaustreiben, bis Frau und Kind nur noch sandkorngroß sind. Petersen kann sie nicht mehr erkennen, und sie sehen ihn vermutlich auch nicht mehr, aber er winkt ihnen noch immer und fragt sich, wohin er eigentlich fährt und warum seine Familie nicht mitkommt. Als er sich umdreht, sitzen Britta und Jannis in einer Stuhlreihe an Deck und schmökern in irgendwelchen bunten Reiseführern. Sie reagieren nicht, als er sie anspricht. Dafür schneiden die Motorsägen wieder in seinen Kopf, deutlicher jetzt. Die Familie löst sich auf, das Bild an Deck wird matt, ein vergilbtes Polaroid, bis es sich verflüchtigt wie abziehender Hochnebel. Petersen muss aufstehen.

»Wirklich alle?«, fragt der Gärtner, als Petersen wenig später vor ihm steht.

»Alle. Die komplette Südseite.«

»Dann haben Sie aber kein bisschen Schatten mehr im Garten.«

»Im Haus auch nicht.«

Er dreht sich um und betrachtet die Fassade. Putz und Anstrich sind über zehn Jahre alt, an einigen Stellen haben sich Risse gebildet, oder das Weiß ist grau und wolkig geworden. Alles halb so wild, wichtiger sind die Innenräume.

Am Nachmittag rückt er Möbel zur Seite, räumt Gläser, Gemälde und Teppiche in den Keller. Er schraubt Leuchten ab und reißt die Tapete von den Wänden. Auf dem nackten Putz spachtelt er Unebenheiten zu und streicht nach einer Trocknungspause Tiefengrund darauf. Die Luft im Zimmer riecht nach Arbeit, ein Geruch aus seiner Kindheit. Als Vater das Wohnzimmer tapezierte und strich, waren Sofa und Sessel in die Mitte gerückt und mit Folie abgedeckt. Abends saßen sie auf dem Boden. Mutter hatte eine Decke ausgebreitet und Stullen geschmiert, Eier gekocht und ein Glas Gurken geöffnet. Im Hintergrund dudelte das Radio, Petersen trank Pfefferminztee mit Honig. Die Erinnerung an jene Kindertage ist verblasst, das Gefühl von damals ist geblieben: Nie war er seinem Vater näher als auf dem Boden der Wohnzimmerbaustelle, mit dem Geruch von Tapetenkleister und Dispersionsfarbe in der Nase und frischem Gersterbrot mit Schmalz und Harzer Käse im Mund. Da war Vater sein bester Freund.

Die Männer im Garten sägen und hacken und häckseln, transportieren ab, harken sauber und verfüllen die Erdlöcher, die von den Stuken und Wurzeln zurückgeblieben sind. Am Abend sind alle neunzehn Fichten weg. Es ist dunkel. Ob mehr Licht ins Wohnzimmer fällt, weiß Petersen erst morgen.

Als Britta und er damals die Bäume pflanzten, waren sie einen Meter hoch, für größere fehlte das Geld. Sie würden schnell wachsen, hatte der Verkäufer gesagt, der Sichtschutz zu den dahinterliegenden Feldern brauche keine fünf Jahre. Der Mann hatte recht behalten, einige Sommer später konnten die Bauern bei ihrer Feldarbeit nicht mehr in den Garten glotzen. Doch der Verkäufer hatte nicht gesagt, dass die Bäume eines Tages das gesamte Sonnenlicht im Haus nehmen würden, und Petersen hatte nicht daran gedacht. An trüben Tagen mussten sie sogar im Sommer schon morgens Licht anschalten. Das ist jetzt hoffentlich anders.

Das Brot ist trocken, zweiundsiebzig Stunden haben den Saft aus dem Laib gezogen. Er mag kein trockenes Brot, und frisches hat er vergessen. Aber eine einfache, ehrliche Mahlzeit ist ihm immer noch am liebsten: Brot, Schinken, Käse. Schnörkelei braucht er nicht. Also schneidet er eine breite Scheibe ab, halbiert sie und steckt die Hälften in den Toaster. Als er die Eier in der Pfanne verrührt, klingelt das Telefon.

»Petersen.«

»Ich bin’s.« Brittas Stimme ist ruhig und gefasst. Seine Frau ist kontrolliert, jedenfalls will sie einen kontrollierten Eindruck vermitteln; er kennt sie. Eine Pause entsteht, Innehalten, auf beiden Seiten schwelen Erwartungen.

»Hi! Wie geht’s euch?«

»Ging schon besser«, sagt Britta.

Er weiß nicht, was er antworten soll. Er wünscht sich, dass es seiner Frau gut geht. Erst im Vermissen wird deutlich, was man hatte. So sehr er sich ihren Anruf gewünscht hat, so sehr ist er jetzt davon überrascht. Seit Tagen keine Reaktion von ihr. Er nimmt ihr das nicht übel, keineswegs, aber jetzt hat sie ihn auf dem falschen Fuß erwischt. Er schweigt.

»Was tust du?«

»Renovieren.«

»Was?«

»Renovieren. Wohnzimmer, Jannis’ Zimmer. Wurde ja mal Zeit. Die Küche hat es auch nötig. Mal sehen, wie weit ich komme.«

»Und deine Akten?«

So fängt es immer an – mit einem von Brittas Vorwürfen. Sie haben noch keine drei Sätze gewechselt, und schon steht eine seiner vermeintlichen Unzulänglichkeiten zwischen ihnen. Wie oft Petersen ihn schon gehört hat, diesen steten Tropfen. Aus der Reihe ihrer Vorhaltungen ist es diese, die er noch am ehesten nachvollziehen kann, auch wenn er sie objektiv für falsch hält und als ungerecht empfindet. Britta glaubt, seine Akten seien ihm wichtiger als die Familie. Er entgegnet dann, es seien nicht nur Akten, nicht nur belanglose Amtsvorgänge. Es ginge um Menschen. Sein Beruf verlange Gewissenhaftigkeit. Sie fragt reflexartig, warum ihm fremde Menschen wichtiger seien als die eigenen, und er weiß darauf keine Antwort.

Jetzt, hier am Telefon, ist er nicht frei von diesem Gesprächsmuster, in dem sie sich immer wieder verfangen wie Fische im Schleppnetz. Oder hört er mehr, als gesagt wird? Vielleicht hat sie recht, und es liegt an ihm, dass sie sich nicht mehr verstehen. Vielleicht arbeitet er zu viel und ist zu wenig für die Familie da. Aber es ist nicht fair, ihm das unentwegt vorzuwerfen. Er kümmert sich um seine Familie, das hat er immer getan. Er war für seine Frau da, wenn sie seine Schulter brauchte, und für seinen Sohn, wenn er als Kind böse Träume gehabt hat. Außerdem hat seine Arbeit ihnen ein gutes Leben beschert, das wird auch Britta nicht abstreiten können. In einer Ehe, in der man den anderen besser kennt als sich selbst, bleibt Raum für Wertungen, für Vorwegnahmen. Jeder glaubt, die Empfindungen des anderen zu kennen. Wahrscheinlich liegt man damit öfter falsch, als einem lieb sein kann.

»Warum rufst du an?«, fragt er.

»Soll ich nicht?«

»Doch. Natürlich.«

»Jannis hat vierzehn Punkte geschrieben. In Mathe, Vor-Abi.«

»Das ist ja toll! Er kann Mathe nicht ausstehen. Wo steckt er?«

Mit dem Telefon in der Hand geht Petersen ins Wohnzimmer und knipst das Licht der nackten Glühbirne unter der Decke aus. Es riecht nach Tapetenkleister, die Fensterscheiben sind beschlagen, einzelne Tropfen laufen herab. Die Heizung knackt und gibt ein leises Rauschen von sich. Vaters riesige Hände und die gelben Fingernägel, unter denen stets der Dreck der Forstarbeit klebte. Petersen ist nicht wie er. Und irgendwie ist er es doch.

»Er übernachtet bei Fatme«, sagt Britta.

Fatme. Dem Namen folgt tiefes Schweigen auf beiden Seiten. Der große Knall zwischen ihnen, der Vulkanausbruch, ist gut eine Woche her. Seitdem hat sich Stille ausgebreitet wie ein Lavastrom, der alles Gemeinsame versteinert. Petersen hat sich gegenüber seiner Frau noch nie so wortlos gefühlt. Mit einem Mal kommt alles zusammen, er hat das Gefühl, alle Wetter brechen zugleich auf ihn ein. Er hält das Ruder noch immer in der Hand, aber er verliert den Kurs. Britta, Jannis, Fatme, alles dreht sich in seinem Kopf, der Korkmaz-Prozess, Brittas Vorwürfe, der große Streit. Immer stehe seine Arbeit über allem, und dann seine ewige Rechthaberei. Er spiele den unfehlbaren Richter, der über den Dingen schwebe, aber von wegen, voreingenommen sei er und lasse sich von niederen Vorurteilen leiten. Gerecht? Dass sie nicht lache. Fatme habe er nie akzeptiert. Er mache alles kaputt, seine Familie habe er seiner Sturheit geopfert.

Petersen fuchtelt mit der Hand vor seinem Kopf, als könne er die wirren Gedanken wie Fliegen verjagen.

Jannis ist groß geworden. Manchmal sieht Petersen ihn vor sich, wie der Lütte auf seinem Schoß sitzt und ihn mit seinen Zahnlücken anlacht. Oder auf dem Beifahrersitz ihres alten Kombis, während die Bürsten der Waschanlage über das Auto herfallen, wenn sie samstags zur Tankstelle fuhren. Er hat seinem Sohn noch nie das Tapezieren gezeigt.

»Frank?«

»Ja?«

»Ok, bist noch dran. Dachte schon, du hättest aufgelegt.«

»Nein.«

»Wie geht es dir denn?«

Meint Britta die Frage ernst, will sie eine ehrliche Antwort? Es ist nicht seine Art drum herumzureden. »Ich möchte, dass ihr nach Hause kommt.«

Rauschen, ein Knacken. Er stellt sich Britta vor. Sie sitzt auf dem kleinen Telefonbänkchen im Flur ihrer Eltern, den Hörer in der linken Hand, mit der rechten spielt sie an der gekringelten Schnur. Brittas Rücken ist rund, das Haar ein wenig zerzaust vom Tag. Ihre langen braunen Haare, sie wehen im Wind, dahinter der Atlantik, die Wellen wischen auf den Strand und nehmen die Fußabdrücke mit. Britta streckt die Arme zum Himmel, ihre Augen leuchten. Sein erster Urlaub mit ihr am Meer, sie waren Anfang zwanzig. Der gelbe Fünfzig-Franc-Schein mit der Sonnenblume – zu schön zum Ausgeben.

»Gib uns Zeit, Frank. So geht es nicht weiter.«

»Ja«, sagt er im Affekt.

»Wollte mich nur kurz melden.«

Als er wieder in der Küche steht, ist das Rührei verbrannt. Er schmeißt es in den Müll. Die Pfanne gleich mit. Und das trockene Brot wollte er ohnehin nicht.

In der Nacht ist ihm kalt. Zeit seines Lebens hat er nackt geschlafen, Stoff an den Beinen und auf dem Oberkörper war ihm zu viel. Jetzt friert er, sein Körper ist überzogen mit Gänsehaut, er zittert. Er nimmt seinen Bademantel vom Türhaken. Vor wenigen Tagen erst hat er ihn gekauft, weißer Frotteestoff, ein teures Stück, knapp hundert Euro hat es gekostet, doch genau jetzt ist er jeden Cent wert. In der Küche macht er Licht überm Herd und schenkt den letzten Schluck Rotwein ins Glas, der am Abend übrig geblieben ist. Er trinkt und schaut sich um. Die geflieste Arbeitsfläche im Stil toskanischer Bauernhäuser. Die schweren Holzmöbel mit ihren unbehandelten Oberflächen und der Gasherd mit fünf Kochfeldern. Urlaubsglück aus Italien, hinübergerettet nach Norddeutschland. Wie Wein, der zu Hause nicht mehr schmeckt. Petersen kann den Cotto-Ton nicht mehr sehen. Wenn Britta zurück ist, wird er mit ihr sprechen. Vielleicht geht es ihr wie ihm, sie haben sich nur noch nicht die Karten gelegt. Unausgesprochenes ist schlecht. Das weiß er inzwischen, oder besser: Das ruft er sich immer wieder ins Gedächtnis und versucht, sich danach zu richten. Eine neue Erfahrung. Eine gute. Darauf zündet er sich eine Zigarette an. Ist schließlich niemand da, der ihm das Rauchen im Haus verbieten könnte.

Am anderen Morgen wecken ihn Kopfschmerzen und ein trockener Mund, es ist immer das Gleiche: Der fade Geschmack, den der nachwirkende Tabak hinterlässt, klebt wie eine Wolldecke zwischen Zunge und Gaumen. Also nimmt er sich auch heute vor, mit dem Rauchen kürzer zu treten, obwohl er sich dabei selbst nicht traut – und das, noch bevor er das erste Bein aus dem Bett getan hat.

Er duscht, es ist schon mitten am Vormittag, er kocht Kaffee und presst Orangen aus. Oktoberregen klatscht ans Fenster, während ein kräftiger Nordost ums Haus keift. Er solle ihnen Zeit geben, hat Britta gesagt. Zeit – als könnte sie irgendetwas ausrichten, außer zu vergehen. Wunden soll sie heilen können, aber das ist so nicht richtig. Es ist die Erinnerung, die irgendwann verblasst, bei dem einen mehr, dem anderen weniger, im Guten wie im Schlechten. Im Grunde ist das Berufen auf die Zeit nichts anderes als eine Ausrede für Feigheit. Feigheit, dem anderen die Wahrheit zu sagen, die ehrlichen Gefühle zu offenbaren, weil man ihn nicht verletzen will. Mit der Zeit ist das so eine Sache. Sie mag viel bewirken, mag Wunden heilen, indem sie die Erinnerung trübt. Aber kann sie Empfindungen, die vergilbt sind wie Raucherhände, neues Leben einhauchen?

Die Stille im Haus ist hörbar, jeder Schritt hallt nach. Petersen geht über die Etagen, durch die Räume, hält inne im kahlen Wohnzimmer, in dem die Bodendielen nachgeben und knarren. Ein Festsaal, vor wenigen Stunden noch mit Tanz, Musik und Lachen erfüllt, die Gläser halbvoll auf den Tischen und Papierschlangenfetzen am Boden. Er sieht Jannis als Kleinkind, sein Sohn trägt nichts außer einer Windel und krabbelt voller Stolz und Entdeckerfreude die Holztreppe zum Obergeschoss hinauf. Dabei brabbelt er unentwegt irgendwelches Zeug, das kein Mensch versteht. Kaum sieht er seinen Vater an, gibt der ihm in allem recht. Britta steht unten im Flur und schmunzelt. Nimm deinen Sohn nicht auf den Arm, heißt ihr Blick. Genau an dieser Treppe steht Petersen jetzt, sieht nach oben. Kein Krabbeln, kein Lachen, kein mahnender Blick. Und doch ist alles da, alles ist greifbar. Verrückt, irgendwie. Nicht die Momente der Vergangenheit machen traurig, es ist die Unmöglichkeit, sie in die Zukunft zu tragen.

In der Küche dreht Petersen die Heizung höher. Sein luxuriöser Bademantel wird zum Freund, draußen herrscht ein biblisches Unwetter, keinen Fuß wird er heute vor die Tür setzen. Ohnehin gibt es genug zu tun hier drin. Vielleicht nimmt er sich sogar die Küche vor, wenigstens die Wände müssten gestrichen werden. Er kann dieses Pastellgrün nicht mehr sehen! Und das Tropfen des Wasserhahns muss auch endlich ein Ende haben.

Als er Kaffee nachschenkt, klingelt das Telefon. Ihm ist nicht nach Gesprächen zumute, doch bei der Nummer geht er ran. Friedrich wolle sich nach einer Ewigkeit mal wieder gemeldet haben. Ob Petersen Zeit und Lust habe und so weiter, er sei in Hamburg. Also doch raus aus dem Haus. Einem alten Freund sagt man nicht ab. Sie verabreden sich zum Mittagessen.

Zwei Stunden später sitzt Petersen in einer hölzernen Pinte an den Landungsbrücken. Fischernetze hängen von den Decken, sie halten ausgestopfte Forellen und Plastikhummer gefangen. Es riecht nach Fritteusenfett.

Friedrich Timens isst mit Appetit. Er schaufelt Bratkartoffeln, Salat und Lachsfilet in sich hinein, als hätte er seit Tagen nichts gehabt. Petersen pickt mit der Gabel in seinem Krabbensalat und der Folienkartoffel herum.

»Was ist?«

»Nichts. Ich hab nur keinen Hunger.«

Friedrich sieht ihn stirnrunzelnd an, konzentriert sich dann auf sein Essen. Als er fertig ist und zu Petersen rüberguckt, schiebt der ihm seine Krabben und die Kartoffel entgegen. Friedrich grinst.

»Sabine ist noch zur Kur«, sagt er und macht sich über Petersens Teller her.

Die Studienfreunde bestellen Bier und Köm. Wie in alten Zeiten. Draußen sitzen Möwen auf der Balustrade, ihr Gefieder stiebt auf im Wind, die diesige Kälte scheint ihnen so wenig auszumachen wie den Touristen, die an der Scheibe vorbeispazieren. Auf der Elbe schippern ein paar Schuten und Schlepper, dahinter liegt Dock elf mit der Aufschrift »Blohm & Voss«.

Friedrich ist in die Jahre gekommen: dicklich, wässrige Augen, die Lippen in eingezogenem Politikergrinsen verformt. Dazu der Haarkranz und die Mistelzweige geplatzter Äderchen auf seinen Wangen. Er erinnert an eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg. Ein massiver, rostiger Eisenklumpen, der am Grund des Meeres liegt und auf Erschütterung wartet.

»Dein Urteil ist endlich online, die Korkmaz-Sache. Hab schon drauf gewartet. Mutige Entscheidung, mein Lieber.« Friedrich spricht mit vollem Mund. Seine Stirn glänzt.

Mutige Entscheidung – wenn Britta das jetzt hören könnte. Für sie war es falsch, ohne Wenn und Aber, selten hat er sie so fassungslos erlebt. Eigentlich ist sie eine intelligente Frau, sie ist besonnen und wägt ab. Und sie versteht juristische Zusammenhänge. Petersen ist vollkommen schleierhaft, warum sie derart emotional auf sein Urteil reagiert hat.

Er sieht Friedrich an: »Es geht nicht um Mut.«

»Sondern?«

»Um die richtige Entscheidung.«

»Und?«, fragt Friedrich. »Ist sie richtig?«

»Sonst hätten wir sie nicht verkündet. Aber warten wir mal ab, was der Olymp sagt.«

»Die Sache liegt beim BGH?«

»Ja. Der Arzt hat Revision eingelegt.«

»Hmhm«, brummt Friedrich und nickt. »In welchem Senat?«, fragt er.

»Im ersten. Warum?«

»Klaus Pieper, der Vorsitzende. Ich kenne ihn ganz gut, Parteikollege. Soll ich ihn mal anrufen?«

Das ist Friedrich. Er glaubt, dass sich alles auf der Welt durch ein Parteibuch regeln lässt. Kurzer Anruf, und die Sache läuft. Petersen weiß, warum er nie in die Politik gegangen ist.

»Das lass mal. Pieper wird seine Arbeit schon machen.«

»Ich sag’s ja nur«, sagt Friedrich und hebt die Hände wie gegen eine unsichtbare Waffe.

»Und bei dir? Was macht die Sitzungsarbeit im Bundestag?« Petersen weiß, dass er Fritz damit am Schopf packt.

»Mach dich nur lustig. Deine Meinung zu meinem Job kenne ich. Du nimmst ihn nicht ernst. Und weißt du was? Das ist mir völlig egal!« Mit einer Baguettescheibe wischt er den Teller sauber, bis der letzte Rest Soße verschwunden ist. Dann hält er sich die Faust vor den Mund und stößt auf.

»Ich nehme ihn ernst. Trotzdem schlägst du dir jeden Tag die Falten aus dem Sack. Hier eine Ausschusssitzung, da eine Abstimmung. Nur vernünftige Gesetze, die bekommt ihr nicht mehr hin.«

Petersen beobachtet die Schlamperei des Gesetzgebers seit Jahren, und sie ärgert ihn maßlos. Viel zu oft ist politische Effekthascherei mit im Spiel. Gesetzesänderungen, die mit breiter Brust dem unwissenden Publikum als fortschrittliche Notwendigkeit verkauft und anschließend vom Bundesverfassungsgericht als grundrechtswidrig und für nichtig erklärt werden. Es gibt unzählige Beispiele dafür, aber Petersen will das Wiedersehen mit Friedrich nicht vermiesen. Außerdem ist ihm die Unzulänglichkeit des Gesetzgebers im Augenblick ziemlich egal, er hat ganz andere Sorgen.

Die Kellnerin bringt noch eine Runde Bier und Schnaps, Fritz und Petersen stoßen an. Bisher hat ihm das Bier hier immer geschmeckt, frisch gezapft, gut gekühlt. Heute fehlt Kohlensäure, und zu warm ist es auch. Als Fritz sein Glas absetzt, ist es zur Hälfte geleert.

»Dann lass uns tauschen – ich mache deine Arbeit, du meine. Danach gibt’s Manöverkritik. Wie findest du das?«

Petersen kippt sein Bierglas, ohne es anzuheben, die Kante auf dem Pappdeckel. Mit kreisenden Bewegungen fährt er die Konturen des ovalen Brauereiwappens ab. Ein weißer Schlüssel auf rotem Grund.

»Hätte was«, sagt Petersen.

Friedrich hustet und starrt Petersen an. »Hast du was geraucht? Du verabscheust Politik?!«

Abwartend, die Stirn krausgezogen, sitzt Friedrich da. Er wischt sich mit der Serviette über den Nacken. Petersen weicht seinem Blick nicht aus. Was haben sie zusammen gefeiert, früher, zu Studienzeiten. Gelacht, getrunken, sich die Welt erklärt, selbst auf Fritz’ Verbindungshaus hat Petersen sich irgendwann wohlgefühlt.

Er verabscheut die Politik nicht. Das Problem ist nur, dass Politik vielfach von Dummköpfen gemacht wird. Von Dummköpfen und Gernegroßen.

»Du warst schon immer ein Weltverbesserer. Komm, lass uns noch einen trinken.« Friedrich winkt der Bedienung.

Die Luft im vollbesetzten Raum ist stickig und dick. Von den Tellern steigt Dampf auf, an den Fensterscheiben hängt Kondensat. Die Kellner bewegen sich schnell und mit ernster Miene. Hier ein Lachen, da Geschirrklappern, Menschen, die niesen und in Taschentücher schnauben. Petersen ist heiß, sein Gesicht glüht, die Hände sind kalt. Eine Weile haben sich die beiden nicht gesehen. Sonst haben sie sich immer viel zu erzählen. Heute ist das Gespräch zäh, die Themen wollen nicht ins Rollen kommen. Man könnte sie für ein Ehepaar kurz vor der Scheidung halten.

Die Kellnerin ist höchstens Mitte zwanzig, beide Unterarme sind tätowiert. Michelle, kann Petersen auf der rechten Seite lesen, in langgezogener Schnörkelschrift bedeckt der Name die gesamte Hautfläche zwischen Handgelenk und Ellenbogen. Friedrich zieht die Stirn in Falten, er bedankt sich mit erhobener Hand und kurzem Nicken. Das Lächeln nimmt Petersen ihm nicht ab, dafür kennt er ihn zu lange.

Als die Frau weg ist, schüttelt Friedrich den Kopf. »Mal was anderes«, sagt er. »Hast du’s gelesen?«

»Was?«

»Sie wird entlassen.«

»Wer wird entlassen?«

»Na, die Maier. Stand gestern im Abendblatt.«

Was sagt Fritz da? Corinna Maier wird entlassen? Stand im Abendblatt? Hinter Petersens Schläfen setzt ein Stechen ein. Das kann er doch unmöglich überlesen haben. Obwohl – in letzter Zeit liest er kaum noch Tageszeitung, gestern Abend hat er nur den Sportteil durchgeblättert. Er muss schneller atmen, die abgestandene Luft scheint ohne Sauerstoff zu sein. Er öffnet den obersten Hemdknopf. Die feuchte Hitze ist unerträglich. Er schaut durchs Fenster, in der Scheibe spiegelt er sich. Der Haaransatz wird allmählich grau, an den Augen haben die Fältchen zugenommen, und der Dreitagebart ist zu lang.

»Alles in Ordnung?«, fragt Friedrich.

Petersen nimmt die Frage kaum wahr, sie kommt von weit weg, er nickt mechanisch. Es ist tatsächlich an ihm vorbeigegangen, dass sie entlassen wird. Der Tag würde kommen, das war klar. Doch jetzt, da es offenbar so weit ist, krampft sich sein Magen zusammen wie nach verdorbenem Essen. Er ist auf ihre Entlassung nicht vorbereitet. Oder ist er es doch? Wie könnte er nicht darauf vorbereitet sein, wenn seither kaum ein Tag vergangen ist, an dem er nicht an damals gedacht hat? Immer wieder reißen ihn die Schüsse aus dem Schlaf, acht Schüsse sind es genau, die nicht mehr den Angeklagten, sondern ihn, Petersen, treffen, die ihn schweißgebadet aufschreien lassen. Er sieht das Blut, hört die Schreie der Zuschauer im Saal, spürt bis heute die Platzwunde an seiner Stirn, die er sich an seinem Richtertisch geholt hat, als er sich zu Boden warf. Vielleicht hat Britta recht, vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er sich professionelle Hilfe geholt hätte. Aber eigentlich hat er sich inzwischen ganz gut im Griff. Die Nächte, in denen er durchschläft, überwiegen schon längst, da muss er nicht zum Seelenklempner laufen. Er ist mit der Zeit gut darin geworden, die Sache von sich wegzuschieben. Dennoch: Hier und jetzt setzt ihm die Nachricht der Entlassung mächtig zu, sie kommt in einem denkbar ungünstigen Moment. Scheinbar hat sich alles gegen ihn verschworen. Was ist nur plötzlich los? Britta, Korkmaz, und jetzt auch noch die Maier. Ein Schwindelgefühl überkommt ihn, er gerät ins Wanken, kann sich aber an der Tischkante abstützen.

»Mensch, Frank, was ist denn los?« Friedrich reicht Petersen ein Taschentuch herüber.

Er wischt sich die Stirn trocken, holt Luft.

»Sag bloß, du wusstest das noch nicht?« Friedrich zieht die Augenbrauen hoch. »Verschlingst doch sonst drei Zeitungen am Tag.«

Petersen zuckt mit den Achseln. »Ich weiß nicht, was los ist in letzter Zeit. Vielleicht werde ich einfach nur alt. Dieser ganze Scheiß damals hat mir ziemlich zugesetzt.«

Es hat wieder zu regnen begonnen. Schneeregen, der vom Wind verwirbelt wird. Passanten kämpfen mit offenen Schirmen.

»Vier Jahre sind ’ne lange Zeit«, sagt Friedrich gegen die Scheibe, so dass sich ein Nebelfleck darauf bildet, der gleich wieder zerrinnt. Er legt seine Hand auf Petersens Unterarm. »Frank? Ist wirklich alles okay? Du siehst beschissen aus.«

»Ja, ja, schon gut. Ich dachte nur, ich wäre darüber hinweg. Aber allein ihren Namen zu hören …«

»Ich weiß. Ich weiß das. War keine leichte Sache für dich.«

Eine Fähre macht an den Landungsbrücken fest und spuckt Fahrgäste aus. Das Schiff schwankt im Wasser. Eine alte Frau steht gebeugt auf dem Ponton, sie stützt sich auf einen Mülleimer, der Menschenstrom rauscht an ihr vorüber. Als der Weg frei ist, zieht sie sich klapprig die Gangway vorwärts. Drüben auf der anderen Seite wird Dock elf geflutet, eine Sirene quäkt, die Warnleuchten an den Seiten blinken. Ein paar Männer stehen oben an der Reling, die Reflektorstreifen ihrer Sicherheitsjacken glänzen.

Das Frauengefängnis liegt nördlich von Husum. Von hier keine zwei Stunden mit dem Auto.

Um kurz nach vierzehn Uhr versucht Petersen aus dem Wagen, die Präsidentin des Landgerichts Hamburg, Katharina Winterfeld, ans Telefon zu bekommen. Er erreicht nur die Mailbox, also hinterlässt er eine Rückrufbitte. Nein, es ist nicht vermessen, seine Chefin zum Essen einzuladen. Außerdem erscheint eine Unterredung in ihrem Dienstzimmer der Sache nicht angemessen.

Der Straßenverkehr an diesem Mittwochnachmittag läuft dahin wie Harz vom Baum, die B5 in Richtung Süden ist dicht. Rückleuchten verschwimmen im Regenstaub. An der Tankstelle kurz vor der Kreuzung nach Reinbek kauft er Zigaretten. Scheiß Vorsätze; ein Mann mit einundfünfzig muss richtig von falsch trennen und Entscheidungen treffen können. Ein Strafrichter sowieso. Und zu Recht wird dabei Vernunft von ihm verlangt. Der Job ist das eine. Ob er raucht, was anderes. Seine Unvernunft. Den Luxus darf er sich gönnen; in dieser Sache geht es schließlich nur um ihn.

In den vergangenen Tagen ohne seine Arbeit ist er sich nackt vorgekommen. Jede Menge freier Zeit liegt vor ihm, doch er kann nichts mit ihr anfangen, sie segelt unter falscher Flagge. War sie früher oft herbeigesehnt, ist sie jetzt nichts weiter als eine Flucht. Eine Flucht vor Antworten, die ihm Angst machen, auf Fragen, die er sich nicht zu stellen traut. Also ergeht er sich in Aktionismus. Er renoviert das Haus. Erledigt Tätigkeiten, von denen er geglaubt hat, sie verlernt zu haben, und fragt sich nach dem Sinn. Vielleicht sollte er doch an die Küste fahren. Am Meer entlangschlendern, den Gedanken nachhängen, sich sortieren. Klarheit finden. Kann einem abgeliebten Fleckchen Erde durch frische Tapeten, Wandfarbe und Möbel neues Leben eingehaucht werden? Kann er damit die Patina seiner Vergangenheit überstreichen? So kann es jedenfalls nicht weitergehen, es ist ein Treten auf der Stelle, Petersen liebt seine Familie, ohne sie ist er nur halb.

Ein Tonkrug, hat Britta gesagt. Ihr gemeinsames Leben sei wie ein Tonkrug, der zu Bruch gegangen ist. Sie hätten die Scherben zusammengeklebt, der Krug sei wieder ganz, das stimme schon. Aber man sehe überall Risse, Klebenähte, die kleinen Löcher, weil sie die letzten Scherbensplitter nicht hatten finden können. Er sei nicht mehr derselbe. Undicht, unbrauchbar, nur noch schöne Erinnerung. Risse gehörten zum Leben, gab er zur Antwort, Reibungskanten seien täglich Brot. Es gehe um Respekt und darum, dem anderen trotz aller Zweisamkeit seine Individualität zu lassen. Darauf schwieg sie, bis sie sagte, Individualität und Egoismus lägen dicht beieinander.

Aus dem Radio quäkt Phil Collins Take me home. Das Konzert, Mitte oder Ende der Neunziger. Britta war mit Jannis schwanger. Sie waren Genesis auch ohne Peter Gabriel treu geblieben. Die Messehalle war ausverkauft, schwitzende Menschenmassen, die sich schoben und einander anlachten, die ihre Arme in die Luft streckten und jedes Lied mitgrölten. Britta und er standen an der Bühne, er hatte zuvor gefragt, ob Britta sich das zutraue, diese Anstrengung. Logisch, hatte sie geantwortet. Mit der U-Bahn waren sie zum Messegelände gefahren. Dicke, nasse Luft, die drängelnden Körper und das Hämmern der Bässe waren zu viel, sie gingen nach einer Stunde wieder. Britta ärgerte sich mehr als er. Sie versprachen einander ein neues Konzert. Beim Versprechen ist es geblieben.

Als er gerade in die Einfahrt biegt, klingelt das Handy, die Nummer leuchtet im Display. Der Rückruf, auf den er gewartet hat.

Katharina Winterfeld entschuldigt sich, sie habe noch Sitzung gehabt und so weiter.

«Was kann ich für Sie tun?«

»Ich bräuchte mal Ihren Rat. Als Kollegin und als Chefin.« Und weil eine Pause zu entstehen droht, schiebt er nach: »Kann ich auf Ihre Verschwiegenheit vertrauen?«

Sie ist eine kluge und attraktive Frau in den Vierzigern. Viele Kollegen trauen ihr das Amt der Präsidentin nicht zu, aber das sagt natürlich niemand laut. Ihre langen, schwarzen Haare und die immer roten Lippen trüben die Objektivität, vor allem die der Männer.

»Natürlich können Sie das. Das wissen Sie doch. Worum geht’s?«

Für Petersen ist sie die Idealbesetzung auf dem Posten. Nach seiner Auffassung ist sie nicht nur eine exzellente Juristin, sondern auch eine gewissenhafte Führungskraft. Sie interessiert sich für die Belange ihrer Mannschaft und nimmt sich Zeit für jeden Einzelnen, wenn es darauf ankommt. Er vertraut ihr, sie ist genau die Person, die er jetzt braucht.

»Hätten Sie heute Abend Zeit? Es ist etwas Persönliches«, sagt er. Es knackt in der Leitung. Hoffentlich versteht sie sein Anliegen nicht falsch.

»Mittwochs habe ich eigentlich meinen Tennisabend«, sagt sie. »Aber wenn ich ehrlich bin, kommt mir Ihr Anruf sehr gelegen, mein rechter Arm tut seit ein paar Tagen weh, spielen kann ich sowieso nicht. Verraten Sie mir, was Sie auf dem Herzen haben?«

»Es geht um mich«, sagt er und merkt seine Unbeholfenheit, kaum dass er die Worte ausgesprochen hat. »Ich würde mich gern mit Ihnen über meinen Job unterhalten und über ein paar andere Dinge.«

Wieder knackt es in der Leitung, und ein leises Sirren ist zu hören. Sie verabreden sich für das Rigoletto am Jungfernstieg, halb acht. Petersen bestellt einen Tisch. Dann stellt er den Wagen ab und geht ins Haus.

Er zieht sich seine Laufschuhe an und seinen blauen Trainingsanzug und setzt ein Basecap auf. Es hat aufgehört zu regnen, und der Wind ist auch weniger geworden. Kein optimales Wetter zum Joggen, aber besser als nichts. Mal sehen, ob er seine alte Strecke noch immer in einer Dreiviertelstunde schafft. Zuversicht ist eine Droge.

Nach siebenundfünfzig Minuten ist er völlig erschöpft zurück. Die Oberschenkelmuskeln brennen, der Schweiß rinnt ihm von der Stirn, und seine Lungen tauschen nicht so viel Sauerstoff aus, wie er benötigt. Er muss wieder mehr trainieren, es gab eine Zeit, sie liegt noch nicht lange zurück, da ist er fünf Mal die Woche gelaufen. Bei Wind und Wetter. Das war dieselbe Zeit, als Britta und er noch jeden zweiten Tag gevögelt haben. Muss vor Jannis’ Geburt gewesen sein, also doch schon achtzehn Jahre her.

Nach einer heißen Dusche und einem Espresso legt er sich im Schlafzimmer aufs Bett und stößt den Rauch seiner Zigarette an die Decke. Der Rauch verfängt sich im Silberlüster und wabert auseinander. Petersen hat noch nie im Schlafzimmer geraucht, er wird nachher lüften. Wenn Britta zurück ist, hört die Raucherei im Haus wieder auf.

Er öffnet den großen, weißen Kleiderschrank und geht seine Klamotten durch. Eine Jeans, ein weißes Hemd und ein dunkelblaues Sakko erscheinen ihm für den Anlass passend.

Kurz vor halb acht steht er im Rigoletto. Räume, von deren Stuckdecken messingfarbene Kronleuchter hängen. Weißgedeckte Tische, große Teller, gerahmt von zwei Paar Silberbesteck. Daneben breitbauchige Weingläser auf hohen Stielen, in denen sich Kerzenlicht spiegelt. Im Rigoletto verbietet es sich, Pizza zu bestellen, selbst wenn sie auf der Karte steht. Petersen nimmt die Stoffserviette vom Teller und legt sie halbgefaltet auf seinen rechten Oberschenkel. Er war schon lange nicht mehr hier, aber alles ist wie in seiner Erinnerung, alles atmet noch immer Gediegenheit, eine kleine Empfangshalle in einem Schloss. Vielleicht ist dieser Rahmen nicht der richtige für ein dienstliches Gespräch. Andererseits, im Grunde ist es ja eher privat.

Er bestellt ein Glas Lugana zum Aperitif, obwohl er sich nicht viel daraus macht. Weißwein ist für Frauen, die ihr Glas mit abgespreiztem Finger halten, das ist ihm zu etepetete. Petersen trinkt Rotwein oder noch lieber einfach ein kühles Bier, aber im Rigoletto gilt für Bier das Gleiche wie für Pizza.

Draußen gleiten Autos über die Straße, keine Spur vom Lärm, den sie verursachen, der Raum ist gegen Einflüsse von außen gut gesichert. Als sein Glas geleert ist, fragt er sich, ob Frauen sich verspäten, weil sie es wollen oder nicht anders können. Britta kann Stunden zuvor frei haben, im Kino kommt sie erst an, wenn der Film schon läuft.