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Seit über eintausend Jahren wehrt sich das Volk der Menschen standhaft gegen die Bedrohung durch den Fluch der Toten Insel, der wie ein Schatten über dem Kontinent Akranos liegt. Der nächste Angriff scheint unmittelbar bevorzustehen, doch während die Welt nach Süden blickt, um der Bedrohung zu begegnen, erhebt sich andernorts ein vergessener Feind, der älter ist als der Schrecken der Toten Insel, und fordert zurück, was er einst an die Menschen verloren hat: Nichts Geringeres als die Herrschaft über den Kontinent. Der junge Einbrecher und Tagedieb Lares gerät durch einen unglücklichen Zufall zwischen die Fronten dieser uralten Todfeinde und droht von den Ereignissen des heraufziehenden Krieges zerrieben zu werden. Ein harmlos scheinendes Artefakt wird zum Schlüssel für das Schicksal der Menschenwelt, aber auch für Lares selbst, der einem übermächtigen Feind von jenseits aller Vorstellungskraft gegenübertreten muss, um sein Leben zu retten.
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Seitenzahl: 493
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Für meinen Vater
„Ein Junge braucht keinen Vater, wenn es kein guter
Vater ist. Aber ein guter Vater ist unersetzlich“
- Stephen King, The Stand
Vorwort
Prolog: Vom Ende der Äonen
Kapitel 1: Ganz normale Arbeit
Kapitel 2: Von Zauberern gehetzt
Kapitel 3: Das Flüstern der Äonen
Kapitel 4: Die Sternengarde
Kapitel 5: Falsches Spiel
Kapitel 6: Pfad zur Verdammnis
Kapitel 7: Das Meer der Dämmerung
Kapitel 8: In der Falle
Kapitel 9: Die Sümpfe von Saranath
Kapitel 10: Ein neuer Meister
Epilog: Das Urteil
Ja... Da ist er nun. Mein erster Roman. Was soll ich groß sagen? Endlich fertig! Nach einem gefühlten Jahrzehnt (natürlich war es wesentlich weniger) in dem ich das ganze Konzept und die gesamte Rahmenhandlung mindestens ein halbes Dutzend Mal umgeworfen, verfeinert und mit etwas Glück sogar verbessert habe, bin ich endlich fertig geworden. Und was ist dabei heraus gekommen? Ein Fantasyroman.
Na, Herzlichen Glückwunsch. Das hat der Welt noch gefehlt. Da ist vor mir ja noch niemand drauf gekommen, einen Fantasyroman zu verfassen. Womöglich schreibt demnächst noch irgend jemand einen Krimi, das wäre noch innovativer.
Nein, im Ernst, wie kommt man darauf, in der heutigen Zeit, in der der Markt von phantastischer Literatur ziemlich gesättigt scheint, einen Roman über den ewigen Kampf zwischen Licht und Schatten, zwischen Gut und Böse, zu schreiben? Nun, in erster Linie hab ich das Buch für mich selbst geschrieben. Dass es nun vielleicht mehr Leute lesen, als diejenigen, die ich dazu nötige, indem ich ihnen solange davon erzähle, bis sie es mir völlig genervt aus der Hand nehmen, war anfangs gar nicht geplant.
Ein guter Freund hat mir geraten, die Entstehungsgeschichte des Romans und der Welt Akranos, in der die Geschichte spielt, für mich zu behalten, aber sonst wüsste ich überhaupt nicht, womit ich dieses Vorwort füllen sollte.
Denn eigentlich war alles nur aus einer Not heraus entstanden. Die Not war die, dass mir in der Welt des Pen & Paper Rollenspiels, dass ich mit einigen Freunden jahrelang gespielt habe, der nötige Raum und die nötigen Protagonisten fehlten, um eine Kampagne zu spielen, die mir schon die ganze Zeit im Kopf herum schwirrte. Also habe ich mir kurzerhand einen anderen, von der Redaktion des Rollenspiels noch nicht näher beschriebenen, Nachbarkontinent gekrallt und ihn nach meinen Wünschen ausgestaltet. Da er zu diesem Zeitpunkt nur als Zeichnung auf einer einzigen Landkarte existierte und mit noch keinem Satz konzipiert worden war, kann man also bestenfalls von geographischem Diebstahl sprechen, denn zunächst glichen die Umrisse meiner Welt 1 zu 1 denen auf der Karte.
Was anfangs nur eine rein zweckdienliche Maßnahme war, wurde schon bald zu einer kleinen Obsession. Nach und nach gewann Akranos immer mehr an Tiefe, immer mehr Völker siedelten sich in dem neuen Kontinent an und die Geschichte und Figuren wurden mit der Zeit immer komplexer. Außerdem entfernte ich mich fast vollständig vom ursprünglich „geklauten“ Kontinent, so dass heute noch allenfalls die groben Umrisse der Landkarte eine Parallele darstellen. Aber das sollte kein großes Problem darstellen, Westeros sieht schließlich auch aus wie Großbritannien, nur ohne Irland.
Leider kam es so, dass wir die von mir ersonnene Kampagne niemals zu Ende spielen konnten, da aufgrund von Zeitmangel, privater und beruflicher Verpflichtungen (kann ja nicht jeder bis zur Rente studieren) und – Schande auf euer Haupt, garstiges Gewürm!! - fehlender Motivation einiger Mitspieler, schlichtweg keine gemeinsamen Termine mehr zu finden waren. Allerdings erschien mir die Welt zu komplex und die Idee für die Kampagne zu gut (ja, das ist praktizierte Selbstbeweihräucherung, ich bitte vielmals um Entschuldigung), um sie einfach in den Untiefen meiner Festplatte verschwinden zu lassen, wo dann eines Tages die große Systemwiederherstellung ihr Todesurteil aussprechen würde. Also hörte ich auf den Vorschlag eines anderen Freundes, der nach ein paar Bier (vielleicht waren es auch ein paar mehr...) meinte „na ja, schreib halt 'nen Buch draus, kannst doch schreiben.“
Kann ich das wirklich? Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Diejenigen, die ich mit Leseproben behelligt habe, waren zumindest so charmant, mir mein Geschreibsel nicht mit einem mitleidigen Kopfschütteln wieder auf den Tisch zu legen und mir zu einer anderen Profession zu raten. Dafür an dieser Stelle schon mal ein Dankeschön für diese Höflichkeit.
Dass ich nicht mittendrin einfach die Brocken hingeworfen habe, ist ein Indiz dafür, dass ich mich auch selber bis zum Schluss für die Geschichte, für die Welt und für meine Figuren begeistern konnte. Einige behaupten, dass meine Protagonisten ziemlich autobiografisch angehaucht wären. Völlig falsch liegen sie damit vermutlich nicht, auch wenn ich leider weder zaubern noch mit dem Schwert umgehen kann. Ist vielleicht aber auch ganz gut so.
Aber nun, lieber Leser - ob freiwillig oder durch meine Drängelei geknechtet - will ich nicht länger herum schwatzen (auch wenn du selber schuld bist, wenn du dir tatsächlich das Vorwort durchliest, so etwas überblättert man doch eigentlich, ohne es auch nur eines Blickes zu würdigen) und statt dessen den Vorhang nach Akranos öffnen. Ich würde mich freuen, wenn es dir dort gefällt.
Philipp Riedel
„Ein seltsames Geschick, dass wir so viel Angst und Zweifel
erdulden wegen eines so kleinen Dinges“
- Boromir,
Herr der Ringe - Die Gefährten
Das Rad der Zeit dreht sich, und die Zeitalter kommen und
gehen, hinterlassen Erinnerungen, die zu Legenden werden,
verblassen zu bloßen Mythen und sind längst vergessen, wenn
dieses Zeitalter wiederkehrt
Robert Jordan, Das Rad der Zeit
Säulen des Nordens,
im Jahr 1823 vor Ashibans Fall
Mit sorgenvoller Miene warf Harasszal einen Blick nach Süden. Die Sonne war vor nicht einmal einer Stunde untergegangen und die Dämmerung gerade erst hereingebrochen, doch die Dunkelheit am Himmel konnte es mühelos mit jeder mondlosen Nacht aufnehmen. Dicke, schwarze Rauchwolken hingen über dem Wald und bedeckten das Land wie ein riesiges Leichentuch, dass sogar die nahen Berge einzuhüllen drohte.
Im Grunde, dachte Harasszal verbittert, war es auch nichts anderes als das: ein Leichentuch, von den Menschen über die kläglichen Reste seines einst so stolzen Volkes ausgebreitet. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es auch den letzten Dak'harr erstickte. Es schien, als stünde der ganze Wald in Flammen und er war sich sicher, dass die gottlosen Zauberer der Glatthäute dieses Feuer noch immer anfachten und nach Norden trieben.
Der kräftig wehende Wind trug den beißenden Geruch von Qualm und Asche zu ihm herüber und obwohl sein Volk ursprünglich von den Drachen abstammte und in grauer Vorzeit den geflügelten Giganten ähnlicher gewesen war als den Zweibeinern, fürchteten sie dieses Feuer. Ein normaler Waldbrand hätte sie nicht geschreckt, wenngleich sich niemand von ihnen in offene Flammen stürzen konnte, ohne ebenfalls zu verbrennen. Doch gegen große Hitze waren die Dak'harr überaus resistent. Dieses Feuer hingegen war unnatürlich. Die Zauberer hatten ein Inferno entfesselt, dass dem Drachenfeuer sehr nahe kam, denn es verbrannte selbst Gestein und vermochte massiven Stahl zum Schmelzen bringen.
Der Wind wurde stärker und wehte erneut eine Pestwolke aus Brandgeruch und dem Gestank von brennendem Fleisch zu ihm herüber. Vielleicht bildete er sich Letzteres auch nur ein, denn er wusste ganz genau, dass dort drüben, keine drei Meilen von dem engen Tal entfernt, in dass man sie hinein getrieben hatte, hunderte und aberhunderte Männer und Frauen seines Volkes in den Flammen vergingen. Die Menschen hatten sich nicht damit zufrieden gegeben, ihre alten Feinde zu besiegen und aus ihren Ländern zu vertreiben. Länder, die den Dak'harr schon viele tausend Jahre vor dem
Erscheinen des ersten jämmerlichen Segelschiffs der Menschen gehört hatten. Nein, den Glatthäuten würde gelingen, was weder die fischköpfigen Ybb'lith noch die durchtriebenen Haghad mit ihrer zerstörerischen Magie jemals geschafft, nicht einmal angestrebt hatten: die Vernichtung der Dak'harr.
Sein Volk hatte so viele Kriege geführt, hatte die ganze bekannte Welt ihr Eigen genannt, seine Anführer hatten selbst ernannte Götter niedergeworfen und letztendlich sogar den Tod besiegt. Und nun kam ein schwaches, kurzlebiges Volk und zerschlug binnen weniger Jahrzehnte ein Imperium, dass ganze Zeitalter überdauert hatte. Wann und warum hatte die Große Mutter sich von ihnen abgewandt? Hatten sie der Göttin derart gefrevelt, dass sie ihre eigenen Kinder ins Verderben stürzen ließ? Waren sie schon so verzweifelt, dass sie die Hilfe, nein, die Gnade fremder Götter erflehen mussten, um sich vor der Auslöschung zu retten? Die Antwort lautete Ja.
Harasszal warf einen Blick ins Tal, das im Grunde nicht viel mehr war als eine langgezogene tiefe Schlucht, die sich in die Vorberge der Säulen des Nordens hinein gefressen hatte. Schroffe Felsen und kahle Bäume säumten den Rand der Talmulde und starrten teilnahmslos auf die dicht gedrängten Dak'harr hinab, die das Tal bis zum Bersten zu füllen schienen. Er schätzte ihre Zahl auf vielleicht fünftausend Männer, Frauen und Junge, die allesamt vollkommen verängstigt und verzweifelt waren. Nur die Wenigsten von ihnen waren in der Lage zu kämpfen. Sein Volk besaß keine Krieger mehr. Die Letzten waren in dem entsetzlichen Höllenfeuer zu Asche verbrannt. Er, Harasszal, letzter Hohepriester der Großen Mutter, letzter Statthalter der Gottgesandten, hatte sie in den Tod geschickt, um die kläglichen Reste seines Volkes zu beschützen. Vielleicht wäre es besser gewesen, die Anderen auch dort umkommen zu lassen. Ein schneller Tod war besser als ein qualvolles Dahinsiechen in der Sklaverei.
Aber er konnte sie immer noch retten. Die Wenigen, die der Vernichtung bisher entgangen waren, konnten eine neue Zuflucht finden, einen Ort, an dem sie vor dem Zugriff der Menschen sicher waren und sich erholen konnten. Neu gedeihen. Doch zu welchem Preis?
Sein Blick wanderte über die dicht gedrängten Dak'harr bis ganz zum Ende des Tals. Dort stand das Portal, dass ihnen der Dunkle geöffnet hatte. Ein Portal in eine andere Welt, unberührt von der fauligen Hand des Todes, die sein Volk im Würgegriff gefangen hielt. Unberührt und ungekannt von den Menschen, die in ihrer grenzenlosen Anmaßung Akranos für die einzig existierende Welt und sich selbst als Krone der Schöpfung eines Gottes namens Allvaters hielten, dessen zehn Avatare sie in ihren marmornen Tempeln und Palästen anbeteten.
Das Tor zu ihrer Rettung war ein flimmernder Bogen aus grünlichem Licht von der Größe eines Stadttores. Es war etwa zehn Meter breit und der Scheitelpunkt erhob sich etwa sechs Meter über dem kargen Erdboden, der von den schweren Füßen der Dak'harr vollkommen zerfurcht und aufgerissen war. Hinter dem Durchgang erkannte Harasszal ein schlauchartiges, helles Gebilde, dass sich wie eine Schlange durch eine lichtlose Finsternis wand und sich weit entfernt in der Unendlichkeit verlor. Es sah aus wie ein Korridor inmitten der Leere zwischen den Sternen und vermutlich war es auch nichts anderes. Ein Tunnel zwischen den Welten, den der Dunkle für sie geöffnet hatte.
Trotz der beklemmenden Enge in dem Talkessel hielten die Dak'harr Abstand von dem flackernden Portal, dass ihre Rettung bedeuten mochte, aber so abschreckend und furchteinflößend wirkte wie der Schlund des Großen Abgrunds. Sie warteten auf seine Anweisungen. Würde er sein Volk in den endgültigen Untergang führen oder brachte ihm der Pakt mit dem Gestaltlosen Gott die ersehnte Erlösung? Eine Exilheimat für das einstmals mächtigste Volk dieser Welt.
Aber er hatte keine Wahl. Das unheilige Feuer der Menschenzauberer war näher gekommen und was die Flammen nicht schafften, würden die gewaltigen Heere der Glatthäute erledigen. Keine zehn Meilen entfernt lagerten beinahe einhunderttausend Bewaffnete, die nur darauf warteten, dass die Feuer niederbrannten und sie ihre Blutgier an den Überlebenden stillen konnten. Nicht einmal die längst vergangenen Gottgesandten hätten diese von Hass und Mordlust angetriebenen Legionen aufhalten können. Nein, er musste versuchen, sein Volk zu retten. Sollte es eine Falle sein und sollte der Dunkle seinen Teil des Paktes nicht erfüllen, konnte dies auch nicht schrecklicher sein als der langsame Tod in der Schlucht.
Es ist an der Zeit.
Als hätte er seine Gedanken gelesen, erklang die leise Stimme des Dunklen in Harasszals Kopf. Sie war kalt und schien weit entfernt, doch sie vibrierte vor Macht und Alter, dass es ihn schauderte. Der Gestaltlose Gott war eine Urgewalt, so alt wie die Schöpfung selbst und den Sterblichen so fremd, dass sie niemals wagen konnten, seine Beweggründe nachzuvollziehen. Die Menschen kannten ihn ebenfalls und sie nannten ihn den „Erstgeborenen“, denn angeblich war er sogar noch vor ihren Zehn Göttern von Allvater erschaffen worden. Harasszal wusste nicht, was davon der Wahrheit entsprach, doch er hatte die Gegenwart dieser Entität ein einziges Mal gespürt und niemals zuvor in seinem Jahrhunderte zählenden Leben hatte er sich so hilflos, so klein und so unbedeutend gefühlt. Wie ein ersterbendes Kerzenlicht im Angesichts eines Orkans.
Du fürchtest dich vor dem, was jenseits dieses Korridors auf dein Volk wartet, flüsterte der Gestaltlose Gott in seinem Verstand. Das ist keine Schande. Doch hier und jetzt wartet nur der Tod. Und vor dem Tod kann nicht einmal ich euch retten, Hohepriester.
Harasszal nickte. Der Dunkle hatte Recht. Er warf einen letzten Blick auf die majestätischen Säulen des Nordens, deren höchste Gipfel unbeeindruckt von den Scherereien der Sterblichen jenseits der dünnen Wolkendecke den allmählich erwachenden Sternen zusahen, warf einen letzten Blick auf den schier endlosen dunklen Wald, dem selbst das magische Feuer der Menschen auf Dauer keinen nennenswerten Schaden zufügen konnte. Seine Heimat. Seine Welt.
Dein Volk wird wiederkehren, Harasszal. Halte Ausschau nach meinem Zeichen. Die Vergangenheit wird Euch die Zukunft weisen.
Harasszal wusste nicht, was der Dunkle damit meinte, doch seine Zuversicht wuchs, dass dieser ihn nicht betrügen würde. Er mochte ein unheimlicher, ein unbegreiflicher Gott sein, aber er war keine Kreatur des Großen Abgrunds, dessen war sich Harasszal sicher.
Er hob die Hände und auf seinen Befehl hin begannen die letzten Überlebenden der Dak'harr, durch das Portal zu marschieren und Akranos zu verlassen. Harasszal ging als Letzter und als er unter dem flimmernden Torbogen hindurch schritt und sich auf den Weg in eine fremde Welt machte, tat auch das Vierte Zeitalter seinen letzten Atemzug.
Kylaria, Hauptstadt von Cathuria,
Monat Alathyia, Frühling im Jahre 1104 nach Ashibans Fall
Mit einem letzten Blick auf den schlafenden Jungen verließ Lares das Zimmer. Sorgfältig schloss er die Tür hinter sich, damit der Bengel nicht wieder ausbüxen konnte. Er hatte keine Lust wieder die halbe Nacht durch die Stadt zu irren, um seinen kleinen Bruder zu suchen. Und, dachte er grinsend, um ihn nachher aus den Klauen eines nicht unattraktiven Straßenmädchens zu entreißen, die plötzlich ihre mütterlichen Instinkte für die kleine Nervensäge entdeckt hatte.
Als Lares seinen Bruder, dem seine Eltern den angeblich albischen Namen Akilion gegeben hatten, wiedergefunden hatte, war die Dame gerade dabei gewesen, ihm von den fernen Freien Inseln und ihrer unberührten paradiesischen Natur vorzuschwärmen. Wäre Akilion älter gewesen, hätte ihn die Natur der leicht bekleideten Dame wahrscheinlich eher interessiert, dachte Lares amüsiert.
Abgesehen davon, dass sie wahrscheinlich noch niemals auch nur in der Nähe der Freien Inseln gewesen war, lag sie auch schlichtweg falsch mit ihren Erzählungen. Die Inseln waren übersät mit kleinen Nestern, die hauptsächlich von Piraten bewohnt waren. Sie nannten sich selbst natürlich nicht so, der offizielle Titel war „Freihändler“ oder „wehrhafter Kauffahrer“. Der Rest war Dschungel, voll von Giftschlangen, Riesenspinnen und schlecht gelaunten Raubkatzen. Von wegen Paradies. Ein einziger Besuch dort hatte Lares das Gegenteil bewiesen.
Wie dem auch sei, eine derartige Odyssee durch die Gassen von Kylaria konnte er sich heute nicht leisten. Schließlich hatte er Großes vor. Seine Informanten hatten ihm gesteckt, dass das Objekt seiner Begierde heute völlig unbewacht war. Die Besitzer des Anwesens, auf das er es abgesehen hatte, waren heute Abend in der Staatsoper im Marktviertel zugegen und für eine ständige Bewachung durch bezahlte Söldner fehlte anscheinend das nötige Kleingeld.
Außerdem konnte man diesen Wachsöldnern noch weniger trauen als ihm. Er war ein Dieb und jeder, der dies wusste, konnte sich dementsprechend vorbereiten: Geld verstecken, Wertsachen in Sicherheit bringen und möglichst auf ein lohnenderes Objekt verweisen. Einem Söldner hingegen konnte niemand trauen. Wie weit ging die Loyalität eines Mietlings denn wohl, wenn er einen Bukan Bezahlung bekam und dafür allerdings wertvolle Kunstschätze oder Ähnliches bewachen sollte, für die er mindestens zehn Ooth bekommen würde? Eine Summe, die er mit ehrlicher Arbeit in ein paar Monaten zusammen sparen konnte, sofern er auf jeglichen Luxus verzichtete. .
Lares hatte sich selbst einige Zeit als derart unloyaler Wachsöldner verdingt, doch die Auftraggeber waren zunehmend misstrauischer geworden. Manche hatten teilweise sogar Personal engagiert, das für die Überwachung der Wachsöldner zuständig waren – was Lares für ziemlich paranoid hielt. Und diese derart um sich greifende Paranoia hatte seine Arbeit nur unnötig erschwert, weswegen er sich bald wieder auf seine alten Fähigkeiten besonnen hatte. Es war einfacher, in Häuser einzubrechen, als sie zu bewachen, so verrückt das auch klingen mochte.
Als er die Haustür des Häuschens öffnete, in dem er mit seinem kleinen Bruder lebte, seit ihre Eltern vor Jahren ums Leben gekommen waren, schlug ihm der gewohnte Geräuschpegel der Metropole entgegen. Obwohl längst die Nacht hereingebrochen war, pulsierten die Straßen von Kylaria noch von Leben. Das würde sich auch so schnell nicht ändern, wie Lares aus langjähriger Erfahrung wusste. Erst kurz vor Morgengrauen gab es in der größten Stadt der Welt ein oder zwei Stunden, in denen Ruhe auf den Straßen herrschte. Und bis dahin musste er mit seiner Arbeit fertig sein, denn in dieser Dämmerzeit machte man sich höchst verdächtig, wenn man auf den Straßen der Stadt unterwegs war. Und das Allerletzte, was er gebrauchen konnte, war eine aufmerksame und übereifrige Patrouille der Stadtwache, die ihn mit Taschen voller Schmuck und Münzen aufgriff.
Lares bog von der kleinen Seitenstraße, in der sein Haus stand, auf die große Hauptstraße ab und folgte ihr mindestens zehn Minuten Richtung Süden. Auf der breiten Straße kamen ihm unzählige Personen der unterschiedlichsten Rassen und Völker entgegen: kleine, wuselige Haghad, die selbst spät in der Nacht noch ihren Geschäften nachgingen, klobige Rantazil, deren ausdruckslose Fischgesichter ihm immer noch nicht ganz geheuer waren und natürlich Menschen aller Größen, Rassen und sozialen Hintergründe.
Und zwischen all diesen Zweibeinern krochen die Erschaffenen umher:
Monströse ameisenartige Kreaturen zogen überdimensionale Kutschen durch die Straßen, zu groß geratene Käfer trugen enorme Lasten hin und her und über den Dächern flatterten greifenartige Wesen, die menschliche und nicht-menschliche Frachten beförderten.
An der nächsten Straßenkreuzung angekommen, kramte Lares einen Terul aus seiner Tasche und warf sie dem Lenker einer Großkutsche zu, die bis zu zwanzig Personen befördern konnte. Gezogen wurde das Gefährt von vier riesigen Ameisen, die fast so groß waren wie ausgewachsene Pferde.
Es dauerte noch einige Minuten, bis sich genügend Mitreisende eingefunden hatten, um loszufahren. Die Fußgänger und anderen Fahrzeuge machten, soweit dies in den verstopften Straßen eben möglich war, dem großen Gefährt Platz, sodass sie vergleichsweise zügig vorankamen.
Die Fahrt führte sie am pompösen Nashttempel vorbei. Obwohl Lares dem Kriegsgott Nasht nicht allzu viel abgewinnen konnte, zollte er ihm doch Respekt, indem er sein Haupt kurz gegen den Tempel neigte. Fast alle Gäste in der Großkutsche taten es ihm gleich, denn niemand wollte sich den Unmut eines Gottes zuziehen, indem er ihn missachtete.
Der Tempel war in alt – cathurianischem Stil errichtet: eine große Treppe führte hinauf zum Portal, dass von zwei mächtigen Marmorsäulen flankiert wurde. Das leicht abgeschrägte Dach stand ein wenig über, so dass man im Schatten stand, sobald man die Säulen passierte. Die Säulen und der Dachgiebel waren mit kunstvollen Fresken verziert und auf einem Sockel auf der abgeflachten Spitze des Daches stand eine bronzene Statue des Kriegsgottes in dreißig Schritt Höhe: mindestens drei Schritt groß, gewandet in eine silberne Plattenrüstung und mit Schwert und Kriegslanze bewaffnet. Die Statue wirkte erstaunlich lebensecht und zeugte von der hohen Kunstfertigkeit der einheimischen Bildhauer.
Um diese Zeit waren die Tore jedoch verschlossen und vier Novizen in Kettenrüstung hielten Wache vor dem Tempel, dessen Vorplatz mit großen Fackeln erleuchtet war. Die Kutsche bog um eine Ecke und der Tempel des Kriegsgottes verschwand aus Lares’ Blick.
Kurz darauf hatten sie den ersten Kontrollpunkt erreicht. Die Viertel der Stadt waren recht streng voneinander getrennt worden, indem man Mauern durch die Stadt gezogen hatte. Zwar gab es Dutzende von Durchgängen, dennoch spürte man die Trennung eigentlich überall, da man beim Übergang von einem Viertel in das Nächste jedes Mal von Gardisten kontrolliert wurde. Um in ein anderes Viertel zu wechseln, bedurfte es eines Passierscheins. Manche Leute hatten nur Scheine für bestimmte Gebiete, die meisten Bewohner hatten jedoch Zugang zu allen Teilen der Stadt.
Die Maßnahme hatte man eingeführt, als vor einigen Jahrzehnten der 'Pöbel' der Unterstadt immer wieder Übergriffe auf die betuchten Bürger der Stadt angezettelt hatte. Dabei waren mehrere hundert Menschen ums Leben gekommen und mehr als dreißig Villen und noble Wohnhäuser waren im Laufe der Unruhen niedergebrannt worden.
Seitdem wurde die Unterstadt säuberlich vom Rest getrennt, was dazu führte, dass sich das Elend dort immer weiter verschlimmerte. Die anderen Mauern hatte man errichtet, um einen eventuellen Überfall der Unterstädter so früh wie möglich bremsen zu können.
Wenn man das Geld, das man zum Schutz der Reichen ausgegeben hatte, den Armen in der Unterstadt gegeben hätte, dachte Lares bei sich, hätte man vielleicht heute gar kein Problem mit den Armen und Gesetzlosen im Süden der Stadt; weil es sie nämlich gar nicht gäbe.
Er selbst gehörte jedoch zu den Leuten, die sich wegen des Passierscheins keine Gedanken machen mussten. Er hatte Zugang zu allen Vierteln der Stadt. Schließlich war er auch ein braver Bürger, der friedlich die Gesetze der Stadt befolgte. Nun ja, zumindest hatte noch niemand das Gegenteil beweisen können.
Die Kontrolle durch zwei Gardisten erfolgte recht gewissenhaft und einer der Mitfahrer wurde auch unter lautem Protest aus der Kutsche entfernt, da er keine Berechtigung hatte, das Marktviertel zu betreten. Lares registrierte dies allerdings nur am Rande. Zwar empfand er die Regelung als unsinnig und hochgradig überflüssig, aber es hatte auch keinen Zweck, dagegen zu protestieren oder den Mann zu unterstützen. Dadurch würde er sich nur verdächtig machen, und zwei Gardisten, die sich später an sein Gesicht erinnern konnten, waren seinem Ansinnen überaus abträglich. Hatten die beiden schlechte Laune, warfen sie ihn womöglich gleich mit hinaus. Nein, so ungerecht er diese Behandlung auch fand, er tat es dem Rest der Insassen gleich und ließ den kleinen Vorfall unkommentiert.
Als die Überprüfung der Fahrgäste abgeschlossen war, setzte sich die Großkutsche wieder in Bewegung und durchquerte das Tor ins Marktviertel. Die Straße wurde etwas breiter, was sich jedoch kaum bemerkbar machte, da am Straßenrand rechts und links bereits die ersten Marktstände aufgebaut worden waren.
Abseits des eigentlichen Marktplatzes wurde hauptsächlich Essbares und Trinkbares angeboten, meistens jedoch nicht von der allerbesten Qualität. Hier kauften diejenigen ein, die weniger Geld hatten als der Durchschnittsbürger von Kylaria. Lares mochte jedoch das Einkaufen an den etwas außerhalb des Zentrums gelegenen Ständen, da hier die Händler noch mit Herzblut bei der Sache waren, stundenlang um ein Dutzend Fische feilschen konnten und man als Kunde noch umgarnt und umschwärmt war. Auf dem Großen Markt hingegen waren die reichen Händler beinahe schon herablassend und empfanden es als Beleidigung, wenn man es wagte zu handeln oder genauer nachzufragen.
Und während die fetten und dekadenten Händler sich auf ihrem Reichtum ausruhten, dachte Lares, steige ich in ihre Häuser ein und erleichtere sie um ihre schwere Last. Denn obwohl die Reichen der Stadt im Grunde auch seine eigene Kapitalanlage waren – hätte er doch ohne sie nichts auszurauben - hasste er die Bonzen von ganzem Herzen. Nichts konnte er weniger ausstehen, als faule oder selbstgefällige Kaufleute und Adlige, die auf die ärmeren Schichten herabblickten. Deshalb sah es Lares auch nur als gerecht an, dass er sie das ein oder andere Mal um ein wenig Besitz und Reichtum erleichterte.
Allerdings war sein Edelmut nicht derart ausgeprägt, dass er seine Beute mit den Armen geteilt hätte. Jeder war seines eigenen Glückes Schmied. So oder so ähnlich ging dieses Sprichwort seiner Mutter, die unzählige solcher Weisheiten zum Besten gegeben hatte. Die Meisten waren Geschwätz gewesen, aber Dieses hatte er sich zu eigen gemacht.
Wäre er doch nur ein wenig sparsamer gewesen in den letzten Jahren, dann hätte er sich auch schon eine schmucke Villa mit einem großen Garten und privaten Söldnern leisten können. Schließlich ging ein halbes Dutzend der spektakulärsten Einbrüche der letzten Jahre auf sein Konto. Doch er hatte das Geld stets mit vollen Händen wieder ausgegeben. Daher langte es lediglich zu einem sorgenfreien Leben in dem kleinen Häuschen, das er und sein Bruder von ihren Eltern geerbt hatten. Und im Grunde reichte das Lares auch völlig aus. Hätte er sich ein großes Anwesen errichtet, müsste er jetzt nur ständig in Angst leben, dass einer seiner Brüder im Geiste ihm das Haus leer räumen würde, wenn er mal nicht da war. Und da er darauf keine Lust hatte, stand er lieber auf der anderen Seite des Gesetzes und genoss das aufregende Gefühl, in den Kostbarkeiten anderer Leute zu schnüffeln.
Sie fuhren über den Großen Markt, der heute Abend natürlich genauso verstopft war, wie jeden anderen Abend auch. Hier war selbst mit der Großkutsche kaum noch ein Vorankommen, weswegen Lares auch nur noch bis zum nächsten Haltepunkt mitfuhr. Die Kutsche hielt neben dem Stand eines Pelzhändlers, der ganz offensichtlich aus Lengan kam – war er doch für diese Jahreszeit und diese Gegend viel zu warm gekleidet. Lares stieg zusammen mit drei weiteren Fahrgästen aus und wandte sich dann zunächst ins Zentrum des Großen Marktes.
Während der nächsten halben Stunde erblickte er mehrere Dutzend Gelegenheiten, seine paar Ooth, die er in der Tasche hatte, für allerlei lustiges Zeug auszugeben; und wäre er nicht gerade auf dem Weg zur Arbeit gewesen, hätte ihn dieser Besuch auf dem Markt wohl wieder um einiges ärmer gemacht. Zwar machte er um die Waffenhändler einen Bogen – der Umgang mit allem, was größer war als ein Langdolch, war ihm zuwider, was auch ein Grund gewesen war, wieso er das Söldnergewerbe nicht lange ausgeübt hatte. Er mochte einfach keine plumpen Waffen – doch konnte er sich an den Ledermänteln und den Hüten nur sehr mühsam vorbei zwängen, ohne etwas zu kaufen.
Vielleicht, dachte er, bin ich ja schnell genug fertig, so dass hier noch was los ist. Dann kaufe ich mir einen neuen Hut. Der Alte war doch mittlerweile arg ausgefranst. Zwar behauptete Lares gegenüber seinen Freunden, es wäre stilvoll, einen abgetragenen Hut spazieren zu führen, doch mittlerweile hatte er selbst von diesem abgenutzten Schlapphut genug. Etwas Neues musste dringend her. Daher beschloss er, sich später für den erfolgreichen Bruch mit einem neuen Hut zu belohnen. Und morgen früh gäbe es für ihn und die kleine Nervensäge Akilion dann ein besonders gutes Frühstück.
Doch zunächst musste er den Bruch auch erst mal hinter sich gebracht haben. Daher wandte er seinen Blick von den ausgebreiteten Schätzen der Händler ab und richtete ihn stur geradeaus. So versuchte er, auf dem schnellsten Weg, den Markt in Richtung Südosten wieder zu verlassen. Vielleicht hatte der abwesende Hausherr ja einen ganz passablen Geschmack was Hüte anging, sodass er sich ein wenig in dessen Garderobe bedienen konnte.
Bei dem Gedanken fiel ihm ein, dass er eine größere Tasche hätte mitnehmen sollen, dann hätte er Liliana vielleicht auch etwas aus der Garderobe der Dame des Hauses mitbringen können. Allerdings hätte er ihr nicht sagen dürfen, woher er die Sachen beschafft hatte – immerhin war die Kleine Novizin im Tempel der Iyamis, der Herrin der Jugend und Schönheit.
Und schön war Liliana in der Tat. Nirgends hätte sie besser aufgehoben sein können, als bei den Priestern der jungen Göttin. Aber leider war sie von Grund auf ehrlich und rechtschaffen. Wenn Lares wirklich etwas Ernsthaftes mit ihr anfangen wollte, musste er wohl oder übel einen etwas göttergefälligeren Beruf ausüben.
Oder anfangen zu sparen, dachte er schelmisch. Dann würde er in zwei, drei Jahren genug auf die Seite gelegt haben, um den Rest seines Lebens sicher und sorgenfrei leben zu können – sogar mit Frau und Kindern. Aber das waren natürlich nur Hirngespinste. Lares glaubte weder, dass Liliana ihn eines Tages zum Mann nehmen würde, noch glaubte er, dass er auf das Einbrechen und auf das Verprassen der Beute im Kasino oder in der Kneipe verzichten konnte. Allein schon bei dem Gedanken an eine ehrliche Arbeit graute es ihm. Und eigene Kinder? Er war mit seinem kleinen Bruder schon gestraft genug, da brauchte er nicht noch eigenen Nachwuchs.
Aber was das Geschenk für Liliana anging, musste er nach etwas Anderem Ausschau halten. Es würde sich schon irgendetwas finden lassen.
Die Gegend war ruhig und lag friedlich schlafend vor ihm. Dies war eines der wenigen Viertel der Stadt, wo nach Einbruch der Dunkelheit tatsächlich nicht mehr so viel los war, denn das eigentliche Nachtleben spielte sich im Zentrum von Kylaria ab. Hier, im Universitätsviertel, gab es kaum Möglichkeiten, sich der Zerstreuung oder dem Frohsinn hinzugeben, weswegen die Heerscharen von Novizen und Scholaren nach dem Ende ihres Unterrichts das Zentrum heimsuchten.
Neben der großen Akademie der Wissenschaften und der Schule des arkanen Feuers konnte man in diesem Viertel auch den strahlenden Tempel des Skai bewundern. Skai, der Gott der Magie und der Wissenschaft, war in Kylaria hoch angesehen, so dass sein Haus an Pracht dem Tempel des Kriegsgottes in Nichts nachstand.
Doch weder an den Lehranstalten noch an dem prächtigen Gotteshaus hatte Lares Interesse, ganz abgesehen davon, dass er niemals auf die Idee käme, sich den Zorn eines Gottes oder einer Horde Feuermagier zuzuziehen. Keine Beute war ein solches Risiko wert.
Sein Interesse galt vielmehr der schmucken Villa, die etwas abseits der Akademie der Wissenschaften und in unmittelbarer Nachbarschaft zum großen Zentralarchiv der Stadt lag. Sie lag in einem kleinen Park, umgeben von einer etwa vier Schritt hohen Mauer aus weißem Kalkstein. Sollte jemand auf die Idee kommen, das Grundstück einfach mit brachialer Gewalt zu betreten, dachte Lares, würde die Mauer wohl kein allzu großes Hindernis darstellen. Aber dafür war sie ganz hübsch gemacht und hob sich recht geschmackvoll vom Grün des Parks ab.
Wer genau hier wohnte, wusste Lares nicht, ging jedoch davon aus, dass einer der altgedienten Dozenten der Akademie hier seine Zelte aufgeschlagen hatte. Ansonsten wohnten nur wenige Nichtgelehrte in diesem Viertel. Andere reiche Bürger zogen es vor, im Stadtzentrum zu leben und die ganz Reichen besaßen gar eine Residenz im Palastviertel. Dahin hatte Lares zwar Zugang, aber ein Einbruch im Palastviertel grenzte an Wahnsinn.
Er bevorzugte die kleineren Anwesen, das war mit weitaus weniger Risiko verbunden. Zwar würde er so nie den ganz großen Bruch landen, aber man würde ihn auch nicht so leicht erwischen. Die spektakuläreren Aufgaben lagen allesamt schon eine Weile zurück und mehr als einmal war er nur mit knapper Not entkommen. Eine Erfahrung, die er bei allem Nervenkitzel doch nicht allzu oft machen wollte. Er würde nichts davon haben, einen Bruch zu wagen, der in die Geschichtsbücher einging, wenn er dafür zehn Jahre seines Lebens im Kerker verbringen musste. Der Verrückte, der in den Palast des Großfürsten eingebrochen war. Nein, danke.
Er warf einen kurzen Blick die Straße entlang und stellte zufrieden fest, dass außer ihm niemand in der Nähe unterwegs war, was sich aber in Kylaria schnell ändern konnte. Mit ein, zwei schnellen Schritten war er an der Mauer, setzte seinen Rucksack ab und kramte seine Ausrüstung hervor: ein schlichter brauner Umhang, den er sich überwarf, ein Paar scheinbar normale Lederhandschuhe und einen Dietrich. Obwohl alles sehr gewöhnlich aussah, hatten es alle drei Sachen in sich, jedenfalls hoffte er das. Er hatte den kompletten Erlös seiner letzten Arbeit in diese Ausrüstung investiert. Ein Novize der hiesigen Zauberschule hatte sie ihm angefertigt, da er Schulden bei einem seiner Mitschüler hatte.
Lares hatte ihm angeboten, seine Schulden zu begleichen, wenn er ihm dafür seine magischen Spielereien anfertigte. Der Novize mit Namen Nayin Dargatil hatte ihm diese drei Gegenstände angefertigt und ihm versprochen, dass sie einwandfrei funktionieren würden. Wenn nicht, dachte Lares, würde er Nayin den Fischen im Meer der Dämmerung zum Fraß vorwerfen. Und in dem unheimlichen Binnenmeer fand sich eigentlich immer irgendetwas, das Hunger auf Menschenfleisch hatte.
Doch wie es schien, hatte der Zauberlehrling gute Überlebenschancen. Der Dietrich öffnete das Tor ohne Schwierigkeiten und Lares schlüpfte lautlos hindurch. Dann schloss er das Tor genauso problemlos wieder ab, damit niemand, der zufällig des Weges kam, Verdacht schöpfte.
Bis zum Haus waren es ungefähr dreißig Schritte. Vom Tor führte ein sauber angelegter, weißer Kiesweg zum Haupteingang. Dieser Weg war hell mit Fackeln erleuchtet und somit für Lares tabu. Daher schlich er an der Mauer entlang, im Schutz von kleinen Hecken und sauber gepflanzten Büschen, bis er in den hinteren Teil des Gartens gelangt war, der nur spärlich beleuchtet war.
Bis auf ein Zimmer war das Haus dunkel, doch von seiner jetzigen Position aus drohte ihm keine Entdeckung von Leuten, die sich in diesem Zimmer aufhielten. Allerdings verriet ihm das Licht der Laterne, dass er extrem leise vorgehen musste, damit er die Bediensteten nicht aufscheuchte. Und es gab nichts Schlimmeres als übereifrige Dienerschaft, die ihr Leben für den Besitz ihrer Herren geben würden, obwohl sie dafür keinen Bukan mehr bekämen.
Mit einem kurzen Blick durch den Park vergewisserte er sich, dass er alleine hier draußen war, dann eilte Lares mit einigen schnellen Schritten an die Hausmauer. Das Gebäude hatte neben dem Erdgeschoss noch zwei weitere Stockwerke. Die Wände waren sehr glatt und boten selbst einem geübten Kletterer fast keine Möglichkeiten, an ihnen empor zu steigen.
Allerdings, dachte Lares grinsend, haben die wenigsten Kletterer einen verschuldeten Zauberer zum Freund. Lares zog die Handschuhe über, die Nayin für ihn angefertigt hatte, und strich sich mit den Handflächen über die Sohlen seiner Stiefel. Zum Glück musste man keinen albernen Spruch aufsagen, damit sich die Wirkung entfaltete, dachte er kurz. Er wäre sich schon ziemlich dämlich vorgekommen, wenn er nachts in einem fremden Park gestanden und mit seinen Händen und seinen Füßen geredet hätte.
Nachdem er die unscheinbaren Handschuhe noch einen Moment lang skeptisch betrachtet und an die gefräßigen Fische im Meer der Dämmerung gedacht hatte, legte er die Hände an die Hauswand und begann einfach zu klettern.
Die Wirkung war erstaunlich. Es fühlte sich an, als könne er überall festen Halt finden und nach nur wenigen Sekunden hing er wie eine Spinne in vier Metern Höhe an einer nahezu glatten Hauswand. Erstaunt blickte er nach unten, dann wieder völlig begeistert auf seine Hände. Mit diesen Dingern würde er sogar an der Palastmauer hochklettern können. Schade, dass es nicht noch viel mehr verschuldete Magier gab... Er konnte nur hoffen, dass die Dinger in zehn Metern Höhe nicht plötzlich den Geist aufgaben. Dann müsste man ihn wahrscheinlich vom feinen Kies kratzen.
Doch die Handschuhe taten weiterhin ihren Dienst, aber Lares wollte seine neue Ausrüstung nicht überstrapazieren und begab sich so schnell wie möglich aufs Dach. Er hatte Glück, dass es sich um ein Flachdach handelte, denn so konnte er problemlos nach einem offenen Fenster oder einer anderen guten Einstiegsmöglichkeit Ausschau halten. Notfalls würde er ein Fenster aufbrechen müssen.
Als er dann an der Hauswand hinunterblickte, machte sein Herz einen freudigen Sprung. Zwar waren alle Fenster geschlossen, doch sie waren nicht mit Riegeln, sondern mit Schlössern versperrt. Nayin hatte ihm erklärt, dass es völlig genügte, den Mechanismus des Schlosses mit dem Dietrich zu berühren, um es zu öffnen. Dies funktionierte sogar, wenn das Schloss eigentlich auf der anderen Seite lag. So musste er jetzt nicht einmal etwas kaputt machen, um ins Haus zu gelangen. Ein Riegel hätte ihn vor weitaus größere Schwierigkeiten gestellt. Lares beschloss, dass er den Zauberer dringend auf ein Glas Wein einladen musste, wenn diese Arbeit getan war.
Mit den Handschuhen war es kein Problem, zu einem der Fenster zu gelangen. Er zog den Dietrich aus seiner Tasche und berührte mit der Spitze das Schloss. Mit einem leisen Klicken sprang das Schloss auf und das Fenster ließ sich öffnen.
Mit einem zufriedenen Lächeln schwang sich Lares in das Zimmer.
Selten war es so leicht gewesen.
Der verzauberte Dietrich war ein wundervolles Spielzeug, denn obwohl ein Großteil der Türen verschlossen war, kam er ungehindert überall herein. Zudem war der Besitzer doch vermögender, als er angenommen hatte. Längst bedauerte er es, dass er keine größere Tasche mitgebracht hatte.
Aus fast jedem Zimmer konnte er wertvolle Kunstgegenstände einheimsen, von Götterstatuetten bis hin zu exotischen Jademasken, die ein halbes Vermögen wert sein mussten, vorausgesetzt, er fände einen Käufer dafür. Da er jedoch schon oft Probleme mit dem Verkauf von Kunstschätzen gehabt hatte, war er noch auf der Suche nach dem Barvermögen des Hausherrn. Und seine Garderobe hatte er auch noch nicht gefunden. Angesichts des Einrichtungsstils glaubte Lares jedoch nicht, dass ihm ein Hut in die Hände fallen würde, der ihm gefiele. Obwohl sich hier allerlei extravagante Accessoires fanden, war der Großteil der Villa doch sehr bieder eingerichtet.
Wenn er sich nicht täuschte, dann musste er so langsam in den Bereich des Hauses kommen, in dem vorhin noch Licht gebrannt hatte. Vorsichtig öffnete er die nächste Tür und blickte in einen dunklen Flur. Der Flur war etwa fünfzehn Meter lang und an seinem Ende führte eine große Wendeltreppe nach unten. Rechts und links des Flures gingen jeweils zwei Türen ab, die zu anderen Zimmern führten. Und in dem hinteren Zimmer auf der linken Seite schien noch jemand wach zu sein, denn ein schwacher Lichtschein drang unter der Tür hervor.
Lares nahm sich gleich die erste Tür auf der rechten Seite vor. Sie war ebenfalls abgeschlossen, doch eine Berührung mit dem Dietrich entriegelte das Schloss genauso problemlos und leise, wie es zuvor schon mehrfach geklappt hatte. Die Tür schwang auf und Lares huschte hindurch.
Da er jetzt anscheinend in den Wohntrakt des Hauses gekommen war, wollte er kein unnötiges Risiko eingehen und legte sich den Umhang um, den Nayin ihm ebenfalls gefertigt hatte. Wenn der junge Zauberer Recht hatte, würde ihn der Mantel vor zufälliger Entdeckung schützen, da ein möglicher Betrachter ihn gar nicht bemerken würde. Lares hoffte jedoch, dass er es nicht auf einen Versuch ankommen lassen musste.
Als er sich in dem Zimmer umsah, erkannte er, dass er gleich mit der ersten Tür ins Schwarze getroffen hatte. Heute war wirklich sein Glückstag!
Er stand in einem geräumigen und luxuriösen Schlafzimmer. Zu seiner Rechten befand sich ein großer Kleiderschrank, den Lares in seiner eigenen Wohnung nirgendwo hätte unterbringen können, so wuchtig war er. An der dem Schrank gegenüberliegenden Wand stand ein großes Himmelbett aus dem wertvollem, dunklem Holz von den Freien Inseln. Auf kleinen Nachtschränkchen standen allerlei Tiegel und Phiolen, mit deren Inhalt Lares nicht wirklich etwas anfangen konnte. Anscheinend waren es irgendwelche Pflegeprodukte für ältere Herrschaften.
Ohnehin interessierte sich Lares weniger für die Einrichtung. Sein Interesse galt dem großen Gemälde, das wohl den Hausherren und seine Familie zeigte. Es hing über dem Kopfende des Bettes und war das einzige Gemälde in dem Zimmer.
Mit schnellen Schritten war er bei dem Gemälde und hob es von der Wand. Dahinter kam, für Lares wenig überraschend, ein kleiner Tresor zum Vorschein. Er schüttelte resignierend den Kopf. Jeder Amateur wusste doch, das die privaten Schließfächer hinter Gemälden verborgen waren und trotzdem waren viele Wohlhabende immer noch so naiv und glaubten, so ihre Wertsachen schützen zu können.
Es dauerte keine zehn Sekunden, bis der gut behütete Schatz des Hausherrn offen vor ihm lag und darauf wartete, von ihm mitgenommen zu werden.
Er fand neben einer Schmuckschatulle und einer kleinen Schließkassette noch einen großen Beutel mit Münzen und ein Bündel mit Wertscheinen. Die Scheine waren zwar alle auf den Namen des Hausherrn ausgestellt, doch fragte niemand beim Bezahlen nach dem Namen, da es einfach viel zu viele Wertscheine gab, die bereits im Umlauf waren. Und da die Scheine selbst auch getauscht wurden und als Zahlungsmittel wesentlich praktischer waren als Münzen, war es sogar durchaus möglich, legal an Wertscheine eines Anderen zu kommen. Früher oder später würden die Münzen vermutlich nur noch eine untergeordnete Rolle im Handel spielen. Ein grober Überblick offenbarte Lares, dass er hier etwa 500 Ooth in den Händen hielt. Bei diesem Anblick leuchteten seine Augen förmlich auf. Zusammen mit dem Schmuck, den Kunstwerken und der seltsamen Schließkassette konnte sich diese Arbeit zu seinem erfolgreichsten Bruch der letzten Jahre mausern.
Jetzt musste er nur noch wieder aus dem Haus rauskommen, ohne erwischt zu werden. Auf eine Durchsuchung der anderen Zimmer wollte er verzichten, um kein unnötiges Risiko einzugehen. Irgendwann kamen schließlich auch die hohen Herrschaften zurück und dann wollte er sich längst aus dem Staub gemacht haben.
Ein lautes Poltern aus dem Erdgeschoss riss ihn aus seinen Gedanken. Es klang, als ob jemand eine Tür gewaltsam aufgebrochen hätte. Verdammt! fluchte er innerlich. Ausgerechnet heute Konkurrenz. Und sie schienen weitaus weniger vorsichtig zu sein, als er selbst.
Hastig packte er seine Sachen zusammen und zog die Kapuze seines Umhangs über den Kopf. Er betete erneut, dieses Spielzeug würde genauso funktionieren, wie die anderen Dinge, die Nayin für ihn gemacht hatte.
Als er auf den Flur trat, sah er, dass bei einem Zimmer die Tür weit offen stand. Es war das Zimmer, in dem eben noch Licht gebrannt hatte. Dann blickte er zur Treppe und sah eine Gestalt, die bereits einige Stufen hinabgestiegen war. Die Gestalt war offensichtlich weiblich, trug ein langes Nachthemd und eine kleine Öllampe in der Hand. Sie drehte ihm zwar den Rücken zu, doch trotzdem drückte er sich sofort wieder in Türöffnung hinein, um nicht gesehen zu werden.
Aus dem Erdgeschoss war wieder lautes Poltern zu hören.
„Mein Herr?“, fragte die Frau unsicher. „Seid ihr schon zurück?“
Lares musste aufpassen, um nicht entgeistert aufzustöhnen. Wie naiv konnte man denn sein? Der Hausherr würde wohl kaum solch einen Lärm veranstalten, wenn er wieder nach Hause käme.
„Mein Herr? Gnädige Frau? Seid ihr das?“ fragte die Frau erneut. Ihrer Stimme nach zu urteilen, schätzte Lares sie auf Mitte Zwanzig, also etwa sein Alter. Sie tat ihm fast leid, aber er war ebenso unangemeldeter und unerwünschter Besuch, wie die Leute unten im Erdgeschoss. Daher konnte er ihr weder helfen, noch konnte er sie warnen.
Dann waren schwere Schritte auf der Treppe zu vernehmen. Lares hörte, wie die Frau erschrocken aufschrie und versuchte, die Treppe wieder nach oben zu hasten. Dann erklang ein dumpfer Aufprall und kurz darauf ein leises Lachen.
„Falsch, Kleines, weder der werte Herr noch die gnädige Frau sind zurück gekehrt“ Die Stimme des Mannes war tief und eigentlich wohlklingend, wäre da nicht dieser sadistische Unterton gewesen. „Du brauchst jedoch keine Angst zu haben, wenn du uns sagst, wo die Maske ist!“
Lares hörte weitere Schritte auf der Treppe. Da sich die Gestalt auf die Frau konzentrierte, wagte Lares einen vorsichtigen Blick um die Ecke. Er sah die Frau zitternd an der Treppe liegen, die Lampe aber noch in der Hand. Über ihr stand ein Mann mittleren Alters. Sein Gesicht konnte Lares nicht erkennen, denn er trug eine dunkelblaue Kutte mit einer Kapuze. Über der Kutte trug er einen matt silbernen Brustpanzer. Sowohl Kutte als auch der Brustpanzer waren mit seltsamen Symbolen versehen. In der Hand hielt der Mann eine Art Zepter, an seiner linken Seite hing ein Langschwert.
„Wer, wer seid ihr...?“ stammelte die Frau hilflos.
„Das ist nicht von Belang. Wüsstest du es, müsste ich dich töten, also erbitte besser keine Antwort auf deine Frage! Für dich ist nur wichtig, was wir hier suchen.“
Während er dies sagte, machte der Mann seinen beiden Kameraden Platz, die mittlerweile auch oben angekommen waren. Sie waren ebenfalls in dunkelblaue Kutten und silberne Brustpanzer gehüllt, trugen jedoch kein Zepter, sondern lediglich Langschwerter. Der erste Mann musste also der Anführer sein.
Lares dachte verzweifelt nach. Gegen drei Kämpfer hatte er keine Chance, sollten sie ihn entdecken. Also musste er zusehen, dass er so schnell wie möglich hier raus kam. Lautlos, so hoffte er, öffnete er die Tür ins Schlafzimmer wieder und schlüpfte hinein. Er lauschte kurz, doch niemand schien ihn bemerkt zu haben. Er eilte zum Fenster, zog den Dietrich aus der Tasche und lies das Schloss aufspringen.
„Sag uns sofort, wo die verdammte Maske ist, sonst wirst du dir wünschen, niemals geboren worden zu sein!“ Die Stimme des Anführers schnitt durch die Stille und die Frau brach in lautes Schluchzen aus.
„Ich weiß es nicht“, schniefte sie. „der Herr pflegt seine Wertsachen immer im Tresor im Schlafzimmer aufzubewahren.“
Verdammter Mist, dachte Lares. Jetzt musste er sich beeilen. Und da er weder die Zeit hatte, den Tresor zu schließen, noch das Fenster wieder zu verriegeln, würden die Drei sofort mitbekommen, dass ihnen jemand zuvorgekommen war. Warum bei allen Schrecken der Außenwelt wusste ein einfaches Dienstmädchen überhaupt wo der 'werte Herr' seine Kostbarkeiten versteckte?
Schon hörte er schwere Schritte näherkommen. Mit einem Satz sprang er auf die Fensterbank, schickte ein Stoßgebet zu Nitoq, dem Schutzpatron der Diebe und Händler, und kletterte die Hauswand herunter.
Die Wirkung der Handschuhe war noch nicht verflogen, so dass er nicht wie ein Stein in die Tiefe stürzte. Es dauerte nur Sekunden, bis er unten ankam, doch kaum hatte er wieder festen Boden unter den Füßen, ertönte aus dem Haus ein zorniger Schrei.
Ohne nachzudenken sprintete Lares los und warf sich hinter die nächstbeste Hecke. Ein Gesicht erschien oben in dem Fenster und blickte in den Garten herunter.
Eigentlich hätte der Mann ihn sehen müssen, denn die Hecke konnte keinen ausreichenden Schutz bieten, doch nach kurzer Zeit verschwand das Gesicht wieder aus dem Fenster. Lares beschloss, Nayin eine ganze Karaffe des edelsten Weins zu spendieren, denn auch der Umhang schien zu funktionieren.
Er sprang auf, hastete zur Mauer, warf sich regelrecht an die Wand und kletterte sofort an ihr hoch. Als er oben angekommen war, warf er einen kurzen Blick zurück zum Haus. Für einen Moment, glaubte er, einen kurzen Lichtblitz zu sehen, wandte dann aber den Blick wieder ab und richtete ihn auf die Straße.
Hier war alles ruhig. Anscheinend waren die anderen Eindringlinge tatsächlich nur zu dritt gewesen. Er hatte befürchtet, dass sie bei einem derart brachialen Vorgehen Wachen am Tor oder auf der Straße zurückgelassen hätten, um frühzeitig gewarnt werden zu können.
Da dem glücklicherweise nicht so war, konnte Lares unbemerkt von der Mauer klettern. Dann schulterte er seine Tasche, verstaute hastig seine Ausrüstung und machte sich auf den Weg zurück ins Zentrum.
Kylaria, Hauptstadt von Cathuria,
Monat Alathyia, Frühling im Jahre 1104 nach Ashibans Fall
„Bist du dir ganz sicher?“ Die Stimme des Zauberers klang sehr aufgeregt und Lares war überzeugt, dass es nicht nur am Wein lag, dem sie schon recht ausgiebig zugesprochen hatten.
„Ja, Nayin, bei allen Göttern, wie oft soll ich es noch sagen! Es waren Männer mit blauen Roben und silbernen Brustpanzern. Was ist daran so wichtig?“
Der Zauberer gestikulierte wild mit den Armen. „Wenn ich Recht habe mit meiner Vermutung, waren es Mitglieder der Sternengarde“, sagte er geheimnisvoll. „Und das bedeutet nichts Gutes.“
Lares verdrehte die Augen. Nayin sprach gerne in Rätseln oder vergaß regelmäßig, die notwendigen Informationen hinzu zu fügen.
„Und was ist daran so schrecklich? Wer ist die Sternengarde?“ Kaum hatte er die Frage gestellt, bereute er es sofort wieder, als er sah, wie Nayin mit weit ausgebreiteten Armen ausholte, um einen seiner berüchtigten Vorträge zu halten.
„Die Kurzfassung, bitte!“ sagte Lares rasch.
Nayin spießte ihn für einen Augenblick regelrecht mit Blicken auf, dann schüttelte er resignierend den Kopf und murmelte etwas von Ungeduld und Unwissenheit, was Lares aber nicht genau verstand. Vielleicht war das auch besser so. Der Zauberer griff noch einmal nach dem Weinglas, nahm einen Schluck und blickte eine halbe Sekunde andächtig auf den Rand des Glases. Dann stellte er es wieder auf den Tisch und begann zu erzählen.
„Die Sternengarde ist die Armee des Magierreichs Amras im hohen Norden, am Rande der Welt. Ihre Mitglieder werden rekrutiert aus all Jenen, die es nicht geschafft haben, einen Abschluss an einer Zauberschule zu erlangen, wohl aber über gute Kenntnisse im Umgang mit der Magie verfügen. Sie werden noch einige Zeit in den Kasernen der Magiermetropole ausgebildet und dann ihren Einheiten zugeteilt. Ihre Rekrutierungsoffiziere halten an jeder Akademie der Zauberkünste Ausschau nach potentiellen Kandidaten. Und fast jeder angehende Magier, der einen gewissen Grad des Studiums erreicht hat, wird von den Sternengardisten angesprochen. Teilweise werben sie sogar direkt Schüler der Akademie ab, um ihre Reihen zu erweitern. Gerne auch solche, die gute Chancen hätten, die Prüfungen leicht zu schaffen. Sie locken mit Macht und Geld, Dinge die jedem Magier nach acht Jahren des harten Studiums natürlich gefallen würden.“
„Dann waren es also Zauberer, die mir den Bruch beinahe verdorben hätten?“, fragte Lares.
Nayin nickte. Dann beugte sich der Magier leicht vor und sah dem Einbrecher tief in die Augen.
„Und du solltest hoffen, dass sie gefunden haben, was sie gesucht haben. Denn ansonsten befindet es sich wahrscheinlich bei deiner Beute. Und früher oder später findet die Sternengarde immer, was sie sucht.“
Lares dachte an den zornigen Aufschrei, den er aus dem Zimmer gehört hatte. Wahrscheinlich war die Sternengarde nicht fündig geworden und leider konnte er auch nicht sagen, welches seiner Beutestücke für die Magier nun von Interesse war.
Sie hatten etwas von einer Maske gebrüllt und er hatte insgesamt vier Masken erbeutet. Die Chance, dass das Objekt ihrer Begierde dabei war, war also recht hoch. Und zu allem Überfluss ließen sich die Dinger verdammt schlecht verkaufen. Außerdem musste er höllisch aufpassen, dass er nicht mit dem Einbruch in Verbindung gebracht wurde, denn die Sternengarde war nicht zimperlich gewesen. Die Hausherren hatte man später erschlagen im Foyer der Villa gefunden, eine Bedienstete, sowie die Enkelin waren nur noch verkohlte Überreste gewesen. Bei dem Gedanken daran, wie knapp er selbst wahrscheinlich einem solchen Schicksal entkommen war, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken.
„Nein, ich fürchte, sie haben es nicht gefunden. Sie klangen nicht sehr angetan, als sie den offenen Tresor gesehen haben.“ sagte Lares nachdenklich.
„Dann solltest du alles, was kein Bargeld war, schnell wieder loswerden. Notfalls versenke es im Meer der Dämmerung. Das hat noch nie wieder etwas frei gegeben.“
„Versenken?“, fragte Lares ungläubig. Schließlich war das Zeug ein Vermögen wert.
„Besser es landet im Meer der Dämmerung als in den Händen der Sternengarde.“ antwortete Nayin. „Die Magier von Amras haben seit einem Jahr einen neuen Herrscher, den Schattenmagier Menac Jadek. Es heißt, er habe einen Pakt mit dem Erstgeborenen geschlossen, um das Magierreich zum größten Machtfaktor des Nordens zu machen. Und er hasst die Feuermagier.“
„Was hat das Ganze mit mir zu tun?“ fragte Lares. Nayin funkelte ihn zornig an.
„Verstehst du denn gar nichts, du Tölpel?“ polterte der Zauberer. „Wenn die Sternengarde bereit ist, ein derartiges Aufsehen zu erregen, nur um an dieses Artefakt zu kommen – was immer es auch sein mag – dann solltest du auf gar keinen Fall auf ihre Abschussliste kommen. Und wenn Jadek seine Leute bis nach Kylaria schickt, um ein Artefakt zu stehlen, dann muss es etwas ganz Besonderes sein.“
Lares verstand, was der Zauberer meinte und musste ihm widerwillig Recht geben. Auf keinen Fall durften die Sternengardisten ihn mit dieser Sache in Verbindung bringen und erst Recht nicht die Maske bei ihm finden.
Doch wegwerfen konnte er die Sachen auch nicht. Er würde sie verstecken, bis Gras über die Sache gewachsen war. In einigen Monaten würde sich weder der Magistrat noch die Sternengarde um den Vorfall der vorletzten Nacht scheren. Dann konnte er die Sachen wieder hervorholen und an den Mann bringen. Bis dahin konnte er von dem erbeuteten Bargeld ja auch ganz gut leben.
„Du hast recht, Nayin“, sagte er. „Ich werde die Sachen verschwinden lassen. Ich kann ja nicht zulassen, dass diese Verrückten mir und der kleinen Nervensäge das Leben zur Hölle machen.“
„Endlich siehst du es ein“, sagte der Zauberer erleichtert. „Wurde ja auch Zeit. Apropos Nervensäge, wie geht es dem kleinen Ausreißer denn so?“
Lares winkte genervt ab und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, nicht ohne vorher sein Glas vom Tisch zu nehmen. „Du müsstest mal hören, was er in der letzten Zeit für einen Schwachsinn zusammen spinnt. Er will unbedingt zu den Freien Inseln segeln...“
Nayin begann schallend zu lachen. Die bisher recht angespannte Stimmung löste sich nun sehr schnell von den Beiden.
„Tja“, meinte der Magier, „du hättest ihn halt nicht in die Arme einer hübschen und fantasievollen Hure entkommen lassen dürfen... Aber sei froh, dass er zu den Freien Inseln will und nicht wieder zurück zu der guten Fee vom Hinterhof.“
„Bei allen Göttern, das hätte mir noch gefehlt. Ich hoffe, es dauert noch einige Jahre, bis Matayas Kuss ihn trifft und er anfängt hinter den Weiberröcken herzulaufen.“
„Wie alt ist er eigentlich?“ fragte Nayin.
„Zehn“ antwortete Lares. „Mit ein bisschen Glück bleiben mir solche Querelen also noch drei, vier Jahre erspart.“
„Wenn er nach dir kommt, wirst du weniger Zeit haben.“ grinste Nayin.
Lares griff blitzschnell nach dem ungenutzten Kerzenleuchter, der auf dem Tisch stand und schleuderte ihn zielsicher an Nayins Schulter vorbei gegen die Wand.
„Hey, du Barbar!“, lachte der Zauberer. „Lass das gute Mobiliar heile. Kannst doch nur die Wahrheit nicht ertragen!“ Lares fiel in das Lachen mit ein und stand auf, um den Kerzenleuchter wieder aufzuheben. Als er an Nayin vorbei ging, duckte dieser sich instinktiv weg, so dass Lares’ halbherziger Klaps in den Nacken sein Ziel verfehlte. Lares grummelte etwas Unverständliches vor sich hin, hob den Kerzenleuchter auf und machte sich auf zum Schrank, um eine neue Flasche Wein zu holen.
„So, nun aber genug über finstere Zauberer und frühreife Bengel geredet.“, sagte er. „Jetzt wird erst einmal meine erfolgreiche Arbeit gefeiert.“
Dem konnte dann auch Nayin nicht widersprechen.
Der nächste Morgen begann mit der Feststellung, dass die dritte Flasche Wein eine ziemlich dämliche Idee gewesen war. Sein Schädel dröhnte, als stampfe eine ganze Herde Hornbestien hindurch und sein Magen protestierte schon bei dem Gedanken an Nahrung aufs Allerschärfste.
Eigentlich, dachte Lares verstimmt, hatte es gar nicht an der letzten Flasche Wein gelegen. Vielmehr hätten sie zwischendurch einfach die Finger von dem Branntwein lassen sollen, den Nayin mitgebracht hatte. Ein ziemlich fürchterlicher Fusel, an dessen Geschmack und Geruch man sich jedoch nach ein paar Gläsern durchaus gewöhnt hatte. Und wenn erst einmal ein Drittel der Flasche gelehrt war, glaubt man sogar, das einem das Zeug wirklich schmecken würde.
Tückisch, dachte Lares und quälte sich vorsichtig aus dem Bett. Als er sich auf die Bettkante setzte, durchfuhr ihn ein Schwindelgefühl, das ihn sofort wieder auf sein Bett niedersinken ließ.
Erst als nach ein paar Minuten die Welt wieder aufgehört hatte sich zu drehen, wagte er einen neuen Versuch, aus dem Bett zu kommen. Dieses Mal erhob er sich noch behutsamer, doch sowohl Schwindelgefühl als auch Übelkeit meldeten sich sofort wieder. Allerdings war Beides dieses Mal nicht stark genug, um ihn erneut niederzuwerfen. Er widerstand dem Drang, sich wieder hinzulegen und einfach bis morgen durchzuschlafen, um es dann noch mal mit dem Aufstehen zu versuchen, und schleppte sich mühsam zum Waschzuber, der neben dem Fenster stand.
Der Weg dorthin schien eine Ewigkeit zu dauern. Das kühle Wasser weckte jedoch ganz langsam seine Lebensgeister. Viel öfter als sonst ließ er sich das erfrischende Nass über den Kopf laufen, bis er glaubte, halbwegs wieder auf dem Damm zu sein. Etwas orientierungslos blickte er sich in seinem Zimmer um, fand Hose und Hemd neben dem Schrank liegend auf einem Stuhl. Wieso der dazugehörige Gürtel am anderen Ende des Raumes lag, konnte er sich nicht so genau erklären, erschien ihm aber auch nur bedingt von Interesse. Die Hauptsache war, dass alle Sachen noch da waren und er sich nicht wieder eine neue Hose kaufen musste, wie nach dem letzten Besäufnis.
Was die Vollständigkeit seiner Sachen anging, musste er dann doch einen entscheidenden und empfindlichen Abstrich machen. Seine Stiefel waren nirgends zu sehen.
Verdammter Mist, dachte er, jetzt kann ich mir schon wieder neue Schuhe kaufen.
Die Letzten hatte er nach einem Fehltritt in Pferdemist wegwerfen müssen, obwohl sie gerade erst drei Wochen alt gewesen waren. Wenigstens, so dachte er sarkastisch, waren die neuen Stiefel nicht so teuer gewesen.
Kurze Zeit später fand er sie dann doch. Nachdem er seine Haare notdürftig gerichtet hatte und nach der Hose auf seinem Stuhl griff, fiel sein Blick auf seine Füße. Nach einigen Sekunden verwirrten Schweigens brach er in schallendes Gelächter aus, denn seine Füße steckten in genau jenen Stiefeln, die er gerade noch vergeblich gesucht hatte. Er hatte sich zwar des Nachts seiner Beinkleider entledigt, aber für die recht aufwändige Schnürung der Stiefel war er dann wahrscheinlich entweder zu faul oder zu betrunken gewesen, auch wenn es ihm seltsam vorkam, dass es ihm so gelungen war, die Hose trotzdem auszuziehen. Vermutlich wollte er aber auch gar nicht so genau wissen, wie er das angestellt hatte.
Was auch immer, dachte er grinsend, zog seine Hose und sein Hemd wieder an, schnallte sich den Gürtel um und verließ leicht kopfschüttelnd das Schlafzimmer.
Als er die Stufen der Treppe hinabstieg, erblickte er im Wohnraum seinen Saufkumpanen, der ungefähr so frisch und munter aussah, wie Lares sich eben noch gefühlt hatte. Nayin erkannte seinen Freund und versuchte zu lächeln. Es misslang gründlich und wurde zu einer überaus leidvollen Miene. Langsam richtete sich der Zauberer in seinem Sessel auf, wobei er hastige Bewegungen besonders vermied.
„Na, auch schon fit?“ fragte Lares. Nayin nickte gequält.
„Blendend“, antwortete er. „ich könnte Bäume ausreißen.“ „Übermorgen...“ fügte er Sekunden später hinzu. „Heute wäre schon ein Grashalm ein unüberwindbarer Feind.“
Lares lachte und schaute sich um. „War Akilion schon hier?“ fragte er.
„Keine Ahnung“, grunzte Nayin schlecht gelaunt. „Ich war zu sehr damit beschäftigt, die Schmerzen in meinem Kopf zu ertragen, als das ich auf andere Menschen hätte achten können. Außerdem hätte ich ihn wahrscheinlich umgebracht, wenn ‚Onkel Nayin’ wieder spannende Zaubergeschichten hätte erzählen müssen.“
„Tja, Onkel Nayin, wenn du seinerzeit gar nicht erst davon angefangen hättest, bliebe dir dieses Schicksal erspart.“ frotzelte Lares. Nayin warf ihm einen finsteren Blick zu.
„Eigentlich darf ich gar nicht mehr vorbeikommen.“ erwiderte er. „So langsam aber sicher gehen mir die Geschichten aus und der Kleine ist leider nicht so dumm, das er Wiederholungen nicht erkennen würde.“
„Dann wirst du wohl mal etwas flotter studieren müssen, damit du ein paar neue Geschichten auf Lager hast. Es schickt sich auch nicht für einen Zauberer, mit gewöhnlichen Sterblichen sinnlose Besäufnisse zu veranstalten.“
Nayin brummelte irgendwas Unverständliches in sich hinein. Dann stand er auf, richtete sein Gewand und bürstete sich mit den Fingern durch das kurze, dunkle Haar.
„So“, sagte er, „das muss reichen als Morgentoilette. Wozu gibt es in der Akademie denn fließendes Wasser. Zu irgendwas muss diese Zauberei schließlich Nutze sein.“
„Kannst du dich noch grob an unseren Heimweg erinnern?“ fragte Lares. Nayin sah ihn kurz an, kratzte sich grübelnd am Kopf und nickte schließlich.
„Ja, so in etwa krieg ich das noch halbwegs zusammen...“ antwortete er schließlich. „Wieso sind wir eigentlich nicht einfach bei mir geblieben?“
Lares zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, wir wollten noch irgendwo hin, glaube ich...“ Nayin sah ihn stirnrunzelnd an, dann winkte er ab.
„Ist auch egal“, sagte der Magier. „Hauptsache, wir haben nicht wieder die halbe Stadt auf den Kopf gestellt.“
„Wenn dir auf dem Rückweg ein Frauenzimmer eine Schelle verpasst, solltest du dir Gedanken machen.“, lachte Lares. Nayin stimmte in das Lachen ein, während er sich auf dem Weg zur Kochecke machte, um etwas Essbares zu finden.
„Vergiss es!“ sagte Lares.
„Hast du nichts oder krieg ich nichts?“, fragte Nayin irritiert. Man sah ihm deutlich an, dass sein Hunger über die Übelkeit gesiegt hatte und er nun schwer enttäuscht war, dass es nichts gab.
„Ich habe nichts da. Wir müssen uns was holen.“, antwortete Lares. „Und ein bisschen frische Luft tut uns bestimmt gut.“ Nayin blickte ihn zweifelnd an.
„Frische Luft? In Kylaria? Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Eher trocknet das Meer der Dämmerung aus!“
Lares musste lachen.