Die sieben Schalen des Zorns - Markus Thiele - E-Book + Hörbuch

Die sieben Schalen des Zorns Hörbuch

Markus Thiele

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  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Aus freien Stücken: Wo verlaufen die Grenzen beim assistierten Suizid? Dr. Max Keller ist Arzt mit Leib und Seele. Als seine todkranke Tante Maria ihn um Sterbehilfe bittet, gerät er in ein moralisches Dilemma. Soll er ihren letzten Wunsch erfüllen und ihr ein selbstbestimmtes Sterben ermöglichen? Obwohl er als Arzt dem Leben verpflichtet ist, hilft Keller der alten Frau, das ihre zu beenden. Kurz darauf eröffnet die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen ihn. Der Vorwurf: strafbare Tötung auf Verlangen. Keller droht eine Freiheitsstrafe und der Entzug seiner Arztzulassung – was sein Ende bedeuten würde. Doch hat er Maria wirklich getötet? Markus Thiele behandelt in seinem aufrüttelnden Roman die Frage, ob der Mensch das Recht hat, selbstbestimmt zu sterben und welche Hilfe er dafür in Anspruch nehmen darf.    - Für Fans von True-Crime-Krimis und Politthrillern: Inspiriert von einem wahren Justizfall - Moralisch brisante Frage: Wo endet das Recht auf einen selbstbestimmten Tod? - Kluge Unterhaltung für Leser von Ferdinand von Schirach und Bernhard Schlink - Tabuthema Sterbehilfe: Eine menschlich berührende Geschichte mit juristischer Einordnung im Nachwort Zwischen Recht und Moral: Spannender Roman über eine hochaktuelle Debatte Das Thema Sterbehilfe ist in Deutschland eine rechtliche Grauzone. Nur wenn Sterbewillige die tödlichen Substanzen eigenständig einnehmen, bleibt der Vorgang straffrei. Doch Kellers Tante ist an Alzheimer erkrankt. Sie hat zwar ihren Sterbewunsch schriftlich festgehalten, ist jetzt aber nicht mehr in der Lage, ihn selbst auszuführen. Keller verabreicht ihr die tödliche Dosis – und gerät ins Visier der Justiz. Markus Thiele schickt seine Figuren mitten hinein in ein hochkompliziertes juristisches Feld. Ein tiefgründiger Roman, der Tabus aufbricht, und ein starkes Plädoyer für mehr Menschlichkeit!

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Zeit:14 Std. 25 min

Sprecher:Herbert Schäfer

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MARKUS THIELE

DIE SIEBEN SCHALEN DES ZORNS

ROMAN

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2022

Copyright deutsche Erstausgabe © 2022 Benevento Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagmotiv: © Birgit Pickel / EyeEm / gettyimages

ISBN: 978-3-7109-0131-7

eISBN: 978-3-7109-5130-5

Lothar, das ist für dich.Mein Vater. Mein Freund.

Da sprach er zu ihnen: Haltet mich nicht auf,denn der Herr hat Gnade zu meiner Reise gegeben.Lasst mich, dass ich zu meinem Herrn ziehe.

1. Buch Mose (Genesis), 24,56

INHALT

VORWORT

TEIL 1ERMITTLUNGEN

1KIEL, JUNI 1996

2PRAG, JANUAR 2021

3HAMBURG-CENTRUM, JANUAR 2021

4AHRENSBURG BEI HAMBURG, JANUAR 2021

5KIELER UMLAND, HEILIGABEND 1978

6AHRENSBURG BEI HAMBURG, JANUAR 2021

7HAMBURG, NAHE LANDUNGSBRÜCKEN, JANUAR 2021

8TOLKSTORF BEI KIEL, OKTOBER 1981

9HAMBURG-WINTERHUDE, JANUAR 2021

10KIELER UMLAND, MITTE OKTOBER 1984

11KIEL HEILIGABEND 1984

12HAMBURGER HAFEN, JANUAR 2021

13HELGOLAND, JULI 1987

14KIEL, JUNI 1996

15KIEL, FEBRUAR 2021

16HAMBURG-CENTRUM, FEBRUAR 2021

17KIEL, NOVEMBER 2003

18HAMBURG, FEBRUAR 2021

19WIEN, FEBRUAR 2021

20PERNINK (ERZGEBIRGE) · PRAG, MÄRZ 2010

21PRAG, FEBRUAR 2021

TEIL 2PROZESS

22HAMBURG, APRIL 2021

23KIEL, MAI 2010

24HAMBURG, APRIL 2021

25PRAG, MAI 2021

26HAMBURG, MAI 2021

27HAMBURG, MAI 2021

28HAMBURG-CENTRUM, MAI 2021

29KIEL, JUNI 2011

30HAMBURG-CENTRUM, SEPTEMBER 2021

31VOR HELGOLAND, SEPTEMBER 2021

NACHWORT

DISCLAIMER

VORWORT

Wie wollen wir leben – und wie sterben? Gibt es ein Recht auf einen selbstbestimmten Tod? Und was geschieht mit dem, der uns beim Sterben hilft? Begeht er eine Straftat, einen Mord womöglich, für den er lebenslang ins Gefängnis muss?

Die rechtlichen Grundlagen dazu sind in Deutschland und anderen europäischen Staaten wie Österreich oder Tschechien noch immer sehr lückenhaft. Ein Gesetz mit konkreten Regelungen – wie zum Beispiel in den Niederlanden – existiert nicht. Lediglich § 216 StGB stellt die Tötung auf Verlangen unter Strafe, und durch § 217 StGB ist die geschäftsmäßige Beihilfe zum Suizid verboten. Letztere Regelung hat das Bundesverfassungsgericht allerdings im Februar 2020 für verfassungswidrig erklärt. Das im Grundgesetz verankerte allgemeine Persönlichkeitsrecht, so die Karlsruher Urteilsbegründung, meine einen autonomen Menschen, einen Menschen, der soweit irgend möglich die Hoheit über sich selbst haben solle. Dies gelte auch für das Sterben. Das Grundrecht in Art. 2 GG schließe »die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen« (2 BvR 1593/15 u.a.).

Es gibt verschiedene Formen der Sterbehilfe, darunter vor allem die aktive und die passive Begehungsweise sowie die Beihilfe zur Selbsttötung. Letztere liegt vor, wenn dem Sterbewilligen eine tödliche Dosis eines Medikaments zur Verfügung gestellt wird und er es selbst einnimmt. Der Helfer bleibt dabei – entgegen einer landläufigen Meinung – in Deutschland straffrei. Bei der passiven Sterbehilfe wird dagegen eine lebensverlängernde Behandlung abgebrochen. Entsprach dies dem Wunsch des Patienten, liegt darin ebenfalls kein strafbares Handeln. Unter aktiver Sterbehilfe wird schließlich das bewusste und aktive Eingreifen zur Beendigung des Lebens verstanden. Dies kann etwa durch direktes Verabreichen einer tödlichen Medikamentendosis erfolgen. Die aktive Sterbehilfe ist in Deutschland, Österreich und anderen europäischen Ländern verboten – in den Niederlanden ist sie es dagegen nicht.

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, sagte gleich zu Beginn der Urteilsbegründung am 26.02.2020: »Die Suizidhilfe ist ein hoch emotionales und seit der Antike kontrovers behandeltes Thema. […] Es rührt an den Grundfesten unserer ethischen, moralischen und religiösen Überzeugungen. […] Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben besteht in jeder Lebensphase eines Menschen. Wir mögen seinen Entschluss bedauern, wir dürfen alles versuchen, ihn umzustimmen, wir müssen seine freie Entscheidung aber in letzter Konsequenz akzeptieren.«

Wie wollen wir leben – und wie sterben? Eine Frage, die nicht nur juristisch bis heute ungeklärt ist.

Göttingen, November 2021Markus Thiele

· TEIL 1 ·

ERMITTLUNGEN

1

KIEL, JUNI 1996

Da war es wieder, das Rauschen. Max hörte sein Blut durch die Adern strömen, ein leiser, kräftiger, ein ganz und gar warmer Fluss. Er war wie betäubt davon, betäubt vom Kribbeln in der Brust und der Kurzatmigkeit, die ihn erfasste, wenn er sich bis an den Rand der Erschöpfung verausgabte.

Die Pinne in seiner Hand vibrierte unter dem Druck, mit dem das Meerwasser am Ruder zerrte. Die Regatta war entschieden, der Hafen in Sicht. Links und rechts das Spalier der unzähligen Segelyachten mit ihren bunten Wimpeln und Fahnen, die im Wind tanzten. Eine vertraute Silhouette. Geradeaus an der Kieler Hörn, der Hafenspitze, das beleuchtete Riesenrad und davor die Verkaufsstände, an denen die Besucher Fischbrötchen, Bratwurst, Bier und Wein bestellten. Max roch den geräucherten Aal bis an Deck, die Musik aus den Lautsprechern wurde lauter.

Jonas stand eine Armlänge entfernt. Er kurbelte die Winsch und holte das Segel ein. Er hatte kürzlich eine Wette verloren, der arme Kerl, aber er hätte es besser wissen können. Er hatte gewettet, dass er beim Tennis gegen Agnes in zwei Sätzen mindestens vier Spiele holen würde. Agnes war vergangenes Jahr Landesmeisterin geworden, sie hatte ihn mit 6:1 und 6:0 vorgeführt. Die Sache wäre nicht weiter wild gewesen, hätte sie Jonas nicht das Versprechen abgenommen, sich im Falle der Niederlage ein Tattoo stechen zu lassen, ein Tribal auf dem rechten Oberarm und der Schulter. Jonas, der seriöse Jurastudent. Jetzt glänzte das Tattoo in der Abendsonne, aber ein wenig war er auch stolz darauf. Das wusste Max. Immerhin waren sie beide die Regatta mit freiem Oberkörper gesegelt. Die Rennleitung sah das nicht gern, aber es musste sein. Die Spießer dieser Welt durften nicht immer die Oberhand behalten.

Eine kaum sichtbare Salzschicht bedeckte ihre Gesichter und spannte auf der sonnengeröteten Haut. Die Oberschenkel zitterten, die Handflächen brannten von den Tauen, die darin gerieben hatten. Aber die Gewissheit, dass ihnen dieses Brennen den Sieg beschert hatte – das erste Mal –, ließ sie über den Schmerz lachen.

»Wir haben es geschafft«, rief Max in den Wind.

Das Rauschen ebbte nicht ab, das Blut raste durch seine Adern. Das linke Knie, das seit seinem vierzehnten Lebensjahr steif war, meldete sich. Es juckte wie von innen. Wie ein Mückenstich, den man nicht zu fassen bekam.

Es dauerte einen Moment, bis das Grinsen auch in Jonas’ Gesicht breiter wurde und er Max in die Arme fiel. Beide brüllten noch einmal: »Wir haben es geschafft!«

Die Alethea passierte die Hörnbrücke, deren Segmente zu den Seiten aufgeklappt waren. Das Kielwasser schäumte, bis Max Fahrt herausnahm und beidrehte. Er legte längsseits an der Kaimauer an.

Die Leute jubelten. Max winkte in die Menge. Die Stimme des Ansagers überschlug sich, als er Max und Jonas zum Sieg gratulierte. Jonas warf das Tau um den rostigen Eisenpilz am Ufer. Max holte zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank unter Deck und drückte Jonas eine in die Hand. Die Jungs tranken mit geschlossenen Augen.

Jonas zog sein neues Nokia aus der Tasche. »Ich schreib meinem Vater, dass wir den Pott geholt haben.«

Max spürte die Strapazen der vergangenen Stunden in seinem Knie. Mit der neuen Physiotherapeutin hatte er gute Fortschritte gemacht. Die Versteifung des Gelenks hatte sich gelockert. Doch jetzt konnte er das Knie kaum mehr anwinkeln, die Muskulatur war müde, die Knochen waren es auch.

Die abendliche Sonne goss orangefarbenes Licht auf die Schiffsplanken, das Meer funkelte wie Bernstein. Die Besuchermassen flossen dicht gedrängt über das Festgelände der Kieler Woche, manche tanzten im Gehen zu der Musik, die aus den Lautsprechern drang. Die verzerrte Mikrofonstimme des Ansagers kommentierte das Geschehen auf See, die unterschiedlichsten Nationen waren vertreten. Doch sie kämpften jetzt nur noch um Silber und Bronze. Ein guter Tag, darin waren Max und Jonas sich einig.

In der Förde waren noch immer etliche Yachten unterwegs, viele waren mit den unberechenbaren Böen nicht zurechtgekommen, es würde dauern bis zur Siegerehrung. Niemand hatte auch nur einen Pfifferling auf die Alethea gesetzt. Das Boot war zu breit für seine Länge, es war zu schwergängig, nicht wendig genug. Das wusste auch Max, aber er hatte sich nicht davon abbringen lassen, das Rennen mitzusegeln. Ein bisschen hatte ihn auch Reben, Jonas’ Professor für Strafrecht, überredet, und spätestens da hatte auch Jonas nicht mehr Nein sagen können.

Professor Reben drängte sich durch die Menschenmengen. Er rief etwas herüber, das sie nicht verstanden, und fuchtelte dabei mit den Armen. Seine Euphorie war schon von Weitem zu erkennen. Als er zu ihnen durchgedrungen war, trat er an Deck und umarmte sie.

»Ihr Wahnsinnigen!«, schrie er und ließ es sich nicht nehmen, sie auf die Wangen zu küssen. »Ich wusste es«, sagte er. »Ihr seid die Besten.«

Getragen vom Applaus der Leute und den Glückwünschen des Ansagers, gingen sie an Land. Reben steuerte auf einen Weinstand zu und bestellte eine Flasche Champagner. Sie tranken, Reben goss nach, und sie tranken erneut.

»Ihr Wahnsinnigen«, wiederholte Reben immer wieder.

Max konnte sich nicht erinnern, den zurückhaltenden, sachlichen Professor jemals so ausgelassen erlebt zu haben. Die Tatsache, dass sein Schiff es mit den beiden Studenten auf den ersten Platz geschafft hatte, versetzte ihn in einen Taumel, von dem sich Max und Jonas mitziehen ließen. Das Rauschen in Max’ Körper würde heute anhalten.

Reben bestellte eine zweite Flasche Champagner und danach eine dritte.

Die Bässe von Bon Jovi hämmerten in die einsetzende Dämmerung, der Wind war warm und getränkt vom Schweiß und Parfum der Menschen um Max herum. Alle lachten und tanzten und sangen. Nach und nach erreichten die anderen Teilnehmer der Regatta das Ziel, auf See wurde es dunkel, buntes Scheinwerferlicht wischte durch den Abend.

Max’ Beine waren schwer. Neben ihm schwankte eine Frau, die ihre Zigarette nicht mehr zum Mund führen konnte. Als er sich zu ihr drehte, verlor sie die Kontrolle und kippte zur Seite. Er packte ihren Arm und verhinderte gerade noch, dass sie auf den Asphalt fiel. Er schwankte selbst dabei. Jonas kam von der anderen Seite und stützte ihren Oberkörper. Die Frau blieb auf den Beinen.

»Danke«, erwiderte sie und zündete sich umständlich eine neue Zigarette an. Dann steuerte sie davon zur nächsten Theke.

Scooter dröhnte jetzt aus den Lautsprechern, Hyper, hyper. Alle grölten den Text mit. Reben drehte sich um und drückte Max und Jonas ein Glas in die Hand. Erneut stießen sie an und tranken. Cola mit Rum, ohne Eis, dafür mit viel Rum, aber egal: Gold musste gefeiert werden.

Der Ansager rief alle Teams zur Siegerehrung. Max und Jonas schoben sich durch die Menge und betraten die Bühne. Wieder brach Applaus los.

Der Moderator faselte irgendetwas von der Kraft der Meere und dem Können aller Teilnehmer. Es sei ein harter Kampf gewesen und so weiter. Alle klatschten und jubelten, als hätte jeder Einzelne von ihnen die vergangenen sechs Stunden in den bissigen Wellen der Ostsee selbst miterlebt. Queen sang We are the champions, und Max und Jonas stiegen aufs Podest. Ein buntes Feuerwerk sprühte in die Nacht. Max streckte den Pokal empor. Der Jubel wurde derart laut, dass Max nur noch die brüllenden Gesichter der Menschen sah, ohne ein Geräusch zu hören. Ihre Bewegungen waren wie in Zeitlupe, und für einen Augenblick schien sich ein Nebelschleier über allem auszubreiten. Hätte Max es nicht besser gewusst, er hätte glauben können zu schweben, die Holzbühne unter ihm schien sich aufzulösen. Es würde länger dauern heute Nacht, Agnes’ Geburtstag hin oder her.

Auf dem Weg zurück zum Getränkestand tippte Jonas mit dem Zeigefinger auf seine Armbanduhr. »Agnes wartet«, sagte er. »Wir müssen noch zu Agnes.«

Max nickte, winkte aber ab und ging weiter. Agnes wartete sicher schon, aber sie hatten sich erst für Mitternacht mit ihr und ihren Freundinnen verabredet. Und es war noch nicht einmal elf.

Auf dem Tresen stand frisches Bier, wer auch immer es bestellt hatte. Achim war dazugestoßen, Jonas’ Kommilitone und Agnes’ derzeitiger Freund. Alle nannten ihn nur den schönen Achim, weil er unentwegt in weißen Klamotten rumlief und seine Strickpullover lässig über der Schulter trug. Agnes schien das nicht zu stören, aber sie war ja auch selbst etwas eigenwillig, was Kleidung und Vorlieben betraf. Die Bierrunde ging jedenfalls auf ihn, auf diese Feststellung legte er Wert. Reben bestellte für alle Aquavit dazu. Max konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Er musste unentwegt lachen, umarmte alle um ihn herum und kippte einen Schnaps nach dem anderen.

»Wir haben es Agnes versprochen«, rief Jonas ihm gegen die laute Musik zu.

Max nickte. »Du hast recht, wir müssen los.«

»Ja, lasst uns starten.« Der schöne Achim stellte sein leeres Bierglas auf den Tresen. Seine weiße Jeans hatte Flecken abbekommen.

»Ihr seid die Besten.« Reben legte seine Arme auf Max’ und Achims Schultern.

Jonas schaute auf sein Nokia, er kniff die Augen zusammen.

»Alles okay?«, rief Max.

Jonas schwankte. Er schob das Telefon zurück in die Hosentasche. Seine Augen waren rot und glasig, er griff ein Schnapsglas und kippte es in einem Zug.

»Mein Alter meldet sich nicht«, brüllte er zu Max hinüber. »Lass uns saufen.«

Max sah seinen eigenen Vater vor sich, die fettigen grauen Haare, die dreckigen Fingernägel. Der Alte saß in seiner Küche auf der Eckbank. In Großmutters Wohnzimmer, eine Etage darüber, stand der Weihnachtsbaum. Der Duft des Kuchens, den sie gebacken hatte, erfüllte den Raum. Max hörte das Lachen seines Vaters, ein Lachen, das er nicht vergessen konnte.

»Du hast wenigstens einen Alten, dem du schreiben kannst«, rief er Jonas entgegen.

Reben wollte neues Bier ordern, aber Jonas, Max und Achim rissen sich los.

Der Taxistand war verwaist, kein einziger Wagen in Sicht, es war bereits kurz vor Mitternacht. Max und Jonas hatten ihr versprochen, noch zur Party zu kommen. Agnes wurde heute dreiundzwanzig. Sie feierte außerhalb, eine knappe halbe Stunde mit dem Auto, zum Laufen zu weit.

»Egal«, sagte Jonas. »Wir fahren mit deinem Wagen.«

Max hatte seinen Golf nur ein paar Straßen weiter geparkt. Auf dem Weg kaufte Jonas für alle Kaffee und Mineralwasser. Er trank einen großen Schluck aus der Flasche und goss sich den Rest ins Gesicht.

»Ich fahre«, sagte er.

»Spinnst du? Du bist völlig breit.«

»Ach. Und du nicht, oder was?«

»Schlüssel.« Jonas hielt die Hand auf.

Max überließ ihm seinen Golf und setzte sich auf den Beifahrersitz.

Achim stieg hinten ein. Jonas startete den Motor. Vor Max verschwammen die Lichter der Stadt, doch Jonas brachte den Wagen sicher durch die Straßen. Er achtete auf die Geschwindigkeit, hielt an jeder orangen Ampel. Er fuhr fehlerfrei, auch wenn er sich sichtlich konzentrieren musste. Als Max die Musik lauter drehte, machte er sie wieder leiser, und als Max sich eine Zigarette anzündete, riss er sie ihm aus der Hand und warf sie aus dem Fenster.

»Spinnst du?«

»Halt die Klappe!«

»Ich hab Durst«, lallte Achim von hinten, und alle lachten.

Sie fuhren aus der Stadt, auf der Landstraße beschleunigte Jonas. Links ging ein steiler Abhang hinunter, an den sich weitläufige Wiesen anschlossen. Offenbar waren sie auf der B 404, Richtung Süden. Max konnte nur wenig erkennen in der Dunkelheit, aber er vermutete, dass es nicht mehr lange dauerte, bis es nach rechts auf die Hamburger Straße ging. Er drehte erneut die Musik lauter, und wieder schlug Jonas ihm die Hand vom Radioknopf.

In diesem Moment tauchte vor ihnen das grelle Licht eines entgegenkommenden Fahrzeugs auf. Der Blödmann kam auf ihrer Fahrbahnseite direkt auf sie zu.

»Der Idiot!«, schrie Max.

Jonas riss das Lenkrad nach links und konnte gerade noch ausweichen. Doch der Wagen geriet auf den Fahrbahnrand, er holperte über die Grasnarbe und bekam Schlagseite. Der linke Vorderreifen war geplatzt. Jonas versuchte gegenzulenken, aber da stürzte der Wagen schon den Abhang hinunter. Er überschlug sich wieder und wieder und polterte in die Tiefe. Max und Achim schrien. Jonas’ Arm knallte Max ins Gesicht. Achim wurde zwischen den Sitzen nach vorne katapultiert. Sein Kopf krachte gegen das Armaturenbrett. Dann ein dumpfer Aufprall – und Max wurde schwarz vor Augen. Um ihn herum wurde es still. Nur ein schwaches Blätterrascheln war noch zu hören.

Max betastete sein Gesicht, Glassplitter steckten in seiner Stirn, seine Hände waren feucht und klebten. Die Windschutzscheibe war in Tausende kleine Scherben zersplittert, Max war übersät damit. Das Radio lief nicht mehr. Nur von vorn, aus dem zerquetschten Motorblock, war ein Zischen zu hören. Rauch stieg auf.

Ein Baum hatte den Golf mit der Schnauze voran zum Stehen gebracht. Achim hing reglos zwischen den Vordersitzen.

»Jonas?«, fragte Max schwach in die Dunkelheit, aber er bekam keine Antwort.

Fußraum, Beifahrertür und Dach waren eingedrückt und völlig verformt. Max schob sich, so gut es ging, empor, stieß mit der Schulter die Tür auf und ließ sich nach draußen auf den Boden fallen. Er schrie vor Schmerzen, er musste mit dem Kopf an die Windschutzscheibe geknallt sein, seine ganze Stirn brannte. Das linke Bein, sein Krüppelbein, war völlig steif, das Kniegelenk ließ sich nicht bewegen. Und die rechte Schulter schmerzte.

»Jonas?«, versuchte er es erneut.

Ein leises »Ja« drang aus dem Autowrack.

Max rappelte sich auf und schleppte sich mühsam um den Baum und die vollkommen zerstörte Front des Wagens zur Fahrerseite. Ein schwacher Lichtkegel fiel aus dem rechten Standlicht in die Nacht. Jonas’ Hände und seine Kleidung waren voller Blut. Die Fahrertür ließ sich einfacher öffnen als erwartet. Jonas hatte sich bereits losgeschnallt. Als er sich aus dem Wagen schob, fiel Achims Oberkörper auf den Sitz.

»Fass mit an«, sagte Max.

Sie zogen Achim nach draußen und legten ihn auf den feuchten Wiesenboden. Seine weiße Jeans war über und über mit Blut verschmiert. Vorn am Wagen knallte es leise, die letzte funktionierende Glühbirne hatte ihren Geist aufgegeben. Jetzt spendete nur noch der Mond ein diffuses graues Licht.

Max suchte an Achims Hals nach dem Puls.

»Was ist?«, fragte Jonas.

»Scheiße«, sagte Max.

»Was heißt Scheiße? Wieso Scheiße, was ist mit ihm?« Jonas stieß Max zur Seite und legte selbst einen Finger an Achims Halsschlagader. »Das kann nicht sein«, flüsterte er. »Er muss doch einen Puls haben.« Er tastete den ganzen Hals ab, griff nach Achims Handgelenk. Aber da war nichts. Jonas kniff die Augen zusammen, ein Weinkrampf erfasste ihn und zwang seinen Oberkörper nach unten. Mit dem Kopf auf Achims Oberkörper blieb er liegen.

Max griff ihm an die Schulter und zog ihn hoch, doch Jonas beugte sich zur Seite und übergab sich.

Der andere Fahrer hatte Schuld, allein seinetwegen war es zum Unfall gekommen. Jonas hatte alles richtig gemacht, er hatte versucht, den Wagen unter Kontrolle zu kriegen, nachdem er dem anderen Kerl ausweichen musste. Max hätte nicht anders gehandelt. Aber was machte das schon. Die Bullen würde nur eines interessieren: die Promillezahl.

»Und jetzt?«, fragte Jonas schwach.

Max atmete durch, sein Hals zog sich zu, ihm war hundekalt hier draußen in der nachtfeuchten Dunkelheit. »Keine Ahnung. Einen Krankenwagen rufen oder die Bullen. Wir sind am Arsch.«

»Wir?«, fragte Jonas. »Warum wir? Ich bin gefahren. Ich! Da gibt es nur einen, der am Arsch ist, Max. Nur einen. Oh, Scheiße, mein Alter schlägt mich tot.«

Aus einer der schwarzen Baumkronen rief eine Eule in die Nacht.

»Verdammter Dreck«, schrie Jonas. Seine Worte hallten als Echo nach. »Mein Studium kann ich vergessen, meine Doktorarbeit bei Reben. Alles umsonst. Fuck!« Er zog einen Glassplitter aus der Haut zwischen Kinn und Unterlippe. Blut quoll heraus und lief seinen Hals herab.

Max betupfte mit einem Taschentuch die Wunde. »Das muss genäht werden. Der Schnitt ist mindestens drei Zentimeter lang. Und tief ist er auch. Hast du Kopfschmerzen?«

Jonas nickte.

»Es war ein Unfall«, sagte Max.

»Pah«, machte Jonas. »Unfall. Unfall mit einem besoffenen Fahrer. Großartig.«

»Sprich morgen mit Reben, der weiß bestimmt, was zu tun ist.«

»Reben«, sagte Jonas. »Die Rechtschaffenheit in Person. Max, Achim ist tot! So was nennt man fahrlässige Tötung, und das ist beschissen strafbar. Dafür kann ich in den Knast kommen, Mensch!«

Achims Gesicht war im Mondschein weiß wie das einer Porzellanpuppe. Er lächelte, noch immer konnte man glauben, er schlafe nur.

Dunst stieg vom feuchten Rasen auf, der Geruch von Benzin und abgeriebenen Bremsen lag in der Luft. Max schmeckte Blut. Hinter seinen Schläfen pochte es.

»Alles ist im Arsch, Max, alles. Wenn das rauskommt, war es das mit Jura. Und dann mein Alter … Der dreht komplett durch.«

Jonas’ Blick war leer, auch er zitterte am ganzen Körper. Jonas konnte seinem Vater nichts recht machen, das war schon immer so gewesen. Aber darauf kam es gerade nicht an. Er war besoffen gefahren, und Achim war tot: für einen Jurastudenten eine Katastrophe. Jonas’ großer Traum: Staatsanwalt. Den konnte er sich abschminken, wenn das hier rauskam.

Max stand auf, ein brennender Schmerz biss ihm in die rechte Schulter. Er schaute den Abhang empor, den sie herabgestürzt waren, und drehte sich zu Jonas. »Ich weiß, was wir machen«, sagte er.

Oben auf der Straße hielt ein Wagen. Ein Mann stieg aus und starrte nach unten. »Hallo, können Sie mich hören?«

»Ich brauche Hilfe«, rief Max zurück, und Jonas raunte er zu: »Hau ab!«

»Was?«

»Verpiss dich. Drück das Taschentuch auf die Wunde, drück es fest dran. Die Kompression stillt die Blutung.«

»Was ist denn passiert?«, rief der Mann von oben.

»Wir hatte einen Unfall«, rief Max zurück. Und leise: »Jetzt mach schon. Hau ab!«

»Du bist doch verrückt«, sagte Jonas.

»Sind Sie verletzt?«, fragte der Mann von der Straße.

»Ja«, antwortete Max, »mein Kumpel hier. Rufen Sie einen Krankenwagen. Bitte machen Sie schnell.«

»Ich komme runter.«

»Ich brauche einen Arzt«, schrie Max noch, aber der Mann stieg schon den Abhang hinab.

»Jonas, jetzt sei kein Idiot«, flüsterte Max in der Dunkelheit. »Wenn sie mich drankriegen, ist das egal. Aber du … Verschwinde endlich!«

»Ich kann dich doch hier nicht …«

»Doch, kannst du. Mach schon! Lauf zurück nach Kiel, leg dich in dein Zimmer. Ich komme nach. Dann versorgen wir deine Wunde. Und wenn Maria dich sieht, sag ihr kein Wort. Oder dass du dich an nichts erinnern kannst. Hast du verstanden?«

»Ich weiß nicht …«

»Jetzt mach, verdammt noch mal! Verpiss dich!«

Der Mann war bereits den halben Abhang heruntergestiegen, Max erkannte seine Konturen im Mondlicht. Wieder rief die Eule in die Nacht, sie saß irgendwo in den Wipfeln des Unfallbaums, aber sie war nicht zu sehen. Jonas griff Max an den Hinterkopf und legte sacht seine Stirn an Max’ Stirn – bevor er zu laufen begann.

Da war es wieder, das Rauschen. Max hörte sein Blut durch die Adern strömen, ein leiser, kräftiger Fluss. Aber diesmal war er anders. Diesmal war er kalt.

2

PRAG, JANUAR 2021

Der Zahn der Zeit hatte Regen und Frost im Gepäck gehabt und schwer an der Skulptur genagt. Agnes Linz zog das für die Halskette etwas zu große kupferne Kruzifix aus ihrer Bluse und küsste es.

Sie richtete die Linse des Röntgengeräts auf den steinernen Kehlkopf des heiligen Veit, wischte noch einmal mit einem Tuch über die raue, mit einer dünnen Moosschicht bewachsene Oberfläche und verließ die Werkstatt. Sie ging in den Raum nebenan, verschloss die Tür und drückte auf den Kameraknopf. Am Laptop auf dem kleinen Schreibtisch zeigte ein von links nach rechts verlaufender grüner Balken den Fortschritt der Fotoentwicklung. Eine kleine Uhr am Bildschirmrand gab die verbleibende Zeit bis zur Fertigstellung an: elf Minuten. Die Datenmenge, die das Gerät zu verarbeiten hatte, um tief in den dreihundert Jahre alten Stein vorzudringen, war immens. Aber es musste sein. Der alte Veit hätte vermutlich nicht mehr lang ausgehalten auf seinem Mauerpodest an der Karlsbrücke. Der Riss an der Oberfläche seines Halses war zu breit, und niemand wollte riskieren, dass der Kopf eines Tages herunterfiel und einen Touristen erschlug.

Agnes holte sich einen Becher Tee aus der Küche. Ihre Hände schmerzten, die Haut war trocken und rissig, die Nägel gebrochen. Vielleicht sollte sie ihre Hände auch einmal röntgen, um zu sehen, wie tief die Kerben ins Fleisch reichten. Sie sah auf ihr Handy. Mutters Pflegeheim in Hamburg hatte vor zwei Stunden versucht, sie zu erreichen, sie hatte das Klingeln des Telefons gar nicht mitbekommen. Sie wählte die Nummer, aber es nahm niemand ab.

Draußen in der Dunkelheit lag alles tief verschneit. Agnes öffnete das Fenster. Eisige Luft und ein kaum hörbares Rauschen der Stadt drangen in den Raum. Am Ufer der Moldau gingen die Leute vermutlich unter dem gelben Schein der eisernen Straßenlaternen spazieren. Fast konnte sie das Knirschen des Schnees unter ihren Schuhen hören.

Der Flur im Institut war verwaist, um diese Zeit war niemand mehr da. An seinem Ende fiel ein Spalt Licht unter der geschlossenen Tür ihres Büros auf den Fliesenboden. Kafka, ihr kleiner Kater, schlief hoffentlich in seinem Körbchen, er hatte Schlaf bitter nötig. Bei einem Sprung vom Wohnzimmerschrank auf den Fußboden war es passiert, Agnes hatte den Knochen knacken hören, ein Knacken wie bei einem Hühnerschenkel. Kafka hatte förmlich geschrien, so laut war sein Maunzen gewesen. Er musste wieder zu Kräften kommen nach der OP, aber was das anging, war Pavel zuversichtlich. Pavel hatte gesagt, die Operation sei gut verlaufen. Er hatte dem Kater das rechte Bein geschient, das jetzt verheilte. Pavel tippte auf Arthrose, was für einen Kater von gerade einmal sieben Jahren ungewöhnlich war.

Sie öffnete vorsichtig die Tür und steckte den Kopf in ihr Büro. Kafka döste auf seiner Decke unter dem Schreibtisch. Sein flauschiger weißer Kopf lag in einem Dreieckstrichter, den er tragen musste, um sich nicht den Verband vom Bein zu kauen. Sein Ohr zuckte, er träumte vermutlich. Die Schreibtischleuchte spendete weiches Licht, Agnes hatte es vorhin heruntergedimmt. Mutter auf dem Bild daneben wachte über Kafka. An der Wand darüber hing die Collage mit den vielen Fotos, die sie Mutter vor Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Maria in Uniform, als sie befördert worden war. Maria mit Jonas am Strand auf der Düne von Helgoland, ihre Haare wehten im Wind, während Jonas ins Meer lief. Max hatte die Polaroidaufnahme gemacht, das hatte Maria einmal erzählt. Sie waren oft zu dritt im Urlaub gewesen, Max, Jonas und ihre Mutter. Einmal war Agnes dabei gewesen, obwohl sie nicht hatte mitfahren wollen.

Leise schloss sie die Tür. Noch einmal versuchte sie, im Pflegeheim jemanden zu erreichen. Doch auch dieses Mal nahm niemand ab.

Der vertraute Geruch geschnittenen Steins hing in ihrer Werkstatt. Auf der großen Arbeitsbank, den Werkzeugen an der Wand, den zwei großen Eichenschränken und dem ledernen Rollhocker lag eine feine Staubschicht. In den Regalen standen Torsi, Büsten und Tonscherben, ganze Teller und Becher aus dem frühen Mittelalter, die Agnes – nachdem sie ausgegraben oder aus der Moldau geborgen worden waren – restauriert hatte. Tage und Nächte hatte sie zugebracht, um Formen wiederzufinden und Farben herauszuschleifen, damit die Entstehungszeit der Exponate bestimmt werden konnte. Sie mussten für die Nachwelt erhalten werden.

Sie nahm einen kleinen Tonbecher zur Hand, ein Stück, das in einer Baugrube mitten in der Prager Altstadt gefunden worden war. Im Schein der Schreibtischlampe leuchtete seine cottofarbene Oberfläche. Menschen vor mehr als zweitausend Jahren hatten daraus getrunken – Wein vermutlich, der mehr nach Kräutern als nach Trauben geschmeckt haben musste. Sie hielt ihre Nase in das Innere des Bechers, aber er roch nach nichts.

Im Nebenraum piepte der Computer. Sie stellte das Gefäß zurück ins Regal. Die Röntgenaufnahme war fertig, Agnes zog ihren Rollhocker heran und setzte sich vor den Laptop. Sie zoomte mit dem Mauszeiger auf die Stelle am Hals der Veit-Statue. Der Riss war weit fortgeschritten und reichte tief ins Innere des Steins. Eine dauerhafte, kraftschließende Verbindung war nicht mehr gegeben, ihre Vermutung hatte sich bestätigt – die »Rübe« musste runter, wie Pavel es neulich formuliert hatte, und neu aufzementiert werden.

In der Werkstatt schaltete sie das Bedienfeld ein und schwenkte mit dem Steuerknüppel den Arm des Lastenträgers unter der Decke zur anderen Seite. Dort – direkt über der Skulptur – ließ sie die Tragegurte herab. Die Seilwinde surrte, der schrille Ton hallte in der Werkstatt.

Sie befestigte die Gurte unterhalb des Gesäßes des heiligen Veit, an dem ein Absatz durch das steinerne Gewand verlief. Hier fand der Gurt sicheren Halt. Sie zog die Verschlussschlaufen fest und ließ die Seilwinde ganz langsam anfahren. Veit setzte sich senkrecht in Bewegung und behielt seine Stabilität auch noch, als er vom Röntgentisch abhob und frei in der Luft schwebte. Hoffentlich ging das gut. Würde er jetzt zu Boden stürzen und zerbrechen, wäre der Schaden nicht in Geld zu bemessen – und Agnes ihren Job los. Bei der Anlieferung hatten vier Mann mit angepackt, um den Steinriesen in die Werkshalle zu schaffen.

Veit machte seine Sache gut. Er schwebte durch den Raum, als könne er fliegen. Agnes steuerte ihn geradewegs auf sich zu. Sie richtete seine Position so aus, dass er unmittelbar neben ihr hing. Langsam ließ sie ihn herab, mit einem kurzen Ruck kam er auf dem Fußboden zum Stehen. Er überragte Agnes um mindestens zwei Köpfe und starrte sie mit seinen toten Steinaugen strafend an.

»Reg dich nicht auf, alter Freund, ich will nur dein Bestes.« Sie löste die Gurte, ließ sie nach oben fahren und schwenkte den Lastenarm mit dem Steuerknopf in seine Ausgangsposition zurück.

Rübe runter – Pavel konnte manchmal wirklich sehr direkt sein. Allerdings auch sehr lustig. Er scherte sich nicht darum, wen er mit dem heiligen Veit vor sich hatte. Für ihn zählten die Lebenden, nicht die Toten. Das sagte er zumindest immer. Er hatte einen Hustenanfall vor Lachen bekommen, als Agnes ihm erzählt hatte, Veit sei der Schutzpatron der Winzer und Bierbrauer. »Guter Mann«, hatte Pavel gesagt und in der kleinen Rosékneipe am Fuße der Prager Burg eine weitere Runde Wein für sie beide bestellt.

Pavel tat ihr gut. Er war ein lebenslustiger Mensch und gehörte nicht zu der Sorte Männer, die nur Sprüche klopften und einen auf ganz cool machten. Von denen hatte sie viele kennengelernt und die Nase voll. Es war beruhigend und geradezu rührend gewesen, wie liebevoll und dennoch professionell Pavel sich um Kafka gekümmert hatte, bevor er dem wimmernden Tier auf dem OP-Tisch die Narkosespritze gab. Er hatte ihn sogar beim Aufwachen begleitet und eine Hand auf seinen Kopf gelegt, was er sonst seinen Sprechstundenhelferinnen überließ.

Agnes sah erneut auf ihr Handy. 18:47 Uhr. Pavel wollte längst hier sein. Sie musste sich noch umziehen, das Theater wartete nicht, die Vorstellung begann pünktlich um acht. Wo bleibst du?, schrieb sie ihm und legte das Telefon auf die Werkbank.

Sie holte die Flex aus dem Schrank, das Blatt war stumpf. Agnes löste die Fixierschraube in der Mitte, nahm das Blatt herunter und ersetzte es durch ein neues mit Diamantschneide. Sie ging zur Skulptur, sah sich den Riss am Hals an und rüttelte am Kopf. Nichts bewegte sich. Mit einer Drahtbürste rieb sie den Riss frei, entfernte Stein- und Moosreste aus der Spalte und pustete sie mit der Druckluftpistole sauber. Veit sah ihr dabei skeptisch zu. Wenn er wüsste, was ihm bevorstand.

Vorn im Flur knackte ein Schloss, die Türscharniere quietschten.

»Hallo«, rief Pavel.

»Ich bin in der Werkstatt«, rief Agnes zurück.

Er kam zu ihr und küsste sie. »Hey. Entschuldige. Ich habe mal wieder den Verkehr unterschätzt. Wie geht es unserem Patienten?«

Agnes legte die Stahlbürste zur Seite. »Kafka schläft den ganzen Tag. Vorhin hat er ein bisschen gefressen und viel getrunken.«

»Prima. Trinken ist gut, er hat viel Blut verloren. Ich sehe ihn mir später noch einmal an.«

Agnes küsste ihn wieder. Seine Lippen waren rau, aber warm. Seine Haut roch nach seinem Aftershave, hölzern und süß. Mit der Hand umfasste er ihren Hinterkopf, sie spürte seinen Kuss bis in die Knie. Nur langsam löste er seinen Mund von ihrem und nahm seinen Kopf zurück. Er blickte zur Seite.

»Und dein Heiliger? Wie steht’s mit ihm?« Pavel klopfte Veit auf die Brust.

»Du hattest recht – der Kopf muss runter, der Riss ist zu tief. Ich mach das noch schnell, und dann springe ich unter die Dusche.«

»Kann ich dir irgendwie helfen?«

»Moment.«

Agnes schob einen dreistufigen Tritt an den heiligen Veit. Mit der Fernsteuerung ließ sie den Arm des Lastenkrans aus der Ecke schwenken und ein Tau über der Skulptur herabfahren. Aus einem der Eichenschränke nahm sie eine Schraubzwinge und ein Tuch und stieg die drei Stufen des Tritts hinauf. Sie verhüllte den Kopf mit dem Stoff, setzte die Schraubzwinge auf Höhe der Ohren an und drehte fest zu. Mit einem Ruckeln prüfte sie die Festigkeit der Zwinge, die zu halten schien. Sie verband die Zwinge mit dem Tau des Lastenkrans und zog auch dieses fest.

Pavel gab ihr Ohrenschützer, die Staubmaske und die Sicherheitsbrille, die auf der Werkbank bereitlagen. Sie setzte alles auf, danach reichte er ihr die Flex.

»Sei vorsichtig«, rief er ihr zu.

Sie nickte und startete das Elektrowerkzeug. Langsam setzte sie das Blatt am Riss an. Die Diamantschneide fraß sich wie von allein in den jahrhundertealten Stein, es staubte fürchterlich. Agnes’ Hände wurden feucht, Arme und Oberkörper vibrierten unter der Kraft der Maschine, die sich unermüdlich in dem steinernen Hals vorarbeitete.

Agnes stoppte, von hier vorn kam sie mit dem Blatt nicht ganz durch.

»Alles okay?«, rief Pavel ihr zu. Seine Stimme war durch die Ohrenschützer nur gedämpft zu hören.

Sie startete die Flex erneut und setzte auf der anderen Seite an. Auch hier drang das rotierende Blatt in den Stein ein, als wäre er Butter. Eine Staubfontäne schoss Agnes entgegen, die Diamantschneide drang weiter und weiter vor. Bis der Stein ein Knacken von sich gab und keinen Widerstand mehr bot. Der Hals war durchtrennt, der Kopf baumelte in der Schraubzwinge am Tau.

Agnes stellte die Flex aus. Pavel nahm sie ihr aus der Hand und legte sie auf die Werkbank. Agnes stieg die Stufen ihres Tritts hinunter, und nahm Ohrenschützer, Maske und Schutzbrille ab. Sie rang nach Luft, als habe sie eine halbe Stunde auf dem Laufband hinter sich, und klopfte sich den Staub vom Oberkörper.

Agnes ging zur Fernsteuerung und ließ den Kopf des heiligen Veit ein Stück nach oben fahren, sodass er den Torso darunter nicht mehr berühren konnte.

Pavel sah zu ihm hinauf. »Du Rabiate«, kommentierte er und lachte.

»Feierabend«, sagte sie.

Ihr Handy klingelte. Die Hamburger Nummer erkannte sie sofort, Durchwahl siebzig am Ende – das war das Arztzimmer in Mutters Pflegeheim.

»Guten Abend, Frau Linz. Ich bin es, Dr. Meister.« Seine Stimme war leise und klang ernst. »Können Sie sprechen oder soll ich später noch mal anrufen?«

Agnes lehnte sich an die Werkbank. »Ist was mit meiner Mutter?«

Es knackte in der Leitung, ein kurzes Rauschen war zu hören und verschwand wieder.

»Ihre Mutter«, sagte er. »Sie ist … sie ist heute Morgen verstorben. Es tut mir sehr leid.«

Die Flex lag still auf der Werkbank, Agnes hörte noch immer das Kreischen der Scheibe, wie sie sich in den Stein fraß. Pavel rief ihr irgendetwas zu, aber sie verstand seine Worte nicht, sie sah nur, wie seine Lippen sich bewegten. Er kam auf sie zu, er berührte sie an der Schulter, sie sah es, aber sie spürte es nicht.

»Frau Linz? Sind Sie noch dran?« Dr. Meisters Stimme war laut und durchdringend.

»Ja. Ich bin noch dran. Sagen Sie … wie … wie ist sie gestorben?«

Dr. Meister räusperte sich am anderen Ende der Leitung. »Wir wissen noch nichts Genaues, aber wir gehen von Herzversagen aus. Sie ist vermutlich ruhig eingeschlafen. Können Sie nach Hamburg kommen?«

Sie spürte nichts. Da war kein Schmerz in ihr, kein krampfender Bauch, kein zugeschnürter Hals, auch ihr Puls blieb ruhig. Dr. Meisters Anruf war das Ergebnis einer logischen Reihe, nicht mehr. Mutters Leben war kein Leben mehr gewesen, und Gott war gnädig mit ihr. Er hatte sie zu sich geholt. Sie lag in ihrem Bett, die Gesichtshaut faltig und voller Flecken, das graue Haar strähnig, ein leeres Lächeln, während ihr Blick durchs Fenster in den Park die Bäume und die Blumen und die Sonne suchte.

»Ich nehme morgen früh den ersten Zug.« Agnes legte auf. Sie schob das Telefon langsam in ihre Hosentasche. Staub tanzte in der Luft.

Sie griff mit beiden Händen in ihren Nacken, öffnete den Verschluss der Halskette und nahm sie in die Hand. Das kupferne Kruzifix mit dem Leib Jesu Christi darauf leuchtete. Als Mutter ihr den Anhänger geschenkt hatte, hatte sie gesagt, Gott passe für immer auf sie auf – auf sie beide. Es war Agnes’ vierundzwanzigster Geburtstag gewesen – ein Jahr nach dem Unfall.

Pavel lehnte sich neben sie an die Werkbank. »Ich kümmere mich um Kafka«, sagte er. »Er kann mit zu mir.«

Agnes nickte. Jetzt kamen ihr doch die Tränen. Sie sah zur Seite. Der heilige Veit stand enthauptet da. Sein Kopf – eingehüllt in das schwarze Tuch – baumelte in der Luft wie an einem Galgen.

Agnes legte ihren Kopf an Pavels Brust und umklammerte fest seinen Oberkörper. Sie spürte seine Hand, die ihre Haare streichelte. Sie war zärtlich und weich, diese Hand. Wie Mutters.

3

HAMBURG-CENTRUM, JANUAR 2021

Mehr als sechs Stunden dauerte die Verhandlung jetzt schon, das Gericht hatte sich zur Beratung zurückgezogen. Jonas dröhnte der Kopf. Mehrere Zeugen hatten ausgesagt, der Kfz-Sachverständige hatte sein Gutachten erläutert. Danach war die Sache eindeutig gewesen: Als das Mädchen die linke Hintertür des Wagens öffnete und auf die Straße trat, blieben dem herankommenden Fahrzeugführer genau zwei Sekunden. Die Länge der Bremsspur ließ den Rückschluss zu, dass er höchstens vierzig Stundenkilometer gefahren war. Es war unmöglich für ihn gewesen, schneller zu reagieren. Das Mädchen wurde durch die Luft geschleudert und war an einen Brückenpfeiler geprallt. Sie erlag wenig später ihren Verletzungen.

Jetzt saß die Mutter des Mädchens, Louise Wallner, Jonas gegenüber im Gerichtssaal. Er hatte sie wegen fahrlässiger Tötung angeklagt, das Gesetz verpflichtete ihn dazu.

Sie war grau und klein, wirkte viel älter als einunddreißig, und ihre Augen waren gerötet. Sie hatte alles verloren, was ihr im Leben wichtig gewesen war. So hatte sie es vorhin bei ihrer Vernehmung formuliert, und noch immer klammerte sie sich jetzt an das Foto ihrer Tochter und legte es nicht aus der Hand. Sie fühle sich, als habe man ihr ein Messer ins Herz gestoßen, das hatte sie auch noch gesagt. Ein paar der Zuschauer hatten ihr unter Tränen zugehört.

Hans Möller war ein erfahrener Verteidiger, er hatte genau das Richtige getan und auf die Ausnahmevorschrift verwiesen, über der das Gericht gerade brütete. Jonas hatte ihm nicht widersprochen. In einem Punkt lag Möller allerdings falsch. Er hatte gesagt, Fälle dieser Art gehörten nicht vor Gericht. Die Frau hatte die ihr obliegende Sorgfaltspflicht verletzt. Sie hätte nicht zulassen dürfen, dass ihre Tochter zur Straßenseite aussteigt, sondern zur rechten, auf der ein Gehweg neben der Parkbucht verlief. Dann würde das Mädchen jetzt noch leben und könnte morgen mit ihren Freundinnen eingeschult werden. Natürlich gehörten solche Fälle vor Gericht.

Alle im Saal erhoben sich, als Richter Altmeier und die beiden Schöffen zurückkehrten und am Richtertisch Platz nahmen.

»Wir haben die Erwägungen der Verteidigung sorgfältig geprüft.« Altmeier räusperte sich, er lehnte sich mit verschränkten Unterarmen auf den Richtertisch. »Das Gericht sieht den Tatbestand der fahrlässigen Tötung als erfüllt an. Frau Wallner, Sie hatten eine besondere Obhutspflicht Ihrer Tochter gegenüber. Sie hätten erkennen können und erkennen müssen, dass eine erhebliche Lebensgefahr für Ihr Kind bestand, wenn es – wie geschehen – auf die viel befahrene Straße treten würde. Ihren Einwand einer kurzzeitigen, stressbedingten Gedankenlosigkeit kann das Gesetz nicht gelten lassen. Es sind gerade Fälle der vorliegenden Art, in denen eine ganz besondere Gewissenhaftigkeit notwendig und gefordert ist, damit solche Konsequenzen unbedingt verhindert werden.«

Einige der Zuschauer schüttelten den Kopf, andere nickten. Die Luft im Raum war zum Schneiden dick, Jonas’ Hals kratzte.

Die Angeklagte saß mit eingefallenen Schultern da, ihr Stuhl war viel zu groß, sie versank darin.

»Aber«, sagte Altmeier, und seine Stimme war leiser als eben noch. »Sie sind durch die Folgen der Tat schon genug gestraft. Sie werden vermutlich die Bilder dieses furchtbaren Unglücks für immer in sich tragen. Ein Kind zu verlieren ist das Schlimmste und Schmerzhafteste, was einem Menschen widerfahren kann. Der Staat muss hier nicht zusätzlich strafen, der Gesetzgeber hat dafür eine Ausnahmevorschrift in § 60 Strafgesetzbuch vorgesehen, auf die Ihr Verteidiger zu Recht hingewiesen hat. Diese Vorschrift wurde genau für Fälle der vorliegenden Art geschaffen. So haben Sie – unter juristischen Gesichtspunkten – zwar eine Straftat begangen. Sie werden dafür aber nicht belangt. Ich darf alle bitten, sich zu erheben. Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Die Angeklagte ist der fahrlässigen Tötung schuldig. Von einer Strafe wird abgesehen. Sie trägt die Kosten des Verfahrens sowie ihre eigenen notwendigen Auslagen. Bitte setzen Sie sich.«

Das Kinn der Frau zitterte, sie blinzelte unentwegt. Möller neben ihr legte eine Hand auf ihren Unterarm und nickte lächelnd. Er sagte auch irgendetwas zu ihr, das Jonas aber nicht verstand. Wahrscheinlich verkaufte er ihr das Ergebnis als das seiner brillanten Verteidigung. Wenn der gewusst hätte. Jonas hatte die Sache schon heute früh mit Altmeier besprochen, vor der Verhandlung. Jonas war zu ihm ins Richterzimmer gegangen und hatte mit ihm den Weg über die Ausnahmevorschrift diskutiert. Altmeier hatte nur noch die Schöffen überzeugen müssen, aber das war offenbar nicht schwer gewesen.

Der Vorsitzende schloss die Sitzung. Jonas zog seine Robe aus, verstaute sie im Aktenkoffer und ging zum Ausgang. Das Telefon in der Hosentasche vibrierte. Eine unbekannte Handynummer hatte viermal versucht, ihn zu erreichen, und eine Nachricht war auch eingegangen: Hier ist Max. Ruf bitte zurück. Ist dringend.

Jonas sah zu, dass er aus dem stickigen Raum und dem nach Bohnerwachs stinkenden Flur an die frische Luft kam. Er hatte Max seit Jahren nicht mehr gesehen. Ihre Freundschaft hatte sich irgendwann zu einer Bekanntschaft entwickelt, die im Wesentlichen durch ihre gemeinsame Vergangenheit gehalten wurde und der der Impuls des Neuen fehlte. Wie ein Buch im Schrank, das man schon vor Langem gelesen hatte und trotzdem nicht wegschmiss. Jonas ärgerte sich im Grunde über diese Entwicklung, aber verhindert hatte er sie auch nicht.

Draußen auf den Stufen des Amtsgerichts Hamburg-Altona pfiff kühler Januarwind um die Backsteinecken. Der Himmel war grau verhangen, es regnete. Jonas schloss die Knöpfe seines Mantels. Unten auf der Elbe dröhnte eine Schiffssirene. Als Jonas zu seinem Wagen gehen wollte, den er direkt vor dem Gebäude geparkt hatte, stand Louise Wallner neben ihm. Sie starrte ihn aus schwarzen Augen an. »Ich wünsche Ihnen alles Gute, Herr Staatsanwalt. Und dass Sie immer alles richtig machen, Sie aufrechter Mann.«

Jonas roch ihren Atem, diese typische Mischung aus Zigaretten, Kaffee und Bitterkeit. Sie drehte sich um und ging davon. Dabei zog sie eine kleine Lederhandtasche hinter sich her. Die Tasche schleifte auf dem regennassen Boden, bis die Frau die Riemchen losließ und die Tasche auf dem Asphalt liegen blieb. Er war im Begriff, hinterherzulaufen, um sie aufzuheben und ihr zu bringen. Doch ein Passant kam ihm zuvor, rannte der Frau nach und drückte ihr die Tasche in die Hand. Sie starrte das Leder an, als sehe sie es zum ersten Mal, und ging weiter, bis sie hinter einer Hausecke verschwunden war.

Es sei dringend, hatte Max geschrieben. Jede Wette, dass er etwas ausgefressen hatte. Jonas wählte seine Nummer, aber es ging niemand dran. Also schrieb er eine Nachricht, knapp wie damals schon: Finkenwerder, am Rüschkanal. Bin ab halb vier in der Werfthalle.

Er steckte das Telefon zurück in die Hosentasche, zog seinen Mantel aus und verstaute ihn zusammen mit dem Koffer auf der Rückbank seines Bullis.

Er nahm es der Frau nicht übel. Sie konnte nicht wissen, dass es letztlich er gewesen war, der den Gedankenanstoß beim Richter veranlasst hatte. Trotzdem ärgerte ihn der Zynismus, mit dem sie reagiert hatte. Sicher litt sie und würde vielleicht nie mehr ein unbelastetes Leben führen. Doch dafür konnte Jonas nichts. Er hatte das getan, wozu er verpflichtet gewesen war – das Gesetz ließ ihm keinen Spielraum. Nur durch ihre Unachtsamkeit war ein sechsjähriges Mädchen ums Leben gekommen. Sollte sie doch zynisch sein, er musste das aushalten.

Der Bulli sprang sofort an, die Heizung aber nicht, die Scheiben blieben beschlagen. Es wurde Zeit für einen neuen Wagen, auch wenn Jonas an dem alten VW hing wie an einem Hund. Sie hatten eine Menge zusammen erlebt, waren in Portugal gewesen, in Schweden und auf unzähligen Festivals. Drei Buchstaben zierten die Heckscheibe: W.O.A – Wacken Open Air. Der Tacho zeigte über vierhunderttausend Kilometer, die Kräfte des Wagens ließen nach. Bei der Arbeit lachten ihn die Kollegen aus, dass er, der Oberstaatsanwalt, der Leiter der Abteilung für Kapitalverbrechen, allen Ernstes mit einem VW-Bus durch die Gegend fuhr wie ein Hippie in den Sechzigern. Dabei war der Wagen nicht einmal bunt. Er war dunkelgrün und – nun gut – an einigen Stellen von Rost bemalt. Aber das Getriebe und der Motor taten ihren Dienst, und sonst funktionierte eigentlich auch noch alles – bis auf die Heizung.

Jonas stellte das Gebläse auf die höchste Stufe, um wenigstens die Frontscheibe klar zu bekommen. Bevor er losfahren konnte, klingelte sein Handy. Er ging sofort ran, die Nummer des Ministeriums.

»Welcher Tag ist heute?« Gerd Mackensens Stimme, die sonst dunkel und tief war, verfiel fast in einen Singsang. Jonas hatte den Anruf erwartet. Immer, wenn in den letzten drei Wochen sein Telefon geklingelt hatte, war er zusammengezuckt.

»Freitag«, sagte Jonas.

»Falsch. Heute ist dein Glückstag, mein Lieber.« Gerd lachte.

»Spann mich nicht auf die Folter.« Jonas öffnete den obersten Knopf seines Hemdkragens. Sein Hals war trocken. Die Heizung kam allmählich in Gang, viel mehr, als ihm lieb war.

»Ich gratuliere«, sagte Gerd. »Wenn du dich in den nächsten sechs Monaten nicht völlig dämlich anstellst, sehe ich für dich im August die Ernennung.«

Der Dieselmotor knatterte, der Bulli vibrierte, ein Kribbeln stieg Jonas von den Beinen über den Bauch empor bis in den Brustkorb.

»Hey«, rief Gerd in die Leitung. »Bist du noch dran?«

»Ja, klar, entschuldige. Aber ich bin gerade …«

»Völlig aus dem Häuschen«, ergänzte Gerd. »Das kostet dich ein Abendessen, und ich bestimme das Restaurant.«

Jonas nickte, als könne Gerd es sehen. Er kannte nicht viele Staatssekretäre, aber die Handvoll, die er kennengelernt hatte, tickten wie Gerd: Sie alle waren gleicher unter den Gleichen. Ihr Einfluss auf die Justiz, auf die Besetzung der Posten und die Ausstattung der Gerichte mit Arbeitsmitteln war groß, keine Frage, aber eben nicht das alleinige Regulativ. Es kam immer noch auf den Einzelnen an, auf seine Leistungen und Verdienste, davon war Jonas überzeugt. Wenn er nicht der Richtige gewesen wäre für die Stelle, wäre sie ihm nicht angetragen worden. So war das.

Neben ihm flossen die Autoschlangen die Straße entlang, dreispurig, Stoßstange an Stoßstange. Wasser spritzte aus den Pfützen auf. Wildes Hupen, gestikulierende Fahrer – Stress in seiner reinsten Form.

Die Plackerei hatte sich gelohnt. Jahrelang hatte Jonas darauf hingearbeitet, jetzt sollte es endlich so weit sein: Er würde Generalstaatsanwalt der Freien und Hansestadt Hamburg. Jonas konnte es nicht fassen, obwohl es genau das war, was er immer gewollt hatte. Vielleicht war die Freude gerade so groß und überwältigend, dass er sie nicht greifen konnte. Er saß in seinem wackelnden VW-Bus und wusste nicht, was er sagen sollte.

»Gerd, ich danke dir. Danke, dass du gleich angerufen hast.«

»Klar doch. Und wenn du heute Abend einen trinken willst, melde dich.«

»Immer gern. Aber das müssen wir nachholen. Mein alter Herr wird morgen fünfundachtzig. Es gibt noch tausend Sachen vorzubereiten.«

»Oh, na dann hast du ja das passende Geschenk für ihn. Er wird sicher mächtig stolz auf dich sein, wenn du ihm die Neuigkeit mitteilst.«

Der Regen fiel auf die Windschutzscheibe und wurde von den Wischerblättern beiseitegeschoben. Damals, am Tag der Zeugnisvergabe, hatte es auch in Strömen geregnet. Er war klitschnass gewesen, als er mit dem Fahrrad zu Hause angekommen war. Vater hatte in seinem Herrenzimmer vor der großen Panoramascheibe mit Blick auf die Kieler Bucht gesessen und Zigarre geraucht. Im Raum hatte bitterer Qualm gehangen. Jonas hatte das Abizeugnis aus seiner Tasche geholt und es ihm voller Stolz vor die Nase gehalten. Vater hatte es in die Hand genommen, es studiert, Zeile für Zeile, Note um Note, nur, um dann einen einzigen Satz zu sagen: »Mit einer zwei Komma null bekommst du keinen Studienplatz in Jura.«

Die Worte hallten bis heute nach.

»Ja, sicher. Er wird sich freuen«, sagte Jonas schnell in sein Telefon und verabschiedete sich von Gerd.

Generalstaatsanwalt Dr. Jonas van Loon. Mit einem Zweier-Abi. Es wäre ihm gern egal gewesen, ob sein Vater sich darüber freute oder nicht.

Jonas schaltete das Radio an, der Klassiksender war noch eingestellt, am Nachmittag sendete er oft Filmmusik. Jonas drehte lauter, ein Symphonieorchester spielte eines seiner Lieblingsstücke – die Titelmelodie aus Indiana Jones. Er musste laut loslachen, als er an Harrison Ford mit Hut und Peitsche dachte. Jonas’ Kommilitonen hatten ihn früher nur Jones genannt, wegen der Ähnlichkeit der Vornamen und der Narbe am Kinn. Jonas hatte sich – das musste er zugeben – geschmeichelt gefühlt.

Er legte den Gang ein und fuhr los.

An einem Freitagnachmittag mit dem Auto durch Hamburgs Innenstadt zu kreuzen war eine dämliche Idee. Die Zeit tropfte vom Ziffernblatt, ohne dass Jonas sich auch nur ein paar Meter von der Stelle bewegte. Nahm er eine Seitenstraße, erwies sie sich selbstverständlich nicht als Schleichweg, denn es dauerte nur ein paar Meter, und er stand entweder in einer Sackgasse oder vor einer Baustelle. Hamburg quoll über vor Autos, oberirdischen U-Bahnen, Bussen, Lkws, Fahrradfahrern, Fußgängern und neuerdings E-Rollern, die von allen die Unberechenbarsten waren. Die Straßen pulsierten wie Adern eines riesigen Lebewesens. Ein Irrenhaus. Jedes Mal fragte er sich aufs Neue, warum er noch immer hier lebte, doch die Antwort war einfach: Er brauchte das Flirren der Stadt, um andernorts zur Ruhe zu kommen. Auf seinem Boot etwa, wenn er allein war mit sich und den Gezeiten. Die Stille auf See konnte ohrenbetäubend sein, wie die dauerhaft klingende Saite einer Geige, bei der man nicht sicher war, ob man sie wirklich hörte.

In Finkenwerder wurde der Strom der Fahrzeuge schwächer, ein paar Nebenstraßen noch, und er parkte den Bulli am kleinen Yachthafen. Die Schnüre schlugen an die Schiffsmasten und klapperten, Möwen kreischten, aus der Werfthalle drang Männerlachen und Kaffeeduft. Die Elbe floss ruhig in Richtung Nordsee, sie scherte sich nicht darum, ob es laut war oder leise, ob es nach Abgasen stank oder ein sechsjähriges Mädchen von einem Auto überfahren worden war.

Max’ Nachricht hatte aufgewühlt geklungen, das passte gar nicht zu ihm. Er war immer die Ruhe in Person und wusste stets, was zu tun war. Um diese Eigenschaft konnte man den Kerl wirklich beneiden. Es gab nur wenige Menschen mit solcher Besonnenheit. Ein bisschen war Max wie die Elbe, nur mit einem Gewissen. Ihm wäre der Tod des Mädchens nicht egal gewesen.

Jonas tippte eine weitere Nachricht an ihn ins Handy. Was ist los?

Er ging in die Werfthalle, die Alethea stand aufgeständert an der Seite. Ihr hölzerner Rumpf hatte dringend eine Überarbeitung nötig. Das Holz faulte an einigen Stellen und musste ausgetauscht werden, der alte Lack musste runter und eine neue Epoxidharzbeschichtung aufgetragen werden. Die Arbeiten würden einige Tage brauchen, aber Jonas hatte sich eine Woche Urlaub genommen, das Schiff hatte es verdient.

Das Handy brummte, eine Antwort von Max. Maria ist tot. Ich habe Gott ein Schnippchen geschlagen.

Jonas fuhr zusammen. Er sah durch die Halle. Die Narbe an seinem Kinn begann zu ziehen, dahinter ein stechender Schmerz im Kiefer. Die Tür zur Umkleidekabine stand einen Spalt offen. Er musste sich noch seinen Blaumann anziehen, bevor er mit den Arbeiten begann. Doch er war wie gelähmt und sank neben der Alethea auf den eisigen Betonboden. Er drückte seine kalte Hand an die Stirn und starrte auf den maroden Schiffsrumpf. Er würde Schwarz für die oberste Farbschicht nehmen.

Schwarz war Marias Lieblingsfarbe gewesen. Bei ihrer Kleidung, ihren Autos. Alles in ihrem Leben war schwarz. Die Tinte in ihrem Füllfederhalter ebenso wie ihre zum Zopf gebundenen Haare, die sie alle zwei Monate gefärbt hatte. Vor dem Tod hatte sie sich nicht gefürchtet. »Älterwerden ist nichts für Feiglinge«, hatte sie mal gesagt. Der Gedanke, eines Tages unter Qualen und Schmerzen sterben zu müssen, war ihr ein Graus gewesen. Jonas hatte sich nur wenige Male mit ihr darüber unterhalten, aber immer hatte Maria versucht abzuwiegeln und schnell das Thema gewechselt. Jetzt war sie tot, und Jonas hatte sie in den letzten anderthalb Jahren nicht mal mehr angerufen.

Er stand auf und strich mit der Hand über den morschen Schiffsrumpf. Ja, er würde Schwarz für die oberste Farbschicht nehmen. Schwarz fiel am wenigsten auf unter Wasser.

4

AHRENSBURG BEI HAMBURG, JANUAR 2021

»Sind Sie Dr. Max Keller?«, fragte einer der beiden Männer an der Eingangstür der Arztpraxis.

Weicher Regen fiel vom Himmel, und obwohl es erst halb vier am Nachmittag war, hielt bereits Dämmerung Einzug in den Straßen.

»Ja, der bin ich. Um was geht es?«, fragte Max.

Der Mann trug einen aus der Zeit gefallenen grauen Trenchcoat mit Gürtel und Schulterklappen. »Mein Name ist Jörg Pfeiffer, und das ist mein Kollege Claas Witt. Wir sind von der Kripo Hamburg, Mordkommission. Dürfen wir reinkommen?«

Das war schneller gegangen als gedacht. Maria war seit etwa zweiundfünfzig Stunden tot, und schon stand die Polizei bei ihm vor der Tür. Vermutlich hatte eine der Schwestern aus dem Pflegeheim sie gerufen. Nur warum? Anzeichen äußerer Einwirkung gab es nicht.

Max zwang sich zu einem Lächeln. »Muss ich mir jetzt nicht erst Ihre Ausweise zeigen lassen? Ich meine, so geht das doch, in Filmen.«

Die beiden Männer zogen Plastikkarten hervor und hielten sie Max vor die Nase. Die Schrift war zu klein und seine Augen zu schlecht, er konnte nicht erkennen, was auf den Karten stand. Aber die Fotos darauf stimmten mit den Gesichtern vor ihm überein, der eine mit Vollbart und Brille, der andere frisch rasiert und blond mit stahlblauen Augen. Max nickte und ging voraus in seine Praxis. Er hatte vorhin irgendwo seine Brille abgelegt und wusste nicht mehr, wo. Ohne Brille fingen die Augen an zu tränen, und er musste ständig blinzeln.

Neben der Tür zu seinem Arztzimmer stand der große Vogelkäfig. Die beiden Zwergpapageien darin hockten aneinandergekauert auf der Stange und kuschelten. Max schnalzte mit der Zunge, doch die Vögel reagierten nicht.

Der Empfangstresen war verwaist, es war Freitagnachmittag, seine Sprechstundenhilfe war schon im Wochenende. Er schenkte sich Kaffee ein. Die Tasse war schwarz und trug die Aufschrift Zur Seite – ich bin Arzt. Maria hatte sie ihm vor Jahren geschenkt.

»Mögen Sie auch?« Max deutete auf die Kaffeekanne und setzte sich auf den Stuhl hinterm Schreibtisch.

Die beiden Kommissare winkten ab.

Vermutlich hielten sie ihn für einen lausigen Arzt, so, wie es hier aussah. Der Empfangstresen war alt, an den Kanten war das weiße Furnier abgeplatzt, darunter schimmerte die Spanplatte hervor. Die Wandschränke stammten noch von Max’ Vorgänger, von dem er die Praxis vor gut zehn Jahren übernommen hatte. Sie waren ebenso vergilbt wie das Linoleum auf dem Fußboden. Dazu die Unordnung, überall lag oder stand etwas herum, Zeitschriften, Kugelschreiber, benutzte Kaffeebecher, vertrocknete Pflanzen. Den Patienten entging vermutlich auch nicht, wie hier alles allmählich verwahrloste. Seit Monaten kamen fast nur noch die Stammkunden, alte Frauen und Männer, die Max seit Jahren kannte. Sie klagten immer über dieselben Beschwerden – Gichthände, Kreislaufschwäche, Rückenschmerzen. Vielleicht nahmen sie die chaotischen Zustände hier ebenso gottgegeben hin wie ihre Krankheiten – ein Zipperlein, halb so wild. Dennoch: Max musste dringend aufräumen und renovieren, und er brauchte unbedingt neues Mobiliar und eine moderne EDV-Anlage. Die Frage war nur, wovon er das bezahlen sollte. Er war froh, dass er das Gehalt für seine zwei Arzthelferinnen und die Auszubildende pünktlich überweisen konnte.

Er zog seinen Arztkittel aus, hängte ihn an den Wandhaken neben dem Tresen und nahm sein Handy aus der Kitteltasche. Jonas hatte geantwortet, Max hatte es gar nicht bemerkt. Bin ab halb vier in der Werfthalle, hatte er geschrieben. Die Werfthalle – Max war schon eine Ewigkeit nicht mehr dort gewesen. Gott sei Dank war Jonas erreichbar und hatte Zeit. Die beiden Kommissare waren zu früh gekommen, Max musste erst mit Jonas sprechen.

»Sie sind wegen Maria Linz hier.« Max schaltete das Handy aus und legte es auf den Schreibtisch. Maria, du wolltest es so, du wolltest nicht leiden.

Die Männer sahen sich an und zuckten mit den Schultern. Der eine trug eine Art Schimanski-Jacke, helles Beige mit unzähligen Taschen. Er war der frisch rasierte, seine rosige Haut glänzte, und das blonde, zum Mittelscheitel frisierte Haar hing ihm in die Stirn. Der andere mit dem Trenchcoat sah aus wie ein amerikanischer Footballspieler. Er war bestimmt zwei Meter groß, kräftig, Vollbartträger. Max wusste schon nicht mehr, wer von ihnen Witt und wer Pfeiffer war. Oder doch, der mit dem Mantel, der Große, das war Pfeiffer. An seinem linken Handgelenk blitzte eine Breitling hervor, und es bestand kein Zweifel: Es war die Oceanrace Heritage 20. Wie konnte sich ein Kriminalbeamter eine Uhr für über viertausend Euro leisten?

»Ist mit Ihren Augen alles in Ordnung?«, fragte Witt.

Max kniff die Augen zusammen. Das Brennen hatte zugenommen, Tränenflüssigkeit bildete sich und lief ihm über die linke Wange. Er musste seine gottverdammte Brille finden.

»Photophobie«, antwortete er, und die beiden Kommissare sahen sich erneut an. »Eine Störung der Lichtsensibilität. Nicht weiter tragisch, ich habe eine spezielle Brille dafür, so eine mit gelben Gläsern, ich weiß nur nicht, wo ich sie gelassen habe. Sie muss hier irgendwo sein.«

Pfeiffer nickte und ging zum Vogelkäfig. »Wie heißen die beiden?«

»A und B«, antwortete Max und sah schon die Fragezeichen in Pfeiffers Blick.

Pfeiffer zog die Augenbrauen hoch und lächelte. »Okay, lassen wir das. Fangen wir anders an: Kennen Sie Frau Linz näher?«

Max stellte den Kaffeebecher beiseite. Jetzt tränten ihm beide Augen. Das war immer so, wenn er seine Brille nicht trug. Marias Augen waren irgendwann geschlossen gewesen. Sie hatte friedlich ausgesehen, auch wenn ihre Haut blass gewesen war wie Segeltuch.

»Die Vögel heißen tatsächlich A und B. Es sind Erbstücke, wenn Sie so wollen. Sie hatten noch nie richtige Namen.«

»A und B.« Pfeiffer ahmte einen Pfeifton nach, von dem er wohl glaubte, er könnte zu den Papageien passen.

Max stand auf und schaltete die grellen Deckenstrahler aus. Jetzt spendete nur noch die kleine Schreibtischleuchte dumpfes Licht. Sofort ließ das Brennen in den Augen nach. »Natürlich kenne ich Maria Linz. Sie war meine Patientin. Und meine Tante.«

»War?«, fragte der andere, Witt. »Dann wissen Sie, dass sie tot ist?«

Maria hatte in ihrem Bett gelegen, die Haut faltig und sanft. Ihre grauen Haare waren zu einem Zopf gebunden, der neben ihrem Gesicht lag wie ein Stofftier, das sie beschützte.

Max beugte sich über seinen Schreibtisch, griff nach der Schachtel Prince Danmark und fummelte mit zitternden Fingern eine Zigarette heraus. Seine Hände waren steif von der Kälte in der Praxis. Er zündete die Zigarette mit einem Streichholz an und zog den Rauch tief in seine Lungen.

Pfeiffer schaute sich um, als suche er nach einem Schild an der Wand, das das Rauchen in der Praxis verbot.

»Sie wollte sterben«, sagte Max. »Ich habe sie dabei begleitet. Es war alles besprochen.«

Im Radio war leise Édith Piaf mit Milord zu hören. Ein wunderbares Lied, Michelle hatte es geliebt. Als sie und Max heirateten, hatte die Band es bei der Party am Abend mindestens dreimal gespielt, und jedes Mal hatten sie dazu getanzt.

Maria hatte auch gern getanzt. Am liebsten in ihrer Küche, mit Jonas oder Max. Es waren Abende gewesen, die nie zu Ende gegangen waren. Die Luft im Raum – warm und voller Qualm – war zum Schneiden gewesen, wenn Maria Howard Carpendale aufgelegt hatte oder Roland Kaiser. Der Wein war in Strömen geflossen, die Welt hatte ihnen nichts anhaben können. Das Leben – ein Fest. Bis zu jener Nacht, bis zum Unfall.

»Dann hat sie also noch gelebt, als Sie sie vorgestern besucht haben?« Pfeiffer kam auf Max zu und blieb dicht vor ihm stehen, die Arme vor der Brust verschränkt.