Eddas Geheimnis - Elinor Bicks - E-Book

Eddas Geheimnis E-Book

Elinor Bicks

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Beschreibung

Das Leben der Edda von Karben sitzt wie ein maßgeschneidertes Business-Kostüm. Als Leiterin eines großen Marktforschungs-Instituts ist sie die heimliche Regentin der Wirtschaftsmetropole Frankfurt. Betti und Lula, zwei alte Schulfreundinnen, platzen - nach Jahren! - in ihr Leben wie eine Puddingbombe. Und entdecken, was Edda bislang geschickt zu verheimlichen wusste: Dass Edda nämlich eine dunkle Seite hat ... Die "Shades of Grey"-artige Wahrheit kommt ans Licht. Am Ende des Tunnels wartet jedoch eine wunderbare Freundschaft - und auch eine neue Liebe ist in Sicht.

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Elinor BicksEddas GeheimnisRoman

Opernplatz

Edda von Karben wünschte, sie wäre ein Eiswürfel und könnte in ihrem Getränk verschwinden. Eine andere Fluchtmöglichkeit gab es nicht. Hinter ihr versperrte die Hauswand den Weg, rechts und links standen Stühle in dichter Reihe, besetzt mit Menschen, deren Beine fest in Flanelldecken gewickelt waren. Hier war kein Entkommen. Von vorn rollte die rote Walze unaufhaltsam auf sie zu, nur beachtet von den diskreten Blicken der Sitznachbarn, die wie Edda an diesem Samstagvormittag vor dem Operncafé saßen, um die ungewöhnlich warme Novembersonne zu genießen. Auch Edda gab sich unbeteiligt, obwohl ihr längst klar war, was da auf sie zurollte. Denn gerade hatte die Walze sich zu erkennen gegeben, indem sie diesen Namen gerufen hatte. In einer Lautstärke, die die plappernden Stare in den Platanen für einen Moment verstummen ließ. »Ede!!!!« Niemand hatte sie so genannt seit damals. Und nicht viele hatten sie so genannt. Edda schmeckte Galle in der Kehle. Die Walze stand nun vor ihr, atemlos, und nahm ihr die Sonne.

»Ede?« Wieder dieser Name, obwohl weich ausgesprochen, traf er sie nadelspitz.

»Kennst du mich noch?«

Ungefähr die Hälfte von dir, dachte Edda und ließ den Blick an ihrem Gegenüber hinauf wandern. Der Mantel war aus teurer gekämmter Wolle und umspielte einen Körper von erheblichem Ausmaß, wie Edda vermutete. Ein gemusterter Seidenschal bildete den Übergang vom Mantel zum Kinn, auf dem ein rundgepolstertes Gesicht ruhte. Genaugenommen, so überlegte Edda, war das Adipöse schon in ihren Kinderzügen angelegt gewesen. Zu Kinderzeiten noch ein etwas verlorenes Punkt, Punkt, Komma, Strich, besaß das Gesicht nun eine lebendige Fülle und wirkte geradezu markant. Die Augenbrauen waren zu ebenmäßigen Bögen gezupft. Die darunterliegenden braunen Augen tanzten hin und her, als würden sie Edda abtasten.

Edda schüttelte langsam den Kopf. »Bedaure«, sagte sie, nahm ihr Glas und leerte es mitsamt Eiswürfeln. Sie schob einen Fünf-Euro-Schein unter das leere Glas und erhob sich von ihrem Stuhl. Stehend überragte Edda ihr Gegenüber um gut eine Kopflänge. Edda setzte den Blick auf, mit dem sie gewöhnlich ihre Mitarbeiter aus dem Weg fegte. Vergeblich. Ihr Gegenüber blieb unbeweglich wie ein Hydrant. Edda versuchte, sich vorbei zu drängen, die andere trat ihr mit einem geschickten Manöver in den Weg, wobei ein monströser Shopper behilflich war. Dabei fiel das Glas mit lautem Klirren vom Tisch. Wer bisher das merkwürdige Schauspiel noch nicht verfolgt hatte, war jetzt mit voller Aufmerksamkeit dabei.

»Betti!«, entfuhr es Edda.

Das Gesicht gegenüber hellte sich auf. »Endlich«, rief sie und drückte ihren Arm. »Ich dachte schon, dein Groschen fällt nie.«

Edda entzog sich, indem sie einen demonstrativen Blick auf ihre Uhr warf. »Das war wirklich nett, aber ich muss jetzt los.« Dazu setzte Edda eine gehetzte Miene auf.

Betti langte in ihren Shopper, zog ein Portemonnaie heraus und entnahm ihm eine Karte. »Meine Handynummer, meine Festnetznummer, die Nummer aus der Galerie und meine Emailadresse«, sagte sie und drückte sie Edda in die Hand.

Von der Seite näherte sich der Kellner, um die Glasscherben aufzufegen. Betti musste beiseitetreten, und Edda nutzte die Lücke zur Flucht. »Ich ruf dich an«, rief sie über die Schulter und wedelte mit der Karte.

»Unbedingt«, rief Betti ihr nach, als Edda mit geblähtem Mantel in die Fressgass entschwand. Sobald sie um die Ecke war, warf sie eine Handvoll winziger Papierfetzen in den nächstgelegenen Papierkorb.

City

Betti war nie besonders sportlich gewesen. Als Kind war ihr Lieblingssport, in der Schule den Turnbeutel zu vergessen. Oder sich beim Völkerball als erste abschießen zu lassen, um den Rest der Stunde auf der Bank zu verbringen. Inzwischen trug sie die Quittung in Form von etlichen Kilo Übergewicht. In den letzten Jahren hatte sich ihre Figur gerade um die Hüften herum explosionsartig ausgedehnt. Jedes Mal, wenn sie die Hosen runterließ, wurde sie von einer neuen Delle begrüßt. Eine Weile hatte Betti schlechte Gene dafür verantwortlich gemacht, wenn sie auch in ihrem Familienstammbaum mehrere Generationen weit zurückgehen musste, um auf fettleibige Vorfahren zu stoßen, die sie für ihr Aussehen verantwortlich machen konnte.

Bei der Kleiderfrage stand das Thema Verhüllen im Vordergrund. Weite Schnitte, hochwertige Stoffe, gelegentlich ein Farbakzent. Der neue Trapezmantel von Betty Barclay war möglicherweise etwas zu viel des Guten. Unter Eddas Blick hatte sie sich darin plötzlich nicht mehr so wohl gefühlt wie noch kurz zuvor beim Kauf. Überhaupt Eddas Blick. Mit der Akribie eines Nacktscanners hatte sie sie vermessen, Pfund um Pfund, bis Betti plötzlich sich selbst mit den Augen der kritischen Freundin sah. In diesem Moment war es beschlossen. Die Burka aus Speck musste weg.

Zahlendes Mitglied im Fitness-Club war sie bereits. Allerdings als Exklusiv-Kundin für den Wellness- und Spabereich. Die Schwelle zum Fitnessbereich hatte sie bisher noch nicht überschritten. Auch keiner der elastischen, muskelbepackten Personal Trainer hatte bisher das Vergnügen, ihr ein Personal Programme auf den gewichtigen Leib schneidern zu dürfen. Ihre Fitness war Wellness, mit den Spezialgebieten Römisch-Irisches Dampfbad, Shiatsu-Massage, Full-Body und Face-Kosmetik. Doch jetzt war es Zeit, den Aktivitätsradius auszuweiten. Sie hatte sich zunächst ein Trainingsprogramm von täglich fünfzehn Minuten Ausdauer auf dem Cross-Trainer und dreißig Minuten Kraft-Ausdauer an den Maschinen verordnet. Mindestens zehn Pfund mussten runter, bevor sie überhaupt einem dieser trainierten Adonisse vor die Augen treten konnte.

Hochmotiviert schob Betti ihre Mitgliedskarte über den Tresen. Hinter der Empfangskraft, die ihr kaugummikauend den Spindschlüssel zuschob, hing das Plakat mit der Überschrift: Look better naked. Der Spruch saß Betti sonst wie ein Stachel im Fleisch, heute war es ihr Ansporn, und nur wenige Minuten später betrat sie den Trainingsraum, wild entschlossen, den Kampf mit ihrem schlechten genetischen Material aufzunehmen.

Die parfümierte Raumluft musste ein aktivierendes Aroma enthalten, denn nach wenigen Schritten spürte sie eine euphorische Unruhe und wippte leicht beim Gehen, als sie auf der Suche nach dem geeigneten Trainingsgerät die Reihen abschritt. Hier wurde jede Sportart imitiert, die man zu Wasser, zu Lande oder in der Luft praktizieren konnte: Radfahren, Klettern, Dauerlauf, Joggen, Seilspringen, Rudern. Die Trainierenden kämpften gegen die künstlichen Widerstände, als ginge es um die Aufnahme in das Heer des Spartakus. Ziel war das Erreichen des körperlichen Alpha-Status: Ausdauer, gepaart mit eleganter Muskelmasse.

Bereits beim Anblick der Trainierenden geriet Betti außer Atem. Erst recht, als sie in der Ecke ein bekanntes Gesicht erblickte. Ausgerechnet Denise, die Körperikone, dank eisenharter Disziplin eine italienische Größe 36. Sie trabte auf einem Gerät, das aussah wie das Band einer Supermarktkasse, nur dass es sich schneller bewegte. Ihre Nike Air bewegten sich leichtfüßig über dem Laufband, und ihre Haut schloss sich fest um die definierten Waden. Betti kletterte auf einen Crosstrainer außer Sichtweite. Bevor sie sich von Denise begutachten ließ, mussten mindestens zwanzig Pfund runter. Sie nahm einen tiefen Zug aus ihrer Trinkflasche und verbrannte sich dabei die Lippen. Statt eines Fitness-Getränks hatte sie sich im Coffeeshop einen milchgeschäumten Macchiato in die Trinkflasche einfüllen lassen. Damit ihr von der ungewohnten Anstrengung nicht schummrig wurde.

Betti drückte die Tasten des Crosstrainers, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, wie das Biest funktionierte. Nachdem das Display wiederholt beharrte: »Continue Training«, unterließ sie eine Programmierung und trat einfach drauf los. Schon nach kurzer Zeit hatte sie in den wunderbar weich federnden Pedalen ihren Rhythmus gefunden und schwebte dahin. Eigentlich war es ganz einfach, seinen Pfunden davon zu traben.

»Was machst du denn hier?« Eine Stimme zum Glas schneiden. Betti erkannte sie sofort. Im rosa Joggingsuit stand Denise vor ihr. Ein Körper wie aus dem SportScheck, dachte Betti, während sie weiter strampelte. Ihr Gesicht allerdings, jetzt aus der Nähe betrachtet, entbehrte das modellierende Unterhaut-Fettgewebe und war von scharfen Furchen durchzogen. Lederstrumpf, dachte Betti und genoss eine Viertelsekunde lang die gehässige Befriedigung. Zucht oder Mast, das war die Frage. Oder um es mit Coco Chanel auszudrücken: Irgendwann muss eine Frau sich entscheiden – zwischen ihrem Gesicht und ihrem Arsch.

»Trainieren«, erwiderte Betti stolz und beschleunigte zur Demonstration ihrer Entschiedenheit das Tempo. Denise warf einen Blick auf das Display und präsentierte ihre frisch gebleachten Zahnkronen. »Mit Null Widerstand?«

Betti trat unbeeindruckt weiter.

»Das Beste für effektive Fettverbrennung.«

»Was du verbrennen musst, sind Kalorien«, sagte Denise und bediente ungefragt die Tasten an Bettis Display. Offensichtlich hatte sie ein Programm gewählt, das die Besteigung des Nanga Parbat imitierte, denn nach einem bestätigenden Piepen waren die Pedale des Crosstrainers wie festgefroren. Betti brachte sie keinen Zentimeter vorwärts. Auch nicht, als sie ihr nicht unerhebliches Gesamtgewicht auf ein Pedal legte.

»Jeden Tag zwanzig Minuten, und in sechs Wochen bist du deine Cappuccino-mit-Sahne-Hüften los. Garantiert.« Mit diesen Worten warf Denise ihr Handtuch aus Hochleistungsfaser über die Schulter und ging. »Bis gleich in der Sauna«, rief sie Betti zu, die einen großen Schluck Kaffee nahm. Sobald Denise außer Hörweite war, annullierte sie das Programm, und nach mehrmaligem Protest-Piepen gehorchte der Apparat. Betti fand schnell in den federnden Rhythmus von vorhin zurück. So konnte sie eine Viertelstunde gut durchhalten. Außerdem – war die Tatsache, dass ihr Körper bereits mit einem Schweißfilm überzogen war, nicht ein Zeichen für überhöhten Puls?

Als Betti wenig später die Sauna betrat, saßen dort nicht nur Denise, sondern auch Alex und Jacqueline, die anderen Organisatorinnen des Rotary Artclubs. Jacquelines Körper war von den Bemühungen im Gym ähnlich gestählt wie der von Denise, und Alex war von Natur aus gertenschlank. Für Betti bildeten sie eine lächerlich breite Lücke. Sie nahm Platz auf der Bank und behielt das Saunatuch fest um den Körper gewickelt.

Denise wischte mit der Hand über ihr künstlich gebräuntes Gesicht und schnippte den Schweiß auf den Boden. »Habt ihr schon gehört? Chloe, die Kleine der Sanders, wurde mit 2,0 Promille ins Krankenhaus eingeliefert.«

Alle außer Betti fielen in ein gedämpft murrendes Lachen, wie immer, wenn es um Nachwuchs ging, der nicht der eigene war. Nachdem sie gemeinsam die Baby- und Kleinkindphase durchgemacht hatten, wartete jetzt die Pubertät ihrer Zöglinge als neue Herausforderung. Ging es früher um vergleichsweise harmlose Themen wie Hochbegabtenförderung im Windelalter, chinesischer oder russischer Kindergartenzweig oder die Frage: Ritalin – ja oder nein, war jetzt Gefahr für Leib und Leben angezeigt. Die ersten außerfamiliären Erfahrungen wurden gemacht, vorzugsweise in Verbindung mit Sex, Drogen oder Alkohol. Unfälle mit irgendwelchen Bikes oder Boards waren an der Tagesordnung genauso wie Erschöpfungszustände und Zusammenbrüche in Folge von Drei-Tage-Partys. Diskret war auch schon der eine oder andere Schwangerschaftsabbruch vollzogen worden. Kaum ein Wochenende verging ohne einen Besuch beim Notarzt oder zumindest einen Anruf der Polizei, und jede von ihnen freute sich, wenn nicht die eigene Brut betroffen war.

Jacqueline schlug die Beine übereinander und faltete die Hände vor den Knien. »Ja, die Sanders. Immer nur antiautoritär und Walldorfschule. Man sieht ja, was das bringt.« Alex strich sich die schwarzen Strähnen aus der Stirn. »Aber Salem ist auch keine Garantie.« Wieder das schadenfroh gedämpfte Lachen und Austauschen von Blicken. Jede wusste, worum es ging. Der fünfzehnjährige Sohn der Bankiersfamilie Wallenberg war bei der Organisation illegaler Autorennen erwischt worden und vom Internat geflogen. Betti beglückwünschte sich erneut. Was die Erziehung ihrer Tochter betraf, hatten Michael und sie einen genialen Schachzug unternommen. Als Melanie ins unberechenbare Teeniealter kam, hatten sie ihren Herzenswunsch erfüllt und ihr ein Reitpferd geschenkt.

Es gab keine zuverlässigere Methode, ein Mädchen von der Straße fernzuhalten. Für Melanie war das behäbige braune Monstrum Mittelpunkt ihres Universums, und die Kleine war mehr mit Striegeln und Ausmisten beschäftigt als mit ihrer eigenen Körperpflege. Während ihre Klassenkameradinnen mit Schminke, Parfüm und Zigaretten experimentierten, umgab Melanie der Dunst von Pferdeschweiß und altem Leder. Das größte Problem, das Betti mit ihrer Tochter hatte, war, den Hufteer aus den teuren Picard-Reithosen zu entfernen. Und dafür war sie dankbar.

»Kinder in dem Alter machen einen mehr fertig als das Alter selbst«, sagte Jacqueline und betrachtete ihre perfekt gepflegten Füße. »Ich bin schon wieder reif für ein komplettes Make-over, inklusive Nägel.« Denise lachte und warf die feuchten, teuer blondierten Haarsträhnen in den Nacken. »Bloß nicht. Man muss sich ja fragen, verwendet dein Dr. Weyenfeldt Botox oder Beton.«

Jacqueline betastete ihre Augenbrauen, die unbeweglich in der Nähe des Haaransatzes klebten. »Dr. Weyenfeldt sagt, etwas mehr Botox über den Brauen öffnet den Blick.«

Denise durchforstete kritisch Jacquelines Gesicht. »Aber du hast keinen Millimeter Mimik mehr. Dein Gesicht ist eine unverrückbare Tatsache.« Sie kicherte.

»Um ein Lidlift kommst du mit Mitte vierzig sowieso nicht rum«, schaltete sich Alex ein.

»Besser ein Stirn- und Brauenlifting«, korrigierte Denise. »Viel effektiver. Ein Lidlift hat nur einen kurzen Effekt.« Es war einer der Vorträge, die Denise mit Leidenschaft hielt und stets mit dem Zusatz abschloss: sagt mein Doc. Betti schloss die Augen und ließ die Worte an sich vorbeiflattern. Sie hielt nichts von dieser Art Wiederherstellung der Jugend mit Nadel und Faden. Nicht nur, weil sie panische Angst vor Spritzen hatte, sondern auch, weil sie die Ergebnisse der künstlichen Aufbereitungsmaßnahmen, denen sich die anderen regelmäßig unterzogen, nicht überzeugten. Man konnte ein altes Gesicht nicht in ein junges verwandeln. Die gestrafften Lider und steifen Stirnpartien der Damen aus dem Rotary Artclub erschienen Betti oft wie Mahnmale mit der traurigen Aussage: Ich war auch mal jung. Natürlich sagte sie das nie laut, wenn sich die anderen Schnitte und Nähte präsentierten wie das Bundesverdienstkreuz und Tipps zu neuesten Methoden gaben wie risikofreie Aktien mit vielversprechender Rendite.

»Du bist eher der Kandidat für ein Low-Face-Necklift. Wegen der Merkelbäckchen.« Wieder die Stimme zum Glasschneiden. An der Stille merkte Betti, dass sie angesprochen war. Sie öffnete die Augen. Denise beugte sich zu ihr und nahm ihre Wange zwischen Daumen und Zeigefinger. »Aber erst, wenn du zwanzig Kilo runter hast. Sonst kannst du dich gleich nochmal unters Messer legen.« Sie hob das Gewebe zwischen ihren Fingern leicht an und ließ es dann los, so dass Betti deutlich den Zug der hängenden Wange spürte.

Jacqueline klatschte in die Hände. »Du machst endlich eine Diät? Ich unterstütze dich. Ich werde dein Coach. Ich mache dir ein Ernährungsprogramm, ein Sportprogramm …«

»Oder ne Lipo«, unterbrach Alex, die sich nun eine körnige Paste in die Füße massierte, um sie zu peelen. Betti fröstelte und zog das Handtuch fester um sich.

»Asthmaspray soll auch helfen.« Alle Köpfe drehten sich zu Denise.

»Zügelt den Appetit. Geheimtipp von Victoria.«

Die Rede war von der Beckham. Denise hatte ein Faible für Celebrities und nannte sie beim Vornamen wie beste Freunde.

Betti versuchte ein Ablenkungsmanöver. »Was ist mit den Dienstplänen der Hammelmeier-Ausstellung? Ich muss meine Termine mit Michael abstimmen.«

Alex ließ von ihren Füßen ab und starrte sie an, als habe sie soeben Fußpilz diagnostiziert.

»Du willst doch nicht allen Ernstes bei 90 Grad Hitze über Kunst sprechen!« Auch die anderen schüttelten die verschwitzten Köpfe. Durch das Fenster sahen sie, dass einer der Personal Trainer den Vorraum betrat. Sofort zogen alle außer Betti den mageren Bauch ein. Doch scheinbar wollte der Schöne in die Dampfsauna nebenan. Denise sprang auf und schlang ihr Handtuch doppelt um die Hüften, nur weil sie es konnte. Mit einem Stoß heißer Luft, der Betti beim Öffnen der Tür um die Ohren gehauen wurde, verließ sie die Sauna. Alex und Jacqueline ließen anstandshalber zehn Sekunden verstreichen, bevor sie ihr folgten. Betti bekam ein weiteres Paar heiße Ohren. Sobald sie draußen waren, entließ sie ihren Körper aus dem Klammergriff des Handtuches und legte sich der Länge nach hin, wobei die Sitzbank gewaltig knarrte. Im Liegen streifte ihr Blick durch den Raum und blieb an einem Werbeplakat des Saunaherstellers hängen. Die Headline lautete: »Time to Detox.«

Dornbusch

Als sie eine Stunde später nach Hause kam, hatte ihr Hunger eine Art Krisenstadium erreicht. Jacke und Tasche landeten im Flur, Toska, die wedelnd den Weg in die Küche versperrte, wurde mit dem Fuß beiseitegeschoben, und dann hielt Betti nichts mehr. Schon auf der Fahrt hatte sie von gebratenen Bananen phantasiert. Die Butter in der Pfanne konnte nicht schnell genug schmelzen. Sie schälte zwei Bananen und schnitt sie der Länge nach in dünne Scheiben. Neulich hatte sie in der Brigitte einen Artikel gelesen mit dem Titel: »Die Geheimnisse dünner Frauen«. Darin war zu lesen, dass dünne Frauen öfter eine Mahlzeit ausfallen lassen, weil sie einfach vergessen zu essen. Seitdem war Betti klar, dass sie dazu nie gehören würde. Eine Mahlzeit vergessen? Konnte ihr nicht passieren. Essen vergaß man nicht, genauso wenig wie man damit spielte. Wenn es um Lebensmittel ging, besaß Betti ein fotografisches Gedächtnis. Man konnte sie mitten in der Nacht aufwecken, und sie nannte präzise den Aufenthaltsort jeder noch so versteckten Süßigkeit, inklusive Angabe genauester Koordinaten: Raum, Schrank, Schublade, oben oder unten, hintere Ecke rechts oder links.

In der Regel entschärfte sie die Kalorienbomben eigenhändig, um familiären Kollateralschaden zu vermeiden. Schokoladenreste im Kühlschrank? Wurden von Betti aufgegriffen wie ein Betrunkener von der Ordnungspolizei. Keksreste vom letzten Weihnachtsfest? Kamen sofort in Untersuchungshaft. Eine angebrochene Tüte Weingummi in Melanies Zimmer? Wurde sofort in Sicherheitsverwahrung genommen und vernichtet wie unbeaufsichtigtes Gepäck am Flughafen.

»Bei mir gibt es nicht halb voll oder halb leer. Bei mir gibt’s nur ganz leer.« Einer von Bettis Running Gags, über den keine der körperhysterischen Rotary-Frauen lachen konnte. Zügelloses Snacken oder Naschen waren so verpönt wie das Komasaufen ihres pubertären Nachwuchses. Wenn man Lust auf Süßes hatte, lutschte man an einer gefrorenen Weintraube, übrigens ein Schlankheitstipp von Jennifer Aniston. Betti löffelte die Bratbananen samt Butter direkt aus der Pfanne. Einen Buttertropfen, den sie auf die Hand gekleckert hatte, massierte sie selbstvergessen in die Haut. Dabei fiel ihr auf, wie pummelig ihr Handrücken geworden war. Betti seufzte. Selbst absolute Nicht-Problemzonen ließen sie im Stich.

Halbwegs gesättigt und trotzdem nicht zufrieden streifte sie durchs Haus. Im Arbeitszimmer war sie kurz versucht, sich einen Anruf auf futura.com zu gönnen, doch wegen der hohen Oktoberrechnung hatte sie sich für diesen Monat striktes Hellseh-Verbot erteilt. Stattdessen überprüfte sie die Mailbox ihres Email-Accounts. Immer noch keine Nachricht von Ede. Dabei hatte sie sich ein Wiedersehen in den schillerndsten Farben ausgemalt. Wieder vereint nach fast dreißig Jahren. War das nicht eine Zeile im Abendblatt wert? Gut, über die dreißig Jahre müsste man noch reden, die klangen eigentlich zu obszön. Gut gehalten hatte sich Ede. Betti hatte sie sofort wiedererkannt. Das Knabenhafte von früher hatte sich in eine schlanke Silhouette verwandelt, vermutlich gehörte sie eben zu jenen Frauen, die das Essen hin und wieder einfach vergessen.

Betti öffnete die Schreibtischschublade und griff nach einer Packung Pistazien. Selbst das Blond war noch dasselbe, wenn auch ihr geübter Blick ihr verriet, dass nachgeholfen worden war. Strähnchen. Welche Frau über vierzig hat sie nicht? Betti lächelte leise und zerbiss eine Pistazie. Edes Gesichtszüge allerdings wirkten härter, als ihr Alter das rechtfertigte. Der Weg nach oben hatte Spuren hinterlassen. Magenfalten und ein entschlossenes Kinn zeugten von harten, unnachgiebig geführten Diskussionen. Dabei hatten Frauen wie Ede doch den Aufstieg schon als Geburtsrecht.

Schon früh war klar, dass sie eine Sonderedition Mensch war. In der siebten Klasse kam sie neu auf die Schule, von irgendwo aus Amerika. Groß, blond, sportlich. Das beliebteste Mädchen der Klasse. Schulsprecherin, die erste, die beim Sport in die Mannschaft gewählt und bei Parties zum Tanzen aufgefordert wurde. Jedes Mädchen in der Klasse wollte sie zur besten Freundin. Edes Wahl fiel auf Lula Schipp, Scheidungskind, das bei seinem Vater aufwuchs. Allein dies hätte damals für einen Skandal gereicht. Doch mehr noch: Der Vater war Künstler, zumindest sein Lebensstil entsprach dem, was man aus Fernsehserien kannte. Parties, bei denen weibliche Groupies den Balkon als Haustür benutzten, führten zum Skandal, den jedes durchschnittliche Wohnviertel brauchte.

Lulas Zuhause war ein Ort der freien Entfaltung, eine Art rechtsfreier Raum, in dem keine Regeln existierten. Essen, schlafen, spielen, Schokolade essen, Bier trinken, alles war erlaubt zu jeder Zeit. Der Vater war dabei oder irgendwo unterwegs. Beides war ok. Für Betti, Abkömmling einer Wirtschaftswunderfamilie, die alle Nachbarn freundlich grüßte und in der man vor dem Essen die Hände wusch, war dies ein Ort von magischer Anziehungskraft. Lula trug ihre Locken bis zu den Knien, und ihre Augen hatten die Farbe von Bettis Wellensittich. Eine Farbe, so unwirklich wie die Welt, in die Betti bei Lula abtauchen konnte und in der sie sich verlor, wenn sie die Nachmittage dort verbrachten und redeten. Tee tranken. Bei den Nachbarn einstiegen. Erwachsenenbücher lasen.

Als Ede auf den Plan trat, war die Freundschaft nicht beendet, aber es wurde anders. Ede war frühreif und Lula passte sich an. Kinderstreiche wichen erwachsenen Leidenschaften wie Schminke, extralangen Eve Zigaretten und Jungs, während Betti sich ihrem Hobby Emaille-Schmuck-Brennen widmete. Erst als Ede einen geheimen Liebhaber hatte (man munkelte von einem Verhältnis mit dem jungen Sportreferendar), durfte Betti wieder öfter kommen, und sie brannten gemeinsam Schlüsselanhänger und Broschen im Backofen von Lulas Vater.

Beim Abschlussausflug der zehnten Klasse schliefen sie zwar im selben Vierbettzimmer. Doch während Lula und Ede sich in der Disko mit den Dorfjungs vergnügten, tüftelte Betti mit der vierten Zimmergenossin Strickmuster für Norwegerpullis aus. Sie hatte nie erfahren, warum Edda just nach diesem Aufenthalt die Schule wechseln musste. Aber sie kehrte nach der Rückreise nicht mehr in die Klasse zurück. Wie man hörte, ging sie auf irgendein Elite-Internat, aber Eddas Eltern waren nicht die Art Eltern, die man einfach nach ihrer Tochter fragte.

Lula, die allem Anschein nach mehr wusste, sprach nie wieder von Edda. Auch bei ihnen verlor sich der Kontakt zwischen Tanzstunde und Leistungskurs.

Telefonieren war damals noch fest in elterlicher Hand und an der kurzen Schnur. Das Internet war noch nicht erfunden, und so geschah etwas, was heutzutage gar nicht mehr vorstellbar ist: Sie verloren sich aus den Augen.

Betti hörte die Eingangstür und trat in den Flur. Vom ersten Stockwerk aus sah sie Michael eintreten und betrachtete ihn, während er seinen Mantel auszog und an die Garderobe hängte. Michael. Ihr Lebensretter, ihr Trüffel, mit dem sie bereits so lange verpaart war, dass sie ihn als ihre Verlängerung sah. Ihr neuer kritischer Blick zeigte ihr, dass auch er zugelegt hatte. Seine Hüften waren breit geworden, wodurch sich sein gesamter Schwerpunkt nach unten verlagerte. Dazu hatte er sich den watschelnden Gang der Kurzbeinigen angewöhnt. Ein Frack, und der Pinguin wäre perfekt. Betti schritt die Stufen hinab und hauchte Michael einen Kuss auf die Wange. Sie fragte ihn nach seinem Tag und nach zwei Sätzen übernahm sie das Gespräch, um ausführlich von ihrem zu berichten, inklusive Fitness und Saunagespräche.

Die Redehoheit übernahm sie aus purer Rücksicht, da Michael nach langen Tagen im OP nicht gerne redete. Nebenher machte sie sich an die Zubereitung des Abendessens. Sie setzte Wasser auf, als es sprudelte, legte sie die Tomaten hinein, wartete ein halbe Minute und schüttete sie in die Spüle, schreckte sie mit kaltem Wasser ab. Dann wurden sie gehäutet, gewürfelt und das schwabbelige Gehäuse entfernt. Im Profi-Kurs hatte man ihr beigebracht, dass die Schalen jedes gute Gericht verderben und der Gelee im Inneren den Geschmack verwässert. Michael näherte sich von hinten mit einem Glas Wein. Betti bemerkte es erst, als ihre Hüften kollidierten.

»Ein bisschen Bewegung könnte dir auch nicht schaden«, sagte sie und wehrte ihn mit dem Ellenbogen ab. »Und zwar raus aus der Küche.«

Ihr Ton geriet eine Spur schneidender als beabsichtigt. Michael verzog sich ins Wohnzimmer. Betti bestrich die Kalbsschnitzel hauchdünn mit Senf und Sesammehl und legte sie ins brutzelnde Fett. Sie stellte die Dunstabzugshaube an, wischte die Hände an der weißen Schürze ab, strich sich das Haar aus der Stirn und rief: »Jetzt!«

Michael brachte ihr das Glas. Betti nahm einen ordentlichen Schluck. »Laune besser?«, fragte er.

Betti seufzte. »Um ungefähr 0,1 Promille.« Sie konnte wieder lächeln, tat die Schnitzel auf den Teller und drückte Michael die Salatschüssel in die Hand. »Und was ist wirklich los?«, fragte er, nachdem sie am Esstisch Platz genommen hatten. Betti verteilte den Tomatensalat. »Was meinst du?«

»Komm. Ich weiß ja, dass die Rotary-Disteln dir oft zu viel sind, aber dass du dir so die Laune verderben lässt …«

Betti begann zu essen. »Ede hat sich immer noch nicht gemeldet«, murmelte sie zwischen zwei Bissen.

Michael dachte nach. »Heute ist Montag.«

»Na und?«

»Du hast sie Samstag getroffen. Lass ihr etwas Zeit.« Michael grinste, Betti schüttelte missbilligend den Kopf. Wofür brauchte sie Zeit? Betti hatte keine Zeit. Sie drehte den Stil des Weinglases zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachtete die rote Flüssigkeit, die an der Innenseite des Glases in Schlieren herunterlief. »Blöde, dass ich keine Nummer von ihr habe.«

Michael widmete sich seinem Essen. Gerade wollte ihm Betti dies zum Vorwurf machen, da sagte er »Google«. Betti stutzte. Dass sie da nicht selbst darauf gekommen war. Sie strahlte. Gleich nach dem Essen würde sie sich auf die Suche machen. Und Lula würde sie bei dieser Gelegenheit auch gleich auftreiben.

Lula wachte auf und war sauer. Wie immer, wenn die Nacht wieder kürzer war als geplant. Offensichtlich benötigte auch sie mit zunehmendem Alter einen höheren Anteil an tiefenerholsamen, traumlosen REM-Phasen. Widerwillig schälte sie sich aus dem Bett und stolperte über die Jeans, die mit ihren restlichen Kleidern auf dem Boden lag. Mit halbem Fuß trat sie auf die Kante ihrer Sneakers. »Scheiße«, fluchte sie und stützte sich am Türrahmen ab. In der Küche stellte sie den Kessel mit Wasser auf den fleckigen Herd. Unter der hohen Decke hing Zigarettennebel. Im Bad drehte sie die Dusche auf und putzte die Zähne, während sich die Wassertemperatur erwärmte. Unter dem lauwarmen Strahl massierte sie ihren schmerzenden Kopf mit Shampoo und ließ sich so lange abspülen, bis sie annähernd auf Betriebstemperatur war. Der Spiegel gab immer noch keine Entwarnung. Die Neigung zu verquollenen Augen wurde immer ausgeprägter. Sie ging als Frau zu Bett und wachte als Mops wieder auf. Das Gesicht eine Scheibe. Das Tückische am Alter war, dass es in Schüben kam. Es gab Zeiten, da passierte gar nichts, dann alterte man über Nacht um zehn Jahre. Ein Grund, warum sie seit Jahren lieber allein aufwachte.

Um das abgestandene Morgengefühl endgültig loszuwerden, schlüpfte sie in frische Klamotten. In der Küche schüttete sie Pulverkaffee in eine Tasse, gab heißes Wasser drauf, probierte, tat kaltes Wasser aus dem Hahn dazu und kippte die Flüssigkeit hinunter. Der lauwarme Kaffee überzog ihren frisch geputzten Mund mit einem säuerlich-pelzigen Film. Sie überzeugte sich, dass alle Herdplatten ausgeschaltet waren. Auf dem Küchentisch lag eine schwarze Plastikuhr. Sie nahm sie in die Hand, betrachtete sie kurz und ließ sie in ihre Tasche gleiten. Dann verließ sie die Wohnung und stieg ins Auto.

Als sie in die Glauburgstraße einbog, entkam ihr eine Mutter mit Kinderwagen nur um Haaresbreite. »Scheiss Guerillamums«, murmelte sie in den Rückspiegel. Früher war das Frankfurter Nordend das beste Szeneviertel, die Geburtsstätte der Grünen und später der Ort geheimer Party-Locations. Inzwischen hatte es sich zum geburtenreichsten Bezirk Deutschlands entwickelt, wo vormittags der Nachwuchs in SUV-Wagenburgen zu seinen Förderstätten gekarrt wurde und sich nachmittags die Straßen in Spielplätze verwandelten. Singles wurden hier nur mehr geduldet. Und der Friedberger Markt musste per städtischer Verordnung zu Babyschlafenszeiten schließen.

Am Depot in Sachsenhausen fand sie nur einen Parkplatz mit Parkschein. Das bedeutete, alle zwei Stunden nachwerfen – immerhin sicherte sie sich so ihre Rauchpausen. Die Redaktion empfing sie mit dem vertrauten Geruch nach Kaffee und frisch geduschtem Stress. Zwei Redakteure diskutierten das Thema des nächsten Reiseteils, zwei Mädels kamen ihr mit einem voll behängten Klamottenständer entgegen. An allen Arbeitsplätzen klingelten die Telefone heiß. Ein Redakteur war rund um die Uhr im Einsatz, falls ein sogenanntes Hotpic angeboten wurde, dass man noch in letzter Sekunde in den Druck nehmen konnte. Lindsay Lohan ohne Schlüpfer, Nicole Richie betrunken auf dem Parkplatz oder Til Schweiger barfuß auf dem Dixieklo. Irgendein Knaller für den Titel, der die Magazinauflage in die Höhe schnellen ließ. Zumindest für eine Woche. Lula marschierte vorbei an den in Silber und Weiß gestalteten Büros, um zur Kaffeemaschine zu gelangen, bevor sie jemand ansprach. Sie konnte »das hier« nicht ertragen, ohne sich mit einem vierfachen Espresso zu impfen. »Das hier« war die permanente Aufgeregtheit, der termingetriebene Ausnahmezustand, in die einen dieser Job versetzte, sobald man zur Tür hereinkam. Wo die Assistentin sie schon zum ersten Termin abkommandierte, bevor ihr Arsch überhaupt ihren Bürosessel gesehen hatte. Wie eben jetzt.

»Sofort in Herolds Büro«, rief Sofie ihr entgegen, obwohl Lula noch gar nicht um die Ecke war. Lula war verblüfft. Konnte ihre Assistentin sie jetzt schon von ferne riechen? Sicherheitshalber schnupperte sie an ihrem Ärmel. Darin vergraben die Erinnerung an einen Weichspüler. Lula kam um die Ecke, machte vor Sofie demonstrativ eine Kehrtwende, um sich gleich wieder in Richtung Herolds Büro aufzumachen. »Stopp«, bellte Sofie und wies auf ihren Mantel. Lula nickte. Herold musste nicht sehen, dass sie jetzt erst reingekommen war. Es war immerhin schon elf.

Auf dem Gang überlegte Lula, ob es dem Chef um Kohle ging. Seit Monaten setzte Lula alles daran, mal wieder ein echtes Modeshooting durchzusetzen. Mit einem der internationalen Star-Fotografen oder zumindest einem guten deutschen. Ideen gab es en masse, und Lula wurde nicht müde, sie der Verlagsleitung zu präsentieren. Aber die war nur offen für Ideen, wie man sparen konnte, und entschied, was das Moderessort anging, immer wieder für die »Klau den Look«-Variante. Looks, abgeschaut von den Stars, zum Nachkaufen, für Lula die peinlichste Art, Mode zu präsentieren. Als Lula vor vielen Jahren bei Leyla begonnen hatte, gab es noch echte Modeshootings. Eines davon mit Peter Lindbergh. Seitdem galt Lula in der Redaktion als jene, die noch mit Lindbergh geshootet hatte, und auf diesen Sachverhalt stützte sie bis heute ihre Autorität.

Als die Leyla unter einer neuen Redaktionsleitung vom Mode- zum Celebrity-Magazin umgewandelt wurde, war Lula oppositionelle Gegnerin der ersten Stunde. Archivbildern, Skandalfotos und billig gestricktem Starrummel, vertrieben von der internationalen Star-Presse, hatte sie den Kampf angesagt. Vergebens. Die Zahlen sprachen gegen sie. Inzwischen schwamm Lula mit dem Strom und reichte gelegentlich selbst ein Promi-Foto ein, das sie auf irgendeinem Event geschossen hatte. Was in Frankfurt mit der geringen Promi-Dichte selten genug vorkam. Aber ihren Traum von hochwertigen Foto-Produktionen, die Leyla an die modische Spitze katapultieren würden, hatte sie nicht aufgegeben. Und sie kämpfte weiter dafür. Und gegen den rigiden Sparkurs der Verlagsleitung: Gerd Herold.

Sie betrat sein Büro, in dem er hinter seinem Schreibtisch klemmte, als habe es für eine Nummer größer nicht gereicht. Die enormen Körperausmaße waren das einzig Verschwenderische an ihm. Alles an Herold war oversized. Wie Gulliver im Land der Zwerge stapfte er durch die für ihn viel zu kleine Welt. Lula fragte sich, ob wenigstens bei ihm zu Hause ihm angemessene Größenverhältnisse herrschten. Was allerdings heißen musste, dass seine Familie zwischen überdimensionierten Möbelstücken lebte.

Lula setzte sich ohne Aufforderung auf den Stuhl ihm gegenüber. Sie erwartete einen Anschiss, irgendetwas Lautes, aber er sah sie nur aus traurigen Augen an. Auch im Gesicht war seine Haut zu groß geraten und warf an den überraschendsten Stellen Falten. Unter den Augen hatten sich kleine Taschen gebildet, die einen tiefen Einblick in die gerötete Haut unter dem Auge boten. Mit spitzen Fingern hob Herold ein Din-A-4-Blatt großes Schreiben hoch. Stichartig durchfuhr Lula eine existenzielle Furcht.

»Was soll das nun wieder?«, fragte er müde. Lula spürte, wie die Furcht sich langsam löste, und fand zu ihrer gewohnten Sicherheit.

»Was soll was?« Sie lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander.

Herold las den Brief laut vor. Er war von einem kleinen Modelabel aus Frankfurt. Lula hatte dort auf einer Showroom-Party ein paar Fotos geschossen. Beim Backstage-Check im Dressing Room war sie unglücklich gestolpert und hatte eines der Kleider mit ihrem Drink bekleckert. In dem Brief bat das Label den Verlag höflich um Schadensersatz, da der Fleck nicht zu beseitigen und das Kleid ruiniert sei. »Ja, das stimmt«, gab Lula zu und beugte sich vor. »Gib her, das zahlt meine Haft.« Sie streckte ihm die Hand entgegen, doch Herold behielt den Brief in der Hand. »Kaffee mit Rotwein«, zitierte er. Die Taschen unter seinen Augen verengten sich und gaben den Augen ihre längliche Form zurück.

Lulas Blick streifte durch das faltige Bergmassiv in Herolds Gesicht. Sie seufzte. »Eine Mailänder Spezialität!«, ließ sie sich zu einer Erklärung herab. Herolds Gesicht drückte aus, was er von dieser Spezialität hielt. »Du benimmst dich wie ne verdammte Minibar«, murmelte er und warf ihr den Brief zu. Lula ergriff das segelnde Blatt Papier.

»Was du mit deinem Leben anstellst, ist deine Sache. Aber wenn du für Leyla unterwegs bist, benimm dich in Zukunft.«

Lula stand von ihrem Stuhl auf. »War’s das?« Absichtlich ließ sie es so klingen wie ein unterdrücktes Gähnen. In Abwesenheit einer Reaktion von Herold verließ sie den Raum. Beim Hinausgehen spürte sie Herolds bohrenden Blick im Rücken.

Zurück in ihrem Büro schmiss sie die Tür hinter sich zu und griff zu dem kleinen Fläschchen, das sie für solche Momente im Schrank hatte. Sie nahm zwei tiefe Schlucke und ließ sich in ihren Eames Chair fallen, den sie mit den Füßen langsam um die eigene Achse drehte. Peinliche Panne. Sie hätte das lieber direkt mit den Leuten des Modelabels geregelt. »Alles ok?« Daisy, die Text-Chefin, steckte ihren glattblonden Kopf durch die Tür. »Der Gang hat gebebt«, erwiderte sie auf Lulas fragenden Blick und schob den Rest ihres Körpers ins Büro. Wie alle in den Text-Abteilungen trug sie diesen intellektuellen Business-Look. Teuer geschneiderte Anzüge, die durch die Kombination mit einem T-Shirt und Turnschuhen verkündeten: Ich will doch nur spielen!

»Lass uns was essen gehen«, schlug sie vor. Lula zog ihren Mantel über und folgte ihr. Sie traten aus dem Depot auf den Adlhochplatz. »Textor?«, fragte Daisy. Doch Lula schüttelte den Kopf. Dort war sie die letzte Zeit zu oft gewesen. »Schiffer«, schlug sie stattdessen vor. Sie folgten der oberen Brückenstraße, querten dabei den Spielplatz und kamen dann auf die untere Brückenstraße. Zwischen Brückenstraße und Wallstraße reihten sich die Geschäfte nonkonformistischer Schmuck- und Modedesigner, weshalb Lula den Bezirk Klein-Kreuzberg nannte.

Im Schifferkaffee war genau noch ein Tisch frei, und Lula registrierte wohlwollend, dass die meisten Gäste jetzt um die Mittagszeit gerade beim Frühstück waren.

»Was war los mit Herold?«, fragte Daisy, nachdem sie bestellt hatten. Lula gab das Gespräch wieder, nicht ohne ein paar Pointen zu ihren Gunsten dazu zu erfinden. Sie endete bei Kaffee und Rotwein. Daisy grinste und blies in ihre Suppe. »Nicht schlecht. Demnächst landest du selbst noch auf einem unserer Titel. Ich sehe die Schlagzeile schon vor mir: Fashion-Director kreiert neuen Flecken-Look: Aus einem Unfall wird ein Trend.« Sie kicherte. »Wie hat dir die Kollektion im Showroom gefallen?«, fragte sie dann.

Lula seufzte. »Großartig. Inspirierend. Die haben das Zeug zu einem ganz großen Modeshooting. Aber warum weiß ich jetzt schon, dass daraus nichts wird?«