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Dieses Buch führt die jungen Leser in die nordische Götterwelt ein. Die Geschichten von Allvater Odin, dem hammerschwingenden Thor, dem listigen Loki und dem friedliebenden Baldur, den Reifriesen und vielen anderen, werden für Kinder fantasievoll und verständig erzählt. Dabei bleiben die ursprünglichen Inhalte und Bilder der Edda gänzlich erhalten.
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Seitenzahl: 178
Veröffentlichungsjahr: 2021
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DIE URZEIT
YMIR, AUDHUMBLA UND BUR
DIE ERSTEN G
Ö
TTER
DER G
Ö
TTER ERSTES SCHLOSS
DER KAMPF MIT DEN REIFRIESEN
MIDGARD UND ASGARD
BERGELMIR UND ANGRBODA
DAS DRACHEN EI
DIE ERSCHAFFUNG DER MENSCHEN
ANGRBODA UND LOKI
ODIN BEI NIDH
Ö
GGR
ODIN BEI DEN NORNEN
ODIN BEI MIMIR
WALHALLA
THOR BEI DEN BAUERSLEUTEN
KVASIR UND DER DICHTERMET
DAS ALTE RIESENP
ä
RCHEN
SUTTUNG
ODIN UND DER DICHTERMET
BALDUR
DER KAMPF MIT HRUNGNIR
SIFS HAAR
LOKI BEI DEN ZWERGEN
LOKI BEI GEIRR
Ö
D
LOKIS KINDER
THOR BEI GEIRR
Ö
D
THORS HAMMER WIRD GESTOHLEN
BALDURS TOD
LOKI WIRD GEFANGEN
DER FIMBULWINTER
DAS ENDE DER WELTEN - RAGNAR
Ö
K
DIE NEUE WELT
In einer längst vergangenen Zeit, als es noch keine Welten gab, war noch gar nichts da. Es gab weder Land noch Licht, weder Götter noch Zwerge und auch keine Menschen. Es war eine Zeit, die schon so lange vergangen ist, dass es damals nicht einmal die Zeit gab.
In dieser Zeit vor der Zeit war noch nichts da. Alles war dunkel. Da begann es an einer Stelle in dieser Finsternis ein wenig warm zu werden. Wenn es einst Menschen gegeben hätte, dann hätten sie in dieser Dunkelheit gespürt, dass es Gegenden gab, die wärmer waren und solche, die weniger warm waren. Doch es gab damals noch keine Menschen. Und als es an einer Stelle in diesem Nichts der Urzeit langsam wärmer wurde, wurde es an einer anderen Stelle dafür kälter. Und je wärmer diese eine Gegend wurde, desto kälter wurde die andere.
Da es damals niemanden gab, der dies alles hätte fühlen oder sehen können, sollte heute niemand davon etwas wissen. Und dennoch wussten später einige wenige Wesen, was sich zutrug am Anbeginn der Zeit. Sie wussten es, weil sie weit in die Vergangenheit zurückblicken konnten. Sie erinnerten sich zunächst an die Zeit, als sie noch ganz jung waren. Sie erinnerten sich weiter auch an die Stunde, in der sie geboren wurden und sie konnten sogar in Zeiten zurückschauen, die lange vor dem Tag lagen, an dem sie geboren wurden.
Die Völva war eine solche Frau, die bis in die Zeiten vor ihrer Zeit blicken konnte. Und sie erzählte gerne darüber, wenn man sie danach fragte. Man fand sie an Vollmondnächten auf ihrem Hügel vor ihrem Lagerfeuer sitzend und jeder, der etwas über die alten Zeiten wissen wollte, konnte sie dort gerne aufsuchen und ihr Fragen stellen. Einige wollten von ihr erfahren, wie die Welt entstanden war. Viele wollten wissen, was seither geschah. Aber andere wollten erfahren, was in Zukunft geschähe und ob die Welt einmal untergehen würde. Sogar darüber konnte die Völva Auskunft geben, denn ihr Blick reichte auf der einen Seite bis in die dunkle Vorzeit zurück, auf der anderen Seite aber reichte er bis in die fernste Zukunft.
Sie war eine Seherin.
Vom Anfang der Welten erzählte die Völva: Als sich in dem dunklen Nichts etwas Warmes abgesondert hatte, da wurde es woanders kühler. Und da das Warme immer wärmer wurde, wuchs auch das Kalte auf der anderen Seite. So ging es fort und bald entstand auf der einen Seite der Welt das Feurige und auf der anderen Seite das Eisige. Dazwischen war das Nichts mit seinem endlos tiefen, gähnenden Abgrund: Ginnungagap.
Die heiße Seite war so glühend geworden, dass sie Feuerfunken versprühte. Die eisige Seite war so kalt und rau geworden, dass von den Eiswinden feine, spitzige Eiskristalle in die übrige Welt hinausgetragen wurden.
So kam es, dass sich Feuerfunken und Eiskristalle über dem Abgrund zwischen der Feuerwelt und der Eiswelt begegneten. Dabei schmolzen die Eiskristalle und fielen als Wassertropfen herab. Doch dieses Wasser, aus Feuer und Eis geboren, war ein ganz besonderes Wasser: Es trug Lebenskräfte in sich und so sammelte es sich nicht einfach in einem See, sondern es bildeten sich aus den herabregnenden Tropfen am wärmeren Rande der eisigen Welt, zwei Wesen: Das eine Wesen war der Riese Ymir, das andere die Kuh Audhumbla. Während sich der Riese Ymir von Audhumbla’s nahrhafter Milch ernährte und dadurch immer riesenhafter wurde, ernährte sich die Kuh von den kristallenen Salzsteinen, die am Rande der Eiswelt aus dem frostigen Untergrund ragten. Und während die Kuh unentwegt an ihrem Salzstein leckte, befreite sie mit ihrer rauen Zunge einen blonden Haarschopf, der dort im Salz eingeschlossen war. Bald schon hatte sie einen ganzen Kopf frei geleckt. Und wieder eine Weile später war ein ganzer Körper vom Salzstein befreit: Es war ein junger Mann, der im Salz gefangen gewesen und nun befreit worden war. Er war schön und kräftig geartet und sein Name war Bur.
So lebten jetzt am Rande der neuen, eisigen Welt drei Wesen: der Riese Ymir, die Kuh Audhumbla und ein Mann namens Bur.
Manchmal schien es, dass auch auf der feurigen Seite Wesen entstanden waren. Doch das Feuer dort war so heiß, dass niemand es gewagt hätte, hinüber zu gehen, um nachzuschauen. Vielleicht sahen manche Flammen aus der Ferne wie Feuergeister aus, oder die sprühenden Funken bildeten bewegte Formen, die wie fliegende Drachen auszusehen schienen. Ob und wann genau auf der feurigen Seite auch Wesen entstanden waren, konnte selbst die Völva lange nicht sehen. Aber schließlich wusste sie, dass es irgendwann einmal doch dazu gekommen war. Und als sie so weit war, sah sie im Feuerland einen mächtigen, herzlosen Fürsten, der ein flammendes Feuerschwert hielt und dessen Name Surt war.
Während die Kuh noch dabei war, Bur aus dem Salzgestein zu lecken, bekam Ymir viele Kinder, die aus seinen riesigen Achselhöhlen schlüpften. Auch sie ernährten sich von Audhumbla’s Milch und wuchsen bald zu richtigen Riesen heran. Sie gruben sich Höhlen in die mächtigen Eisberge und besiedelten im Laufe der Zeit die gesamte eisige Welt. Ihre Heimat sollte später Jötunheim genannt werden.
Die eisige Welt hieß von nun an Niflheim. Die feurige Welt ward Muspelheim genannt. Den Abgrund zwischen beiden Welten nannte die Völva Ginnungagap, die gähnende Schlucht.
So mancher, der der Völva in der Vollmondnacht gelauscht hatte, wunderte sich, dass es vor den Göttern bereits andere Wesen gegeben hatte. Doch sie wusste zu erzählen, wie und wann die Götter in die Welt gekommen waren:
Bur machte sich, nachdem er aus dem Salzgestein befreit worden war, auf den Weg, die neue Welt zu erkunden. Ganz Niflheim war kalt und eisig und nur in den Gegenden, die näher an der Feuerwelt Muspelheim lagen, war das Klima etwas milder. Bur gefiel es in den milderen Landstrichen besser als in den weiter entfernten Eiswüsten. Dort in der Ferne hatten sich die Nachkommen Ymirs Höhlen ins Eis gegraben, in denen sie hausten. Ymir selbst wohnte allein, ganz tief im frostigsten Berg von Niflheim. Da aber Bur nicht gerne allein bleiben wollte, machte er sich schließlich auf den Weg, um bei anderen Wesen Gesellschaft zu finden. Er verließ notgedrungen die milde Gegend und suchte in der frostigen Welt nach den Riesen.
Bald schon hatte er die ersten Wohnstätten der Eisriesen gefunden, und als er an den Eingang der ersten Höhle herantrat, öffnete eine junge Riesin das eisige Tor, das den Höhleneingang verschlossen hatte. Kaum hatten sich die beiden erblickt, da waren sie schon ineinander verliebt und freuten sich sehr übereinander.
Da aber Eisriesen nicht gerne mit Fremden zusammenkommen und viele lieber unter ihresgleichen bleiben wollten, gönnten die älteren Eisriesen der jungen Riesin Bur nicht als Mann. Sie packten ihn, steckten ihn in eine finstere Eishöhle und hielten ihn dort gefangen. Die junge Riesin aber, Bestla war ihr Name, musste zur Strafe die große Eishalle putzen, denn es sollte alsbald eine Feier stattfinden und ein Festmahl abgehalten werden: Bur sollte geschlachtet, gebraten und als Hauptspeise bei einem großen Gelage von den Riesen aufgefressen werden.
Bestla tat wir ihr befohlen und richtete die Eishalle zum großen Fest.
Weinend wischte sie den eisigen Boden, stellte Tische und Bänke auf und dabei fielen pausenlos dicke Tränen herab, die sie in ihrem unendlichen Leid vergoss. Es war so kalt, dass die Tränen, noch bevor sie den Boden berührten, zu kleinen Eistropfen gefroren. Dort unten lagen sie nun wie kleine, funkelnde Glasperlen und bedeckten bald den ganzen Boden der Festhalle.
Vor der Halle tranken und sangen die übrigen Riesen ausgelassen voller Vorfreude auf das Schlachtfest und in dem lauten Treiben fiel es niemandem auf, dass sich Bestla nach getaner Arbeit heimlich weggeschlichen hatte. Sie suchte ihren Bruder Mimir auf, in der Hoffnung, er würde ihr behilflich sein, denn sie wollte Bur aus dem Gefängnis herausholen. Mimir war bereit, seiner Schwester zu helfen und mit vereinten Kräften gelang es ihnen, den Eisblock, der den Höhleneingang verschloss, beiseite zu rollen und Bur zu befreien. Die Freude war übergroß, als sie sich endlich wieder in den Armen lagen. Doch verloren sie damit nicht viel Zeit und flohen, so schnell sie konnten. Keiner der Riesen hatte die Flucht bemerkt.
Mimir hatte Bestla und Bur das erste Wegstück auf ihrer Flucht begleitet, bevor er umkehrte, um alle Spuren zu verwischen. Er wusste, wohin sie fliehen wollten.
Als die Riesen die leere Gefängnishöhle entdeckten, donnerten sie wütend mit ihren mächtigen Füßen auf die Erde. Sofort wurde Mimir herbeigerufen und nach dem Verbleib seiner Schwester gefragt, da auch sie nirgends zu finden war. Da erfand Mimir eine List: er erzählte, dass er gesehen habe, dass beide zusammen geflohen seien und dass er auch wisse, wohin. Und weil er seiner Schwester helfen wollte, zeigte er den übrigen Riesen nicht die richtige, sondern eine falsche Richtung an. Sofort stampften alle Riesen wütend los und nahmen den falschen Weg, der sie nun stets weiter von Bur und Bestla wegführte. Während die Riesen immer tiefer in die eisigen Gebiete Niflheims gerieten, waren Bur und Bestla unbehelligt in der milderen Gegend Niflheims angekommen.
Die Riesen spürten dank Mimirs List die beiden nicht auf und kehrten nach langer, vergeblicher Suche ebenso verärgert wie enttäuscht zu ihren Höhlen zurück.
Einige Zeit später, als sich die ganze Aufregung gelegt hatte, machte sich auch Mimir auf, und folgte heimlich dem richtigen Weg. Er fand die beiden jedoch nicht, denn Bur und Bestla waren weitergegangen und hatten sich auf einer gut versteckt gelegenen Hochebene niedergelassen und lebten dort glücklich und zufrieden.
Mimir entdeckte aber einen besonderen Brunnen, dessen Wasser Zauberkräfte besaß. Dort ließ er sich nieder.
Bur und Bestla blieben nicht lange allein, denn sie bekamen zusammen nacheinander drei Kinder: Odin, Vil und Ve. Diese drei Söhne waren die ersten Götter der Neuen Welt.
Odin war der Erstgeborene und wurde somit der oberste Gott. Er sollte später einmal seinen Onkel Mimir bei dessen Zauberbrunnen aufsuchen.
Zwischen dem Feuerland Muspellheim und dem Frostgebirge Niflheim klaffte immer noch der unendlich tiefe Abgrund Ginnungagap.
Beim Zauberbrunnen hatte der Riese Mimir seine neue Heimat gefunden und auf der Hochebene lebten Bur und Bestla noch immer glücklich zusammen.
Es war inzwischen überall wärmer geworden, nur ganz tief in Niflheim, am anderen, kältesten Ende des Frostgebirges, war es noch so frostig wie in den ersten Tagen. Dort hauste Ymir, der sich dorthin zurückgezogen hatte. Seine Nachkommen, die Reifriesen, hatten sich inzwischen weiter vermehrt und bewohnten den mittleren Teil Niflheims. Dieser Landstrich hieß Jötunheim. Die Reifriesen hatten zwar nicht vergessen, was Bur, Bestla und Mimir ihnen angetan hatten, doch sie hatten nach langer, erfolgloser Suche zunächst einmal deren Verfolgung aufgegeben.
Odin und seine Brüder waren inzwischen dabei, sich am Rande Niflheims ein großes Schloss zu bauen. Aus Eisblöcken schnitten sie Wände und Säulen und das Sägen und Klopfen hallte in den Bergen ganz Niflheims wider. Auch die Reifriesen in Jötunheim hörten das weit entfernte Schaffen der drei Götter. Das weckte ihre Neugierde.
Also wollten sie nachsehen, woher denn diese seltsamen Geräusche kamen und wer sie verursachte. Vielleicht stammten sie von Mimir, Bestla und Bur, die sie einst vergeblich verfolgt hatten. Einige besonders neugierige Reifriesen machten sich nun auf den Weg und folgten dem nicht enden wollenden Klopfen in der Ferne.
Die schweren Tritte der heraneilenden Riesen erschütterte die ganze Gegend so sehr, dass die Säulen des prächtigen Schlosses zu wanken begannen.
Geschwind eilten die drei Asengötter ins Freie und schon standen sie den mächtigen Riesen gegenüber. Ein Kampf schien aussichtslos angesichts der übermächtigen Riesengestalten.
Doch Odin wuchs über sich hinaus, bezwang seine Angst und stürmte mutig und kampfeslustig auf den Anführer der Eisriesen zu. Der war zu langsam, um auszuweichen, und so traf der erste Donner-Fausthieb, den Odin austeilte, den vor Schmerz brüllenden Riesen am rechten Bein. Zur Gegenwehr holte der Riese tief Luft, blähte seine Backen und blies einen gewaltigen Schneesturm über die drei Brüder. Die anderen Riesen taten es ihm gleich und schon brauste ein Blizzard übers Land, schlimmer als es die Neue Welt je erlebt hatte.
Auch Ymir war das Poltern und Stürmen in seinem abgeschiedenen, fernen Berg nicht entgangen und er machte sich auf, seine Nachkommen im Kampf zu unterstützen.
Obwohl man im Schneegestöber die Hände nicht mehr vor Augen sehen konnte, schafften es die jungen Götter, auf einen nahen, steilen Berg zu klettern. Dort oben erreichten sie sicher einen Felsvorsprung und standen nun Ymir Auge in Auge gegenüber.
Als der Riese sie erblickt hatte, holte er wütend aus, um sie in die Tiefe zu schleudern. Doch Odin brach rasch einen langen, spitzen Eiszapfen, holte ebenfalls aus und schleuderte die eisige Waffe auf Ymirs Brust. Da durchdrang der Eiszapfen den frostharten Panzer des Riesen und durchbohrte dessen Herz. Ein gigantischer Strom eisig blauen Blutes ergoss sich aus der Wunde und alles Land wurde überflutet. Die Flut war so mächtig, dass die meisten Eisriesen darin ertranken. Nur wenige konnten entkommen. Ymir selbst fuhr donnernd zu Boden und stürzte in die tiefe Schlucht Ginnungagap. Er ragte dort tot aus seinem eigenen Blut, das um ihn herum ein Meer schuf, und sein Leichnam bildete eine neue Insel zwischen Niflheim und Muspelheim.
Die drei Asen hatten Glück und blieben von der Flut verschont, denn der neue Meeresspiegel reichte nicht bis zu ihrem Felsvorsprung hinauf. Von dort oben hatten sie zugeschaut, wie die blauen Wogen die gähnende Schlucht Ginnungagap und viele Täler Niflheims füllten.
Aus Ymirs Blut war, wo früher der Abgrund Ginnungagap gähnte, ein Meer entstanden, in dessen Mitte Ymirs Leib eine große Insel bildete.
Die drei Asen kletterten von dem Felsen herab und setzten auf einer Eisscholle zur neuen Insel über.
Dort entnahmen sie Ymirs Leichnam zunächst die Knochen und bildeten daraus ein neues Gebirge. Aus seinen Zähnen schufen sie Fels und Stein. Aus den Haaren und den Augenbrauen formten sie Gräser und Büsche, die sie über die neue Insel verteilten. Aus Ymirs Schädelknochen formten sie eine riesige Schale und stülpten diese umgekehrt als Himmelsgewölbe über die Neue Welt. Die Funken, die aus dem feurigen Muspelheim herüberflogen, nahmen sie und setzten sie als Sterne ans Firmament. Auch Sonne und Mond fanden dort ihren Platz.
Nun gab es die Nacht mit silbern funkelnden Sternen und den Tag mit der goldenen Sonne. Sie schenkte der Neuen Welt Licht, Wärme und Lebenskraft. Aus Ymirs Gehirn schufen die Götter die Wolken. Ihr Kommen und Gehen ist wie das der Gedanken.
Damit aber kein fremdes Wesen künftig den Frieden der Neuen Welt stören sollte, stellten die drei Götter an allen vier Enden der Welt Wächter auf. Es waren die vier Zwerge: Norder, Süder, Oster und Wester.
Da das Gebirge und dessen unterirdischen Höhlen bewohnt sein sollten, erschufen die drei Götter noch weitere Wesen: die Dunkelalben. Sie sollten tief in der Erde und im Fels nach Edelsteinen und Gold suchen und diese zu schönsten Schmuckstücken verarbeiten.
Aber nicht nur die Welten in der Tiefe sollten bewohnt sein, auch die Gegenden in der Höhe und das Reich der Wolken. Die Lichtalben und Elfen wurden erschaffen und erhielten dort oben ihre Heimat.
In der Mitte der Neuen Welt pflanzten die Götter schließlich eine junge Esche: Yggdrasil. Diese wuchs so rasch in die Höhe, dass sich die drei Brüder schon bald unter ihren schattigen Zweigen niedersetzen und ausruhen konnten. Ihre Wurzeln reichten bis in die tiefsten Tiefen und ihre Krone überragte die Wolkenheimat der Elben.
Eine der Wurzeln endete in einer finsteren Höhle, weit unterhalb des Zwergenreichs der Dunkelalben. Eine zweite Wurzel streckte sich bis nach Jötunheim zu Mimirs Quelle. Und eine dritte Wurzel ragte weit in die Höhe, bis hinauf in die Wolken. Dort oben wollten sich die drei Götter ihre eigene neue Heimat erschaffen. Sie nannten sie Asgard und in deren Mitte legten sie das Idafeld. Dort sollte ihr neues Schloss entstehen, weit entfernt von den Reifriesen und sicher vor allen Gefahren. Als Brücke zwischen der Erdenwelt, die ab jetzt Midgard hieß, und der Götterwelt Asgard, stellten sie einen leuchtenden Regenbogen: Bifröst.
Die Welt bestand nun aus dem unveränderten Muspelheim, dem alten Niflheim, Jötunheim und der neuen Heimat für Zwerge und Elben: Midgard. Darüber war die neue Heimat der Götter: Asgard. Die Regenbogenbrücke Bifröst verband Midgard und Asgard.
So entstand inmitten der Alten Welt aus Ymirs Leib eine neue Welt.
Bergelmir war ein Reifriese, der zusammen mit seiner Frau der großen Flut entkommen war. Sie konnten sich gemeinsam gerade noch rechtzeitig auf eine Hochebene Niflheims retten. Die meisten anderen Riesen waren in Ymirs Blut umgekommen. Dies konnten die beiden Riesen den drei Göttern nicht verzeihen und schworen auf Rache.
Sie hatten eine Tochter, die sie Angrboda nannten. Angrboda sah eher einer Hexe ähnlich als einer Riesin. Sie hatte schon als Kind ein altes, faltiges Gesicht. Von Geburt an besaß sie Zauberkräfte.
Während Angrboda heranwuchs, lauschte sie gespannt ihrem Vater, der viele Geschichten zu erzählen wusste: Von den alten Zeiten, als es noch unzählige Reifriesen gegeben hatte und von Ymir, dem ersten Wesen auf der Welt. So erfuhr Angrboda auch von Bur und Bestla und von Mimir, die allesamt die Reifriesen betrogen und verraten hatten. Sie erfuhr ebenso, dass Odin, Vil und Ve die meisten Riesen damals getötet hatten.
Je öfter Angrboda diese Erzählungen hörte, desto mehr wuchs in ihr der Hass auf die Götter und deren Freunde und sie schwor, sich später an ihnen bitter zu rächen.
Wenn sie nicht gerade den Geschichten Bergelmirs zuhörte, spielte Angrboda gerne im Freien vor der Höhle, obwohl es da draußen sehr kalt war. Nur zwei Monate gab es, an denen der Schnee schmolz und ein wenig Gras und Flechten hervorkamen.
Angrboda wollte viel lieber in einer linderen Gegend leben, dort wo es Tiere gab und Blumen blühten. Manchmal zauberte sie in ihren geschlossenen, warmen Händen etwas herbei, das aussah wie ein kleines schwarzes Vogelei. Die Schale des Eis war besonders weich und man konnte sie, wenn auch nur sehr behutsam, ein wenig eindrücken.
Jedes Mal, wenn es Angrboda gelungen war, ein solches Ei zu zaubern, huschte ein Lächeln über ihr faltiges Gesicht. Sieben Tage lang behütete sie dann ihren kleinen, schwarzen Schatz und hielt ihn warm. Am siebten Tag schließlich, wenn alles gut gegangen war, schlüpfte aus dem Ei eine kleine, schwarze Schlange. Und jedes Mal schien es Angrboda, als hätte sie wieder ein kleines Kind zur Welt gebracht, auch wenn es nur ein lustig züngelndes Schlangenkind war.
Und sie liebte ihre kleinen Schlangen und war umso trauriger, wenn viele ihrer Kleinen in der langen, kalten Jahreszeit nach und nach erfroren.
Angrboda nahm sich daher fest vor, später in die wärmeren Gegenden auszuwandern. Dort würden ihre Schlangenkinder nicht mehr erfrieren und sie wäre in der Nähe der drei Asen Götter und könnte sich einfacher an ihnen rächen.
Auch Angrbodas Vater wollte das Unrecht, das die drei Götter an Ymir und seinen Nachkommen begangen hatten, rächen. Er beschloss, sich auf den weiten Weg zu der Insel zu machen, die aus Ymirs Leib gebildet worden war: nach Midgard.
Angrboda wollte ihren Vater zu gerne dabei begleiten und bat ihn, mitkommen zu dürfen. Bergelmir schien das keine gute Idee zu sein, doch schließlich gab er dem Drängen seiner geliebten Tochter nach, und so zogen sie beide los, dorthin, wo einst Ymir durch Odin mit einem großen Eiszapfen erstochen worden war.
Überglücklich packte Angrboda ihre Sachen und nahm auch ihr jüngstes Ei mit, das sie unterwegs in ihrem Fellumhang warmhielt. Ihr nächstes Schlangenkind sollte in einer wärmeren, sonnigeren Heimat schlüpfen.
Wie erstaunt waren die beiden, als sie nach einigen Tagen vom Ufer Jötunheims aus über das blaue Meer blickten und das blühende, in der Sonne strahlende Midgard sahen: Die Insel, die aus ihrem Urahnen Ymir geschaffen worden war.
Damit die beiden nach Midgard hinübergelangen konnten, ließ sich Bergelmir etwas einfallen: Er holte tief Luft, blies seinen frostigen Atem über die Meeresoberfläche und sogleich gefror dort das Meer zu einer langen und festen Eisscholle und Bergelmir samt seiner Tochter konnten über diese feste Eisbrücke unbemerkt und sicher nach Midgard gelangen.
In der Mitte der Insel saßen gerade Odin, Vil und Ve im Schatten der Esche Yggdrasil und ruhten sich etwas aus. Die Sonne strahlte warm und ein milder Wind durchstrich die Baumkrone.
Doch mit Bergelmirs und Angrbodas Ankunft schien das Wetter umzuschlagen: Deutlich spürbar breitete sich eine ungewohnte Kälte über den blühenden Wiesen Midgards aus.
Die drei Asen spürten den kalten Lufthauch, der bald zu einem Wind und dann zu einem Sturm anschwoll und das ganze Land mit Kälte und Reif zu überziehen drohte.