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Lengan ist gefallen und die Dak'harr marschieren unaufhaltsam auf Kylaria zu, die Hauptstadt von Cathuria und das Zentrum der Menschenwelt in Akranos. Unter der Führung des gottgleichen Drachen vernichtet das einstmals vergessene Volk alles, was seinen Weg kreuzt. Nicht einmal der Tod ist den Menschen noch eine Zuflucht, denn jeder Gefallene erhebt sich erneut und marschiert in der Endlosen Legion an der Seite der Invasoren. Während sich die Schlinge um das Herz Cathurias immer enger zieht, befinden sich Nayin, Lares und die Shidai immer noch auf der Suche nach Akilion, die sie unweigerlich in die Wirren des Krieges zurückführt. Die Maske des Drachen ist der Schlüssel zum Schicksal dieses Zeitalters. Nur mit ihrer Hilfe kann es gelingen, den Gottgesandten der Dak'harr, den Drachen, in eine Falle zu locken, um das Kriegsglück zu wenden. Eine verzweifelte Hetzjagd durch das vom Tod gemarterte Land des Feindes führt die Gefährten schließlich an den Rand der Welt, wo sich sich dem Drachen stellen müssen. Dem Drachen und den Schrecken des Großen Abgrunds, die nur darauf warten, Akranos in Dunkelheit und Chaos zu hüllen.
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Seitenzahl: 638
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Für meinen Vater
Titelcover:
Brit Berlin, www.pixelio.de
Landkarte:
Philipp Riedel, mit AutoREALM erstellt
Es gibt kein Morgen für die Menschheit
Saruman
Herr der Ringe – Die zwei Türme
Schmerz... Qual...
Mein Hass brennt sich durch die Untiefen der Erde
Die Welt erzittert vor meiner Marter
Ihre elenden Reiche beben vor meinem Zorn
Doch schließlich wird ganz Azeroth bersten und alles wird unter dem Schatten meiner Schwingen brennen!
Neltharion, der Aspekt des Todes
World of Warcraft, Cataclysm Cinematic Trailer
Vorwort
Prolog: Ningâri
Kapitel 1: Feindesland
Kapitel 2: Kriegsrat
Kapitel 3: Seltsame Bündnisse
Kapitel 4: Die steinerne Stadt
Kapitel 5: Die Maske
Kapitel 6: Flammen und Finsternis
Kapitel 7: Fremde Träume
Kapitel 8: Zug um Zug
Kapitel 9: Entscheidungen
Kapitel 10: Am Rande der Welt
Kapitel 11: Der Flug des Drachen
Epilog: Schicksale
Zwei Monate später als angekündigt, ist nun auch der letzte Teil der Chroniken von Akranos fertig gestellt. Ich bezweifle stark, dass jeder Tippfehler korrigiert, jedes fehlende Wort ersetzt und jeder grammatikalische Unfug richtig gestellt wurde, aber ich habe mein Bestes gegeben. Meine eigenen literarischen Ergüsse immer und immer wieder zu Korrekturzwecken gegenzulesen war an manchen Abenden mehr als nur zäh und eintönig, aber schließlich bin ich doch fertig geworden.
Dem zweiten Teil der Trilogie, „Feuer und Knochen“, hatte ich eine umfangreiche Zusammenfassung des ersten Bandes und die wortgetreue Prophezeiung des Erstgeborenen voran gestellt, all jenen Lesern zur Hilfe, die sich nur noch dunkel an „Das vergessene Volk“ erinnern konnten.
Dieses Mal habe ich darauf verzichtet, jedoch nicht aus Faulheit (der entsprechende Text ist quasi fertig gewesen), sondern aus Kostengründen. Dies klingt profan und kleinkariert, kommt aber in erster Linie dem Käufer zugute.
Die Problematik liegt beim Druck. Bis zu einer Größe von 300 Seiten bleibt der finale Buchpreis recht stabil. Darüber hinaus steigt er jedoch in beachtlichem Maße an, was vermutlich am Aufwand der Produktion liegt. Je dicker das Buch, desto aufwändiger der Druck. Dahingehend kenne ich mich nicht besonders gut aus und will das auch gar nicht negativ bewerten.
Fest steht jedoch, dass eine umfassende Inhaltsangabe der Bände 1 und 2 sicherlich mehr als dreißig Seiten aufs Papier brächte und dies ergäbe einen Preisanstieg für den Leser um ein bis zwei Euro pro Buch. Da ich den Preis des zweiten Teils persönlich schon für so gerade noch akzeptabel erachtet habe, möchte ich beim Finale den Preis wieder so niedrig wie möglich halten. Aus diesem Grund findet sich an dieser Stelle keine ausschweifende Zusammenfassung der bisherigen Ereignisse, sondern lediglich das rechtfertigende Geschwafel des Autors.
Sollte jemandem diese Erklärung nicht plausibel genug erscheinen, so verweise ich auf epochale Werke wie „Das Rad der Zeit“ oder „Das Lied von Eis und Feuer“. Dort gibt es auch keine Inhaltsangaben. Hinweise auf Geschichten von Tad Williams, der sehr ausgiebig dem Schreiben von Zusammenfassungen frönt (oder zumindest sein Verlag), werden an dieser Stelle vom Autor geflissentlich ignoriert.
Nachdem ich mich nun genug für meine Knickerigkeit gerechtfertigt habe, möchte ich meine ehrliche Freude zum Ausdruck bringen, dass der werte Leser es bis zum Finale der Trilogie um Nayin, Lares, die Shidai und die Dak'harr geschafft hat. Es macht mich sehr stolz, alle drei Bücher vollendet zu haben und es ist ein schönes Gefühl, sie auch endlich alle in Händen zu halten. Noch schöner ist es, dass auch Andere an der Geschichte ihre Freude haben und die Helden und Schurken von Akranos auch auf dem letzten Teil ihrer Reise begleiten möchten.
Mein Dank, meine Verehrung und meinen Respekt all jenen, die den Weg bis hierhin mitgegangen sind und ihn nun weiterführen und beenden wollen.
Vorhang auf für den letzten Akt der „Chroniken von Akranos“!
Ergebenst,
Philipp Riedel
Der Ewige Wald, Ausläufer des Amad Feanmar,
Spätfrühling im Jahr 1104 nach Ashibans Fall
Walmar Tanishios erwachte im nahezu undurchdringlichen Dickicht des Ewigen Waldes aus einem leichten Schlummer. Seltsame Träume hatten ihn heimgesucht.
Da war eine große Stadt gewesen, eine gewaltige Metropole, viel größer als seine Heimatstadt Bakurin, und sie war ganz und gar aus dunklem Basaltstein erbaut worden. Breite Prachtstraßen wurden von steinernen Palästen und Türmen gesäumt und jedes Gebäude war reich mit Gold und Edelsteinen verziert. Von besonderer Schönheit war die nachtschwarze dreizehnseitige Stufenpyramide gewesen, die alle anderen Bauwerke bei Weitem überragte. Sie lag im Zentrum der Stadt und der große, freie Platz, der sie umgab war der Ausgangspunkt der dreizehn großen Straßen, die strahlenförmig von der Pyramide abgingen.
In seinem Traum hatte Nacht geherrscht, ganz genau wie hier und jetzt, doch die Straßen und Bauwerke waren von Fackeln und Feuern so hell erleuchtet gewesen, als würde er sie im Tageslicht betrachten können. Auf den Straßen selbst hatten sich Tausende und Abertausende Gestalten befunden. Es schien als hätte es einen großen Sieg zu feiern gegeben, denn jeder pilgerte zur großen Pyramide, die von Wachen in goldenen Rüstungen und wehenden Mänteln abgeschirmt wurde.
Walmar war zu weit weg gewesen, um die Gestalten besser erkennen zu können, doch hatte er sie anfangs irrtümlich für Menschen gehalten, bevor manches Gebaren und einige Bewegungen ihn eines Besseren belehrt hatten. Und mit der Erkenntnis, wer diese Gestalten tatsächlich waren und um welche Stadt es sich handelte, war er schließlich erwacht.
Mühsam schüttelte er den Schlaf ab und setzte sich auf. Das Feuer war zwar fast herunter gebrannt, doch es spendete noch genügend Wärme. Außerdem war es hier im Süden des Landes um diese Jahreszeit sogar nachts schon angenehm warm. Tagsüber konnte es regelrecht heiß werden, wie er schon hatte feststellen müssen.
Er war von Bakurin aufgebrochen, als der Winter in seinen letzten Zügen gelegen hatte und entsprechend war auch ein Großteil der Reisekleidung ausgefallen, die er für diese Expedition eingepackt hatte. Leider hatte sich seine Reise unnötig verzögert, nachdem er in Kahûn von den Hafenbehörden und den Tücken der cathurianischen Bürokratie viel zu lange aufgehalten worden war. Und obwohl die Beamten in seiner Heimat kaum weniger pingelig und kleinkariert waren, hatte Walmar die Reichsdiener Cathurias reichlich verwünscht und zu seinem heutigen Bedauern das ein oder andere Mal wüst und lauthals verflucht. Das hatte ihm natürlich nur noch mehr Wartezeit eingebracht, wenngleich die Cathurianer nichts von ihrer stoischen Gelassenheit und schier endlosen Geduld verloren hatten und ihn stets freundlich und zuvorkommend behandelt hatten. Schmierige Aasgeier!
Walmar streckte sich und sah sich um. Sie hatten das Lager auf einer natürlichen Lichtung errichtet und ihre Schlafsäcke großzügig um das Feuer verteilt. Zwei Mann hielten immer Wache, während der Rest sich ausruhte und schlief. Walmars Wache war die Erste gewesen und abgesehen von den üblichen Geräuschen des Waldes, die er nun schon seit Wochen jede Nacht vernahm, war nichts besonderes vorgefallen.
Im Moment saßen Kamras und Lirion, zwei alte Weggefährten aus Bakurin am Feuer, unterhielten sich leise und lauschten den Lauten, die aus dem dunklen Wald zu ihnen herüber drangen: knackende Äste, raschelndes Laub, das ferne Fauchen einer Raubkatze und das nicht ganz so ferne Piepsen einer Maus, die vermutlich gerade von einer Eule als Abendessen auserkoren worden war. Gleichmäßiger Flügelschlag entfernte sich Richtung Westen und die Klagelaute der armen Maus wurden schnell leiser und verstummte.
Walmar blickte hinauf zum sternenklaren Himmel und zur bereits wieder versinkenden Mondsichel. Es war eine angenehme Nacht. Eigentlich viel zu schön, um sie zu verschlafen, dachte Walmar in einem seltenen Anflug von Romantik. Träume und Schwärmerei waren sonst gar nicht seine Art, aber im Angesicht dieser lauen Frühlingsnacht unter den Sternen konnte man sich auch als hartgesottener Schatzsucher mal einen romantischen Gedanken gönnen. Außerdem würden die nächsten Tage mehr als anstrengend werden, denn schon morgen mussten sie ihr Ziel erreicht haben.
“Na, alter Haudegen!” sagte Lirion halblaut vom Feuer herüber. “Noch nicht genug Wache geschoben? Kannst mich gerne ablösen, wenn du willst.” Er lachte leise und Walmar antwortete ihm mit einem Grinsen und gleichzeitigem Kopfschütteln, während er aufstand und sich zu den beiden Männern ans Feuer gesellte.
“Kann nur nicht schlafen.” antwortete er. “Und die Nacht ist viel zu schön, um sie zu verschlafen, finde ich.”
“Hattest du zu viel Wein?” fragte Kamras scherzhaft. “Solche Töne kennt man gar nicht von dir.”
“Dann würde ich vermutlich noch selig schlummern. Es ist wohl eher die Aufregung und die Vorfreude auf Morgen.” sagte Walmar und blickte nach Norden. Dort drüben, hinter der nächsten Hügelkuppe, die das Vorgebirge des Amad Feanmar darstellten, lag ihr Ziel. Die Ruinenstadt Ningâri.
Vor zwei Tagen hatten sie die ersten Ausläufer der uralten Metropole im Herzen des Ewigen Waldes zu Gesicht bekommen, als sie die letzte, nun hinter ihnen liegende, Hügelkette erklommen hatten. Sie hatten eine große gerodete Lichtung gefunden, die wohl ein Feuer in das ansonsten undurchdringliche Dunkelgrün des Waldes gebrannt hatte und waren für ihre mühsame Kletterei mit einem atemberaubenden Blick über das ganze Panorama des Ewigen Waldes belohnt worden. Fern im Nordwesten erhoben sich die schneebedeckten Gipfel des Amad Feanmar und ihnen zu Füßen lagen die sanften Hügel des Ewigen Waldes, so weit der Blick reichte, ganz gleich in welche Himmelsrichtung sie sich wandten. Und auf einem der Hügel, zwischen den turmhohen Tannen und Fichten, hatten sie die graue Silhouette einer verfallenen Festungsruine erspäht. Eine halb zerfallene Mauer schlängelte sich zwischen den Bäumen Richtung Norden den Berg hinunter und verschwand somit rasch aus ihrem Sichtfeld, doch die Anzeichen waren eindeutig.
Sie hatten Ningâri erreicht.
Es musste einfach die alte, sagenumwobene Metropole sein, denn dieses Gebiet war seit Menschengedenken unbewohnt gewesen. In vergangenen Epochen, die weit vor dem Erscheinen der ersten Menschen in Akranos lagen, hatte es hier eine mächtige und ruhmreiche Zivilisation gegeben. Und sie hatte eine Stadt errichtet, die noch heute jede Metropole der Menschen übertraf. Lediglich Saranath hatte vielleicht an Pracht mit Ningâri mithalten können, doch die ehemalige Kaiserstadt des noch jungen Zeitalters war nun schon seit knapp tausend Jahren genauso eine verfallene Ruine wie Ningâri, welche sich nun unweit von ihnen entfernt im Wald vor Plünderern und Forschern verbarg.
Mit dem feinen Unterschied, dass Saranath verflucht und verdorben war und dass jeder, der sich ihren Mauern auch nur näherte, mit Wahnsinn oder Tod gestraft wurde. Ningâri hingegen war weder das Eine noch verursachte die Präsenz der Stadt das Andere. Während die unvorstellbaren Schätze von Saranath wohl bis zum Ende aller Tage im Sumpf verborgen blieben, warteten die Kostbarkeiten von Ningâri nur darauf, von fleißigen und furchtlosen Menschenhänden eingesammelt zu werden.
Im Laufe der Jahrhunderte hatten immer wieder Expeditionen versucht, den nahezu unerforschten Ewigen Wald zu durchqueren, um die Ruinenstadt zu finden und ihre Reichtümer zu plündern. Die Meisten kehrten jedoch ohne Beute, aber begleitet von reichlich Hohn und Spott, in die Zivilisation zurück. Nur Wenige hatten Ningâri jemals betreten und diese Handvoll Auserwählter hatten unzählige fantastische Geschichten über die Stadt und ihre Schätze verbreitet, sich aber bezüglich ihrer eigenen Beute und ihrer Erlebnisse im Ewigen Wald immer äußerst wortkarg gegeben.
Dafür berichteten sie von den vielen anderen Sagen, Legenden und Ammenmärchen, die sich um den Ewigen Wald rankten. Von Höhlensystemen, in denen schreckliche Ungeheuer leben sollten und die tief ins Innere der Welt hinab reichten. Vom verlorenen Volk der Waldgnome, die ihre Feinde mit Trugbildern in die Irre führten und sie dann mit Giftpfeilen aus dem Hinterhalt töteten. Von den halbmenschlichen, gedrungenen Xilh, die angeblich in großen Schwärmen über ihre Beute herfielen. Von monströsen Spinnen in den lichtlosen Schluchten am Fuß der Berge und ihrer schaurigen Spinnenkönigin. Die Rantazil, die sich an der Westküste Cathurias auf der anderen Seite des Gebirges angesiedelt hatten, behaupteten, dass diese Spinnenkönigin die dunkle Gottheit Razeth symbolisierte, ein Urdämon der im Augenblick der Schöpfung durch einen Riss im Gefüge der Zeit nach Akranos hinein gesickert war und sich in Spinnenform manifestierte hatte. Ihr Gegenstück die Große Schildkröte Marala, die für die Schöpfung stand und die Welt aus sich selbst erschaffen hatte.
Walmar glaubte nicht an eine böse Spinnengottheit, die hier in den Wäldern hauste, doch er war durchaus froh, dass sie auf ihrer wochenlangen Reise durch den Ewigen Wald auf keine der viel erwähnten Schrecknisse gestoßen waren. Weder monströse Spinnen noch hinterhältige Teufelsgnome und erst recht keine tiefen Schluchten voller namenloser Scheusale. Dafür aber lag nun endlich Ningâri zum Greifen nah vor ihnen. Morgen musste es soweit sein.
“Was glaubst du, werden wir da überhaupt finden?” fragte Kamras neugierig. “Du hast von uns allen wohl am häufigsten die Nase in den alten Büchern gehabt.”
Walmar zuckte mit den Schultern.
“Ich habe nicht die geringste Ahnung.” antwortete er. “Ich hab viel über den Ewigen Wald und Ningâri gelesen, aber das Meiste was man so in den Büchern findet ist der Umstand, dass man im Grunde fast nichts weiß.” Er seufzte. “Eigentlich ja eine reichlich schwachsinnige Idee, Bücher zu schreiben, über Dinge, die man sowieso nicht kennt. So haben wir im Grunde nur Andeutungen, Mutmaßungen und wüste Spekulationen.”
“Haben wir das nicht im Grunde sowieso immer?” fragte Lirion lächelnd. “Eine Handvoll dubiose Hinweise und bestenfalls Fragmente einer Wegbeschreibung, dazu aber meist einen Berg voller Mythen und Schauergeschichten.”
“Und in Aussicht stehende unermessliche Reichtümer!” fügte Kamras eifrig hinzu und lachte. “Wenn auch nur ein Zehntel der ganzen Geschichten gestimmt hätte, denen wir nachgejagt sind, hätten wir uns längst zur Ruhe setzen können.”
“Wahrscheinlich.” grinste Walmar. “Aber hättest du das gewollt?”
“Mich zur Ruhe setzen?” Kamras überlegte, dann schüttelte er den Kopf. “Nein, vermutlich nicht. Nur die Füße hochlegen und die Seele baumeln lassen ist für ein paar Wochen ganz angenehm, aber nicht für den Rest meines Lebens. Das kann ich immer noch machen, wenn ich alt, grau und klapprig geworden bin.”
“Also quasi in ein, zwei Jahren...” warf Lirion todernst ein. Kamras schnaubte beleidigt und warf einen dünnen Stock nach dem Freund, der diesem aber lachend auswich.
“Könnt ihr auch leiser Wache halten?” brummte Galan von der anderen Seite des Feuers schlaftrunken und mürrisch zu ihnen herüber. “Euer Geschwätz unterhält den ganzen Wald.”
Schuldbewusst sahen sich die drei Freunde an und während Kamras ein halblautes “Verzeihung” murmelte, waren die anderen Beiden eifrig damit beschäftigt, den Sternenhimmel und den Waldrand zu beobachten.
“Was soll's...” knurrte Galan, richtete sich halb auf und streckte sich, wobei er ausgiebig gähnte und sich die Wange kratzte, auf der ein prächtiger Bart wucherte. “Wenn ich sowieso wach bin, kann ich mich auch genauso gut dazu gesellen. Bin eh gleich mit der Wache dran, fürchte ich.”
Galan stand auf, drehte sich zu ihnen herum und fuhr erschrocken zusammen. Ein Laut des Entsetzens entrang seiner Kehle und seine Augen schienen ihm aus den Höhlen zu quellen.
Die Anderen sprangen auf, wobei Walmar und Kamras zu ihren Säbeln und Lirion zu seiner Armbrust griff, die zu seinen Füßen gelegen hatte. Sie sahen in die Richtung, in die Galan geblickt hatte, in Erwartung eines der unliebsamen Bewohners dieses Waldes. Doch da war niemand.
Sie starrten noch einige Augenblicke angestrengt in die Dunkelheit hinaus und wandten sich dann Galan zu.
“Wenn das eine Retourkutsche fürs Wecken sein soll, dann...” begann Lirion verärgert, verstummte aber sofort, als er das aschfahle Gesicht seines Kameraden sah.
“Was, bei allen Dämonen, ist los?” fragte Walmar alarmiert und sah rasch wieder zum Waldrand hinter sich herüber. Doch da war immer noch nichts.
“Da war... da ist... nein... ich glaube...” stotterte Galan und begann plötzlich zu schwanken. Kamras und Lirion reagierten blitzschnell und fingen ihn auf, bevor er vornüber ins Feuer stürzen konnte. Behutsam legten sie ihn auf den Boden, während Walmar nervös den Waldrand betrachtete. Noch immer war nichts zu sehen, nur Dunkelheit. Er glaubte einen kleinen, huschenden Schatten zwischen den hoch aufragenden Baumstämmen gesehen zu haben, der im Unterholz verschwunden zu sein schien, aber es konnte durchaus sein, dass ihm seine Fantasie nur einen Streich gespielt hatte.
Dann fiel ihm etwas anderes auf. Es war viel zu still. Sämtliche Geräusche des Waldes waren verstummt, ohne dass sie es bemerkt hatten und nur die Blätter raschelten leise im schwachen Wind.
“Was hast du gesehen, Mann!” herrschte Kamras Galan an, der am Boden lag und vor Furcht zitterte. Seine Lippen zuckten unentwegt und seine Augen flackerten. Gehetzt suchte er den Waldrand ab, doch auch er schien nichts mehr zu sehen.
“Da war... sie war riesig!” flüsterte er so leise, dass Walmar ihn kaum verstehen konnte.
“Was war riesig?” wollte Kamras erneut wissen.
“Du hast bestimmt noch halb geträumt.” versuchte Lirion statt dessen, den völlig verängstigten Freund zu beruhigen, doch Galan schüttelte energisch den Kopf.
“Ich weiß doch, was ich gesehen habe!” widersprach er.
“Dann könntest du es langsam auch mal sagen.” knurrte Walmar ängstlich und mit zunehmend zittriger Stimme. Er fürchtete wenige wilde Tiere und er hatte schon mehr als einen brenzligen Kampf überstanden, doch nur die Götter wussten wirklich, was dieser Wald an bösen Überraschungen für sie bereit hielt. Und Gruselgeschichten gab es ja nun wahrlich genug.
“Sie war da zwischen den Bäumen!” flüsterte Galan mit heiserer Stimme. Seine Augen waren immer noch weit aufgerissen und er zitterte am ganzen Leib. “Sie war gigantisch und sie hat uns beobachtet. Schon die ganze Zeit!”
“Wer, verdammt?” schrie Kalmas ihn an, so dass auch die beiden anderen Männer endlich wach wurden. Herian und Jilas, zwei alte Veteranen, die sie in Kahûn kennen gelernt hatten und die ihnen vertrauenswürdig genug erschienen waren, sie zu begleiten. Bis heute hatten sie sich dahingehend auch nicht getäuscht.
“Sie hatte tausend Augen. Sie sieht alles! Alles, versteht ihr! Sie spricht zu mir.” Galan lachte verrückt und hielt sich die Hand vor den Mund, um es zu unterdrücken. “Sie ist die Herrin des Waldes!” brachte er mühsam hervor.
“Er ist völlig durchgedreht.” sagte Lirion entsetzt. “Aber wie kann das geschehen sein? Was zur Hölle hat er gesehen?” Der andere Mann war nun auch einer Panik nahe und starrte mit vor Angst geweiteten Augen in die Dunkelheit des Waldes.
“Herrin des Waldes...” murmelte Walmar. Was, bei allen Dämonen des Abgrunds, konnte er gemeint haben? Was hatte er gesehen oder geglaubt zu sehen?
“Sie wartet zwischen den Bäumen!” keuchte Galan, der nun von fünf Männern umringt war. Herian und Jilas hatten sich aus ihren Schlafsäcken befreit und sich ebenfalls bewaffnet. Jilas führte eine schwere Axt und einen Metallschild, während sein Kumpane zwei Langschwerter gezogen hatte und abwechselnd Galan und den Waldrand beobachtete.
“Wer wartet zwischen den Bäumen?” fragte Kalmas nun ein wenig ruhiger, doch Walmar konnte auch bei ihm deutlich den panischen Unterton in der schwankenden Stimme heraus hören. Er hoffte inständig, dass Galan endlich den Mund aufmachte oder in Ohnmacht fiel. “Da ist niemand, Galan. Du musst dir das eingebildet haben.” fuhr Kalmas fort. Wahrscheinlich, dachte Walmar nervös, war hier auch der Wunsch eher Vater des Gedankens. Wenn den erfahrenen Abenteurer etwas derart erschreckt hatte, dass er vor Angst zitterte und Unsinn brabbelte, dann musste es etwas Furchtbares gewesen sein. Und er bezweifelte, dass ein kurzes Trugbild, was auch immer es ausgelöst haben mochte, dazu imstande war.
“Vielleicht sollten wir zusehen, dass wir von hier verschwinden.” murmelte Lirion an Walmar gewandt.
“Mitten in der Nacht?” Walmar versuchte zu lachen, doch er scheiterte kläglich. Es klang mehr wie ein Wimmern. “Wenn da draußen wirklich jemand (etwas!) ist, der uns auflauert, dann machen wir damit genau dass, was er will.”
“Aber wer könnte das sein?” fragte Lirion nervös.
“Ich habe keine Ahnung...” gestand Walmar zerknirscht. “Vielleicht war es nur ein Trugbild, dass...” Ihm kam ein Gedanke. Hatte er vorhin nicht noch an die stets nur im Flüsterton erwähnten unsichtbaren Gnome gedacht, die ihre Feinde mit Illusionen täuschten. Niemand wusste, ob es sie überhaupt gab, aber wenn Galan irgend etwas gesehen hatte, sie alle aber nicht, dann lag doch der Verdacht nahe, dass er verzaubert worden war. Oder einfach nur verrückt geworden, dachte Walmar gehässig und verzweifelt zugleich. Er konnte sich nicht vorstellen, dass eine Illusion so etwas anrichtete. Und wieso waren sie dann nicht alle betroffen?
“Das was?” hakte Lirion nach. Walmar schüttelte den Kopf.
“Nichts.” murmelte er. “Hab nur laut gedacht. Aber wenn es ein Trugbild war, warum haben wir es nicht alle gesehen?” Er zuckte hilflos mit den Schultern und drehte sich kurz zu Galan herum, der immer noch flüsternd vor sich hin murmelte und sich gehetzt nach allen Seiten umsah. Wenigstens hatte das Zittern seiner Glieder nachgelassen.
“Das ergibt keinen rechten Sinn.” vollendete Walmar den Gedanken. Die Konsequenz daraus war aber kaum weniger ermutigend. Entweder war Galan grundlos von einem Augenblick auf den anderen durchgedreht - was ziemlich unwahrscheinlich war - oder da draußen war tatsächlich jemand. Etwas. Und dieses Etwas hatte sich jetzt soweit zurück gezogen, dass sie es nicht mehr sehen konnten.
Aber es war noch da. Lauernd. Wartend. Hinzu kam die unnatürliche Stille. Abgesehen von Galans unverständlichem Flüstern, war rein gar nichts zu hören. Als schien sämtliches Leben aus diesem Teil des Waldes geflohen zu sein.
“Ich glaube jedenfalls, dass wir heute Nacht alle wach bleiben sollten, damit wir nicht...” Das laute Knacken eines zerbrechenden Astes knallte durch die Stille der Nacht wie ein Peitschenhieb. Erschrocken fuhren sie zusammen, drängten sich instinktiv näher ans Feuer, die Waffen erhoben, und starrten gebannt in die Dunkelheit des Waldes.
Der Lichtschein des Feuers reichte kaum bis zum Waldrand und ließ die mächtigen Stämme nur schemenhaft und diffus in der Nacht erkennen. Alles was hinter den ersten Bäumen lag, verschwand in der Finsternis, sogar die Baumwipfel waren eins mit der Nacht geworden und vom dunklen Himmel nicht zu unterscheiden. Es war, als hätte sich eine Glocke aus Gestalt gewordener Dunkelheit über die Lichtung gestülpt.
“Sie kommt!” keuchte Galan heiser. “Die Herrin wird uns zu sich holen.”
“Halt endlich dein verdammtes Maul!” jammerte Kalmas verzweifelt. Er schien die Grenze zur Panik schon halb überschritten zu haben und Walmar konnte es ihm nicht einmal übelnehmen. Irgend etwas kam, näherte sich im Schutz der Nacht und es hatte sie als Beute auserkoren. Bei den Zehn, wären sie doch bloß niemals auf die beknackte Idee gekommen, die Schätze von Ningâri seien jedes Risiko wert. Diese Wälder waren verflucht!
Wieder knackte ein Ast, dieses Mal jedoch nicht nördlich von ihnen. Das Geräusch kam vom Ostrand der Lichtung und die Männer wirbelten fast synchron herum. Noch immer sahen sie nichts, doch Walmar glaubte, dass dort die Finsternis noch intensiver war als zuvor. Er hatte nicht geglaubt, dass dies möglich ist.
“Bei allen... bei den...” stammelte Lirion. “Was ist das?”
“Die Herrin!” schrie Galan. Speichel rann ihm aus dem Mund und seine Augen zuckten so wild, dass Walmar glaubte, sie müssten ihm jeden Moment aus den Höhlen fallen und ins Feuer kullern. Bei dem absurden Gedanken, überkam ihn beinahe ein hysterischer Lachanfall, den er nur mit äußerster Willensanstrengung zurückhalten konnte.
“Wir sind nichts als Futter für ihre Kinder!” brüllte Galan weiter, hustete und gluckste dabei wie ein Baby. “Sie spricht zu mir! Könnt ihr sie nicht hören?” Kalmas schlug ihm mit voller Wucht gegen die Schläfe. Der Verrückte verstummte schlagartig, verdrehte die Augen und wurde bewusstlos. Ein feiner Rinnsal Blut lief über seine Wange und tropfte auf den Waldboden.
“Danke.” flüsterte Lirion, an Kalmas gewandt. “Bei allen Göttern, oh danke, dass du ihn zum Schweigen gebracht hast.”
“Wenn du nicht selber das Maul hältst, kannst du dich dazu legen.” krächzte Kalmas heiser. “Ich habe gerade einen guten Freund verletzt, das ist nichts, wofür ich Dankbarkeit haben will, kapiert!?”
Lirion nickte verstört und schwieg.
“Aber wer verdammt noch mal ist diese Herrin, von der er gebrabbelt hat?” überlegte Jilas. Er und Herian wirkten äußerlich ruhig, auch wenn Walmar ihnen die Anspannung deutlich ansah. Aber sie waren Söldner, Männer die Kampf und Tod tagtäglich gewohnt waren. Sie fürchteten so schnell keinen Gegner, auch wenn dieser im Dunkeln lauerte und wussten die Götter was sein konnte.
“Niemand über den ihr Euch noch Sorgen machen müsstet, Mensch!” sagte eine laute, tiefe Stimme vom nördlichen Rand der Lichtung her. Die Stimme sprach die Worte in ihrer Sprache, aber Walmar erkannte sofort, dass sie nicht aus einer menschlichen Kehle stammen konnten. Solch eine durchdringende Tonlage konnte kein Mensch erzeugen.
Sie drehten sich zum Ursprung der Stimme um und als sie sahen, wer sich da zu ihnen gesellt hatte, senkten sie betroffen und über alle Maßen erstaunt die Waffen.
Vor ihnen stand ein Dutzend menschenähnlicher Gestalten, die jedoch mindestens zwei Köpfe größer waren als Herian, der mit fast zwei Schritt der Größte ihrer Gruppe war. Die Wesen trugen schwere Panzerungen und waren mit übergroßen Schwertern und Äxten bewaffnet, die selbst ein Skarut mit beiden Händen nicht hätte führen können. Gehalten wurden diese übergroßen Waffen von vier-fingrigen Klauen, die in spitzen, dolchartige Krallen endeten. Und dort, wo Menschen ihren Kopf zu haben pflegten, sah Walmar bei diesen Wesen die ausgeprägten Schädel von Drachen.
Entsetzt keuchte er auf, taumelte ein, zwei Schritte zurück und stolperte dabei beinahe über Herian, der sich mit einer raschen Ausweichbewegung vor einem Sturz ins Lagerfeuer retten konnte. Auch Lirion und Kalmas gaben erschrockene Laute von sich, nur Jilas zeigte keine erkennbare Reaktion.
Einer der Drachenmenschen trat vor und sah sie mit schwächlich rot glimmenden Augen durchdringend an. Dann deutete er mit seinem Schwert auf Walmar.
“Es war ein Fehler, diese Wälder zu betreten, Mensch.” grollte das Wesen. “Eurer armseligen Rasse ist es verboten, das heilige Ningâri als freie Männer zu erblicken. Selbst wenn wir uns nicht im Krieg befänden, müsste ich euch hinrichten lassen.”
“Im Krieg?” echote Walmar.
“Hinrichten lassen?” keuchte Lirion entsetzt. “Aber wir haben doch gar nicht...”
“Schweig, Glatthaut!” knurrte das Wesen. “Niemand, der nicht vom Blute der Dak’harr ist und niemand der nicht den Segen des Drachen hat, betritt Ningâri ungestraft. Das ist unsere Stadt. Es ist Frevel genug, dass ihr sie seinerzeit mit eurer Anwesenheit besudelt habt.”
“Frevel? Aber... wir wussten nicht...” plapperte Lirion drauflos. “Welcher Drache? Ich...”
“Schweig!!” donnerte der Drachenmensch und sie alle fuhren zusammen, als wären sie vom Blitz getroffen worden. “Ihr werdet Ningâri sehen, Mensch, doch ihr werdet die Heilige Stadt als Sklaven betreten. Und mein Herr wird entscheiden, auf welche Weise ihr dienen werdet!”
“Auf... welche Weise?” fragte Jilas unsicher. “Was...”
“Das bedeutet, dass mein Herr entscheiden wird, ob ihr uns lebend oder tot dienen werdet.” antwortete der Anführer der Drachenmenschen bedrohlich und fletschte seine beeindruckenden Reißzähne. “Doch dienen werdet ihr, dessen seid gewiss!” Er wandte den Blick zu seinen Männern.
“Fesselt sie!” befahl er laut. “Wer sich wehrt, wird auf der Stelle hingerichtet!”
Die anderen Drachenmenschen setzten sich in Bewegung. Walmar ließ instinktiv die Waffe fallen und die Anderen taten es ihm gleich. Sogar Jilas und Herian folgten seinem Beispiel, wenn auch etwas zögerlich und mit deutlichem Widerwillen. Aber sie hatten vermutlich genauso eingesehen, dass es sinnlos war, sich gegen einen solchen Gegner wehren zu wollen. Vermutlich hätte ein Einziger dieser Drachenwesen genügt, um sie alle fünf in Schach zu halten.
Ihnen wurden die Hände hinter dem Rücken gefesselt und als die fünf Männer zudem noch miteinander verknotet waren, wurden sie von den Drachenmenschen in die Mitte genommen.
“Was ist mit Galan?” fragte Walmar ängstlich. Der Freund lag noch immer bewusstlos neben dem Feuer. Das Blut war mittlerweile schon leicht angetrocknet und bildete ein bizarres Muster auf der rechten Gesichtshälfte des Mannes.
“Der bleibt hier liegen.” antwortete der Anführer der Drachenmenschen kalt. “Möge er seiner neuen Herrin als Opfer dienen, wenn es ihr gefällt.”
“Ihr könnt ihn doch hier nicht verrecken lassen!” protestierte Lirion, was ihm einen schweren Hieb in die Magengegend einbrachte. Er keuchte und krümmte sich vor Schmerzen.
“Natürlich kann ich das.” sagte der Drachenmensch ungerührt. “Er wird sogar einem guten Zweck dienen, denn sein Opfer wird uns vermutlich seine Herrin vom Leibe halten. Und wenn ihr nicht bald schweigt, Mensch, dann werdet ihr euch mit aufgeschlitztem Bauch und heraushängendem Gedärm dazu gesellen können. Das wird sie sicherlich lange genug beschäftigen.”
Walmar wurde bleich, hütete sich aber, noch ein einziges weiteres Wort zu sagen.
Der Anführer suchte noch einmal aufmerksam den Waldrand mit Blicken ab, dann wandte er sich seinen Männern zu, sagte etwas in einer Sprache, die Walmar nicht verstand, und ging dann an ihnen vorbei zum Ostrand der Lichtung. Die anderen Drachenmenschen folgten ihm und zerrten ihre menschlichen Gefangenen einfach mit. Sie schienen es sehr eilig zu haben, denn sie bewegten sich zügig und ihr Anführer behielt die ganze Zeit über den westlichen Rand der Lichtung im Auge.
Als sie die Lichtung verließen, sah sich Walmar ein letztes Mal zu Galan um, der einsam und verloren am Feuer lag. Er würde den Freund nie wieder sehen. Wut, Zorn und hilflose Trauer stiegen in ihm auf und er stöhnte halblaut auf, als sich ihm der letzte Drachenmensch ins Blickfeld schob und sich das Unterholz hinter ihm wieder verschloss. Er wurde vorwärts gestoßen und musste seinen Blick von der Lichtung abwenden, um nicht der Länge nach hinzustürzen. So stolperte er nur leicht gegen den vor ihm marschierenden Herian, doch niemand von ihnen fiel hin.
Doch bevor die Dunkelheit ihn ganz verschluckte, glaubte er auf der anderen Seite der Lichtung zwischen den Bäumen einen großen, aufgedunsenen Schatten zu sehen, der sich lautlos näherte. Eine Dunkelheit, tiefer und bedrohlicher als die Nacht, kälter als der eisige Wind der hohen Gipfel des Amad Feanmar. Größer als jedes Lebewesen, dass Walmar jemals gesehen hatte. Es schien ihm, als seien tausend glühende Augen auf ihn gerichtet. Augen, in denen der Hass aller Äonen und die ungezügelte Wut eines gefallenen Gottes loderte.
Dann verbarg das Dickicht die schwach erleuchtete Lichtung vor seinen Blicken und dieses ungeheuerliche Monstrum war wieder verschwunden.
Das musste das Ding gewesen sein, dass Galan den Verstand geraubt hatte und ihm jetzt das Leben nehmen würde. Trotz seiner aussichtslosen Lage dankte Walmar den Zehn Göttern und all ihren Kindern, dass er nicht genau hatte sehen können, was da in der Dunkelheit lauerte. Das monströse haarige Bein, dass so dick war wie einer der Bäume diese, die sie umgaben, hatte genügt, um etwas in ihm zu Eis gefrieren zu lassen.
Die Drachenmenschen führten sie auf direktem Wege nach Nordosten, wobei sie sich rücksichtslos durch das Unterholz schlugen, ohne sich die Mühe zu machen, dabei besonders leise vorzugehen. Zwei der Kreaturen gingen mit Macheten voran, die so groß waren wie Speere und ebenso effektiv durch Wurzeln und Sträucher schnitten wie eine Sense reifes Korn fällte.
Die Fesseln behinderten die Menschen massiv beim Laufen und mehr als einmal geriet einer von ihnen ins Straucheln. Jedes Mal wurde dies mit einem Fausthieb oder einem Schlag mit der flachen Hand bestraft, wobei die Klauen tiefe Wunden in das Fleisch rissen.
“Weiter!” grollte der Anführer des Trupps. “Bis Ningâri ist es nicht mehr weit, aber wenn ihr vielleicht doch leben wollt, solltet ihr jetzt nicht schlapp machen, Glatthäute.” Er wandte sich im Gehen zu ihnen um. “Niemanden interessiert es wirklich, ob ihr direkt jetzt und hier sterbt oder ob ihr in Ningâri in unsere Dienste tretet. Ich erfülle hier zwar meine Pflicht, aber niemand würde anzweifeln, dass wir nichts gefunden haben.” Er knurrte böse. “Ich frage mich ohnehin, wieso ich euch nicht einfach allen den Kopf abschlage. Also bewegt euch!”
Sie stolperten weiter durch die Dunkelheit, doch die Menschen gaben sich jetzt noch mehr Mühe, nicht zu stürzen oder zu straucheln, denn niemand von ihnen hegte den Wunsch zu sterben. Allerdings fragte sich Walmar, ob die Alternative so viel besser war. Vermutlich schon. denn aus einer Gefangenschaft konnte man möglicherweise entkommen, aber dem Tod konnte niemand entfliehen.
Er dachte zurück an das entsetzliche Ding, dass er für den Bruchteil eines Augenblicks am Rande der Lichtung zu sehen geglaubt hatte. Dieses gigantische Etwas von dem er nur einen amorphen Schatten und ein einzelnes Bein gesehen hatte. Es war mit langen, borstigen Haaren vollständig bedeckt gewesen und dazu leicht eingeknickt. Natürlich war er in der Lage, das Bild zu vervollständigen, doch das Ergebnis war so entsetzlich, dass er sich weigerte, allzu genau darüber nachzudenken. Wenn schon ein Bein so lang und dick war wie ein Baumstamm, wie riesig mochte der Rest sein? Und wie viele andere Beine würde es noch haben? Bei dem Gedanken wurde ihm schlecht. Plötzlich kam ihm ein Gedanke, der ihm so grotesk erschien, dass er unwillkürlich ein einzelnes, lautes Lachen ausstieß.
“Was ist so lustig, Glatthaut?” grollte der Anführer der Drachenmenschen unheilvoll. Die Kreatur verlangsamte seine eigenen Schritte und war jetzt auf gleicher Höhe mit Walmar. “Du scheinst Spaß zu haben...”
“Nein, Herr, verzeiht...” murmelte Walmar und konnte sich dennoch nur mit Mühe ein ungläubiges Kopfschütteln verkneifen. “Es ist nur so, dass...” Er brach ab und schwieg, was dem Dak’harr aber nicht zu gefallen schien, denn er hieb ihm mit einer beinahe beiläufigen Bewegung den Schwertknauf in die Rippen. Sämtliche Luft entwich pfeifend aus Walmars Lunge, er spürte wie eine der Rippen brach und stöhnte qualvoll auf.
“Nicht mehr so amüsiert, was?” knurrte der Drachenmensch ungehalten. “Und jetzt rede! Ob ich Fünf oder nur Vier von euch nach Ningâri schleife, macht keinen Unterschied.”
“Ich dachte nur daran...” keuchte Walmar mühsam, wobei jedes Wort eine Welle von Schmerz durch seinen Brustkorb jagte. “Ich dachte daran, dass ihr uns vermutlich das Leben gerettet habt durch die Gefangennahme. Was irgendwie ironisch ist, wenn wir uns doch im Krieg befinden, wie ihr sagt.”
Der Dak’harr starrte ihn ein paar Sekunden finster an, so dass Walmar erwartete, gleich niedergeschlagen und auf der Stelle einen Kopf kürzer gemacht zu werden. Dann aber verzog der Dak’harr sein Maul zu etwas, dass wohl ein Grinsen darstellen sollte und stieß einen kehligen Laut aus.
“Da hast du sogar Recht, Glatthaut.” antwortete er. “In beiden Punkten. Dass ich euch das Leben gerettet habe, ist in der Tat irgendwie ein schlechter Witz. Aber Befehl ist Befehl. Und womöglich tat ich es auch nur vorübergehend. Das entscheidet mein Herr.”
“Der Drache?” erkundete sich Walmar und hätte sich am liebsten die Hände vor den Mund geschlagen, wenn sie nicht auf dem Rücken gefesselt gewesen wären. Das würde ihm nun mit Sicherheit einen weiteren Hieb einbringen. Doch wieder stieß der Dak’harr nur diesen kehligen Laut aus.
“Oh nein, Glatthaut, ihr seid nicht würdig, sein Angesicht zu erblicken. Ihr seid noch nicht einmal würdig, den Staub zu seinen Füßen zu fressen. Über Euer Schicksal wird der Kommandant entscheiden.”
Walmar beschloss, keine weiteren Fragen mehr zu stellen. Es war ohnehin schon schmerzhaft genug, mit einer gebrochenen Rippe dieses mörderische Tempo mitzuhalten. Jeder Schritt und jeder Atemzug stach ihm in den Brustkorb und es wurde von Minute zu Minute unerträglicher. Wozu also seinen kostbaren Atem mit Reden verschwenden? Wenn es noch irgend etwas für ihn zu erfahren gäbe, würde dieser Kommandant es ihm vermutlich sagen. Oder ihn einfach zusammen mit den vier Anderen töten lassen.
Daher biss er die Zähne zusammen und marschierte stumm hinter seinen ebenso schweigsamen Gefährten her. Sie alle hielten die Köpfe gesenkt und versuchten das Tempo mitzuhalten, dass die Dak’harr vorgaben. Jilas und Herian stellten sich dabei noch am geschicktesten an. Vermutlich waren sie Gewaltmärsche aus diversen Scharmützeln vorheriger Anstellungen gewohnt.
Während er so stumm durch die Dunkelheit hinter seinen Gefährten einher stapfte und versuchte, den Schmerz in seiner Brust so gut es ging zu verdrängen, kam ihm der Gedanke, woher diese Drachenmenschen überhaupt kommen mochten. Natürlich hatte er als jemand, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, alte Schätze zu finden, schon von den Dak’harr gehört. Angesichts ihres Ziels wäre es auch reichlich dämlich gewesen, noch nicht von ihnen gehört zu haben, denn immerhin war das mysteriöse Ningâri die alte Hauptstadt ihres Reichs gewesen.
Walmar hatte gelesen, dass die Dak’harr im Vierten Zeitalter über Akranos geherrscht hatten, aber mit dem Eintreffen der Menschen zunehmend an Macht verloren hatten. Die Stadt Ningâri hatte das Volk der Drachenmenschen allerdings schon lange zuvor verlassen. Es stand geschrieben, dass sie einst Sitz der Gottgesandten gewesen war, uralte Priester oder Hexenmeister, die nicht alterten und über das Wohl des ganzen Volkes entschieden. Angeblich waren sie bei einer gewaltigen Schlacht im heutigen Lengan besiegt worden und mit ihrem Untergang war der Schutz der Stadt vor einer uralten Bedrohung zusammen gebrochen. Daraufhin hatten die Dak’harr den ewigen Wald verlassen und hatten Ningâri eben diesem alten Feind überlassen, wer auch immer dies sein mochte. Jahrhunderte später hatte dann ein neuer Feind, der Mensch, dafür gesorgt, dass die Drachenmenschen den Süden von Akranos komplett aufgeben mussten und schließlich an den Säulen des Nordens vernichtet worden waren.
Aber wenn sie vernichtet worden waren, wo kamen dann diese her? Hatten doch einige Wenige in den Ewigen Wäldern überlebt? Aber wie konnten sie dann diese alte Stätte ihrer Gottgesandten für sich beanspruchen, die schon lange vor der Ankunft der Menschen verlassen worden war? Und von welchem Krieg hatte der Anführer gesprochen? Walmar hatte nichts von einem solchen Konflikt gehört, auch wenn er gestehen musste, dass er in den letzten Wochen auch schlecht etwas hätte erfahren können. Schließlich hatte er die ganze Zeit damit verbracht, zum Ewigen Wald zu reisen und dort nach einer Ruinenstadt zu suchen, die sich nun als weniger verlassen herausstellen konnte, als er angenommen hatte. Was draußen in der Welt sonst noch vor sich gehen mochte, war natürlich komplett an ihm vorbei gegangen.
Gewiss, er hatte von den Unruhen durch die Skarut gehört, die im Gebiet vom Amras und Lengan kurz vor seiner Abreise für allerlei Aufruhr gesorgt hatten. Es war ungewöhnlich, dass die Barbaren aus dem Norden sich die Mühe machten, das komplette Totenwasser zu umgehen und sich teilweise bis ins Gebirge wagten, um in Lengan einfallen zu können. Der Norden Cathurias oder die Grenzstädte von Tassiath waren in der Regel leichtere Beute.
Als stolzem Thalarianer war ihm natürlich auch der Konflikt zwischen seiner Heimat und diesen aufgeblasenen Inselfürsten von Therias nicht entgangen. Dieser sogenannte Handelsrat von Therias weigerte sich, die erhöhten Zölle zu zahlen, die der König in Bakurin verlangte und hatte damit begonnen, Ware im großen Stil abseits der üblichen Häfen an zweifelhafte thalarianische Händler zu verkaufen, so dass sowohl die Theriassaner als auch die Händler um die Verzollung und Versteuerung der Waren herum kamen. Schmuggelei um große n Stil und dass auch noch hochoffiziell von einem Staat, nicht nur von ein paar Piraten.
Diese Inselfürsten behaupteten, Thalarion schwämme ohnehin im Reichtum und bezeichneten die erhöhte Besteuerung als Unverschämtheit. Der König verwies zurecht auf die Notwendigkeit, sich gegen einen erneuten Angriff der Toten Insel zur Wehr setzen zu müssen und das kostete schließlich Geld. Die Inselfürsten und ihre Kapitäne hatten sich aber als starrköpfig und uneinsichtig erwiesen und so hatte der König kurzerhand eine ganze Handelsflotte aus Therias auf der vorgelagerten Insel Nortaz festsetzen lassen.
Als Antwort darauf hatten theriassische Kriegsschiffe einen thalarianischen Frachter vor der Küste Cathurias versenkt, unweit der Hafenstadt Kahûn. Natürlich behaupteten die feigen Insulaner, das sie damit nichts zu tun hätten und man angesichts der nahenden Vollendung des Fluchzyklus eher davon ausgehen konnte, dass Baharna dafür verantwortlich war. Warum aber sollte die Tote Insel ein einzelnes Schiff versenken, sonst aber nichts weiter unternehmen?
Von diesem Zeitpunkt an, herrschte eisiges Schweigen zwischen den beiden Kontrahenten, doch keiner wagte es, offen von Krieg zu sprechen. Therias wusste zu gut, dass die thalarianische Flotte binnen weniger Wochen ihre gesamtes Inselreich in Schutt und Asche legen konnte. In Thalarion hatte allerdings auch niemand ein Interesse daran, die Seestreitmacht in den Westen auszusenden, wenn sich der Zyklus dem Ende neigte und jederzeit ein Angriff der Toten Insel erfolgen konnte.
Von was für einem Krieg also sprach der Dak’harr? Vielleicht meinte er aber auch nur die unversöhnliche Feindschaft zwischen ihnen und den Menschen, die seinem Volk vor Jahrtausenden den Untergang bereitet hatten. Es konnten schließlich nur wenige Dak'harr in diesen Wäldern leben, sonst wäre ihre Anwesenheit längst entdeckt worden. Da von einem Krieg zu sprechen, erschien Walmar ein wenig übertrieben.
Der Wald lichtete sich vor ihnen und Walmar vergaß diese ohnehin müßigen Überlegungen sofort, denn in der allmählich aufkommenden Morgendämmerung offenbarte sich ihm die gewaltige Pracht von Ningâri.
Die Stadt war riesig, viel größer als Bakurin oder selbst Kylaria und trotz des Verfalls, den das Rad der Zeit ihr zugefügt hatte, wirkte sie immer noch erhaben und königlich. Eine Residenz, einem Kaiser mehr als würdig. Zu Walmars Erschrecken hatte er die Stadt schon einmal gesehen. Ningâri war die Stadt aus seinem Traum und das nicht nur in groben Zügen, sondern in nahezu jedem Detail.
Ganz aus dunklem Basalt errichtet, erhoben sich die Dächer und Türme einstiger Prachtbauten und Paläste mit Leichtigkeit über die Baumkronen des Ewigen Waldes. Eine mehr als dreißig Schritt hohe Mauer bildete ein kreisrundes Abwehrbollwerk, wenngleich an vielen Stellen das Mauerwerk marode und teilweise porös wirkte. Gezackte Risse zogen sich durch das Gestein und hier und da war die Mauer geborsten oder in sich zusammen gestürzt, so dass große Lücken darin klafften. Das änderte jedoch nichts an der beklemmenden Wirkung dieser Festungsanlage. Keine Armee der Welt würde sie überwinden können, wenn sie erst einmal wieder hergestellt wäre. Nicht einmal mit dem schwersten Kriegsgerät aus den Schmieden von Chaban.
Ein fast vierzig Schritt hohes und dreißig Schritt breites Tor führte in die Stadt hinein. Das Tor, dass beinahe so hoch war wie der Bergfried einer Festung, war vom Atem der Jahrhunderte ebenso angegriffen wie die Mauer, doch es hatte genauso wenig von seiner Erhabenheit verloren.
Inmitten der Stadt erhob sich die schwarze Pyramide, die Walmar schon in seinem Traum erblickt hatte, allerdings war sie ebenso verfallen und verwittert wie der Rest der Stadt. Auch die Beleuchtung durch Fackeln und Feuerbecken fehlte natürlich und so hatte es für ihn eher den Anschein, als hocke eine dicke Spinne in ihrem Netz und wartete im Zwielicht der Dämmerung auf die ersten ausschwärmenden Insekten.
Eine Assoziation, die unangenehme Bilder aus jüngster Vergangenheit hervor rief und die Walmar schnell wieder auszublenden versuchte, was ihm aber nicht so recht gelingen wollte, denn in der Tat hatte der Aufbau der Stadt etwas von einem Spinnennetz.
Knapp ein Dutzend große Prachtstraßen führten strahlenförmig von der Pyramide fort und endeten erst an der Stadtmauer. Diese Strahlen wurden insgesamt jeweils drei Mal von ringförmig angelegten, schmaleren Straßen gekreuzt, so dass es tatsächlich den Eindruck machte, als wäre Ningâri nichts anderes als die monströse Nachbildung eines Spinnennetzes.
Walmar versuchte erneut, den Gedanken an das Ding auf der Lichtung zu verdrängen, doch es gelang ihm nicht. Dieser riesige aufgedunsene Schatten, dieses baumlange haarige Bein. Und hier lag eine Stadt, die aussah wie ein Spinnennetz. Ihm schauderte. Er hatte die Geschichten über eine urzeitliche Spinnengöttin immer für Unfug gehalten, obgleich er sehr wohl wusste, dass es in den Wäldern von Akranos hier und da Spinnenwesen gab, die selbst kleineren Drachen gefährlich werden konnten. Aber eine Spinnengöttin? Gestern hätte er noch darüber gelacht. Aber nach allem, was er heute schon gesehen hatte, blieb ihm bei dem Gedanken das Lachen im Halse stecken. Vielmehr fröstelte ihn, trotz der Strapazen und der Schmerzen der letzten Stunden, die ihm den Schweiß in Strömen aus den Poren getrieben hatten.
Die Dak’harr ließen ihnen nur wenige Augenblicke, um Ningâri zu bestaunen, dann wurden sie brutal weiter geschoben und gezerrt. Walmar glaubte jedoch auf den Zügen des Anführers so etwas wie Erleichterung zu erkennen. Die Drachenmenschen fühlten sich im Wald anscheinend auch nicht allzu sicher.
Es dauerte noch etwa eine halbe Stunde, bis sie das beinahe verfallene Stadttor erreicht hatten. Der Eingang nach Ningâri war von mehr als zwei Dutzend schwer bewaffneten und in Plattenpanzer gerüsteten Dak’harr bewacht. Walmar betrachtete die überlangen Äxte und die dicken Rüstungen voller Unbehagen. Diese Wachmannschaft und ihre momentane Eskorte würden zusammen wahrscheinlich völlig ausreichen, um eine cathurianische Kleinstadt zu plündern.
Unbarmherzig wurden sie weiter geschoben, wobei die Wachen sie finster und schweigsam anstarrten. Walmar wandte den Blick von den Kriegern ab und schaute in die Stadt hinein.
Was er sah, ließ ihn abrupt stehen bleiben. Rechts und links der Straße waren große Steinbauten errichtet worden, die womöglich einmal Paläste oder Tempel gewesen waren. Mittlerweile waren sie verfallen und nur noch ein schwacher Schimmer einstigen Glanzes, aber dennoch waren sie mit Leben erfüllt. In allen Gebäuden tummelten sich Dak’harr, die damit beschäftigt waren, Trümmer wegzuschaffen und das Mauerwerk auszubessern.
Aber zu Walmars Entsetzen sah er auch unzählige menschliche Gestalten, die von den Drachenmenschen zu den schwersten Arbeiten gezwungen wurden. Sie waren allesamt in Lumpen gehüllt und zum Teil auch aneinander gekettet. In ihrer Nähe befand sich meist ein bewaffneter und gepanzerter Aufseher, der eine überlange Peitsche am Gürtel trug. Walmar konnte sehen, dass diese Menschen noch brutaler behandelt wurden, als er und seine Kameraden auf dem Weg hierher. Viele hatten blutige Wunden an Armen, Beinen und auf dem Rücken, manche auch schon bereits hässliche Narben oder Verstümmelungen. Der ein oder andere sah nicht so aus, als würde er den folgenden Tag überleben, aber dennoch wurden sie rücksichtslos mit Schlägen und Peitschenhieben angetrieben. Es mussten Hunderte sein, dachte er verstört. Aber wo kamen die alle her? Wieso hatte niemand mitbekommen, dass so viele Menschen verschwunden waren und hier offensichtlich als Sklaven arbeiteten?
Ein harter Stoß in den Rücken ließ ihn vorwärts taumeln und beinahe stürzen. Ein stechender Schmerz jagte durch seine Brust und der stöhnte gequält auf.
“Weiter!” grollte der Anführer der Dak’harr. “Ihr werdet Zeit genug haben, euch die Stadt anzusehen.” Wieder dieser kehlige Knurrlaut, der vermutlich wirklich ein Lachen sein sollte. Walmar biss die Zähne zusammen und marschierte schweigend weiter. Diese Drachenwesen würden ihn nicht dazu bringen, wimmernd vor ihnen zu kriechen.
Sie wurden zunächst in Richtung der Pyramide getrieben, allerdings deutete einer der Dak'harr auf halber Strecke in eine Seitenstraße, an der sich eine Art Tempel zu befinden schien. Dies war anscheinend ihr Ziel. Kurz bevor die Pyramide aus seinem Sichtfeld verschwand, erhaschte Walmar einen kurzen Blick auf die Spitze. Die Sonne war vor wenigen Minuten im Osten aufgegangen und beleuchtete nun die fernen Berggipfel des Amad Feanmar und auch den oberen Teil der Pyramide. Walmar glaubte, einen goldenen Schimmer zu erkennen, der das Bauwerk krönte, doch es schien von einem grauweißen Schleier bedeckt zu sein. Auch an den Gebäuden in seiner näheren Umgebung glaubte er hier und da, seltsame graue Fetzen hängen zu sehen, die er nicht recht zuordnen konnte. Allerdings war das Tageslicht auch noch viel zu schwach, um irgend etwas besser erkennen zu können.
Vor dem Tempel hielten sie an und der Anführer der Dak’harr wandte ihnen wieder seine Aufmerksamkeit zu.
“Ihr werdet mir jetzt zuhören, Glatthäute! Dies ist der Tempel der Großen Mutter und dort wartet der Kommandant auf uns. Er bestimmt Euer Schicksal. Wenn ihr leben wollt, dann solltet ihr vor ihm niederknien und Demut zeigen. Wenn ihr lieber sterben wollt, so bleibt stehen und benehmt euch so ungebührlich, wie ich es von einem Menschen nicht anders erwarte.” Er gab Herian und Lirion einen kräftigen Stoß in den Rücken, der beide Männer ins Straucheln brachte.
“Vorwärts!” rief der Drachenmensch und sie begannen, die Stufen des Tempels hinauf zu steigen.
Die Tempelanlage war nicht viel größer als die umstehenden Gebäude, doch sie war als einziges Bauwerk bereits komplett von Schutt, Trümmern und Dreck gereinigt und anscheinend fast vollständig wieder instand gesetzt worden. Polierte, große Steinstufen führten hinauf zum halbkreisförmigen Torbogen, der von vier Drachenmenschen in prächtigen, roten Seidenroben flankiert wurde. Das Vordach wurde von acht dicken Säulen gestützt und war mit filigranen und definitiv ganz neuen Fresken verziert. Die feinen Zeichnungen waren vermutlich gerade einmal ein paar Tage alt.
Im Inneren des Tempels erlebten sie die nächste Überraschung. Der Dak’harr führte sie durch einen kurzen, schmalen Korridor in einen großen, kreisrunden Raum, der abgesehen von beinahe vier Schritt hohen Drachenstatue vollkommen frei von Möbeln war. Allerdings befanden sich Dutzende von gerüsteten Drachenmenschen in diesem Saal, die allesamt mit irgendetwas beschäftigt waren, was Walmar weder verstand noch sonderlich interessierte. Die Dak’harr gestikulierten ausladend und asynchron mit den Armen, bewegten ihre Drachenköpfe hin und her und gaben dabei einen tiefen, sonoren Ton von sich, der an das Brummen eines Hornissenschwarms erinnerte. Vermutlich beteten sie, dachte er und wandte seinen Blick von den Drachenmenschen ab.
Der Boden war mit roten Seidenteppichen bedeckt, die mit fremdartigen goldenen Mustern bestickt waren und an den Wänden hingen prachtvolle Gobelins, die Schlachtenszenen darstellten. Sie zeigten allesamt siegreiche Dak’harr in glänzenden Rüstungen, wobei eine Gestalt in einem goldenen Panzer besonders häufig auftauchte und immer ganz bewusst in Szene gesetzt worden war. Er überragte die anderen Drachenmenschen um mindestens einen Kopf und war stets als siegreicher Anführer dargestellt. Die besiegten Feinde waren auf keinem der Wandgemälde wirklich deutlich zu erkennen, doch hier und da glaubte Walmar blutende und sterbende Menschen zu sehen.
Auf einem Bild hatte der goldene Dak’harr seinen rechten Fuß wie bei einer Jagdtrophäe auf den Brustkorb eines seltsamen Wesens mit dem Kopf eines Lurches oder eines Salamanders gestellt und einen glänzenden Speer zum Todesstoß erhoben. Im Hintergrund der Szenerie wurde ein schlangenhaftes Ungeheuer von einer Vielzahl dak’harrischer Krieger zu Boden gezerrt. Dieses Bild musste einen der großen Kriege des Vierten Zeitalters darstellen, als die Dak’harr noch auf dem Höhepunkt ihrer Macht gewesen waren.
Das tiefe Brummen verstummte schlagartig und der Anführer der Patrouille, die sie gefangen genommen hatte, packte Lirion am Arm und zerrte sie weiter in den Raum hinein, direkt zur großen Drachenstatue im Zentrum des Raums. Walmar betrachtete die Figur genauer und war beeindruckt von der Kunstfertigkeit des Objekts. Sie schien aus reinem Gold gefertigt zu sein, wobei Walmar vermutete, dass nur die Oberfläche aus einer Goldfarbe bestand. Die Detailverliebtheit des dargestellten Drachen, der mit angelegten Schwingen auf einem Felsen thronte war so überragend, dass man glauben konnte, dass die Figur jeden Moment zum Leben erwachen und davon fliegen konnte. Die Augen des Drachen waren zwei kleine Rubine, die etwa so groß waren, wie einer von Walmars Fingernägeln. Sie bildeten den einzigen farblichen Kontrast und wirkten somit umso lebensechter. Walmar hatte das Gefühl, die Figur würde ihm mit Blicken folgen, als er an ihr vorbei gezerrt wurde.
Auf der anderen Seite der Statue stand ein Dak’harr in einer dunkelroten Robe, die mit schwarzen und blauen Linien überzogen war. Anstatt des wuchtigen Hörnerkamms war sein Schädel von einem kleineren Kranz gekrönt, der kupferfarben schimmerte. Seine Züge wirkten nicht ganz so klobig und rau wie die der anderen Drachenmenschen im Raum und er hob sich zusätzlich durch seine Statur vom Rest der Anwesenden ab, war er doch einen halben Kopf kleiner und wesentlich schlanker als die anderen Dak’harr.
Der Krieger, der sie hergeführt hatte, gab ein leises Knurren von sich und Herian neigte sofort seinen Kopf, verbeugte sich und kniete sich auf den Boden. Rasch taten es die Anderen ihm nach, wobei Walmar einen schmerzhaften Laut unterdrückte. Seine Rippen schmerzten immer noch höllisch, aber er biss die Zähne zusammen.
Der Drachenmensch in der kostbaren Robe, Walmar vermutete dass es sich um eine Art Priestergewand handeln musste, denn immerhin befanden sie sich in einem Tempel, wandte sich dem Krieger zu und die Beiden wechselten einige Worte in ihrer eigenen Sprache, die Walmar zwar nicht verstand, die aber nicht besonders freundlich klangen. Schließlich wandte sich der Priester an die Gefangenen.
“Was führt euch nach Ningâri?” fragte er mit tiefer, aber nicht unangenehmer Stimme. Sie klang fremdartig und kaum menschlich, aber ihr fehlte der raue und brutale Unterton des Kriegers. Walmar beschloss, dass es keinen Sinn machen würde, zu lügen und so hob er vorsichtig den Kopf, um zu antworten.
“Herr, wir hörten von der Pracht und dem Reichtum dieser alten Stadt. Wir leben gewissermaßen davon, Wissen und Kostbarkeiten aus vergangenen Epochen zu sammeln.” Er war selbst vermutlich am meisten erstaunt, dass seine Stimme weder schwach klang noch zitterte. Lirion warf ihm einen bewundernden und gleichzeitig ängstlichen Blick zu. Vielleicht hatte er gerade durch seine Ehrlichkeit ihr Todesurteil besiegelt.
“Schatzsucher...” sagte der Priester. Es klang nachdenklich, doch was wusste er schon von den Stimmungen und Launen der Drachenmenschen. Er konnte genauso gut belustigt oder erbost sein.
“Ja, Herr.” antwortete er und der Priester nickte, als hätte er nichts anderes erwartet.
“Das du die Wahrheit sagst, ehrt dich, Glatthaut. Aber das ist auch schon alles. Die heilige Stadt zu betreten ist ein Frevel, der nur durch zwei Dinge gesühnt werden kann. Tod oder lebenslange Sklaverei. Ihr könnt frei wählen und jeder vermag für sich selbst zu sprechen.”
Sie sahen sich zögernd und ängstlich gegenseitig an. Nach einigen Augenblicken sah Herian zu dem Priester auf.
“Ich wähle das Leben.” sagte der Söldner trotzig. Der Priester nickte wortlos und sah die anderen an. Nach und nach folgten sie dem Beispiel ihres Kameraden.
“Gut.” sagte der Priester. “Ihr werdet von nun an bis zu eurem Tode im Dienste des Großen Drachen stehen. Rebelliert ihr, so seid ihr des Todes. Versagt ihr, so seid ihr des Todes. Versucht ihr zu fliehen, seid ihr des Todes. Und seid ihr faul, so seid ihr ebenfalls des Todes. Und der Tod wird nicht das Ende eures Dienstes sein. Merkt euch das.”
Sie alle nickten stumm, während Walmar über den Sinn dieser Worte nachdachte. Wie konnte ihr Dienst auch nach dem Tod weiter gehen? Der Priester gab ihm jedoch keine Zeit, weiter darüber nachzudenken.
“Ich mache euch zu Tempelsklaven. Ihr werdet das Heiligtum des Drachen sauber halten und ihr werdet sowohl den Priestern als auch den Novizen und den Wächtern zu Willen sein. Nicht jeder Dak’harr spricht die armselige Menschensprache. Es ist eure Pflicht, die Unsere so schnell wie möglich verstehen zu lernen. Ob ihr sie sprechen könnt ist mir einerlei, denn die meiste Zeit werdet ihr schweigen und gehorchen.”
Sie nickten, sagten aber kein Wort. Walmars Brust schmerzte fürchterlich und ihm wurde allmählich ein wenig schwindelig. Die Verletzung machte ihm schwer zu schaffen und es fiel ihm schwer, sich auf den Beinen zu halten. Der Priester schien seinen Zustand zu bemerken.
“Man wird eure Verletzungen versorgen. Verkrüppelt kann ich euch nicht gebrauchen. Dann schon eher tot. Für den heutigen Tag sollt ihr noch ruhen und genesen, morgen beginnt euer Dienst für den Drachen.” Er machte eine Geste mit der rechten Klaue und der Krieger griff wieder nach dem Seil, mit dem sie aneinander gefesselt waren, verzichtete aber dieses Mal darauf, sie ruppig auf die Beine zu ziehen. Der Priester wandte sich noch einmal an sie, bevor der Krieger sie aus dem Tempel schaffen konnte.
„Ihr solltet der Großen Mutter und dem Drachen dankbar sein, dass ihr Leben dürft, Glatthäute. Viele eurer Brüder und Schwestern werden diese Gnade nicht erhalten. Wer sich uns entgegen stellt, wird zermalmt.” Seine Stimme wurde leiser und bedrohlicher. “Vergesst das niemals, Glatthäute. Dient gut und lebt. Widersetzt Euch und fahrt in den Abgrund.” “
Zwischen den Welten,
Jenseits von Zeit und Raum
Stunden um Stunden waren sie in diesem silbrig schimmernden, sich windenden Tunnel, durch die Finsternis gehetzt. Immer wieder hatten sie die seltsamen grünlichen Nebelwolken gesehen und in der Ferne blinzelten immer wieder schwache kleine Lichtpunkte in der Dunkelheit, die Nayin nach wie vor für Sterne hielt. Sie waren stets darauf gefasst gewesen, erneut angegriffen zu werden und auch diesen unheimlichen Kyarr, von dem ihm die Anderen berichtet hatten, hatten sie nicht vergessen. Aber seit dem Angriff dieser monströsen Riesenmade und ihrer widerlichen Brut waren sie unbehelligt geblieben.
Nayin fragte sich immer noch, wo sie so plötzlich hergekommen war. Das Ding hatte den Tunnel mit voller Wucht getroffen, war aber am Ende völlig hilflos in die Tiefe gestürzt, obwohl es sich eigentlich in der Finsternis außerhalb des Tunnels hätte frei bewegen müssen. Vorausgesetzt, es hatte aus freien Stücken gehandelt. Wenn dem nicht so war, dann stellte sich jedoch die Frage, wer oder was dieses Ding auf den Tunnel geschleudert hatte, um sie zu töten. Falls sie überhaupt das Primärziel dieses Ungeheuers gewesen waren. Möglicherweise waren sie auch einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort - wie allzu oft in den letzten Wochen und Monaten - und das Ungeheuer hatte in erster Linie am Tunnel selbst Interesse gehabt.
Nayin hatte schnell erkannt, dass es sich von Magie zu ernähren schien. Eine überaus schreckliche Vorstellung für einen Zauberer. Anfangs hatte er noch versucht, sich mit Namuras über dieses Phänomen auszutauschen, aber der Shidar hatte ebenso wenig Ahnung wie er selbst.
So erschreckend wie die unheimlichen Erscheinungen in der Dunkelheit, war auch der fortschreitende Verfall der Pfade gewesen. Seit sie die erste Kreuzung passiert hatten, waren auch weitere parallel verlaufende oder kreuzende Tunnel in der Dunkelheit aufgetaucht, doch die meisten davon waren so schwer beschädigt gewesen, dass eine Benutzung ausgeschlossen war. Manche wirkten zerfasert und porös, andere wiesen große Lücken auf und mindestens ein Tunnel war mit Gewalt abgerissen worden. Die Ursache der ausgebrannten und porösen Stellen glaubte Nayin mittlerweile zu kennen und er hoffte inständig, dass es von diesen Riesenmaden nicht noch mehr Exemplare gab. Was allerdings die Tunnel so zerfetzt haben konnte, dass sie aussahen wie durchtrennte Seile, darüber wollte er lieber nicht nachdenken, auch wenn sich ihm sofort das Bild des Kristallgebirges aufdrängte, dass mit seinen entsetzlichen Gefangenen an ihrem Tunnel vorbei gestürzt war. Wenn dieses Ding den Tunnel getroffen hätte, sähe er vermutlich ziemlich genau so aus wie einer der abgerissenen Pfade.
“Da!” rief plötzlich Sheyna in die nachdenkliche Stille hinein, die sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte. “Ein Ausgang!”
Tatsächlich. Der Tunnel hatte eine leichte Linkskurve beschrieben und keine zweihundert Meter vor ihnen endete er. Nayin hatte befürchtet, dass auch dieser Pfad im Nichts enden würde, doch statt dessen erkannte er die wasserfallartigen Lichtbahnen, die von der Tunneldecke auf den Boden flossen und einen leuchtenden Vorhang bildeten. Dahinter sah er überhaupt nichts. Dieses Phänomen kannte er zwar schon von dem Eingang in Kylaria, beruhigend war dieser Gedanke trotzdem nicht.
“Und ihr wisst wirklich nicht, wo wir heraus kommen werden?” fragte er skeptisch. Namuras schüttelte den Kopf und Lares stöhnte leise auf.
“Dieses Transportsystem ist seinerzeit von Menschen erschaffen worden.” versuchte es der Schattenkrieger mit ein wenig erzwungenem Optimismus. “Es ist recht wahrscheinlich, dass wir an einem Ort rauskommen, an dem wir leben und atmen können.”
Du vergisst zu erwähnen, dass die Alten ganz andere Möglichkeiten hatten, dachte Nayin, behielt den Gedanken aber für sich. Es machte keinen Sinn, unnötig Angst zu schüren. In ein paar Augenblicken würden sie wissen, wohin sie dieser Ausgang führte. Außerdem musste er Namuras Recht geben. Es ergab wenig Sinn, dass sie irgendwo auf dem Grund des Ozeans oder in luftigen Höhen herauskamen. Sie würden den Übergang sehr wahrscheinlich überleben. Was ihm allerdings Angst machte, war das Wo. Würden sie irgendwo in Akranos wieder ans Tageslicht gelangen oder würden sie sich plötzlich auf einem fremden Kontinent wiederfinden? Vielleicht in den Ländern jenseits der Hatheg-Wüste oder in dem sagenumwobenen Car’Akash auf der anderen Seite des endlosen Ozeans. Und auch in Akranos selbst gab es genügend Orte, die für Menschen wenig einladend waren. Eine verlassene Bergfestung in den eisigen und sturmgeplagten Höhen des Drachenwalls wäre ebenfalls ihr sicherer Tod.
“Wir werden es nicht herausfinden, wenn wir hier weiter herum stehen.” seufzte Sheyna. “Und dieser Weg ist so gut wie alle anderen. Besser sogar, denn hier gibt es wenigstens noch einen Ausgang.”
Das stimmte wohl, denn schließlich waren alle anderen Tunnel, die sie bisher gesehen haben, unpassierbar oder endeten im Nichts.
“Also dann...” murmelte Namuras, verzog das Gesicht zu einer Grimasse und ging durch den fließenden Vorhang aus Licht. Nayin schluckte heftig, dann straffte er sich und folgte dem Shidar ins Ungewisse.
Dieses Mal war das Gefühl des Fallens kaum da gewesen, schlimmstenfalls ein kurzer Ruck, als wäre er gestoßen worden. Das Erste, was Nayin bewusst wahrnehmen konnte, war das schummerige Halbdunkel des Raumes, in dem sie sich befanden. Von irgendwo her kam ein schwaches Licht, doch er konnte keine Quelle ausmachen. Das Zweite war der wirbelnde Staub, der die Luft erfüllte und sich praktisch sofort in seiner Kehle festsetzte. Mit Mühe unterdrückte er den Hustenreflex, vergaß dabei aber, dass er eigentlich für Sheyna und Lares hätte Platz machen müssen. Nayin erhielt einen kräftigen Stoß in den Rücken, als Sheyna hinter ihm durch das Portal trat und taumelte ein paar Schritte vorwärts, bevor er sein Gleichgewicht wiederfand.
Sheyna machte es besser, hielt sich die Hand vor den Mund und machte einen Schritt nach Rechts, um nicht ihrerseits von Lares umgestoßen zu werden. Der Einbrecher sah sich verwirrt um, dann hob er ebenfalls die Hand vor den Mund, um sich vor dem umher wirbelndem Staub zu schützen.
Nayin riskierte einen Blick auf seine Umgebung und war beinahe enttäuscht von dem, was er sah.
Er hatte mit vielem gerechnet und sich die seltsamsten und furchtbarsten Dinge ausgemalt, aber einen kleinen, verstaubten Raum, der wie ein leerer Keller aussah, hatte er nicht erwartet. Der Raum war quadratisch und maß höchstens sechs mal sechs Schritt. Die Decke befand sich etwa einen Meter über seinem Kopf und vor ihnen befand sich eine morsche Holztür, die schief in den Angeln hing.