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>Wir leben auf einem friedlichen Eiland des Universums inmitten schwarzer Meere der Unendlichkeit, und es ist uns nicht bestimmt, diese weit zu bereisen.< HP Lovecraft Dennoch geschieht es manchmal, dass der begrenzte Horizont, den wir Realität nennen, mit der großen Dunkelheit in Berührung kommt. Wenn allzu neugierige Augen in den ewigen Abgrund schauen, dann kann es sein, dass etwas zurück blickt und antwortet. Mit >Echos aus dem Abgrund< veröffentlicht der Autor der Akranos Trilogie und Initiator des Fantastic Aid Projekts seine erste eigene Kurzgeschichtensammlung. Klassische Geistergeschichten, rasante Horroraction, nebulöse Traumvisionen und kosmisches Grauen schreiten hier Hand in Hand auf das Große Dunkel zu, das uns früher oder später alle verschlingen wird. Was geschieht, wenn sich uns neue Sinne und Wahrnehmungen offenbaren? Was schlummert in den Tiefen des Ozeans und flüstert den sensiblen Geistern Worte der Schöpfung ein? Warum liegen Furcht und Wahnsinn so nah beieinander? Und was verbirgt sich hinter der Maske des gelben Königs? Antworten auf diese Fragen mag es in diesem Buch geben.
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Seitenzahl: 401
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Vorwort
Sternenstaub
Eine Frage der Höflichkeit
Phobie
Meerblick
Pläne ändern sich
Festmahl
Thalarion
Der Mann mit dem Hund
Nachtangeln
Das Fest der Masken
Danksagung
Samstag Abend, Sommer, angenehmes Wetter. Ich sitze unter einem Sonnenschirm bei meinem Lieblingsitaliener, und stochere ein wenig nervös in meiner Pasta herum. Mir gegenüber sitzt meine Lektorin, vor ihr eine Pizza mit allerlei abwegigem Gemüse, daneben ein Stapel Zettel, der lose zusammen geheftet wurde und deutliche Gebrauchsspuren aufweist.
„Und?“, frage ich schließlich. „Was sagst du dazu?“
Sie säbelt sich ein beinahe gleichwinkliges Stück aus ihrer Pizza, und schiebt es sich in den Mund, bevor sie antwortet.
„Soweit ganz gut.“, sagt sie kauend. „Aber du musst dir echt diese Schachtelsätze abgewöhnen.
Kein Mensch will Sätze lesen, die über acht Zeilen gehen.“
„Der Schachtelsatz ist das größte Glück des Literaten.“, erwidere ich indigniert. „Schon die alten Meister huldigten dieser hohen Kunst. Was würde mich sonst vom gewöhnlichen Presseschreiberling unterscheiden?“
„Noch nichts gerissen, aber schon Künstlerallüren an den Tag legen...“, kontert sie, ein weiteres Stück Pizza abschneidend. „Unter uns Lektoren herrscht ja eine andere Denkweise vor: Je länger der Schachtelsatz, desto kürzer...“ Sie zuckt mit den Schultern. „Nun, als begnadeter Literat kannst du dir ja denken, wie es weitergeht.“
„Pffft...“, argumentiere ich gekonnt dagegen an und spieße drei Nudeln mit Sauce auf „Du musst übrigens noch ein Vorwort schreiben.“, sagt sie nach eine Weile gefräßigen Schweigens.
„Och nö!“, erwidere ich. „Ich hasse Vorworte. Du weißt, dass ich das weder kann noch mag. Außerdem liest das doch sowieso niemand.“
„Jede anständige Geschichtensammlung hat ein Vorwort des Autors.“, sagt sie unbeeindruckt und wedelt mit einem gepfählten Stück Pizza vor meiner Nase herum. „Eine Kurzgeschichtensammlung ohne Vorwort ist wie Weihnachten ohne Baum.“
„Ich feiere kein Weihnachten.“, brumme ich missmutig.
„Weil du ein gottloser Heide bist! Nichtsdestotrotz brauchst du noch ein Vorwort.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Schreib halt was über deine Geschichten. Wie du auf die Ideen gekommen bist, welche Vorbilder du hast. Solches Zeugs halt.“
„Die Kunst sollte für sich sprechen.“, sage ich affektiert.
„Deine Allüren solltest du dir wegmachen lassen.“, meint sie trocken.
„Und du solltest aufhören, Marc Uwe Kling zu zitieren.“
„Der schreibt immerhin immer ein Vorwort.“ Sie grinst, und schiebt sich ein weiteres Stück Pizza in den Mund, und spült es dann mit einem Schluck Rotwein herunter. „Aber im Ernst, erzähl doch einfach ein bisschen was über deine Schreiberei. Die Leute mögen das. Das ist authentisch, macht den Künstler menschlicher – und so Zeugs.“
„Du klingst selber nicht wirklich überzeugt.“, entgegne ich spöttisch.
„Ein gutes Buch braucht ein Vorwort. Schluss.
Aus. Ende. Fertig.“ Die letzten vier Worte spricht sie mit aufgesetztem bayrischen Akzent, der sehr verdächtig an die Filme von Bully Herbig erinnert.
„Ja, Herrin.“, lenke ich demütig ein, und spieße eine weitere Handvoll Nudeln auf.
„So ist es recht.“, lacht sie.
„Aber mal im Ernst, was soll ich da reinschreiben?“, frage ich verzweifelt. „Das einige meiner Geschichten von meiner Arbeit inspiriert sind, ist ja jetzt nicht so schwer zu erkennen, wenn man sie liest. Dass ich Lovecraft und Stephen King toll finde, ist auch kein so großes Geheimnis.“
„Ja, aber das ist doch schon mal was.“, meint sie.
„Es soll ja, und das wird dich überraschen, Leute geben, die dein Buch lesen, ohne dich seit Jahren persönlich zu kennen.“
„Na schön, dann schreib ich eben was darüber, wie mich die Geschichten der Altmeister und des noch lebenden Königs des Horrors zu meinen eigenen Werken inspiriert haben.“, seufze ich.
„Aber sonderlich originell ist das nicht.“
„Besser als eine ellenlange Liste voller Namen und Danksagungen.“, sagt sie.
„Die kommt ans Ende.“, erwidere ich. Meine Lektorin verdreht die Augen, säbelt weiter an ihrer bereits arg geschrumpften Pizza herum und sieht mich dann wieder an. „Du musst da ja auch keinen Roman und auch kein flammendes Pamphlet verfassen. Stimmt ja schon, dass die Geschichten das Wichtigste sind. Aber so ganz ohne Vorwort wirkt es halt so dahin geklatscht.“
„Na schön, meinetwegen, dann schwafele ich einfach ein wenig herum, wenn du dann zufrieden bist.“, grummele ich mit vollem Mund. Ich hasse es, wenn sie Recht hat.
„Fein.“, sagt sie grinsend. „Braver Junge.“ Sie hält mir ein Stück Pizza entgegen. „Hier, ein Leckerli.“
Ich schnaube mit gespielter Empörung, lasse mir den Happen aber dennoch nicht entgehen. Die Pizza schmeckt gut, auch wenn ich selbst nach einem Geschmackstest das Gemüse nicht wirklich zu identifizieren weiß.
„Hast du eigentlich mit Fest der Masken noch mehr vor?“, fragt sie, nachdem ich zu Ende gekaut habe.
„Wieso?“
„Na ja, die Geschichte wirkt zwar irgendwie abgeschlossen, aber liest sich auch gleichzeitig wie ein sehr langer Prolog von etwas Größerem. Brütest du schon wieder irgendeine halbgare Romanidee aus?“, fragt sie lauernd.
„Nein.“, widerspreche ich beschwichtigend. Sie wirkt erleichtert. „Die Idee ist nicht halbgar, sondern schon ziemlich weit fortgeschritten.“, grinse ich.
„Darf ich dich daran erinnern, dass seit über zwei Jahren die Fortsetzung deiner Trilogie auf deiner Festplatte vor sich hin vegetiert? Und jetzt fängst du wieder was Neues an?“
„Kunst ist Freiheit!“, beginne ich zu schwafeln. „Kreativität kann man nicht erzwingen. Alles zu seiner Zeit. Wenn ich jetzt Visionen von anderen Geschichten habe, muss ich diese auch verwirklichen, so es mich nicht innerlich zerfressen soll.“
„Bist du jetzt fertig mit den Kalendersprüchen?“, spottet sie lächelnd. „Ich hatte halt nur kurz die wilde Idee, dass du ja vielleicht auch mal was fertig stellen möchtest.“
„Das da ist ja wohl fertig.“, empöre ich mich, und deute auf das ausgedruckte Manuskript neben ihrem Pizzateller.
„Touché.“, sagt sie, hebt das Glas und hält es zum Anstoßen hin. Ich entgegne den Gruß, nehme einen Schluck und zücke dann mein Smartphone.
Anstatt des erwarteten schwarzen Bildschirms mit der Eingabe für die Entriegelung der Tastensperre, leuchtet mir ein helles Display mit einem halben Dutzend geöffneter Apps entgegen.
„Mist...“, murmele ich. „Tastensperre nicht drin.“
Ich arbeite mich durch die verschiedenen Tabs, in der Hoffnung, nicht wieder versehentlich Leute angerufen oder bei Amazon bestellt zu haben.
„Hey, ich hab die ganze Zeit das Diktiergerät angehabt.“, sage ich verblüfft.
„Du hast also unser ganzes Gequatsche mitgeschnitten?“, fragt sie, dann hellt sich ihr Gesicht auf. „Dann mach doch daraus einfach das Vorwort.“
„Keine so dumme Idee...“, stimme ich ihr zu.
„Aber bitte schreib nicht eins zu eins unser Gespräch auf.“, sagt sie flehend. „Das hier sind nicht die Känguru Chroniken.“ Sie tippt auf das Manuskript. „Es sind Horror- und Geistergeschichten.“
„Natürlich nicht!“, antworte ich.
Nun ja...
Push! Push! Push! Push! I want to see you push The hunter has become the prey The master's turned into a slave
Fleshgod Apocalypse „Sugar“
Man glaube nur nicht, der Mensch sei der älteste oder letzte Herrscher der Welt, oder gewöhnliches Leben und Substanz würden allein existieren. Die ALTEN waren, die ALTEN sind, und die ALTEN werden sein. Nicht in den Räumen, die wir kennen, sondern zwischen ihnen, gehen sie gelassen und unbeirrt umher. Ohne Dimension, und für unsere Augen unsichtbar.
Howard Phillips Lovecraft
1
Schon von draußen konnte Sam das hämmernde Schlagzeug und den dröhnenden Bass hören. Die Vorband hatte also schon angefangen. Verdammt! Hätte er doch bloß früher den Hintern hoch gekriegt.
Aber die letzte Nacht war hart und der Stoff, den Jonathan angeschleppt hatte, war irgendwie gepanscht gewesen. So einen üblen Brummschädel hatte er noch nie gehabt, wenn er gedrückt hatte. Dabei hätten die Entzugserscheinungen noch in weiter Ferne liegen müssen.
Aber das war halb so wild. Er hatte genug Kohle dabei und er wusste, dass Charlie auch da sein würde. Dort konnte er sich mit neuem Stoff eindecken und dann würde die Post abgehen. Charlie verkaufte nur Qualität, keine gepanschte Scheiße, die Kopfschmerzen verursachte und so wenig Wirkung zeigte wie das Schnupfen von Kräutertee.
Tief in seinem Inneren wusste er, dass er sich auf Dauer mit diesem Zeugs kaputt machte, aber im Moment war ihm das egal. Er hatte ohnehin nicht vor, als Tattergreis zu enden. Das Leben war eine einzige Plackerei und am Ende landete man mit Altersarmut in irgendeinem heruntergekommenem Pflegeheim und durfte seinen Lebensabend dort verbringen. Abgestellt, ausgemustert, würdelos und bedeutungslos. Nein danke, da trat er lieber früher ab, aber mit Vollgas und mit einem großen Knall.
Während er sich, zusammen mit Hunderten anderer finster gekleideter Gestalten dem Eingang der Konzerthalle näherte – ein altes Fabrikgelände, dass vor Jahren stillgelegt und dann umgebaut worden war – warf er einen Blick auf eines der vielen Plakate, die das heutige Event ankündigten.
Heute Abend spielten „Dying Misery“, Newcomer und Senkrechtstarter der Black Metal Szene, die sich auf die Ursprünge der Bewegung besonnen hatten und klaren, harten, rohen Sound spielten. Nicht diese glatt geleckte Hochglanzvariante mit Orchester, Chor und dem ganzen Brimborium. Nur solider, knallharter Black Metal, der einem die Gehirnwindungen ordentlich durchfegte und noch eine richtige Botschaft hatte.
Die Hauptband selber spielte zum Glück noch nicht, aber die Vorband klang auch schon vielversprechend. Leider konnte er den Schriftzug auf dem Tourplakat nicht entziffern, was bei Black Metal Bands aber nicht ungewöhnlich war. Im Gegenteil, es gehörte sogar zum guten Ton. Er würde irgendwen in der Halle fragen müssen, denn wie so oft hatte er hier mit seinem Mobiltelefon weder Empfang noch Internetzugang. Sam hatte mal gehört, dass sich die Deutschen drüben auf dem Kontinent ständig über ihre löchrige Netzabdeckung aufregten. Scheinbar waren die wenigsten von ihnen in den letzten Jahren mal in seiner Heimatstadt gewesen. Ein schnelles Netz war hier so selten wie Schnee in der Wüste. Schlimmer konnte es bei den Krauts auch nicht sein.
Nur sehr langsam bewegte sich die Schlange vorwärts und Sam freundete sich von Minute zu Minute mehr damit an, die Vorband wohl vollständig zu verpassen. Er streckte den Hals, um zu erspähen, weswegen es so träge voran ging. Oftmals lag es daran, dass der Veranstalter an der Security gespart hatte, und für die Kontrolle der Besucher gerade einmal zwei schlecht gelaunte und schlecht bezahlte Muskelprotze am Eingang standen, die sich einen Spaß daraus machten, wegen jeder Kleinigkeit Stress zu schieben.
Sam seufzte, zog sein Handy aus der Tasche und prüfte seine Nachrichten. Abgesehen von Charlies Frage, ob und wenn ja, wann er denn beim Konzert aufschlagen würde, war nichts Gehaltvolles dabei. Das meiste war irgendwelcher belangloser Unsinn in den diversen WhatsApp Gruppen, in denen er mehr oder weniger freiwillig Mitglied war. Er antwortete Charlie, dass er vermutlich zur Hauptband in der Halle sein werde, und steckte das Handy wieder weg, nachdem Charlie ihm geantwortet hatte. Treffpunkt Theke neben der Garderobe. Er war überrascht, dass die Nachrichten so schnell angekommen waren. Wahrscheinlich ein verirrtes Funksignal.
Wieder rückte die Schlange einige Schritte vor. Ein Ende war abzusehen, und jetzt konnte Sam auch erkennen, wieso die ganze Prozedur so lange dauerte. Irgendein Freak in voller Montur hatte es mit den Killernieten an seinen Armbändern definitiv übertrieben und machte jetzt am Eingang einen Aufstand, schwadronierte was von Unterdrückung und ähnlichem Unsinn. Dabei sagte einem doch der gesunde Menschenverstand, dass 10cm lange Stacheln an den Handgelenken bei Konzerten nicht geduldet waren. So ein Vollidiot...
Endlich war Sam an der Reihe. Der mürrisch dreinblickende Kerl von der Security grapschte grob, aber ziemlich sinnbefreit an ihm herum, gab dann ein zustimmendes Grunzen von sich und schob ihn zwischen den Absperrungen hindurch in den Vorraum der Halle.
Sofort wummerten ihm Bass und Schlagzeug mit verstärkter Wucht entgegen. Gitarren kreischten auf und durch die offenen Türen zur Haupthalle konnte er das Geifern des Sängers hören. Das Ganze klang sehr verdächtig nach dem skandinavischen Sound der frühen 90er Jahre. Darkthrone, Mayhem oder Burzum, noch aus der Zeit bevor diese Bekloppten Kirchen abgefackelt und sich gegenseitig umgebracht haben. So geil die Musik aus dieser Ära auch war, so verrückt waren einige ihrer Protagonisten gewesen. Aber dass dieser Sound ein großes Erbe hinterlassen hatte, war unbestreitbar.
Sam machte sich zielsicher auf den Weg zur Garderobe und hielt auf die daneben platzierte und von schwarz gewandeten Gestalten belagerte Theke zu. Eine atemberaubend hübsche Frau in einem eng anliegenden, schwarzen Kleid aus Samt und Seide ging dicht an ihm vorbei in Richtung der großen Halle. Sie hatte langes, schwarzes Haar mit weißen Strähnen, war blass geschminkt und lächelte ihm vielsagend zu, als sie seinen bewundernden Blick bemerkte, der wie magisch über ihre Hüften, ihren flachen Bauch und ihr atemberaubendes Dekolleté wanderte.
In vollem Bewusstsein, sich wie ein Trottel aufzuführen, drehte er sich im Gehen zu ihr um und ging einige Schritte rückwärts, um ihre Kurven nun aus einer anderen Perspektive zu bewundern. Was für ein toller...
„Hey, pass auf wo du hintrampelst, Casanova!“, sagte eine raue Stimme hinter ihm. Sam schrak zusammen, drehte sich wieder herum und blickte in das Gesicht eines Giganten, der direkt aus der Serie „Vikings“ hätte entsprungen sein können. Zwei Meter groß, breitschultrig, lange rotblonde Haare und ein Vollbart, der den Weihnachtsmann neidisch gemacht hätte.
„Sorry, Mann!“, sagte Sam und lächelte schief. „Aber da musste ich nochmal genauer hinschauen, so etwas sieht man nicht alle Tage.“ Der Riese grinste und entblößte strahlend weiße Zähne.
„Ha, das stimmt wohl!“, brummte er vergnügt. „Aber ich hatte was dagegen, dass du mein Bier verschüttest.“ Er hob den Plastikbecher in seiner Linken. „Das Zeug ist zu teuer, um es wegen eines geilen Hinterns weg zu kippen.“ Der Kerl klopfte ihm mit einer Hand von der Größe einer Bärenpranke auf die Schulter. „Hau rein, Mann. Schönen Abend und lauf nirgendwo gegen.“ Er grinste nochmal, prostete Sam zu und ging weiter.
Das mochte er so an der Metal Szene. Die Leute waren fast immer total entspannt und friedlich. Es verging eigentlich kein Konzert, bei dem er keinen netten Plausch mit irgendeinem Wildfremden führte. Er sah dem Riesen nach, der nun durch die Tür zur Halle verschwand. Von der wandelnden Göttin in dem schwarzen Kleid war jedoch keine Spur mehr zu entdecken. Bedauerlich.
Nach kurzem Zögern wandte sich Sam wieder zur Theke und es dauerte nicht lange, bis er Charlie erblickte, der mit einem Bier in der Hand etwas abseits stand und sich mit einem überaus seltsamen Kerl unterhielt.
Die Gestalt war fast so groß wie der Wikinger, aber dafür so dürr wie ein junger Baum. Seine Kleidung fiel selbst hier zwischen all den Goths und Black Metallern auf, denn er trug ein wallendes Gewand aus schillernder schwarzroter Seide und dazu eine kunstvolle goldene Maske, die Augen und Nase bedeckte und nur den Mund frei ließ, und einer dieser kitschigen Voodoomasken aus schlechten B-Movies ähnlich sah. Die Haut des Mannes war nachtschwarz und seine Bewegungen wirkten nur auf den ersten Blick behäbig und träge. Sam betrachtete ihn einige Augenblicke und mit jeder Sekunde wuchs das Gefühl, hier einen Künstler vor sich zu haben. Jede seiner Gesten strahlte Eleganz und Autorität aus. Vielleicht war er ja wirklich ein Voodoopriester, dachte Sam belustigt.
Trotz seiner auffälligen Garderobe nahm kaum jemand Kenntnis von dem Mann. Ab und zu traf ihn zwar ein flüchtiger Blick, aber die meisten Leute wandten sich rasch wieder von ihm ab, als wäre er auch nur irgendein x-beliebiger Gast und kein Exot.
Er näherte sich dem ungleichen Duo und als Charlie ihn erblickte, lächelte er breit und hob die Hand zum Gruß. Sam schlug ein und wandte sich dann dem Unbekannten zu und hielt ihm ebenfalls die Hand hin. Der Mann betrachtete zuerst die Hand einen Moment, dann richteten sich seine durchdringenden Augen hinter der goldenen Maske auf Sams Gesicht. Ein undeutbares Lächeln huschte über seine Lippen, dann ergriff er Sams ausgestreckte Hand. Sein Händedruck war kräftig und irgendwie... kalt.
„Darf ich vorstellen...“, begann Charlie fröhlich. „Sam, das ist Nyrr, ein... ein Geschäftsfreund, wenn man so will.“
„Angenehm.“, antwortete Sam nicht ganz wahrheitsgemäß. Der Kerl war irgendwie unheimlich. „Ein ungewöhnlicher Name... Nyrr.“
Der Schwarze lächelte und entblößte dabei strahlend weiße Zähne. „Das ist nur die Kurzform.“, antwortete er mit melodischer, tiefer Stimme, die irgendetwas in Sam zum Klingen brachte. Allerdings nichts Angenehmes. „Ich komme gebürtig aus Ägypten und meine Eltern hatten die ziemlich unbescheidene Idee, mich nach einem alten Pharao zu benennen, dessen Namen niemand aussprechen kann. Darum habe ich mir eine Kurzform zugelegt, die auch alltagstauglich ist. Außerdem klingt es dann nicht so prahlerisch. Es heißt ja auch heutzutage niemand mehr Ramses oder Tsathoggua.“
„Ääh... Tsath...wie?“, fragte Sam wenig geistreich. Nyrr winkte lächelnd ab und Sam zuckte mit den Schultern. Er wandte sich an Charlie. „Du sagtest, ihr seid Geschäftsfreunde?“ Charlie nickte. „Was genau bietet denn dein Kollege feil?“
„Nur gute Sachen.“, antwortete Nyrr an Charlies Stelle und ließ erneut sein beunruhigendes Grinsen aufblitzen. „Ich habe da etwas ganz Exklusives aus meiner Heimat mitgebracht.“ raunte er und beugte sich zu Sam herüber. „Wir nennen es Sternenstaub. Es ist gut verträglich, schadet dem Körper weniger als eine Zigarette und seine Wirkung ist... bemerkenswert.“ Er grinste wieder und Sam fröstelte. „Meine Leute und ich planen, uns hier auf dem Markt damit zu etablieren. Wer weiß, vielleicht wird es sogar legal, wenn sich herumspricht, dass das Fleisch keinen Schaden davon nimmt.“
Seltsame Formulierung, dachte Sam, nickte aber pflichtschuldig.
„Sternenstaub? Was genau ist es?“, fragte er den Schwarzen.
„Ein Extrakt, dass aus den Blüten der Thalari-Pflanze gewonnen wird, die nur im südlichen Hochland meiner Heimat wächst und gedeiht. Das Pulver gewährt besonders eindrucksvolle und intensive Eindrücke, die alle sieben Sinne gleichzeitig verwöhnen.“
„Sieben?“, fragte Sam skeptisch. „Haben wir nicht nur fünf Sinne?“
„Gewiss...“, antwortete Nyrr lächelnd und erneut überlief Sam ein kalter Schauder. Dieser Typ war wirklich unheimlich. Aber er war nicht der erste Verrückte, dem Sam begegnete.
„Willst Du es einmal ausprobieren?“, fragte Nyrr lockend. „Ich habe ein paar Proben dabei, die ich gerne kostenlos verteile. Um den Markt zu sondieren, sozusagen.“ Sam sah ihn skeptisch an, aber Charlie nickte eifrig.
„Ich habe es schon probiert.“, sagte Charlie. „Es ist wirklich gut. LSD kannst du dagegen vergessen und du fühlst dich am nächsten Tag nicht wie ausgekotzt.“
„Also schön, warum nicht.“, antwortete Sam, war allerdings nicht halb so begeistert wie sein Freund. Nyrr lächelte, griff in sein Gewand und förderte ein winziges Beutelchen aus schwarzem Samt zutage. Er wog es kurz prüfend in der Hand, dann reichte er es an Sam weiter.
„Es ist nicht viel, aber es sollte für eine Kostprobe ausreichen.“, sagte er leise und geheimnisvoll. „Und keine Sorge, es ist völlig harmlos. Ich wäre ja auch ein schlechter Geschäftsmann, wenn ich gefährliche Ware unters Volk zu bringen versuchte.“ Er schüttelte sanft den Kopf. „Nein, gute Mundpropaganda ist die beste Werbung. Ich wünsche dir eine anregende Erfahrung mit meinem Sternenstaub.“
„Danke.“, sagte Sam, immer noch etwas skeptisch, und wog nun seinerseits den Beutel in der Hand. Prüfend befühlte er den Stoff, spürte das Pulver, dass sich darin befand und ließ das Geschenk des seltsamen Mannes mit der Maske in seiner Hosentasche verschwinden.
„Es wirkt sehr rasch.“, erklärte Nyrr freundlich. „Wenn du es jetzt gleich zu dir nimmst, spürst du seine volle Wirkung noch während des Konzerts.“
Charlie nickte eifrig. „Ja, probier's aus, Mann, das wird der Hammer!“
„Also gut.“, sagte Sam und sah sich nach den Toiletten um. „Dann will ich mir mal ein ruhiges Plätzchen suchen.“ Er tippte sich an die Stirn und wandte sich ab. Aus dem Augenwinkel sah er noch, wie Nyrr sich leicht verbeugte und wieder sein beunruhigendes Lächeln zeigte.
Seltsamer Vogel, dachte Sam, während er sich zu den Toiletten begab. Diese waren zu seiner Überraschung nicht nur ziemlich leer, sondern auch überaus sauber. Beides eher seltene Phänomene während eines Konzerts.
Er öffnete eine beliebige Kabinentür, trat ein und klappte den Toilettendeckel herunter, während er die Tür hinter sich verschloss. Auch der Deckel war sehr sauber, aber er wollte kein Risiko eingehen, und so zog er ein schwarzes, kleines Tuch aus Samt aus seiner Hosentasche, breitete es auf dem Deckel aus und schüttete behutsam Nyrrs ominöses neues Pulver auf den Stoff.
Zum Vorschein kam ein feines Pülverchen von einer Farbe, die Sam nicht so recht bestimmen konnte. Zuerst hatte er sie für Blau gehalten, dann aber meinte er, einen violetten Schimmer zu erkennen, dann wieder wandelte sie sich zu Türkis, als er den Kopf leicht bewegte. Aber es war weder Blau noch Lila oder Türkis oder irgendeine andere Farbe, die er kannte. Das war zwar irgendwie unheimlich, aber gleichzeitig auch irgendwie spannend. Und hatte Charlie nicht gesagt, der Stoff wäre der Hammer? Was war also schon dabei? Nyrr würde ihn wohl kaum vergiften wollen. Schlecht fürs Geschäft...
Er zog seine Brieftasche aus der Gesäßtasche, förderte seinen Führerschein zutage und begann routiniert damit, eine gerade, dünne Linie aus dem kleinen Häufchen Pulver zu formen. Als er damit fertig war, hielt er sich das linke Nasenloch zu, beugte sich über den Toilettendeckel und zog den Sternenstaub mit einer schnellen Bewegung durch die Nase hinein.
Sofort spürte er das vertraute Kribbeln in den Schleimhäuten, zog noch einmal kräftig, um den kostbaren Stoff nicht direkt wieder hervor zu niesen, hielt sich für ein paar Augenblicke die Nasenlöcher zu und atmete dann tief aus.
Sam wartete zunächst ein, zwei Minuten in der Kabine, aber als ihm weder schwarz vor Augen wurde, noch sein Schädel explodierte, strich er sich über sein Shirt, drückte aus Reflex auf die Spülung der Toilette und verließ die Kabine wieder.
Wieder in der Vorhalle angekommen, bemerkte er, dass Charlie und sein seltsamer Gefährte nicht mehr an der Bar standen. Vermutlich waren sie schon im großen Saal, denn dort hatte die Vorband jetzt aufgehört zu spielen und die Umbauarbeiten für den Hauptact waren im vollen Gange. Wie er Charlie kannte, wollte er so weit wie möglich nach vorne ins wildeste Gedränge. Sam bevorzugte eher die hinteren Reihen, wo die Stimmung zwar eher etwas zurückhaltender war, dafür aber meist der Sound besser.
Sam machte sich nun ebenfalls auf den Weg in die große Halle, wobei er einen kurzen Schlenker zur Theke machte, um sich mit Flüssignahrung zu versorgen. Mit einem Bier in der Hand betrat er schließlich den Raum, in dem sein Leben eine entscheidende Wendung nahm.
2
Noch bevor der Aufbau für die Hauptband abgeschlossen war, spürte Sam die erste Veränderung. Er wusste nicht, ob es vom Sternenstaub kam oder von dem Bier, dass er bereits halb geleert hatte, aber sein Kater war weg. Sowohl die lästigen Kopfschmerzen als auch der dumpfe Druck in seinem Magen waren komplett verschwunden und er fühlte sich, als wäre er gerade erst nach einem überaus erquickendem, langen Schlaf erwacht.
Sam grinste. Selbst wenn das Zeug sonst nichts bringen sollte, gegen den Kater war es Gold wert. Falls es nicht zu teuer war, könnte es schon allein deswegen regelmäßig den Weg in seine Hosentaschen finden.
Immer wieder sah er sich suchend um, konnte aber weder Charlie noch den seltsamen Nyrr ausfindig machen, obwohl zumindest Letzterer hier drin auffallen musste, wie ein bunter Hund. Aber vielleicht machte er sich nichts aus der Musik und war nur hier, um neue Kunden zu generieren. Sam war es egal. Wenn er von diesem Sternenstaub tatsächlich mehr wollte, könnte er sich sicher an Charlie wenden.
Zu seiner Enttäuschung konnte er auch die schwarz gewandete Göttin mit den tollen Kurven und dem hinreißenden Lächeln nirgends entdecken. Dafür sah er schon von weitem den Wikinger in den vordersten Reihen stehen. Seine rote Haarpracht leuchtete im Licht der Scheinwerfer und einer der Lichttechniker schien den Kerl zu mögen, denn mindestens ein Scheinwerfer war direkt auf den Hünen gerichtet.
Endlich wurde das Licht in der Halle wieder abgedunkelt, die Crewmitglieder wuselten hastig von der Bühne herunter und aus den Boxen begann das Intro des neuen Albums von Dying Misery zu dröhnen. Ein schweres, düsteres, instrumentales Stück namens „Gates to Yuggoth“. Es dauerte nur wenige Minuten, doch die genügten, um Sam eine Gänsehaut zu verpassen. Er kannte das Lied natürlich vom Album, dass seit Wochen bei ihm rauf und runter lief, aber derart intensiv hatte er es noch nie gefühlt. Lag das am Konzert oder am Sternenstaub?
Das Lied verklang, Scheinwerfer flammten auf, eine Feuerfontäne schoss von der Bühne in die Höhe und die Band begann ihren Auftritt mit dem, was im Fachjargon oftmals als Gitarrenwand bezeichnet wurde. Die über und über mit Nieten und Stacheln behängten, schwarzweiß geschminkten Gitarristen standen nebeneinander auf der Bühne und hämmerten das prägnante Riff des ersten Lieds in die Menge. Schlagzeug setzte ein und wie aus dem Nichts setzte von irgendwo eine gellend kreischende Stimme ein. Dann sprang der kleine Sänger wie ein Derwisch aus dem Hintergrund auf die Bühne und das Inferno nahm seinen Lauf.
Schon nach dem ersten Lied wusste Sam, dass dies das mit Abstand geilste Konzert seines Lebens werden würde. Noch nie hatte er den Sound so klar gehört, die Wucht der Musik noch nie so deutlich gespürt. Sie erfüllte nicht nur seine Ohren, sondern fuhr durch seinen ganzen Leib, krempelte seine Innereien um und verursachte in ihm ein Gefühl, dass er sonst nur von richtig gutem Sex unter dem Einfluss von Kokain hatte.
Aber das hier war noch besser! Ohne es bewusst zu bemerken, bewegte er sich rasch in der Zuschauermenge nach vorne und fand sich schon bald mitten in der tobenden Masse der ersten Reihen wieder. Wider Erwarten war der Sound hier sogar noch einen Hauch intensiver und er fuhr ihm durch Mark und Bein. Beiläufig spürte er die Erektion, die sich in seiner Jeans bemerkbar machte, doch er achtete kaum darauf. Der Sound war alles, war allgegenwärtig und nichts anderes zählte. Was für ein Wahnsinn!
Auch das zweite Lied verklang, die Bühne wurde wieder abgedunkelt und die traurigen Klänge eines einsamen Klaviers setzten ein. Sam gönnte sich und seinen überreizten Sinnen eine kurze Atempause. Mehr als zwei oder drei Atemzüge sollte sie aber nicht andauern, dann während er sich die Haare aus dem Gesicht strich, sah er sich kurz um und erblickte...sie!
Die blasse Schönheit mit dem Gesicht und dem Körper einer leibhaftigen Göttin stand keine fünf Meter neben ihm. Ihr Kleid wirkte nicht mehr ganz so glatt, der Saum war ein wenig hochgerutscht und einer der dünnen Träger war von ihrer Schulter geglitten und entblößte nun deutlich mehr Haut, als es für Sams Verstand gut gewesen wäre. Ihre Haut schimmerte im schwachen Licht der Halle. Vermutlich Schweiß, dachte Sam dumpf und konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Der Umstand, dass sich sein ungezogener bester Freund in seiner Jeans schon vorhin bemerkbar gemacht hatte, machte ihn nicht gerade souveräner und abgeklärter.
Was sollte er tun? Sie ansprechen? Zu ihr herüber gehen und... ja, und was? Sie war offensichtlich alleine hier, aber woher wusste er, dass er sich nicht sofort eine Abfuhr einfing? Sie musste ja nur kurz an ihm herab blicken und würde sehen, worauf er aus war. Im besten Fall würde sie ihn verspotten, im schlimmsten Fall setzte es eine Ohrfeige. Aber könnte er sich je verzeihen, wenn er es nicht wenigstens versuchte?
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, wandte sie den Blick von der Bühne ab, sah ihn an und lächelte. Die Entscheidung war gefallen.
Er setzte sich in Bewegung, als er den merkwürdigen Ton hörte. Zuerst konnte er es nicht einordnen, aber dann erkannte er es. Flötenspiel. Was sollte das nun wieder? Die Band arbeitete doch gar nicht mit solcherlei Instrumenten. Außerdem passte der Klang der Flöte überhaupt nicht zu den düsteren Klängen des Klaviers.
Irritiert sah er sich um. Die anderen Zuschauer schienen sich nicht an den deplatzierten Klängen zu stören und als er sich zu der schwarzhaarigen Schönheit umblickte, schien sie auch nichts davon bemerkt zu haben. Sie wirkte zwar ebenfalls etwas verunsichert, aber das schien daran zu liegen, dass er nach zwei Schritten so plötzlich stehen geblieben war. Und vermutlich aus der Wäsche glotzte wie ein Idiot, dachte Sam ärgerlich, blendete die unpassende Flöte aus und überwand die Distanz mit drei hastigen Schritten, wobei er beinahe in seine Angebetete hinein gerannt wäre.
Trampel! schalt er sich selbst. Vollidiot! Sie schien sich jedoch nicht an seiner Tollpatschigkeit zu stören und lächelte weiter ihr bezauberndes Lächeln.
„Hi!“, rief sie, um die Musik von der Bühne zu übertönen. „Wir kennen uns doch schon.“ Er nickte und brachte ein verlegenes Lächeln zustande. Sie grinste ihn fröhlich an, was nicht so recht zu ihrer düsteren Aufmachung passte. „Entspann dich, ich beiße schon nicht.“ Sie hielt ihm die Hand hin. „Ich bin Tara.“
„Sam...“, antwortete er, betrachtete kurz verwirrt ihre ausgestreckte Hand und ergriff sie schließlich unsicher. Gott, war sie schön! Er konnte seinen Blick nicht von ihrem Gesicht abwenden, gleichzeitig wanderten seine Augen immer wieder herunter zu ihrem Ausschnitt. Er sah einen hauchzarten Schweißfilm zwischen ihren Brüsten.
„Du bist ja ein richtiger Schwätzer.“, neckte sie ihn freundlich. Entweder bemerkte sie seine eindeutigen Blicke nicht oder sie schien sich nicht daran zu stören. Wer sich so anzog, wusste wahrscheinlich auch, dass sie angegafft werden würde. Sonderlich charmant war es trotzdem nicht.
Sam riss sich zusammen und gleichzeitig den Blick von ihren Brüsten los und lächelte verlegen.
„Tut mir leid.“, antwortete er. „Ich benehme mich nicht gerade wie ein Kavalier.“
„Nein, in der Tat.“, sagte Tara grinsend. „Aber das macht nichts. Ich schätze Ehrlichkeit. Und nichts ist ehrlicher als solch ein Blick.“ Sie lachte, als er schuldbewusst das Gesicht verzog. „Ich sagte doch schon... entspann dich. Und schau hin, wo du willst, dies ist ein freies Land.“
Jetzt musste auch er grinsen und die erste Nervosität fiel von ihm ab. Die Frau war nicht nur unfassbar sexy, sondern auch ziemlich cool. Er wollte gerade etwas erwidern, das weitaus geistreicher gewesen wäre als seine bisherigen Ergüsse, da hörte er wieder diesen seltsamen disharmonischen Flötenklang. Und nicht nur das. Irgendwo lachte ein Kind.
Sam wandte den Kopf zur Bühne. Seit wann nutzte die Band solche seltsamen Effekte? Er kannte das von Acts wie Marilyn Manson, aber nicht von Dying Misery und Konsorten. Dieser psychedelische Kram gehörte eigentlich nicht zum Repertoire des Black Metal.
„Alles in Ordnung?“, fragte Tara. Ihr Lächeln war ein wenig verblasst und eine Spur Sorge hatte sich in ihre Züge geschlichen. Er sah sie wieder an und zuckte mit den Schultern.
„Ja, alles bestens. Ich wunder mich nur über die Sounds.“
„Was ist daran so seltsam?“, fragte Tara. „Das ist doch vom ersten Album. 'Beyond the Stars', meine ich.“
„Schon, aber die Flöte passt nicht.“, erwiderte er. Tara runzelte die Stirn.
„Flöte? Da ist keine Flöte.“, sagte sie.
Verwirrt sah Sam sie an. Aber er hatte sie doch deutlich gehört! Genau wie das Kinderlachen. Jetzt war beides wieder verstummt und es erklang nur noch das Klavierstück, dass sich langsam dem Ende näherte. Die Lichter auf der Bühne wurden schon wieder heller und die Band hatte erneut Aufstellung genommen.
„Ich muss mich getäuscht haben.“, sagte er und zuckte mit den Schultern. „Wenig Schlaf gehabt.“
Ihre Züge entspannten sich. „Dann solltest du das nachholen. Schlaf ist wichtig.“, sagte sie und zog zu seiner leichten Enttäuschung den Träger ihres Kleids wieder über die Schulter.
„Später vielleicht.“, sagte er und versuchte dabei nicht allzu offensichtlich auf ihre Brustwarzen zu starren, die sich deutlich unter dem dünnen Stoff abzeichneten.
Aber natürlich bemerkte sie seinen Blick, lächelte wieder und drapierte ihre langen, schwarzen Haare nun nach vorne, so dass sie ihre Brüste verdeckten.
„Ich lasse dich nur ungern leiden, aber ich würde es im Moment doch schöner finden, wenn du mit meinem Gesicht sprichst und nicht mit meinen Brüsten.“, sagte sie augenzwinkernd und ohne jeden Vorwurf in der Stimme.
Er wollte gerade eine Entschuldigung heraus pressen, als das Klavierstück endete und das Schlagzeug ohne Vorwarnung mit einer Geschwindigkeit los ballerte, dass jedes Maschinengewehr neidisch geworden wäre. Die Gitarren setzten wieder ein, düstere Keyboard Klänge untermalten das erbarmungslose Dröhnen der anderen Instrumente.
Um ihn herum explodierte die Menge. Hände wurden in die Luft gereckt, lange Haare umher gewirbelt und Hunderte von Nackenmuskulaturen aufs Äußerste strapaziert. Auch Tara hatte sich von der eleganten Dame in ein headbangendes Energiebündel verwandelt. Ihre schwarzen Haare flogen wild umher, ihr ganzer Leib bewegte sich im Takt des hämmernden Schlagzeugs und als er sie so sah, wusste er plötzlich, dass er nie wieder eine andere Frau schön finden könnte.
Was für ein kitschiger Unsinn, dachte er sofort, aber er konnte nichts dagegen tun. Diese Frau war perfekt. Es schien, als hätte ein wohlwollender Schöpfer sie eigens für ihn erschaffen und hier für ihn platziert.
Dann wurde aber auch er vom Sog der Musik erfasst, und ehe er sich versah, fand er sich selbst wild den Kopf schüttelnd und die Hand zu den berühmten Hörnern geformt und in die Höhe gereckt in der tobenden Masse wieder.
Ein lautes Zischen ertönte, wie von fehlerhafter Pyrotechnik, dann ein schrilles, dissonantes Kichern und Glucksen, dass nicht nur vollkommen fehl am Platz war, sondern auch niemals in der Lage hätte sein dürfen, dass Dröhnen der Musik zu übertönen. Aber Sam hatte das Gefühl gehabt, als hätte er es nicht mit den gleichen Ohren gehört wie die Musik. Das war natürlich vollkommen bescheuert, aber dennoch... es klang, als wäre er gleichzeitig noch an einem anderen Ort, an dem dieses unheimliche und gar nicht mehr niedliche Gelächter erklang.
Er hielt inne, während um ihn herum die Masse weiter tobte. War es heller geworden? Hatten die Lichttechniker etwas an den Scheinwerfern geändert? Alle Konturen, sei es von den Menschen um ihn herum oder von der Halle selbst, wirkten schärfer und klarer. Die Farben waren intensiver, schienen von sich aus zu glimmen.
Außerdem konnte er Dinge wahrnehmen, die er eigentlich nicht hätte sehen können dürfen. Die aufgerichteten dünnen Nackenhaare des jungen Mannes zwei Reihen vor ihm, die Gänsehaut der etwas molligeren Blondine dort drüben, die Zahnlücke des Mittfünfzigers neben der Blondine, und der lüsterne Blick, den er ihr zuwarf. Sam konnte seine Gedanken förmlich hören.
Er sah zu Tara hinüber und er hatte das Gefühl, dass plötzlich alles in Zeitlupe ablief. Der Schwung ihrer Haare, das Auf und Ab ihres Kopfes, die perfekten Brüste, die unter dem Kleid jede Bewegung ihres Körpers mitmachten, der elegante und trotzdem wilde Hüftschwung. Alles lief in einer absurden Langsamkeit ab. Er konnte die Schweißtropfen sehen, die auf ihrer Haut glänzten, und er konnte sogar das Rascheln ihres Kleides hören.
Aber wie war das möglich? Was zur Hölle war hier los? Und woher kam dieses Lachen? Dieses unheimliche, irre Kichern!
Dann sah er etwas, dass definitiv nicht hierher gehörte. Nicht in diese Konzerthalle und eigentlich auch nicht in diese Welt.
Inmitten der ekstatischen Massen stand eine Gestalt von über zwei Metern Größe. Der Körper hätte der eines Menschen sein können, wären da nicht die beiden zusätzlichen Arme gewesen, die nicht in Fingern ausliefen, sondern in dünnen, spitzen Klauen, die aussahen wie Greifzangen. Der Kopf des Wesens war unnatürlich in die Länge gezogen, von grünbraunen Schuppen bedeckt und wurde von zwei großen Facettenaugen dominiert, wie bei einer Fliege oder Heuschrecke. Lange, dünne Fühler ragten aus der hohen Stirn hervor und zuckten unruhig, aber scheinbar im Takt der donnernden Musik. Der Mund war leicht geöffnet und gab den Blick auf zwei scharfe Mandibeln frei, die Sam an eine riesige Ameise erinnerten.
Er stieß einen erschrockenen Schrei aus, geriet ins Stolpern, als einer seiner Nachbarn in der Menge ihn unabsichtlich anstieß und verlor das Ding für einen Moment aus den Augen. Als er wieder hinsah, war das Wesen verschwunden.
Was ging hier vor? Was geschah hier und was war das für ein Monster gewesen? Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Der Sternenstaub!
Von wegen, keine negativen Auswirkungen! Er war auf dem besten Weg, sich einen perfekten Horrortrip einzufangen. Seltsame Geräusche, irres Lachen, irgendwelche Monster – natürlich lag das alles an diesem seltsamen Pulver, dass keine richtige Farbe gehabt hatte. Schöner Mist, dachte er verzweifelt. Da traf er seine Traumfrau, die sogar mit ihm zu flirten schien, und dann machte sein Verstand den Abgang. Verdammt!
Er musste etwas tun, irgendwie der elenden Droge entgegenwirken. Er durfte hier jetzt nicht durchdrehen, sonst würde er sich gleich wieder sämtliche Chancen bei Tara verderben. Sam wusste nicht, wie sie zum Thema Drogen stand, und selbst wenn sie das Ganze lockerer sah als die meisten, würde sie doch ein Irrer auf einem Horrortrip vermutlich abschrecken. Er musste sich zusammenreißen!
Zum ersten Mal seit Jahren dachte er ernsthaft darüber nach, mit dem Scheiß aufzuhören. Und wenn dieses angeblich ach so harmlose Pulver ihm jetzt die Chance seines Lebens vermasselte und Tara vergraulte, würde er diesen Nyrr finden und ihm seine Großzügigkeit mit einigen ausgewählten Schlägen in die Schnauze vergelten. Sam war eigentlich kein Schläger, ging körperlichen Konfrontationen lieber aus dem Weg, aber dieses Mal würde er eine Ausnahme machen. Keine Nebenwirkungen... Pah! So ein Scheißdreck!
Das Lied endete, Applaus brandete auf und die Menge kam danach ein wenig zur Ruhe. Tara stand neben ihm, rückte ihr Kleid zurecht und wischte sich eine dicke Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie lächelte glücklich.
„Geiles Konzert!“, sagte sie laut, damit er sie verstehen konnte. Er nickte und zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln. Ihr Anblick, verstärkt durch die Wirkung der Droge, raubte ihm Atem und Sprache. Wenn er sie ansah, war das Zeug der nackte Wahnsinn. Vielleicht kamen die Nebenwirkungen nur daher, dass er zum ersten Mal Sternenstaub geschnupft hatte. Oder er hätte es geringer dosieren müssen.
Hinter Tara tauchte wie aus dem Nichts eine groteske Gestalt auf. Sie war lang, dürr und schien auf den ersten Blick vornüber gebeugt zu gehen – und sie war definitiv kein Mensch. Eine riesige Heuschrecke mit langen, dünnen Gliedern, klickenden Klauen und dolchlangen Mandibeln, von denen eine zischende, klare Flüssigkeit zu Boden tröpfelte. Das Ding stieß einen rasselnden Laut aus, gefolgt von einem grässlichen Kichern, dann verschwand es so schnell, wie es erschienen war.
Mit letzter Kraft konnte Sam verhindern, laut aufzuschreien, doch sein Schrecken musste ihm deutlich anzusehen gewesen sein.
„Was ist los?“, fragte Tara hastig und warf einen Blick über die Schulter, schien jedoch abgesehen von den anderen Konzertbesuchern nichts Auffälliges zu sehen.
Natürlich nicht, du Trottel! schimpfte Sam mit sich selbst. Sie hatte sich ja auch keinen verdammten Sternenstaub ins Gehirn geblasen!
„Nichts.“, sagte er wenig überzeugend. „Ich dachte, ich hätte... jemanden... erkannt. Jemand, dem ich ungern begegnen wollen würde. Aber muss mich getäuscht haben.“
„Du siehst blass aus.“, sagte sie ernst und er hätte beinahe gelacht. Diese Worte aus ihrem Mund, die selbst aussah wie ein Vampir.
„Es ging mir auch schon besser.“, antwortete er ehrlich. „Vielleicht hat mir irgendwer etwas ins Bier geschüttet. Es stand vorhin kurz unbeachtet auf dem Tisch.“
Sie nickte besorgt. „So etwas passiert leider schnell. Vielleicht solltest du zu den Sanitätern gehen. Die haben bestimmt was dagegen.“
„So dramatisch ist es nicht.“, wehrte er ab. „Aber wenn es schlimmer wird, werde ich...“ Er brach ab, als ein ganzes Orchester misstönender Geräusche an sein Ohr drang und die Ansagen des Sängers zum nächsten Song mühelos übertönte. Irres Kichern, eine schrecklich schief spielende Flöte, mechanisches Zischen, das fast wie das Fauchen einer Raubkatze klang, dumpfes Grollen und widerliches Platschen und Sabbern.
Niemand sonst schien es zu bemerken, aber auf Taras Gesicht erkannte er die wachsende Sorge.
Die Geräusche verstummten wieder, gleichzeitig begann die Band, ihr nächstes Lied zu spielen. Dieses Mal war es ein eher langsameres Stück, aber deswegen nicht weniger hart und mächtig. Das Lied hieß 'Cosmic Menace' und Sam hätte beinahe gelacht, als ihm die zufällige Ironie auffiel. Kosmische Bedrohung. Ja, in der Tat, er erlebte gerade seine eigene kosmische Bedrohung, und zwar in Form dieses unscheinbaren Pulvers mit der nicht zu bestimmenden Farbe.
Wieder geriet die Masse der Zuschauer in Bewegung, und während sich Hunderte von Menschen, der Bühne zugewandt, im donnernden Rhythmus der Musik bewegten, mitgröhlten und die Hände in die Luft reckten, stand eine einzelne hochgewachsene Gestalt regungslos in der Menge und starrte Sam direkt an.
Du kannst uns sehen? zischte eine kalte, unmenschliche Stimme in seinem Kopf. Obwohl er den Schemen in der wogenden Menschenmasse kaum erkannte, wusste Sam ganz genau, dass es dieses Ding war, dass zu ihm sprach. In seinem Kopf...
Gott, verdammt, das ist dieser verfluchte Stoff, dachte er zornig, aber auch von einer unbestimmten Angst erfüllt. Dieses Ding sprach ihn direkt an, und es schien... überrascht. Geschah so etwas bei einem Horrortrip?
Dann hat es also begonnen, geiferte die Stimme pfeifend in seinem Kopf. Er hat die Tore geöffnet. Aber zu früh... es ist noch zu früh... Bleib dort stehen, Seelenfutter. Du wirst uns nicht verraten.
Das Ding setzte sich in Bewegung, schob sich langsam durch die Zuschauer, die ihm wie zufällig Platz zu machen schienen, aber sonst keine Notiz von dem grotesken Wesen in ihrer Mitte nahmen. Es sah aus wie eine aufrecht gehende Ameise, deren Arme in gefährlich aussehenden Greifzangen ausliefen. Lange, spitze Fangzähne klickten und klackerten dort, wo sich das Maul des Ungeheuers befand und schwarz schillernde Facettenaugen fixierten Sam.
Voller Entsetzen wich er einen Schritt zurück, dann noch einen, doch er konnte seinen Blick nicht von der unmenschlichen Fratze des Monstrums losreißen.
„Hey, was ist los?“, drang Taras Stimme verschwommen an sein Ohr, kaum in der Lage die laute Musik und das Geschrei der Zuschauer zu übertönen. Doch ihre Stimme brach den Bann. Er wandte sich ruckartig von der schrecklichen Kreatur ab und sah Tara an.
„Ich...“, stammelte er. „Ich glaube, ich sollte doch zu den... den Sanitätern.“ Er verzog das Gesicht, warf hastig einen Blick auf das näher kommende Ungeheuer und erschauderte. War das wirklich nur ein Horrortrip? Was hatte dieses... dieses Ding gesagt? Die Tore geöffnet. Was für Tore, verdammt?
Stehenbleiben, Sterblicher! fauchte die Stimme des Monstrums ohrenbetäubend in seinem Schädel und für einen Moment glaubte er, sein Kopf müsse unter der Wut dieses Dings schlichtweg explodieren.
Er wirbelte herum, stieß dabei beinahe Tara und einen weiteren Konzertbesucher an, geriet ins Stolpern und taumelte davon.
„Hey, warte!“, hörte er noch Taras Stimme, die ihm besorgt nachrief, aber er wollte nur noch weg. Weg von diesem Ding, dass nur ein Horrortrip sein konnte, aber so erschreckend echt war, dass ihn das nackte Entsetzen gepackt hatte. Er warf einen Blick über die Schulter und er sah das Ungeheuer langsam, aber unaufhaltsam auf sich zukommen. Die Menschen wichen dem grässlichen Wesen instinktiv aus, ohne Kenntnis von ihm zu nehmen, wenngleich der ein oder andere Zuschauer einen kurzen, verwirrten Blick zur Seite warf, als das Monstrum ihn passierte.
Das gab für Sam den Ausschlag. Er selber mochte sich ja durchaus im Drogenrausch irgendwelche Dinge einbilden, aber wenn Andere auch darauf reagierten, dann war dies keine Einbildung. Was hatte dieser Spinner Nyrr gesagt? Es erweitert alle sieben Sinne... er hatte es für einen Versprecher oder einen schlechten Witz gehalten, aber nein! Dieses Zeug sorgte dafür, dass er Dinge... Wesen... wahrnehmen konnte, die er mit seinen normalen Sinnen niemals bemerkt hätte. Und hatte es nicht auch in seinem Kopf gesprochen? Was war das für ein Teufelszeug, dass ihm der Verrückte da angedreht hatte?
Bleib stehen! Die Stimme schnitt durch seinen Verstand wie ein scharfes Schwert durch weiche Haut. Das Futter flieht nicht vor seinem Herrn!
Sam dachte nicht daran, dem entsetzlichen Wesen zu gehorchen. Bei Gott, hoffentlich hörte dieser Sternenstaub bald auf zu wirken! Wenn er diese Kreaturen nicht mehr sehen konnte, konnten sie ihn vielleicht auch nicht mehr wahrnehmen.
Er stolperte weiter, erreichte den Ausgang aus der große Halle, als sich ihm eine Gestalt in den Weg stellte. Sie war hochgewachsen und dünn und im ersten Augenblick dachte Sam, dass ihn das schreckliche Wesen irgendwie überholt hatte. Aber dann erkannte er, dass es ein Mensch war. Ein Mensch mit einer Maske.
„Nyrr!“, fauchte er und Zorn sickerte durch seine Angst und sein Entsetzen hindurch. „Was ist das für ein verdammtes Zeugs? Da sind... da ist...“ Er stammelte, keuchte, warf dann einen raschen Blick nach hinten. Dort war nichts.
„Was zum...“, begann er, brach aber direkt wieder ab. Er hörte die donnernde Musik, sah die vielen hundert anderen Konzertgäste, aber weit und breit kein insektoides Monstrum, dass ihm auf den Versen war.
„Ein wahrer Augenöffner, nicht wahr?“, drang Nyrrs Stimme in seine Gedanken. Sams Kopf ruckte herum und er starrte den großen Mann böse an. Aber nur für eine Sekunde. Dann wandelte sich sein finsterer Gesichtsausdruck zu fassungslosem Staunen, denn Nyrr hatte hinter seiner Maske angefangen zu grinsen. Und dieses Grinsen... die Zähne... sie waren...
„Gefällt dir, was du siehst, kleiner Junge?“, Nyrr fletschte die spitzen Zähne. Eine lange, rötliche Zunge schlängelte sich zwischen den Reißzähnen hindurch und Sam sah voller Grauen, dass sie in der Mitte gespalten war wie bei einer Schlange.
„Und das ist noch längst nicht alles.“ Nyrr kicherte amüsiert und Sam konnte die darin mitschwingende Bosheit trotz des Lärms aus der Halle mühelos wahrnehmen. „Dir soll eine ganz besondere Ehre zuteil werden, kleiner Mensch. Du hast als Erster die Kinder der Alten erblickt, so sollst du auch als Erster einen Blick hinter die Maske des Pharaos werfen dürfen. Na... gefällt dir das?“
Sam wich ein, zwei Schritte zurück, als der große, schwarze Mann mit der rechten Hand nach seiner Maske griff und sein Gesicht entblößte. Er wollte es nicht sehen! Verzweifelt versuchte er, die Augen zu schließen, aber irgendetwas zwang ihn dazu, das Gesicht dieses Mannes anzusehen.
Nein! dachte er entsetzt. Nein, ich will nicht! Ich...
Dann hatte der Mann (nein, das war kein Mann!) die Maske vollständig von seinem Gesicht genommen und etwas in Sams Verstand zerbarst.
Oberhalb der Mundpartie war Nyrrs Haut von feinen, grünlich schimmernden Schuppen überzogen. Die Nase war fast gar nicht vorhanden und bestand nur aus zwei dünnen Schlitzen. Aus der hohen Stirn wanden sich zwei dünne Fühler hervor, die wie die Hörner eines Widders geformt waren, und die Augen... diese Augen waren schwarze, hypnotische Wirbel, in denen die Dunkelheit der äußersten Räume brodelte und pulsierte. Ein Malstrom in jene letzten Sphären kosmischer Unendlichkeit, in denen Zeit und Raum nur Illusionen sind, und wo man den Naturgesetzen des bekannten Universums spottete. Sam blickte in einen Abgrund, der ihn anlockte, der nach ihm rief und der zugleich jede Faser seines Körpers und seiner Seele in namenloses Grauen versetzte.
Er schrie gellend auf, und sein Schrei durchbrach den schrecklichen Bann des bodenlosen Abgrunds in den Augen dieses Ungeheuers. Nyrr lachte fröhlich, fletschte die Zähne und beugte sich vor.
„Ich bin der Öffner der Tore!“, zischte das Wesen, dass Nyrr hieß und das niemals ein Mensch sein konnte. „Wenn die Sterne richtig stehen, werden die Alten erwachen und wieder in Besitz nehmen, was schon immer das Ihrige war. Du bist der Anfang. Viele Andere werden nach dir kommen und... sehen! Und dann, kleiner Junge, dann werdet ihr Menschen euren Platz in der Welt einnehmen, der euch gebührt. Als Futter für die Alten.“
Sam rannte los. Vorbei an vielen verblüfften Zuschauern, die gerade aus der Vorhalle von der Theke oder von der Toilette wieder in die Halle wollten; vorbei an verdutzt dreinblickenden Türstehern, die nun nach Konzertbeginn rauchend am Eingang standen und das Geschehen im Innern mäßig interessiert beobachteten. Hinter sich hörte er Nyrrs gackerndes Kichern, als er in die Nacht hinaus stolperte und auf den Parkplatz der Konzerthalle floh.
3
Es dauerte mehr als eine Viertelstunde, bis Sam wieder wusste, wo genau er sich befand. Er war panisch und orientierungslos durch die dunklen und fast leeren Straßen gehastet, bis er endlich wieder in eine belebtere Gegend kam. Das Viertel, in dem die Konzerthalle stand, bot ansonsten keinerlei nennenswerte Lokalitäten, weder Kneipen noch Clubs, von Kinos oder Einkaufszentren ganz zu schweigen. Wuchtige Fabrikgebäude, Lagerhallen und die Wohnbaracken der Arbeiter drängten sich aneinander und reckten sich schwarz und drohend dem wolkenverhangenen Nachthimmel entgegen. Sam war froh, als er dieses Viertel endlich hinter sich gelassen hatte.
Seine Schritte hatten ihn ins neue Hafenviertel gelenkt. Früher war es hier genauso düster und abweisend gewesen, aber die billigen Spelunken und schmierigen Bordelle früherer Tage waren im Zuge einer Attraktivitätsoffensive von schicken Clubs und modernen Bars abgelöst worden. An den nächtlichen Aktivitäten hatte sich jedoch nur wenig geändert. Es wurde immer noch gesoffen, gehurt und gespritzt, aber man tat dies nun in teuren Designerklamotten und für viel mehr Geld.
Sam war es egal. Im Moment gab es nichts, was er weniger begehrte als durch Rauschmittel herbei geführte geistige Zerstreuung. Und was die Frauen anging... da hatte er gerade die schönste Frau des Planeten fluchtartig verlassen, ohne viel mehr als ihren Namen zu kennen. Tara. Nun, der dürfte in einer Millionenstadt ja höchstens ein paar Tausend Mal vertreten sein. Verdammter Mist!