Zeit der Schuldigen - Markus Thiele - E-Book

Zeit der Schuldigen E-Book

Markus Thiele

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Beschreibung

Ein Mörder, der straffrei bleibt

Ein Vater, der für Gerechtigkeit kämpft

Eine Polizistin, die alles aufs Spiel setzt

Als der 72jährige Volker März an einem kalten Herbstmorgen den Bahnsteig betritt, ahnt er nicht, dass er beobachtet wird. Der alte Mann gilt als dringend tatverdächtig in einem Mordfall, der vor 40 Jahren ganz Deutschland erschütterte: Im November 1981 wurde die 17jährige Nina Markowski auf brutale Weise umgebracht. Die Spuren am Tatort belasteten Volker März damals schwer, doch die Beweise reichten nicht für einen Schuldspruch. Verzweifelt kämpft Ninas Vater seither für Gerechtigkeit. Unterstützung erfährt er von Kriminalhauptkommissarin Anne Paulsen, die den Fall Jahrzehnte später wieder aufrollt. Angetrieben von einem sehr persönlichen Motiv schmiedet sie einen ungeheuerlichen Plan, um den damals Freigesprochenen doch noch zur Rechenschaft zu ziehen. Aber ist sie auch bereit, dafür selbst zur Täterin zu werden?

Eindringlich, aufwühlend und hochaktuell - die mitreißende Anatomie eines wahren Verbrechens, angelehnt an den Fall Frederike von Möhlmann

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Seitenzahl: 532

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Zitat 1

Zitat 2

Widmung

Hinweis

Erster Teil – Schuld

Prolog – Neun Millimeter

1. Von Ohrläppchen zu Ohrläppchen

2. Wallat, denk nach!

3. Tanz

4. Wo ist deine verdammte Deckung, Mann?

5. Keine Schmerzen

6. Essen muss man, sonst stirbt man

7. Solo noi

8. Euphemismen

9. Fichte hätt’s auch getan

10. Kullerpfirsich

11. Walter Röhrl

12. Das Bad in Drachenblut

13. Die Traumfrau

14. Teeservice mit Goldrand

15. Wir geben Ihrer Zukunft ein Zuhause

16. Aprilwetter

17. Zaungäste

18. Ein riesiger Haufen Scheiße an einem Wegesrand

19. Die Entschädigung

Zweiter Teil – Recht

20. Rosen für den Kommissar

21. Waterloo

22. Erst das Gesetz, dann das Gewissen

23. Das Klavier

24. A Kind of Magic

25. Der Kaffee ist fertig

26. Rosenblätter

Dritter Teil – Gerechtigkeit

27. Weiß

28. Das fehlende Glied in der Kette

29. Ännchen von Tharau

30. Ein Pakt mit dem lieben Gott

31. Nostalgie

32. Mal sehen, ob er auch fliegen kann

33. Die Zigarrenkiste

34. Rotwein macht mir nichts

35. Kaninchen aus dem Hut

36. Von guten Mächten

37. I did it my way

Nachwort

Danksagung

Über das Buch

November 2022. Als Kriminalhauptkommissarin Anne Paulsen den zweiundsiebzigjährigen Volker März mit vorgehaltener Waffe stellt, hat sie nur ein Ziel: sein Geständnis. Vor fast vierzig Jahren soll er die siebzehnjährige Nina Larsen vergewaltigt und brutal ermordet haben. Die Spuren am Tatort belasteten März damals schwer, doch die Beweise reichten nicht für einen Schuldspruch. Verzweifelt kämpft Ninas Vater seither für Gerechtigkeit. Als Jahrzehnte später die am Tatort gefundene DNA ausgewertet werden kann, hofft er, dass der Mord an seiner Tochter endlich gesühnt wird. Doch: Nach deutschem Recht darf niemand für dasselbe Verbrechen zweimal vor Gericht gestellt werden …

Über den Autor

Der Jurist und Schriftsteller Markus Thiele studierte an der Georg-August-Universität in Göttingen und arbeitet seit 2000 als promovierter Rechtsanwalt. Spezialisiert auf Arbeits- und Baurecht, vertritt er Mandanten in der gesamten Republik. Seine Erfahrungen im Gerichtsaal prägen ihn genauso wie sein großes Interesse an gesellschaftlichen Entwicklungen. 2020 erschien sein Debütroman Echo des Schweigens. Er ist verheiratet, Vater von zwei Kindern und lebt in Göttingen.

MARKUS THIELE

ZEIT DER SCHULDIGEN

Roman nach einem wahren Kriminalfall

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2024 by Bastei Lübbe AG,Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Dr. Arno Hoven, DüsseldorfUmschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde unter der Verwendung von Motiven von © shutterstock: kwest | Simbert BrauseeBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-5618-1

luebbe.delesejury.de

Ne bis in idem

(Art. 103 Abs. 3 GG)

Everything I tell you has been spokenAnd everything I say was said beforeBut everything I feel is for the first timeAnd everything I feel, I feel for you.

Return to me, October Project, 1993

Für Marion.Du weißt, warum.

Der vorliegende Roman wurde inspiriert durch den realen Fall der 1981 ermordeten Frederike von Möhlmann. Insbesondere die hier im Buch dargestellte Prozesshistorie im Anschluss an die Tat und die rechtlichen Zusammenhänge entsprechen in ihren wesentlichen Elementen weitgehend den tatsächlichen Geschehensabläufen. Die Personen im Text, ihre Beziehungen zueinander und ihre Handlungsmotive sind hingegen frei erfunden.

ERSTER TEIL SCHULD

Prolog Neun Millimeter

November 2022

Anne erkennt ihn sofort, als sich die Tür der Regionalbahn öffnet und er auf den Celler Bahnsteig tritt. Sein zurückgekämmtes Haar schimmert im Morgenlicht wie Raureif. Die dichten Koteletten reichen bis zu den Kieferknochen hinab und erinnern noch immer an Fingernagelbürsten. Der Lodenmantel ist speckig und glänzt, Volker März trägt ihn beinahe sein ganzes Leben. Er geht aufrecht und lächelt. Es ist das Lächeln eines Mannes, der sich sicher ist, die Welt kann ihm nichts anhaben. Er nimmt Anne nicht wahr, als er auf den Ausgang zutritt.

Es ist der 22. November 2022 – irgendwie eine Schnapszahl, denkt sie. März ist inzwischen zweiundsiebzig Jahre alt, er ist immer noch schlank und einen Meter dreiundachtzig groß. Er hat für sein Alter eine durchtrainierte Figur. Steht alles in der Ermittlungsakte, die mehrere Tausend Seiten umfasst. Anne kennt sie auswendig, jedes Detail hat sie im Kopf. Er treibt dreimal pro Woche Sport in einem Fitnessstudio, und noch immer hilft er stundenweise als Hausmeister bei einer Wohnungsgenossenschaft aus. Er kann sich von dem Job nicht trennen, hat er bei einer seiner Vernehmungen mal gesagt, die Kollegen und die Hausbewohner liebten ihn so sehr. Er sei dort die gute Seele, das hat er auch mal gesagt.

Der Taxistand ist verwaist. März stellt seine Aktentasche auf den Boden und zündet sich eine Zigarette an. Nebel hängt über dem Bahnhofsvorplatz und zieht durch die Straßen, es ist feucht und kalt. Menschen kommen und gehen. Sie reden nicht miteinander, jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Einige telefonieren, andere starren zu Boden, und alle haben es eilig. Die beste Deckung findet sich in der Anonymität der Masse.

Als Anne sich hinter ihn stellt, riecht sie sein Rasierwasser. Tabac Original. Es ist süß. Es ist zu männlich für ihn.

»Guten Morgen, Herr März«, sagt sie.

Er dreht sich um, seine Zigarette fällt zu Boden. »Frau Paulsen. Was wollen Sie von mir?«

Sie zieht ihre Dienstwaffe unter der Jacke hervor und drückt ihm die Mündung in den Bauch; sie achtet darauf, dass kein anderer die Pistole sehen kann. »Wenn Sie schreien oder sich zur Wehr setzen, erschieße ich Sie auf offener Straße. Haben Sie das verstanden?«

Er nickt. Sein Haar ist dünn geworden, der Wind spielt mit den flusigen Strähnen.

»Und wenn Sie nicht genau das tun, was ich Ihnen sage, erschieße ich Sie auch. Haben Sie das auch verstanden?«

Er nickt noch einmal.

»Wir gehen jetzt zu meinem Wagen, und Sie werden einsteigen. Wir machen eine kleine Spritztour.«

»Sie sind ja verrückt geworden. Was soll das?«

Anne drückt die Waffe fester gegen seinen Unterleib. »Drehen Sie sich um. Sie gehen vor. Dahinten, der blaue Golf. Machen Sie schon.«

März nimmt seine Tasche auf und setzt sich in Bewegung. Sein faltiger Nacken ist ausrasiert, die gebräunte Haut mit Altersflecken gesprenkelt. Er trägt seine goldene Panzerkette um den Hals, sein Lieblingsschmuck. Er hustet und räuspert sich, das typische Kratzen einer Raucherlunge. Anne denkt an seine gelben Finger, von denen in der Akte immer wieder die Rede ist.

Sie dirigiert ihn zur Beifahrertür ihres Golf. Beim Einsteigen hält sie die Waffe weiter auf ihn gerichtet, und als auch sie im Wagen Platz genommen hat, wirft sie ihm ein Paar Handschellen zu. »Los, anlegen.«

Mit fahrigen Bewegungen kommt er ihrer Anweisung nach. »Ich bin ein freier Mann, das wissen Sie. Was Sie machen, ist ungesetzlich.«

Sie startet den Motor.

»Wo bringen Sie mich hin?«

»Schnauze«, sagt sie, während sie kurz in den Seitenspiegel blickt und aufs Gas tritt.

Er soll nicht reden. Noch nicht. Er wird noch genug Zeit zum Reden haben. Er wird sich wünschen, nie wieder so viel Zeit zu haben. Anne spürt, wie sich ihre Haut spannt. Ihr ist, als würde alle Luft aus dem Wagen gesaugt, als würde er von außen zerdrückt.

Die Straßen der Celler Innenstadt sind ungewöhnlich leer für acht Uhr früh. Anne fährt in Richtung Westen. Sie biegt auf die B216, die nach Hambühren führt. März denkt jetzt wahrscheinlich, er weiß, wohin sie mit ihm will, deshalb fragt er kein weiteres Mal. Aber mit dem Ziel ihrer kleinen Reise, wo sie alles für ihr Kommen vorbereitet hat, rechnet er mit Sicherheit nicht.

Sie nimmt ihr Handy aus der Hosentasche. Thomas hat versucht, sie zu erreichen, war klar. Sechs Mal in den letzten acht Stunden. Er gibt keine Ruhe, war auch klar. Sie schaltet das Gerät aus. So ist keine Ortung möglich.

Der ganze Wagen riecht nach Tabac Original, als würden zwei Millionen Duftbäume damit am Rückspiegel baumeln. Sie öffnet das Fenster einen Spalt. Frische Luft dringt herein. Die Scheibenwischer kämpfen gegen den Nebel an, der immer wieder einen Schleier auf die Frontscheibe legt.

»Das wird Sie Ihre Dienstmarke kosten«, sagt er und lacht künstlich auf.

Das Lachen wird ihm vergehen, egal, ob echt oder nicht.

Im Rückspiegel sieht Anne einen Wagen, der schon seit Celle hinter ihr ist. Ein schwarzer Volvo. Sie kennt niemanden, der einen schwarzen Volvo hat. Sie verlangsamt das Tempo, der fremde Wagen kommt im Spiegel näher. Er scheint ebenfalls langsamer zu werden. Annes Herzschlag dagegen wird schneller. Sie steuerte ihr Auto in die nächste Parkbucht und hält an.

»Was ist los?«, fragt März.

Der Volvo fährt vorbei. Der Fahrer trägt eine Kapuze. Sie erkennt ihn nicht, kann sein Gesicht nicht sehen. Könnte auch eine Frau sein … könnte alles Mögliche sein. Sie sieht Gespenster. Ermittlerkrankheit. Überall lauern Gespenster.

Sie steuert ihren Golf wieder auf die Straße und fährt weiter.

Etwa dreihundert Meter vor Hambühren biegt sie rechts auf das weiträumige Grundstück. Das alte Bahnhofsgebäude, das von einem Bauzaun umschlossen wird, ist völlig verfallen, die Kneipe darin ebenso. Über dem Eingang hängt noch immer das vertraute Schild: »Wartesaal«.

Als Anne gestern alles herbrachte, traute sie ihren Augen nicht. Ein paar der Fenster waren eingeschlagen und vergittert, der Tresen und etliche Stühle demoliert. Überall Dreck, Taubenkot, Glasscherben, kaputte Bierkrüge. Das uralte Radio mit Plattenspieler lag auf dem Fußboden, das Klavier hingegen war immer noch dort, wo es früher schon gestanden hatte, hinten in der Ecke. Und alles war bedeckt mit einer dicken Patina aus Staub.

Sie parkt hinterm Haus. Die Gleise gegenüber werden seit den 1980er Jahren nicht mehr befahren, zwischen den Bahnschwellen wachsen Büsche und Sträucher.

Das Abrissunternehmen hat zwei Bagger auf dem Schotterplatz abgestellt und einen Container. Morgen gehen die Arbeiten los, morgen früh um acht rücken die Jungs an und legen alles in Schutt und Asche. Dann ist der Wartesaal Geschichte. Perfekter kann ein Ort nicht sein, auch wenn die Zeit knapp werden könnte.

März schüttelt den Kopf.

Sie steigt aus und öffnet die Beifahrertür. »Raus!«

Er stemmt sich aus dem Auto. So durchtrainiert ist er offenbar doch nicht, das Alter hat mehr Spuren hinterlassen als nur weiße Haare. Er ist einen Kopf größer als sie, ein alter, knochiger Mann. Seine gefesselten Hände zittern. Sie packt ihn am linken Oberarm und zieht ihn mit sich zur Bodenluke.

»Was soll das werden?«, fragt er. »Wollen Sie mich hier einsperren und verhungern lassen?«

Keine schlechte Idee. Aber sie hat etwas anderes mit ihm vor.

Sie zieht das Vorhängeschloss aus den Metallwangen der Luke. Es hat gestern unter dem Druck der Brechstange sofort nachgegeben und war problemlos aufgesprungen.

Acht Stufen führen in den Keller. Daneben ist eine kleine Rampe, auf der früher die Bierfässer hereingerollt wurden. Alles ist mit Matsch und Laub verschmiert und schlierig. Beim Hinabgehen stützt Anne März unterm Arm.

Unten ist es vollkommen finster. Sie schaltet ihre Taschenlampe ein. Der weiß gestrichene Lehmputz ist an unzähligen Stellen von den Wänden gebröckelt. Modriger Geruch hängt in der Luft. Als Kind hat Anne sich nur selten hierher getraut. Sie glaubte, überall würden Geister lauern, es war furchtbar unheimlich. Heute weiß sie, dass es keine Geister gibt. Dennoch flößen ihr die Kellerräume Unbehagen ein. Sie ist froh, als sie März die Holzstufen emporschieben kann, die in die Kühlkammer hinter dem Schankraum führen.

In der Kühlkammer stehen noch die alten Regale, Metallgestelle mit Einlegeböden aus Spanholz. Die Schiebetür zum Lastenaufzug in der Wand steht offen. In diesem Raum hat Mutter damals ihre Vorräte aufbewahrt: Fleisch, Konservendosen, Gemüse und Schnapsflaschen. In der Ecke stand eine Kühltruhe, darin gab es immer Eis am Stiel oder mit Waffelhörnchen.

Anne öffnet den Querriegel der schweren Stahltür und schiebt März in die ehemalige Gaststube. Der Wartesaal – ein guter Name für eine Bahnhofskneipe. Vor der Theke sind Barhocker im Boden verschraubt. Die runden Sitze lassen sich drehen.

»Setzen Sie sich«, sagt sie und deutet auf einen der Hocker. Im Raum ist es dunkel, die Fensterjalousien sind heruntergelassen. Der Strahl der Taschenlampe tanzt über März’ Gesicht.

Er kneift die Augen zusammen und setzt sich. Seine Kniegelenke knacken. Sie öffnet eine seiner Handschellen und befestigt sie am Hockerbein. Das wird halten. Aus eigener Kraft kommt er davon nicht los.

Natürlich weiß er, wo er ist, auch wenn er so tut, als säße er zum ersten Mal an dieser Theke.

Anne schenkt in zwei der hergebrachten Gläser Mineralwasser ein und schiebt eines zu ihm rüber. Er greift mit der linken Hand danach und trinkt.

Seine tiefliegenden Augen sind dunkel umrandet, die buschigen Brauen darüber inzwischen silbern und die Pupillen ganz hell. Sie leuchten wasserblau. Wie damals.

Seinem Blick nach zu schließen scheint er nicht zu erkennen, wen er mit Anne wirklich vor sich hat. Aber das kommt schon noch.

Gegenüber steht der Stammtisch. Anne sieht ihn voller Menschen. Mutter ist dabei, ein paar Onkel und Tanten und sogar Oma und Opa. Alle Erwachsenen rauchen. Im Holzofen brennt Feuer. Lachen … Und überall stehen Biergläser herum. Wenn mehrere davon leergetrunken sind, geht Mutter mit ihnen hinter den Tresen, spült sie durch und zapft sie wieder voll. Dazu Schweineschnitzel auf den Tellern, panierte Fleischlappen mit Hela-Soße, Paprikastreifen, Zwiebeln und Pommes. Anne ist vier oder fünf Jahre alt. Sie könnte sich reinsetzen in Mutters Soße, und natürlich mag sie am liebsten Pommes frites. Sie spielt mit dem Playmobil-Polizeiauto oder mit ihren Puppen; Opa hat nur für sie ein kleines Holzhäuschen gebaut. Opas Hände sind voller Gicht, sie sind rau und riesengroß, aber ganz warm, wenn er ihr über die Wangen streichelt.

Anne hat gern auf seinem Schoß gesessen. Trotz seiner Gichthände hat er oft Klavier gespielt. Er ist zu früh gestorben.

Ihr Herzschlag geht schnell. Er ist ungleichmäßig, als hätte das Rad, das den Kreislauf antreibt, eine Unwucht.

Ihre Finger sind klamm und steif vor Kälte. Sie nimmt ein paar Holzscheite aus der Ecke, schichtet sie im Ofen auf, wie sie es von Opa gelernt hat, stopft Zeitungspapier dazwischen und zündet es an. Das Holz ist ausgedörrt, es brennt sofort. Der Rauch zieht durch das Rohr nach draußen.

März schaut ihr zu. Seine Nasenflügel zucken, als würden sie irgendeinen unangenehmen Gestank wahrnehmen. Und er grinst. Das Grinsen sticht ihr in den Magen.

Die Luft in der Gaststube erwärmt sich, daran können auch März’ Eisaugen nichts ändern, die sich im Raum umsehen. Hört er auch das Klavier spielen, auf das er starrt? Und weiß er noch, dass der Zigarettenautomat vorn rechts neben dem Ausgang stand?

»Und jetzt?«, fragt er. »Was machen wir jetzt?«

Sie nimmt den Laptop, den sie gestern hergebracht hat, vom Regal, klappt das Display auf und schließt das Diktiergerät an. Die Spracherkennungssoftware ist auf dem neuesten Stand. Anne hat das Programm auf März’ Stimme trainiert; die alten Bänder aus seinen Vernehmungen von damals sind alle noch bei den Akten. Sie hatte sich die Sache schwieriger vorgestellt, aber es war alles in wenigen Minuten erledigt.

Sie schaltet das Gerät ein und setzt sich auf den Hocker neben ihn.

»Jetzt«, sagt sie. »Jetzt reden wir.«

Er beginnt zu lachen. Erst sacht, dann lauter und unkontrolliert. Er lacht schließlich so heftig, dass er wieder husten muss. Mit seiner linken, freien Hand wischt er sich übers Gesicht. »Ihr Eifer ist wirklich einmalig«, sagt er.

»Nehmen Sie Ihr Telefon in die Hand.«

»Was?«

»Sie haben mich verstanden.«

Er holt sein Telefon aus der Manteltasche. »Haben Sie kein eigenes?« Er grinst.

Sie legt den Zettel vor ihm auf den Tresen. Ganz oben hat sie mit rotem Kugelschreiber die Nummer ihres Diensttelefons im Präsidium geschrieben. Darunter steht der Text.

»Sie werden jetzt diese Nummer wählen. Wenn die Mailbox anspringt, sprechen sie diesen Text.« Sie zeigt auf das Papier.

Er nimmt den Zettel in die Hand, überfliegt die Zeilen und legt ihn zurück. »Was soll der Scheiß?«

»Machen Sie schon. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«

»Vergessen Sie’s.«

Sie zieht ihre Dienstwaffe aus dem Holster, ganz ruhig, ganz sacht, und legt sie auf den Tresen.

Er starrt auf die Pistole und fängt an, auf seiner Unterlippe zu kauen.

Sie beugt sich ein Stück zu ihm hinüber. Der süßlich-herbe Duft seines Rasierwassers passt wirklich nicht zu ihm.

Langsam nimmt sie die Waffe in die Hand und führt sie nach unten. Sie drückt den Lauf an seine Kniescheibe und spannt den Hahn.

»Was soll das?«, fragt er zu laut. Seine Stimme klingt nervös, sein Oberkörper zuckt zurück. »Lassen Sie das.«

Sie drückt ab.

März schreit auf. Die P6 war nicht geladen, seine Kniescheibe ist nur vom nach vorn stoßenden Pistolenlauf getroffen worden. Anne greift in ihre Jackentasche, nimmt ein volles Magazin heraus und tauscht es gegen das leere im Griff der Waffe. Sie zieht den Schlitten zurück und lässt ihn nach vorn schnellen. Das Projektil rastet ein, der Metallverschluss schnappt zu. Erneut führt sie die Mündung an sein Knie, und erneut spannt sie den Hahn.

»Sie sollten mich ernst nehmen«, sagt sie und lächelt, auch wenn es ihr schwerfällt.

Das Kaliber der P6 beträgt neun Millimeter, die Mündungsgeschwindigkeit liegt bei dreihundertvierzig Metern pro Sekunde. Das entspricht etwa der Geschwindigkeit des Schalls, weshalb das menschliche Gehör den Knall des Abfeuerns erst wahrnimmt, wenn die Kugel längst im Ziel steckt.

Anne drückt ein zweites Mal ab.

Hätte sie erneut seine Kniescheibe im Visier gehabt, wäre der Knochen zertrümmert worden, noch bevor März den Schuss gehört hätte. Stattdessen steckt die Kugel im Fußboden. Dennoch schreit März laut auf – nicht vor Schmerz, sondern vor Entsetzen. Für Schmerz bleibt noch genug Zeit.

»Seien Sie still«, sagt Anne. »Tun Sie einfach nur das, was ich Ihnen sage.«

Er nimmt sein Telefon und wählt die Nummer. »Hallo, Frau Paulsen. Ich bin’s, Volker März. Wir müssen reden. Bitte kommen Sie zu mir. Am besten jetzt gleich. Ich bin zu Hause. Es ist wichtig. Danke.«

Sein Kehlkopf geht auf und ab. Er bewegt sich mit der gleichen Unwucht, die auch Annes Kreislauf beherrscht und die jetzt, genau in diesem Augenblick, zu einer Wucht geworden ist.

1. Von Ohrläppchen zu Ohrläppchen

November 1981

Zuerst roch der Tod nach Desinfektion, die Verwesung kam später. Das galt vor allem hier, im Sektionsraum der Eppendorfer Rechtsmedizin, den Kriminalhauptkommissar Klaus Margraf seit Jahren kannte und an den er sich nie gewöhnen würde.

Er stand in der Mitte des Raumes und wusste nicht, wohin mit seinen Händen. Die Luft war erfüllt von Spiritus und Chlor, auch eine Spur Essig mochte dabei sein. Von der Decke fiel grelles Neonlicht. An der Wand befanden sich schachbrettartig die Edelstahlluken für die sterblichen Überreste derer, die ins Jenseits gegangen waren. Das Ganze wirkte wie ein riesiger Apothekerschrank, drei Meter hoch und bestimmt acht Meter breit. Sechs Luken nebeneinander, vier übereinander. Vierundzwanzig Verwahrorte für Suizide, Morde und diejenigen Fälle, bei denen sich ein natürliches Ableben herausstellen würde – Verwahrorte für den Tod. Und irgendwie auch für das Leben.

Margraf, lass das. Pathos steht dir nicht. Er zwirbelte seinen Schnauzer. Er zwirbelte ihn immer nur an der linken Seite. Freunde und Kollegen lachten schon darüber und behaupteten, der Bart sei dadurch asymmetrisch – links etwas länger und spitzer als rechts.

Eine Lichtröhre an der Decke knackte und begann zu flackern, aber schon nach wenigen Sekunden funktionierte sie wieder. Auf einem Rollwagen, der wie die Luken an der Wand aus Edelstahl gefertigt war – irgendwie war hier sehr vieles aus Edelstahl gefertigt –, warteten Scheren, Zangen und Pipetten, Metallschalen, Spreizer, Sägen und Skalpelle auf ihren nächsten Einsatz. Margraf ging langsam darauf zu, jeder Schritt im Raum erzeugte ein Echo.

Es blieb für ihn ein Rätsel, was Menschen dazu brachte, Gerichtsmediziner zu werden – welchem Antrieb sie folgten, Leichen aufzuschneiden, Organe zu sezieren und all das schwarze Blut und den Gestank zu ertragen. Dabei sahen die meisten aus wie du und ich. Sie kamen morgens zum Dienst, blieben acht oder mehr Stunden im Reich der Toten und fuhren am Abend heim zu Frau und Kind, als hätten sie in ihrem Job nichts Besonderes erlebt. Margraf kannte einige von ihnen. Sie alle beherrschten ihr Metier, aber herausragend war allein einer: Professor Dr. Victor von der Straten. Er liebte seinen Beruf und gab sich ihm hin, wie ein Musiker sich seinem Klavier hingab oder ein Maler seinen Farben: sanft, gefühlvoll, ernst und stets voller Respekt gegenüber den Toten. Immer, wenn Margraf ihn im Institut aufsuchte, ergoss sich leise Schlagermusik aus den Lautsprechern, die in die Raumdecke eingebaut waren, und immer besangen ein Mann oder eine Frau das Schicksal der Welt oder die große Liebe und das Leid, das sie – offenbar zwangsläufig – mit sich brachte.

Das war heute nicht anders. Jürgen Drews mit Ein Bett im Kornfeld erklang in dem gekachelten Raum.

Margraf zog seinen Mantel aus und hängte ihn an den Garderobenständer in der Ecke hinter der Tür. Der runde Ständer war aus Mahagoniholz gefertigt. Dunkel und naturbelassen, wie er war, wirkte er wie ein Fremdkörper zwischen all den weißen Kacheln, dem grauen Fliesenboden, dem gleißenden Neonlicht und dem ganzen Edelstahl an Türen und Tischen. Er hätte besser in eine Dorfkneipe gepasst. Aber der Leiter der Rechtsmedizin war eben ein Exot, und Margraf hätte es nicht gewundert, wenn er den Ständer bei einer Skatrunde in irgendeiner lausigen Hafenpinte gewonnen hätte. Junge, komm bald wieder.

Er trat an den Tisch und unterzog sich der immer wieder unangenehmen, doch vertrauten Prozedur. Er nahm zwei kleine Wattekugeln, tunkte sie in eine nach Menthol riechende, wachsartige Masse und schob sich die Bäusche in die Nasenlöcher. Das Menthol brannte an den Schleimhäuten, unweigerlich schossen ihm Tränen in die Augen. Unglaublich, dass sich Gerichtsmediziner selbst daran zu gewöhnen schienen.

Die Hamburger Rechtsmedizin am Uniklinikum Eppendorf zählte zu den renommiertesten Instituten im Land. Rund einhundertzwanzig Fälle von Mord und Totschlag landeten hier pro Jahr, was statistisch bedeutete, dass in der Region an jedem dritten Tag ein Mensch getötet wurde. Die Aufklärungsquote konnte sich sehen lassen, sie lag bei etwa achtundneunzig Prozent. Und ein Grund dafür war von der Straten, der in diesem Moment den Sezierraum betrat und Margraf mit Handschlag und kantigem Nicken begrüßte.

»Eine verdammte Vergeudung«, grummelte er, ging zu einer der Luken, öffnete den Hebelverschluss und zog die Metallbahre heraus.

Das Scharnier der Führungen an den Seiten rastete ein, der längliche weiße Plastiksack darauf schien zu zucken. Am Fußende baumelte ein Datenkärtchen aus hellgrüner Pappe: »Nina Markowski, geb. 01.05.1964. Todeszeitpunkt: 4. Nov. 1981.«

Fünf Tage war das her, doch Margraf war erst gestern in den frühen Morgenstunden zum Fundort gerufen worden. Ein älteres Ehepaar hatte die Leiche in einem Waldstück zwischen Celle und Hambühren entdeckt.

Unter»Todesursache«war auf dem Kärtchen vermerkt: »Fremdeinwirkung.« Das genügte für Ermittlungen. Das Wie würde sich später herausstellen. Kriminalistik war ein Puzzle, war ein Suchen nach Zusammenhängen, bei dem aus Einzelteilen Stück für Stück ein Gesamtbild entstand. Von der Straten tat das an einem Metalltisch, mit Säge und Skalpell, und manchmal war seine Arbeit mehr wert als die der Kripo.

»Was haben Sie für mich?«, fragte Margraf.

Von der Straten zog sacht den Reißverschluss des Plastiksacks auf. »Das Mädchen war siebzehn. Der Täter hat sie vergewaltigt und dabei defloriert. Wir haben Spermareste und Blut in ihrer Vagina und ihrem Slip gefunden.« Er zog den Reißverschluss bis zum Fußende und klappte die Seiten auf.

Die Wirkung des Menthols verflüchtigte sich, der Verwesungsgeruch wurde stärker, diese einzigartige Mischung aus süßlichem Fleisch und schäumender Säure. So roch nur der Tod.

Blonde, dreckverschmierte Haare. Die schwarze Wimperntusche verlaufen. Spröde, fast blaue Lippen. Der Hals war durchtrennt und provisorisch wieder zugenäht worden, die Naht sah aus wie aus einem Frankensteinfilm. In der linken Brust befanden sich zwei verkrustete Stichwunden. Die Bauchdecke war eingefallen, das Opfer hatte offenbar eine Menge Blut verloren.

»Wir haben zweiundzwanzig Messerstiche gezählt«, sagte von der Straten. Er streifte sich Latexhandschuhe über. »Neben Hals und Brust hat der Täter ihr mehrfach in die Hüfte und den Unterleib gestochen. Ich schätze die Länge der Klinge auf etwa fünfundzwanzig Zentimeter. Er muss wie besessen gewesen sein, völlig außer Kontrolle. Schauen Sie sich mal den Hals an.« Von der Straten deutete auf den Kehlkopf, der kaum noch zu erkennen war. Mit dem Zeigefinger fuhr er über die Naht. »Der Schnitt geht tief runter bis zur Halswirbelsäule. Der Kerl muss eine Menge Kraft gehabt haben. Und dann einmal von links nach rechts, sehen Sie? Keine Ausfransungen, alles ganz glatt. Er wollte auf Nummer sicher gehen. Das Herz des Mädchens hat noch eine Weile gearbeitet und hat das Blut aus der Halsschlagader gepumpt. Sie ist ausgeblutet wie Schlachtvieh.«

Margraf beugte sich ein Stück hinab. Es war ihm schleierhaft, wie von der Straten einen sauberen Schnitt erkennen konnte. Die Wunde sah aus wie andere auch: dunkelrot, fast schwarz, wellig, voller Schorf.

»Haben Sie sonst noch was?«, fragte er.

Von der Straten ging zu einem Tisch an der Wand, auf dem eine Thermoskanne und ein paar Becher standen, und schenkte sich Kaffee ein. »Wollen Sie auch?«

Margraf winkte ab. »Ich trinke keinen Kaffee.«

Die Neonröhre an der Zimmerdecke flackerte abermals, kam aber wie beim ersten Mal gleich darauf wieder zur Ruhe.

Von der Straten hob die Schultern und nippte an der schwarzen Plörre. »Unter ihren Fingernägeln befanden sich Erde und Hautpartikel. Sie wird sich gewehrt haben und hat dabei den Täter gekratzt.« Er drehte das Radio leiser.

»Könnte es eine Beziehungstat gewesen sein?« Unwillkürlich, vielleicht aus einem Gefühl des Mitleids heraus, streckte Margraf die Hand aus, um das Gesicht der Toten sacht zu berühren, doch er konnte sich nicht dazu überwinden. Sein Arm erstarrte mitten in der Bewegung, er wandte sich von der Leiche ab. Es war immer wieder unbegreiflich, wozu Menschen imstande waren.

»Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen, Herr Kommissar?«

Margraf zuckte mit den Schultern. »Sicher.«

»Wann haben Sie die Leitung der Mordkommission übernommen?«

»Vor gut einem Jahr. Warum?«

»Wie viele Leichen haben Sie schon gesehen, die so zugerichtet waren?«

»Weiß nicht. Noch nicht so viele – jedenfalls nicht in dem Zustand.« Diese gottverdammten Wattekügelchen in seiner Nase störten, er bekam keine Luft. Er zog sie heraus und warf sie in einen Papierkorb. Sofort war der Verwesungsgestank zurück.

»Noch nicht so viele«, wiederholte von der Straten. »Aber Sie wissen, dass keine so ist wie die andere.«

Margraf nickte. Natürlich wusste er das. »Worauf wollen Sie hinaus?«

»Ich halte Sie für einen hervorragenden Ermittler. Die Sache von neulich, als Sie Staatsanwalt Jablonski davon überzeugt haben, das Ermittlungsverfahren gegen diesen, diesen … Sie wissen schon.«

»Jan Köfler«, sagte Margraf.

»Ja, genau, Köfler, so hieß der Kerl. Als Sie Jablonski die fehlende Tatwaffe präsentiert haben … À la bonne heure.«

Jablonski hatte die Sache nicht ernst genommen – warum auch immer –, und das hatte Margraf gestunken. Es gab nichts Schlimmeres als einen Staatsanwalt, der seinen Job nicht tat. Jablonski hatte zudem Margraf die Hierarchieverhältnisse spüren lassen: Er oben, Margraf unten. Daraufhin hatte Margraf dem Ermittlungsrichter seine Ergebnisse direkt präsentiert. Es hatte keinen Tag gedauert, dann war Jablonski wieder in der Spur gewesen. Margraf war ein geduldiger Mann, aber man durfte seine Geduld nicht überstrapazieren.

»Herr Jablonski ist manchmal etwas schwerfällig.«

»Wohl wahr«, pflichtete von der Straten bei. »Deshalb war Ihr Einsatz Gold wert. Nur …«

»Nur?«

»Verletzungen bei Leichen einzuordnen, das müssen Sie noch lernen.« Von der Straten nippte wieder an seinem Kaffee.

Margraf stutzte. Verletzungen bei Leichen einordnen? Er? Was für ein Unsinn. Dafür gab es schließlich die Rechtsmedizin. Das Beurteilen von Wunden überließ er gerne denen, die darauf spezialisiert waren, von der Straten zum Beispiel. Margraf wandte sich den Lebenden zu und ihren Beziehungen zum Opfer. Denn auf diesem Gebiet war er der Experte, und manchmal war es auch seine Arbeit, die mehr wert war als die von der Stratens.

Allerdings musste sich Margraf eingestehen, dass er den Urteilen und Wertschätzungen des Gerichtsmediziners große Bedeutung beimaß. Von der Stratens »Ich halte Sie für einen hervorragenden Ermittler« war runtergegangen wie Öl. Es tat gut, Lob von einer solchen Koryphäe zu hören. Der Mann war eine Institution, war Jahrzehnte im Geschäft und kannte die Stärken und Schwächen von Ermittlungsbeamten. Oft genug hatte er als Sachverständiger im Gerichtssaal mitansehen müssen, wie offensichtlich Schuldige wegen irgendwelcher Fehler bei den Ermittlungen freigesprochen wurden. Eine Tatsache, die für sie beide nicht nur unerträglich, sondern geradezu perfide war. Wahrscheinlich wäre Köfler auf freiem Fuß geblieben, wenn Margraf nicht insistiert hätte. Bisher lag seine Aufklärungsquote bei hundert Prozent. Das durfte gern so bleiben.

»Sie fragen mich, ob es eine Beziehungstat war? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß eins … Oder besser gesagt: Von einem gehe ich nach dreißig Jahren Berufserfahrung aus.«

»Und das wäre?«

Von der Straten musterte Margraf einen Moment lang. Dann stellte er seinen Kaffeebecher beiseite, trat an den Leichnam und schloss den Reißverschluss der Plastikfolie genauso behutsam, wie er ihn geöffnet hatte.

»Also, die Geschichte geht so: Er vergewaltigt das Mädchen, okay? Als er fertig ist, setzt sein Verstand ein. Er realisiert, dass die ganze Sache gefährlich für ihn werden könnte. Das ist möglicherweise der Moment, in dem das Mädchen zu fliehen versucht. Er denkt an das Messer, das er mitgenommen hat – für alle Fälle –, sieht sich vielleicht schon im Knast und zählt eins und eins zusammen. Er läuft ihr nach und sticht auf sie ein, wahllos, wie besessen. Er muss die Vergewaltigung vertuschen, er muss dafür sorgen, dass er deswegen nicht zur Rechenschaft gezogen wird. Also sticht er wieder und wieder zu. Bis sie daliegt und schreit oder nur noch wimmert. Und jetzt sieht er keinen anderen Ausweg mehr. Sie muss weg, ganz weg. Sie darf nie mehr reden, nie der Polizei erzählen können, was ihr passiert ist. Da nimmt er sein Messer, beugt sich über sie und durchtrennt ihr fein säuberlich die Kehle, von Ohrläppchen zu Ohrläppchen. Jetzt erst kann er sicher sein, dass sie für immer schweigt. Aus meiner Sicht ein klarer Mord zur Verdeckung einer Straftat.«

Von der Straten löste die Arretierung der Bahre und schob sie zurück in die Wand. »Eine Beziehungstat …«, fuhr er fort. »Ja, vielleicht. Aber es kann auch jemand gewesen sein, der zuvor keinerlei Kontakt zum Opfer hatte und nach der Vergewaltigung einfach die Kontrolle verloren hat. Wäre nicht das erste Mal.« Er streifte die Handschuhe ab, warf sie in den Mülleimer und musterte Margraf wieder.

Chris Roberts sang Du kannst nicht immer siebzehn sein. Margraf war drauf und dran, das Radio auszuschalten. Die Musik war nicht zu ertragen.

So, wie der Täter das Opfer zugerichtet hatte, war es ihm vermutlich nicht nur um das Verdecken seiner Vergewaltigung gegangen. Wer derart wütete, musste voller Hass oder Rachsucht sein – Motive, die ihre Wurzeln zumeist in einer tief empfundenen Kränkung fanden. Und das sprach durchaus dafür, dass sich Täter und Opfer gekannt hatten.

»Ach«, sagte von der Straten. »Bevor ich es vergesse: Schauen Sie mal, was ich noch habe.« Er hielt ein kleines, durchsichtiges Tütchen in die Luft, in dem sich zwei Groschen befanden.

»Hatte sie die bei sich?«, fragte Margraf.

»Die lagen ein paar Meter von der Leiche entfernt im Gras. Ihre Fingerabdrücke sind darauf. Sie wird sie vermutlich verloren haben.«

Margraf nahm das Tütchen und betrachtete die Münzen, zwei messingfarbene Zehnpfennigstücke. Sie zeigten keinerlei Auffälligkeiten, nicht einmal Dreck oder Grasreste klebten daran. »Vielleicht hat sie versucht, irgendjemanden anzurufen, bevor sie zum Täter in den Wagen gestiegen ist.« Er gab das Tütchen von der Straten zurück.

Der Gerichtsmediziner schaute sein Gegenüber mit zusammengekniffenen Augen an.

»Was ist?«, fragte Margraf.

Von der Straten lächelte, zog seinen Kittel aus und legte ihn über seinen Unterarm. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Ihr Schnäuzer schief ist? Also … Ich meine … ein bisschen … nur ein klein wenig, aber es fällt mir jedes Mal auf, wenn ich Sie sehe. Er ist links länger als rechts.«

Der Mann war wirklich unglaublich. Dass er ausgerechnet in diesem Moment und unter diesen Umständen auf den Bart zu sprechen kam … Margraf verschlug es die Sprache, er schüttelte nur den Kopf.

»Entschuldigung, ist ja auch nicht so wichtig«, sagte von der Straten. »Also, was haben Sie jetzt vor?«

Als Erstes, wenn er zu Hause war, würde er im Badezimmer nach der Bartschere suchen.

»Ich werde bei den Eltern ansetzen. Der Vater hat sich von der Mutter getrennt, kaum dass Nina geboren war. Er hat sich nie um seine Tochter gekümmert. Mal sehen, wo ich ihn finde und wie er sich zu der Sache äußert.«

»Und was ist mit der Mutter?« Von der Straten trank langsam einen weiteren Schluck. Der Kaffee musste längst kalt sein.

»Charlotte Markowski«, antwortete Margraf. »Ich habe ihr die Nachricht vom Tod ihrer Tochter überbracht. Sie ist zusammengebrochen. Ein Rettungswagen hat sie ins Lüneburger Krankenhaus gefahren. Ich muss schauen, ob sie schon vernehmungsfähig ist.«

»Verstehe. Das eigene Kind zu verlieren muss grauenhaft sein.«

Margraf hatte Charlotte Markowski aufgefangen, als ihr die Knie weggesackt waren. Nein. Nein. Das stimmt nicht. Sie lügen, hatte sie immer wieder gestammelt. Ihre Tochter sei oben in ihrem Zimmer. Charlotte bringe ihr später Tee. Sie bringe ihr jeden Abend Tee.

»Nina war ihr Ein und Alles«, sagte Margraf. »Manch einer geht an so was kaputt.«

Von der Straten klopfte ihm auf die Schulter, als wollte er ihn trösten. »Ein so junges Leben … einfach ausgelöscht. Eine verdammte Verschwendung, ich sag’s Ihnen.«

Margraf ging zur Tür und nahm seinen Mantel vom Haken. Bevor er den Raum verließ, drehte er sich noch einmal um. »Darf ich Ihnen auch eine persönliche Frage stellen, Herr Professor?«

Von der Straten zog die Augenbrauen hoch.

»Warum hören Sie ständig diese grauenhafte Musik? Deutscher Schlager ist Folter.«

Von der Straten lachte, trat zum Radio und drehte es lauter. Eine Frau sang davon, ganz Paris träume von der Liebe.

»Heile Welt«, rief er. »Wunderbare, heile Welt.« Er begann zu tanzen.

Der Kerl war wirklich durchgeknallt. Aber mancher Wahnsinn ließ sich wohl nur mit Wahnsinn ertragen.

2. Wallat, denk nach!

November 2022

Da stimmt was nicht. Nick Wallat schaut auf sein Handy. Zwei Nachrichten hat er auf Annes Mailbox hinterlassen, hat in den letzten vier Stunden mehrfach versucht, sie zu erreichen. Sie hat sich einfach abgemeldet auf der Dienststelle, wegen irgendeines Außentermins. Aber das passt nicht zu ihr. Wenn sie ermittelt, ruft sie als Erstes ihn an, ihren Teamleiter, und stimmt das Vorgehen mit ihm ab.

Es ist zwölf Uhr mittags, Regen schlägt gegen die Scheiben, dieser typische Novemberregen, grau, stoisch, er läuft gelangweilt an den Fensterscheiben herab. Die Büros im obersten Stock der Polizeidirektion I sind verwaist, die Kollegen schlagen sich die Bäuche in der Kantine voll. Currywurst mit Pommes, Königsberger Klopse, Spaghetti Bollo oder Backfisch mit Kartoffelsalat. Immer das Gleiche. Wallat kann den Fraß nicht mehr sehen und ist auf Obst und Proteinshakes umgestiegen. Heute waren Anne und er zum Essen verabredet, wollten gemeinsam zu dem kleinen Sushi-Laden fahren, der am Lüneburger Marktplatz neu eröffnet hat. Sie wollten sich hier treffen, in Annes Büro, in dem Wallat jetzt steht und in dem bis auf den Regen draußen an den Scheiben nur der leise surrende Ventilator des Computers unter dem Schreibtisch zu hören ist.

Verbrauchte Luft hängt im Raum, es riecht nach Papier und Holz und altem Linoleum; die warme Trockenheit kratzt im Hals. Wallat dreht die Heizung herunter und öffnet eines der Fenster auf Kipp. Unten im kleinen Hafenbecken dreht sich ein Motorboot im Kreis, nicht schnell, aber konstant. Der Fahrer hat das Boot offenbar nicht im Griff. Ein paar Möwen kreisen unter dem düsteren Wolkenhimmel und kreischen. Manchmal segeln sie herab, setzen sich auf einen der Pontons und warten auf irgendetwas, immer mit diesem überheblichen Blick in ihren Knopfaugen.

Wallat muss wissen, was los ist, vielleicht ist Anne in Gefahr. Sie neigt dazu, Dinge selbst in die Hand zu nehmen, womöglich auch jetzt. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie übers Ziel hinausschießt. Leidenschaft ist wichtig, für jeden Beruf, vor allem für ihren. Aber das darf nicht überhandnehmen, die Beschäftigung mit einem Fall darf nicht zur Obsession werden. Bei Anne verwischen die Grenzen hin und wieder, und ihre Verbissenheit in der März-Sache grenzt an Unprofessionalität. Aber Wallat hütet sich, sie darauf anzusprechen und ihr zu raten, sich von ihrem Verstand und nicht von den Gefühlen leiten zu lassen. Warum sagt er es ihr eigentlich nicht? Er ist immerhin ihr Boss.

Er öffnet die oberste der drei Schubladen ihres Schreibtischs. Sonst macht er so was nicht, es gehört sich nicht. Aber er hat keine Wahl. Stifte, Papier, ein Lineal, ein Taschenrechner, etwas Münzgeld. Danach zieht er die mittlere Schublade heraus: Batterien, ein Diktiergerät, eine kleine Taschenlampe und unzählige Büroklammern. Nichts, was ihm weiterhelfen könnte. In der untersten Schublade findet er den Karton eines alten Telefons und ein paar in Kunststofffolie verpackte Tampons. Das ist alles. Nichts Persönliches. Nichts, was Rückschlüsse auf sie und ihr Privatleben zulässt.

Seit fünf Jahren arbeitet er jetzt mit ihr zusammen, doch bis heute weiß er nicht, ob sie mit ihrem Thomas glücklich ist, welche Freunde sie hat oder was sie überhaupt in ihrer Freizeit treibt. Wenn er sie danach fragt, lächelt sie nur, und wenn er sie nach Dienstschluss auf einen Drink oder ins Kino einladen will, schüttelt sie den Kopf. Anne ist eine erstklassige Ermittlerin, aber es ist ihm ein Rätsel, warum sie sich ausgerechnet in seine Abteilung hat versetzen lassen, die Abteilung, die intern nur »AlWi« genannt wird – die Abkürzung für »Alles Widerliche«. Die wenigsten Kollegen wollen freiwillig hier arbeiten. Kindesmisshandlungen, Pornografie, Menschenhandel. Der Tod ist Nebensache, im Vordergrund stehen körperliche Qualen und seelische Verstümmelungen. Stirbt ein Opfer, ist es meist Erlösung.

Anne ist eine attraktive Frau: schlank, einen Meter siebzig groß, lange, zum Zopf gebundene schwarze Haare. Ihre Finger sind so zierlich wie die eines jungen Mädchens, und wenn sie lacht, sieht sie aus wie Mitte zwanzig, nicht wie Ende vierzig. Sie ist klug und ehrgeizig, sie wäre genau die Richtige für die Abteilung Wirtschaftskriminalität. Weiße Kragen statt blutverschmierter Abgründe. Aber sie wollte unbedingt in Wallats Abteilung, wollte zu den Opfern des Abschaums der Menschheit. Zu strangulierten Babyleichen, zu geschundenen und entstellten Körpern kleiner Jungen und Mädchen, auf deren Gesichtern und Rücken Zigaretten ausgedrückt wurden. Zu den jungen Menschen, die von Stiefvätern, den eigenen Müttern oder dem Freund der Familie, dem lieben Onkel von nebenan, jahrelang missbraucht wurden. Anne lässt sich von all dem nicht abschrecken; sie sieht ihre Berufung darin, sich genau da einzusetzen. »Warum sollen die schwierigsten Fälle ausgerechnet von den schlechtesten Ermittlern bearbeitet werden?« Das entgegnete sie damals Klaus Margraf – Wallats Vorgänger als Leiter der Mordkommission –, nachdem er sie beim Bewerbungsgespräch gefragt hatte, warum sie ausgerechnet in die AlWi wolle. Wallat war ebenso wie sein einstiger Kollege sofort angetan von ihr, vor allem, weil Anne die gleiche Wellenlänge hat wie sie beide, was die Arbeitsmoral anbetrifft.

Ihr Schreibtisch ist perfekt aufgeräumt. Er sieht aus, als würde daran nicht gearbeitet. Keine Aktenstapel, kein einziges Blatt Papier. Nur der Computermonitor und das Telefon, neben dem fein säuberlich ein Kugelschreiber und ein Textmarker liegen.

Wallat nimmt den Hörer ab und drückt die Wahlwiederholung. Im Display erscheint ein doppelter Strich. Das passt zu ihr, sie hat die gespeicherten Anrufe gelöscht.

Er setzt sich auf den Schreibtischstuhl und schaltet den Computer ein. Der Bildschirmschoner erscheint, das sich drehende Wappen der Lüneburger Kripo. Er gibt das Passwort ein, das alle in der Abteilung haben, und öffnet den Internetbrowser. Anne hat die Chronik bereinigt: kein Hinweis darauf, was sie sich zuletzt angesehen, was sie recherchiert oder woran sie gearbeitet hat. Irgendwie typisch für sie. Aber es ist nicht in Ordnung, es verstößt gegen die Absprachen, die sie in der Abteilung haben. Die Recherchen sollen für alle einsehbar und nachvollziehbar sein; das dient dem Schutz jedes Einzelnen von ihnen. Fällt ein Mitglied des Teams aus, können die anderen seine Arbeit sofort weiterführen. Wichtiger aber: Wird ein Kollege vermisst, wird er womöglich entführt und als Geisel genommen, können seine letzten Recherchen Aufschluss über den oder die Täter geben. Anne weiß das, und sie hat sich offenbar bewusst zu einem Regelverstoß entschlossen. Sie macht einen Alleingang, das steht fest, sie will niemanden mit reinziehen, worein auch immer.

Wallat schaltet den Rechner aus, geht zum Fenster und sieht den Regentropfen zu, wie sie die Scheibe hinablaufen. Manchmal schließen sich zwei oder drei Tropfen zu einem größeren zusammen, der sich an der unteren Fensterkante bricht und zerfließt.

Das Boot im Hafenbecken ist zum Stillstand gekommen. Ein Mann steht am Außenborder und zieht unentwegt am Anlasser, aber der Motor springt nicht an.

Ein einziges Mal hat Anne ihre Reserviertheit aufgegeben. Ist noch nicht lange her, Anfang September. Wallat hatte Geburtstag, sein zweiundfünfzigster. Sie hatten beide Dienst bis neun Uhr abends. Das Team und ein paar seiner Freunde hatten eine Spontanparty in der Gangsterbar organisiert, die unweit von seiner Wohnung in der Lüneburger Altstadt liegt. Anne trank zu viel und er auch. Aus irgendeinem Grund kam sie mit in seine Bude, und kurz darauf landeten sie in seinem Bett. Die Nacht war warm und feucht, und ohne ein Wort zu verlieren, entledigten sie sich ihrer Kleidung. Anne saß schließlich auf ihm, ihre Brüste glänzten im Mondlicht, das durchs Fenster fiel. Sie hatte die Augen geschlossen, und als sie kam, schlug sie mit den Fäusten auf seinen Brustkorb ein. Am anderen Morgen wollte er ihr Kaffee machen. Doch sie lehnte ab, zog sich Hals über Kopf an, entschuldigte sich bei ihm und verließ die Wohnung. Sie entschuldigte sich tatsächlich bei ihm – wofür auch immer. Sie haben nicht mehr darüber gesprochen. Wallat ist die Sache nicht unangenehm, trotzdem hat sie einen faden Nachgeschmack.

Das Einzige, was außer ihm hier im Raum lebt, ist eine Orchidee. Sie steht auf der Fensterbank, ihre Blätter schimmern grün und sehen saftig aus. Als Wallat eines der Blätter leicht zwischen Daumen und Zeigefinger zusammenpresst, gibt es nach wie Muskelfleisch, ein Abdruck entsteht.

Wallat, denk nach! Wo könnte sie stecken? Zuletzt hat sie an der März-Sache gearbeitet. Was hat sie vor? Sie kann doch nicht wirklich so verrückt sein, dass sie da was im Alleingang macht.

Er sieht sich die Rücken der Ordner an, die alphabetisch geordnet in der Schrankwand stehen, und geht die Aufschriften mit dem Zeigefinger ab. Klein, Kluse, Kusz, Lemke, Lowajek, Manthey … März. Da ist er. Der Ordner steht neben den anderen, als sei er einer von vielen. Wallat zieht ihn hervor, setzt sich wieder und blättert. Es ist der letzte Band der Reihe, die aus insgesamt zwölf Ordnern besteht; die anderen elf sind wahrscheinlich im Archiv. In diesen Akten befinden sich unzählige Unterlagen: Urteile, etliche Gerichtsbeschlüsse, psychiatrische und technische Gutachten, Protokolle von Zeugenaussagen, Observationen und tausend Blatt mehr. Gewissheiten und Zweifel, vereint zu der Erkenntnis, dass nichts ist, wie es scheint, und manches nicht so scheint, wie es ist.

Volker März, inzwischen zweiundsiebzig, früher Außendienstmitarbeiter für einen Tabakgroßhändler als Zigarettenautomatenbefüller. Klaus hat damals, 1981, als er gerade Leiter der Abteilung geworden war, eine Sonderkommission einberufen, die SoKo Gold.

Auf der letzten Seite der Akte findet sich ein Vermerk mit Bleistift. Das ist Annes Handschrift. Sie hat ein einziges Wort notiert: »Tanz.«

Wallat klappt den Ordner zu und stellt ihn zurück zu den anderen. Er hat eine Ahnung. Anne stellt irgendetwas mit März an. Hoffentlich irrt er sich.

3. Tanz

August 1981

Wie jedes Jahr hatte sich auch diesmal eine Menschenschlange vor dem Eingang zum Festzelt gebildet. Links und rechts wurde er von zwei mickrigen Birken gerahmt, darüber hing ein Banner: »Hambührener Schützenfest, 3. bis 5. August 1981«.

Die Schlange löste sich schneller auf als erwartet. Das Zelt war prall gefüllt mit Menschen. Den meisten stand Schweiß auf der Stirn, die Luft war stickig und verbraucht. Fast alle rauchten, die Jüngeren Zigarette, die alten Herren Zigarre. Ihre Bäuche pressten den Stoff der weißen Hemden über den Hosenbund hinaus, die Hosenträger schienen jeden Moment zu bersten, und alle hatten einen Krug Bier in der Hand und rote Gesichter.

Ninas Rock war nicht zu kurz. Der Aufstand, den Mama vorhin veranstaltet hatte, war völlig überflüssig gewesen. Die Röcke von Ninas Freundinnen waren auch nicht länger, das trug man heutzutage so. Und es war immerhin Tanz und Nina siebzehn, also fast volljährig. Mamas spießige Ansichten gingen ihr schon lange auf den Keks, aber das sagte Nina natürlich nicht laut. Mama meinte es nur gut, das betonte sie oft genug.

Den Nachmittag hatte Nina mit Kathi und Andrea in der Badeanstalt verbracht. Anderswo war es zu heiß gewesen, selbst im Schatten der Bäume. Später hatte sie zu Hause geduscht und sich zurechtgemacht. Mama war ins Bad gekommen. Wie immer hatte sie nicht angeklopft, und Nina hatte nicht abgeschlossen. Sofort war Mama auf den Rock und den knallroten Lippenstift zu sprechen gekommen. Zu ihrer Zeit habe es so etwas nicht gegeben, hatte sie gesagt, das sei nuttig. Sie hatte Mama gebeten, das Bad zu verlassen, und Mama war kopfschüttelnd abgezogen.

Mütter mussten offenbar so sein. Die ihrer Freundinnen waren nicht anders, und auch deren Väter hatten total altmodische Vorstellungen. Sie trugen genau zwei Arten von Klamotten, diese Väter: entweder Blaumann und Holzfällerhemd oder Cordhosen. Dazu gern eine dieser gruseligen Übergangsjacken, die es in den Kaufhäusern immer runtergesetzt und ausschließlich in einem hellen Grau oder diesem Khaki gab, das dann auch noch als »Schlamm« bezeichnet wurde. Die Dinger waren von der aktuellen Mode so weit entfernt wie Roland Kaiser von Pink Floyd. Aber es wäre unfair gewesen, Vater »X« oder Vater »Y« oder überhaupt die Männer von Hambühren dafür zu verurteilen. Sie taten nur das, was die meisten taten: Sie kleideten sich wie alle anderen, hörten Schlager wie alle anderen und gingen wie alle anderen sonntags zum Fußballplatz, um die erste Herrenmannschaft anzufeuern und zu hoffen, dass es endlich mit dem Aufstieg in die Bezirksliga klappen würde. Da standen sie dann mit breiter Brust und ausladenden Bäuchen, aßen Bratwurst, tranken Bier, Schnaps oder Kräuterlikör und rauchten HB oder Reval ohne Filter. Es war der immer gleiche Trott, dem sie sich gefügig hingaben, tagein, tagaus, Woche für Woche, ein Leben lang. Das gab ihnen Sicherheit, ein Gefühl von Vertrautheit, das sie brauchten, um glücklich oder wenigstens zufrieden zu sein. Um zwölf Uhr gab es Mittagessen, um drei Uhr Kaffee und Kuchen, und um sechs war es Zeit fürs Abendbrot. Die Frauen standen, wenn sie nicht Wäsche machten oder die Wohnung putzten, in der Küche und waren Millionen von Stunden ihres Lebens mit dem Zubereiten von Millionen von Mahlzeiten beschäftigt. Doch auch ihnen schienen diese immer wiederkehrenden, gleichbleibenden Abläufe wie bei einem Uhrwerk nichts auszumachen, im Gegenteil. Ihre Mütter hatten so gelebt und davor ihre Großmütter. Das Leben war so und nicht anders. Es wäre sinnlos gewesen, sich zu beklagen.

Wahrscheinlich war Ninas Vater das alles auf die Nerven gegangen, ohne dass er es laut ausgesprochen hatte. Und vielleicht war er einfach vor diesem eintönigen Leben in einer Kleinstadt geflüchtet, nicht nur vor Frau und Kind. Nina wusste es nicht, sie kannte ihn überhaupt nicht. Sie wusste nicht einmal, ob er sonntags zum Fußball ging oder eine Übergangsjacke trug.

Nina hatte schon als kleines Kind mehr gewollt. An einem sonnigen Julimorgen war sie mit ihrem Dreirad aufgebrochen und hatte sich fest vorgenommen, bis in den Harz zu fahren, bis zu Oma und Opa nach Braunlage. Sie hatte keine Vorstellung davon gehabt, wie weit es bis dorthin war, und wenn sie es gewusst hätte, wäre ihr nicht bewusst gewesen, dass man mit einem Kinderdreirad eine derart lange Strecke nicht bewältigen konnte. Doch das alles war egal gewesen. Ausgerüstet mit ihrer Puppe Emma, ein paar Keksen aus Mamas Süßigkeitenschublade und einer Capri-Sonne, hatte sie sich aufgemacht, den Ort wiederzufinden, an dem die Großeltern lebten und an dem Mama immer lachte. Genau dahin wollte sie fahren, und da wollte sie für immer bleiben, zur Not auch ohne Mama. Oma und Opa waren ja da.

Mama war außer sich gewesen, als sie Nina etwas außerhalb von Hambühren auf dem Fahrradweg neben der Landstraße aufgegabelt hatte. Sie hatte Nina einen Klaps auf den Hintern verpasst, das Dreirad in den Kofferraum geworfen und war mit ihr zurück nach Hause gefahren. Auch Oma und Opa waren sauer gewesen, aber ein Gutes hatte die Sache gehabt: Die Herbstferien hatten sie in Braunlage bei den Großeltern verbracht, in dem schönen hölzernen Haus, in dem Nina ein eigenes Zimmer hatte, von dem aus man den Wurmberg sehen konnte. Während der langen Autofahrt dorthin hatte Nina versucht, sich den Weg zu merken. Das allerdings war ihr erst Jahre später gelungen.

Die Welt jedenfalls war riesig und stand ihr offen, heute mehr denn je. Ihre Abiturnote im übernächsten Jahr würde sicher eine Eins vor dem Komma haben, vielleicht würde sie Musik studieren oder Medizin. Sie war die Einzige in ihrer Familie, die es so weit gebracht hatte, und wer weiß: vielleicht war ja sogar Mama irgendwann stolz auf sie. Und ihr Vater würde sich endlich für seine Tochter interessieren.

Die Kapelle vorn auf der Bühne machte eine Pause. Die Musiker stärkten sich mit Mettbrötchen, die mit reichlich Zwiebeln belegt waren.

Während Nina sich durch die Menge schlängelte, fiel ihr Blick auf Volker März, der mit ein paar anderen Männern aus der Kapelle etwas abseits der Bühne stand. Er bemerkte sie ebenfalls und winkte ihr zu. Sie erwiderte seinen Gruß, er lächelte. Volker war die Klarinette. Er beherrschte sein Instrument und benötigte für die meisten Stücke keine Noten. Bei einem anderen Fest in Hambühren hatte er ihr gegenüber mal erwähnt, die Noten seien in ihm drin wie unsichtbare Fahrpläne. Er hatte tatsächlich »Fahrpläne« gesagt, was Nina zunächst nicht verstanden und was wiederrum zu Unverständnis bei ihm geführt hatte. Doch je länger sie darüber nachdachte, desto mehr konnte sie nachvollziehen, was er damit meinte. Immer wenn er ein Lied spielte, fuhr er in Gedanken die »Notenwege« ab, die er vor seinem geistigen Auge sah. Er fuhr von Station zu Station, fuhr mal langsamer, mal schneller, stoppte kurz und fuhr wieder an. Dabei gehorchten seine Hände dem, was er vor seinem inneren Auge sah. Sein Gefühl für die Musik gab den Tönen einen Rahmen und entlockte dem Instrument die notwendigen Klänge. Beim Singen im Chor ging es Nina ganz ähnlich. Ein Stück klang am schönsten, wenn sie es mit geschlossenen Augen vortragen konnte.

Unwillkürlich zupfte sie an ihrem Rocksaum. Volker schaute noch immer zu ihr und reckte einen Daumen in die Luft. Er hatte sein Hemd beinahe bis zum Bauchnabel aufgeknöpft, und seine schwarzen Brusthaare waren zu sehen. Die Goldkette um seinen Hals glänzte. Er kleidete sich anders als die meisten Männer in Hambühren; eine schlammfarbene Übergangsjacke besaß er bestimmt nicht.

Katharina und Andrea mussten längst hier sein. Sie hatten sich für sieben Uhr verabredet, und es war bereits halb acht. Nina ging Richtung Ausgang und trat ins Freie.

Am Stand gegenüber versuchten sich ein paar Jungs mit Luftgewehren. Kichernde Mädchen, alle jünger als Nina, stachelten ihre kleinen Verehrer an, eine Kunststoffblume für sie zu schießen. Oder, besser noch, einen der flauschigen Bären.

Einer der Jungs hatte Probleme, das Gewehr ruhig zu halten, doch das Glück war auf seiner Seite, als er abdrückte. Ein Pappröhrchen, das um den Metallstängel einer Plastikrose baumelte, zerbarst in kleine Stücke. Sofort bejubelten ihn die anderen und klopften ihm auf den Rücken, während die Mädchen weiter kicherten. Der Mann hinterm Tresen zupfte die Blume aus der Halterung und gab sie dem Jungen. Er reichte sie einem der Mädchen, das sie entgegennahm, ganz ohne zu kichern, aber wohl mit geröteten Wangen, Nina konnte es nicht richtig erkennen.

Von rechts, etwas weiter hinten, blitzten die Lichter des Autoscooters in den blauen Sommerhimmel. Musik drang aus großen Boxen: Rivers of Babylon von Boney M. Autoscooter wollte Nina heute auch noch fahren, und wenn Kathi und Andrea nicht bald kamen, würde sie allein rübergehen.

»Soll ich dir auch eine Rose schießen?« Volker stand unvermittelt neben ihr und deutete auf den Stand gegenüber. Sein Rasierwasser war süß. Nina kannte den Duft: Tabac Original. Es roch gar nicht so übel, wie alle immer sagten.

»Hey, musst du nicht spielen?« Sie wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Volker war einen halben Kopf größer als sie. Die Muskeln an seinem Oberkörper und an seinen Armen zeichneten sich unter dem Stoff des engen weißen Hemdes ab. Im Gegensatz zu den anderen aus der Kapelle war sein Bauch ganz flach. Er war angeblich einunddreißig Jahre alt, aber er sah viel jünger aus.

»Bist du ganz allein hier?«, fragte er. Sein glatt gekämmtes Haar war in der Mitte gescheitelt, die Haut seines Gesichts gebräunt. Er achtete auf sich, das sah man sofort. Er war sich selbst wichtig, und es bedeutete ihm etwas, wenn andere gut von ihm sprachen. Nina wusste das, oder jedenfalls vermutete sie es. Mama nannte ihn einen »feinen Kerl«. Nur seine Hände passten nicht dazu. Seine Finger waren gelb vom Tabak, er rauchte eine Zigarette nach der anderen. Auch in diesem Moment zündete er sich eine an. Der Nagel seines rechten Daumens war ungewöhnlich lang, viel länger als alle anderen, und schimmerte beige.

»Ich warte auf ein paar Freundinnen, sie wollten längst hier sein.« Nina ging ein paar Schritte und sah sich abermals um, doch keine Spur von den beiden.

Drüben am Schießstand gab das Mädchen dem Jungen, der ihr die Rose geschossen hatte, einen Kuss auf die Wange. Daraufhin legte er vorsichtig seinen Arm um ihre Hüften.

Der Geruch von gebrannten Mandeln und Bratwürsten zog über den Festplatz. Beim Autoscooter erklang jetzt Abbas Waterloo. Die Diskokugel über der Fahrbahnfläche schickte Lichtblitze zu den Fahrzeugen und den umstehenden Menschen. Ein paar Leute am Rand des Fahrgeschäfts tanzten.

Nina drehte sich zu Volker und ging auf ihn zu. Ihr Absatz rutschte in eine Spalte der Holzdielen, sie stolperte. Mit einem Satz war Volker neben ihr, bekam ihren linken Arm zu fassen und fing sie auf. Sein Griff war fest und beherzt, aber er tat nicht weh.

»Oh«, sagte sie. »Tut mir leid. Danke.« Sie strich ihren Rock glatt.

»Ich habe zu danken«, erwiderte er.

»Wofür?«

Er lächelte und gab ihren Arm frei. »Dass ich dich auffangen durfte.«

Seine dunklen Brusthaare kräuselten sich über dem Stoff seines weißen Hemdes. Die goldene Panzerkette um seinen Hals glitzerte. Volker war viel älter als sie, aber so viel älter eigentlich auch nicht. Oder doch? Ja, doch, vierzehn Jahre, falls das mit den einunddreißig Jahren stimmte. Er war fast doppelt so alt wie sie. Aber er sah wirklich nicht danach aus. Seine Hand war weich und warm gewesen – und zugleich stark. Das hätte sie gar nicht vermutet bei diesem Mann, der ihr immer zart und verletzlich vorgekommen war, trotz seiner Köpergröße von bestimmt einem Meter achtzig und seiner breiten Brust. Er sprach nie laut und war nie aufdringlich, verhielt sich eher zurückhaltend. Wenn Kathi und Andrea nicht kamen, würde sie ihn fragen, ob er mit ihr Autoscooter fuhr.

Aus dem Inneren des Zelts erklang ein Gong.

Volker zog die Augenbrauen hoch. »Ich muss wieder«, sagte er. »Magst du mitkommen und zuhören? Ich bin wahrscheinlich der schlechteste Klarinettenspieler auf der Welt. Aber …«

Nina ahnte, was kam. Sie verschränkte ihre Arme auf dem Rücken und bewegte ihren Oberkörper ein wenig von links nach rechts. »Aber?«, fragte sie.

Er faltete die Hände vor seinem Mund, atmete durch und streckte die Arme nach ihr aus. »Wenn ich sehe, dass du mir zuhörst, dann bin ich mit Sicherheit besser als sonst.«

Am Schießstand gegenüber versuchte der nächste Junge sein Glück. Er legte an, zielte und schoss daneben. Die Freunde um ihn herum lachten und winkten ab. Der Mann hinterm Tresen nahm ihm das Gewehr aus der Hand, spannte den Lauf und gab es ihm zurück.

Nina hakte sich bei Volker ein. »Du bist auch ohne mich gut«, sagte sie »Aber ich komme trotzdem mit. Vorsichtshalber.«

Auf der Bühne sortierte sich die Kapelle unter dem Jubel der Gäste an den langen Tischreihen. Emmi und Fred Klüsen saßen da. Sie waren bereits über achtzig Jahre alt und küssten sich bis heute auf offener Straße. Die Jungs von der freiwilligen Feuerwehr daneben hatten Bierkrüge in der Hand und umarmten sich. Am Ende der Tischreihe saß Mama, an deren Seite dieser Typ aus Lüneburg war, dieser Hans-Dieter. Er flüsterte ihr irgendetwas ins Ohr. Mama lachte mit geschlossenen Augen und warf ihren Kopf zurück, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, während ein langes Aschestück von ihrer Kippe fiel. Ihr Oberkörper schwankte. Ein Glas mit schwarzer Flüssigkeit stand vor ihr, sicher Cola-Rum. Sie liebte das Zeug.

Oben auf der Bühne nahm Volker seinen Platz rechts in der zweiten Reihe ein, während sich Nina unten am Ende der Bierzelttische hinsetzte. Sollten Kathi und Andrea gleich herkommen, würden sie sie sofort finden. Nina sah zum Eingang. Immer noch nichts von den beiden. Inzwischen war es halb neun.

Die Kapelle eröffnete mit einem Engtanzlied: Santa Maria von Roland Kaiser. Es fehlte ein Sänger, aber Nina kannte den Text auswendig, er lief andauernd zu Hause in der Küche. … Nachts an deinen schneeweißen Stränden, hielt ich ihre Jugend in den Händen. Glück, für das man keinen Namen kennt …

Die Tanzfläche füllte sich rasch. Auch Mama tanzte, Hans-Dieter hatte sie aufgefordert. Okko Modersohn, Inhaber des einzigen Schmuck- und Uhrengeschäfts in Hambühren, sah den beiden vom Tisch aus zu. An seinem Gesichtsausdruck war nicht zu erkennen, was ihm gerade durch den Kopf ging, aber wenn Nina nicht alles täuschte, hatte auch er ein Auge auf Mama geworfen. Er lächelte immerzu, wenn er Mama ansprach oder wenn er für sie und sich selbst Bier oder einen Sekt bestellte.

Volker spielte seine Klarinette mit offenen Augen, die ganze Zeit über sah er Nina an. Die Noten brauchte er offenbar wirklich nicht. Davon war Nina auch nicht mehr weit weg, wenn sie sang. Einige Stücke konnte sie fast ohne Notenblätter vortragen, die Fahrpläne waren bereits in ihrem Kopf. Bestimmt gab es Lieder, die sich nur mit Klarinette und Gesang spielen ließen.

… Heiß war ihr stolzer Blick, und tief in ihrem Innern verborgen brannte die Sehnsucht, Santa Maria (Maria), den Schritt zu wagen, Santa Maria (Maria), vom Mädchen bis zur Frau …

Als das Lied zu Ende war, spendeten die Leute Beifall. Die Männer auf der Bühne stärkten sich mit einem kräftigen Schluck aus ihren Bierkrügen.

Die Luft im Festzelt war zum Schneiden dick. Hans-Dieter ging hinaus, wahrscheinlich musste er zur Toilette oder brauchte etwas zu essen. Jedenfalls hatte Okko Modersohn sofort erkannt, dass Mama allein zu ihrem Platz zurückgekehrt war. Er stand auf, strich sich durch sein kurzes braunes Haar, prüfte den Sitz seiner Krawatte, wischte sich mit der flachen Hand über das Revers seines dunklen Sakkos und ging dann zwei Tischreihen weiter, direkt auf Mama zu. Er sagte etwas zu ihr, entschuldigte sich vielleicht für seine Aufdringlichkeit, die er empfunden haben mochte, oder lud sie zu einem Getränk ein. Mama lächelte und nickte. Er setzte sich neben sie. Auch er war sicherlich ein Mann, den Mama als »feinen Kerl« bezeichnen würde. Es war schön, die beiden nebeneinander zu sehen. Nicht nur er lachte immerzu, wenn die beiden zusammen waren, auch sie tat es.

Als die Kapelle einen Marsch – oder war es eine Polka – anstimmte, brach das ganze Zelt endgültig in einen begeisterten Jubel aus. Alles schunkelte und tanzte und lachte. Volker blies in seine Klarinette. Das Instrument kam Nina zu fein für diese Art von Musik vor, und es freute sie irgendwie, als Volker mit den Augen rollte, während er spielte.

»Ha!«, rief jemand hinter ihr.

Sie drehte sich um. Kathi und Andrea setzten sich neben Nina auf die Bank. Sie stellten drei Bierkrüge ab, von denen einer für Nina bestimmt war. Sie mochte kein Bier, es war ihr zu bitter. Dennoch stieß sie mit den beiden an und trank.

»Wo wart ihr denn so lange?«, rief Nina gegen den Lärm an. Es war so heiß im Zelt, dass ihre Bluse am Rücken klebte.

»Sorry«, sagte Andrea. Ihr Rock war mindestens genauso kurz wie Ninas. »Meine Oma ist doch heute achtzig geworden. Als Kathi mich abholen wollte, hat sie uns nicht gehen lassen. Wir mussten unbedingt noch Waschpulverbowle mit ihr trinken.«

»Mein Mund klebt immer noch vom ganzen Vanilleeis«, sagte Kathi, und sie lachten alle drei.