Eden.exe - Alice Delwin - E-Book

Eden.exe E-Book

Alice Delwin

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Beschreibung

Besitzt ein einziger Mensch das Recht, über das Schicksal aller zu entscheiden?

Im Stadtstaat Neo-Orbis hat sich der Großteil der Bevölkerung längst mit einer uneingeschränkten Überwachung durch die Regierung abgefunden. Es fehlt nur noch wenig zu einem totalitären System.

Als die Auftragsdiebin Sia nach einem Einbruch im Besitz eines unscheinbaren USB-Sticks ist, erkennt sie noch nicht die Bedeutung der darauf gespeicherten Datei Eden.exe. Doch die Staatsgewalt versucht mit allen Mitteln, das Programm an sich zu reißen. Für Sia beginnt eine wilde Flucht quer durch die Mega-City. Dabei erfährt sie Stück für Stück mehr über die mysteriöse Datei: Sie besitzt die Macht, die skrupellose Präsidentin und ihre rücksichtslosen Machenschaften aufzuhalten. Aber der Preis dafür ist hoch – vielleicht sogar zu hoch.

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Alice Delwin

Eden.exe

Neustart für die Welt

© 2022 Polarise

Ein Imprint der dpunkt.verlag GmbH

Wieblinger Weg 17

69123 Heidelberg

www.polarise.de

1. Auflage 2022

Autorin: Alice Delwin

Lektorat: Dr. Benjamin Ziech

Copy-Editing: Irina Sehling

Satz: Birgit Bäuerlein

Herstellung: Stefanie Weidner

Umschlaggestaltung: Christin Giessel, www.giessel-design.de

ISBN:

Print

978-3-949345-24-1

PDF

978-3-949345-25-8

ePub

978-3-949345-26-5

mobi

978-3-949345-27-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über www.dnb.de abrufbar.

Ob beim Kreieren eigener Pralinen, beim Verzieren selbstgebackener Törtchen, beim Zeichnen von Bildern oder beim Sprechen verschiedener Sprachen: Für die Münchnerin Alice Delwin ist das Leben Kunst. Ihre liebste Kunst ist und bleibt allem voran das Schreiben, dem sie ihre meiste Zeit widmet.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

DANKSAGUNG

KAPITEL 1

Sia zog ihre Jacke enger, die Kapuze tiefer ins Gesicht, umklammerte ihre Tasche, als hinge ihr Leben davon ab, und lief im Stechschritt durch die Straßen. Die vielen Neonreklametafeln in den Seitengassen spiegelten sich in unzähligen Wasserpfützen und den Glasscheiben der kleinen Geschäfte, die sich hier dicht an dicht drängten und um ihre Existenz kämpften. Dabei war es nur noch eine Frage von Monaten, bis die großen Konzerne sich die zusätzliche Ladenfläche unter den Nagel rissen und die vielen individuellen Fassaden zur glatten Fläche eines einzigen plumpen Kaufhauses verschmolzen. Sias Stiefel platschten verräterisch bei jedem Schritt, in ihren Ohren klang das Geräusch so ohrenbetäubend laut, dass die ganze Stadt Neo-Orbis sie hören musste. Tatsächlich reichte der Laut gerade einmal aus, um eine alte, verfilzte Katze aus den Mülltonnen zu verscheuchen, woraus sie schon alles Fressbare gefischt hatte.

Sia bog um die nächste Ecke, wo sie endlich vorfand, wonach sie gesucht hatte: ein Schild, nicht erleuchtet, mit den Buchstaben N, E, O, N. Von außen wirkte das Gebäude so dunkel, wie irgendein Haus nur aussehen konnte, erst das Innere offenbarte die wahre Schönheit dieses Ortes. Bunte Böden, die in einem ständigen Lichtwechsel die Farbe änderten, Tische und Stühle, die dem Namen des Clubs alle Ehre machten, und Pflanzen, die selbst im Dunkeln noch heller strahlten als manch ein elektrisches Licht. Heute, an diesem späten Winterabend ohne Schnee, leuchtete das Licht wie immer, strahlte und flackerte. Ohne die rhythmischen Melodien, die lauten Bässe und die Stimmen der Feierwütigen wirkte der Ort leblos. Nur halbwegs real, als wäre Sia in eine Traumblase abgetaucht, die keine Geräusche mehr zu ihr durchließ.

»Otis, bist du da?«, rief sie mit rauer Stimme.

Zwei Tage ohne Pause auf der Flucht, mit viel zu wenig Schlaf, kaum Wasser und zu viel Menschengedränge, forderten allmählich ihren Tribut. Die Kälte hatte ihr Übriges getan. Wenngleich in Neo-Orbis seit mehr als zehn Jahren kein Schnee mehr gefallen war, konnten die Wintertage bitterkalt werden. Ohne auf eine Einladung zu warten, schleppte sie sich zur Bar, griff über den Tresen und angelte die erste Flasche, die ihr zwischen die Finger geriet. Die Flüssigkeit darin schmeckte bitter, viel bitterer als die Liköre, die Sia früher gerne einmal geschlürft hatte, als sie noch als Gast in Lokalen wie diesem verkehrt war und nicht die Kurierin gespielt hatte. Damals war die Welt noch eine andere gewesen, jedenfalls für sie.

»Otis!«, wiederholte Sia, dieses Mal laut und fordernd. Im Moment wollte sie nichts mehr, als sich in einem der Gästezimmer des Neons im oberen Stockwerk hinzulegen und mindestens sechzehn Stunden zu schlafen, ohne über Kurierdienste und Aufträge nachdenken zu müssen und darüber, wie kaputt diese Welt war.

Endlich schlurfte der Besitzer des Clubs aus einem der hinteren Zimmer in den Gastbereich. Sein schwarzes Haar war gleichermaßen toupiert wie auch glatt nach hinten frisiert und wie immer mit glänzendem Gel fixiert, während er seine eigentlich weißen Strähnen an den Schläfen nun in einem modernen Neongrün trug. Der muskulöse Körperbau sollte ebenso wie die Haarfarbe nur kaschieren, dass sich der Mann seinen Vierzigern näherte und eigentlich so alt wie Sia sein wollte. Als Zwanzigjähriger hatte er diesen Club noch nicht besessen und die Unterwelt von Neo-Orbis hatte ihn noch nicht völlig verschlungen gehabt. Sein enges, ärmelloses Glanzlederhemd trug er so weit offen, dass man auf einen Blick seine Brustmuskeln sah, ob man wollte oder nicht, während die massiven Arme den Eindruck erweckten, als würden sie ohnehin in keine Ärmel mehr hineinpassen.

»Du kommst spät, Sapphire«, kommentierte Otis und ließ sich schwerfällig auf einen der Barhocker fallen. Mit einer Hand deutete er auf Sias Flasche, allerdings nicht um sie zu tadeln, dass sie sie einfach genommen hatte, sondern weil er ebenfalls einen Drink nötig hatte.

»Nenn wenigstens du mich bei meinem richtigen Namen. Sonst bleibt irgendwann wirklich nur noch Sapphire übrig«, murmelte Sia.

Eben noch verschwitzt, fröstelte sie nun wieder, ein ständiges Auf und Ab, das sie auf mangelnden Schlaf schob und nicht auf ihre Angst, was aus ihr würde, wenn sie ihr ursprüngliches Selbst wirklich ablegte.

Otis lachte trocken. »Du denkst, du hast eine Wahl?«, würgte er zwischen zwei Schlucken hervor, ehe er hustete.

»Wenn du nicht mehr qualmst wie ein Schlot, hustest du auch nicht mehr so viel«, riet Sia verdrießlich, dabei machte sie sich insgeheim Sorgen.

Natürlich waren die vielen Zigaretten und das, was Otis rauchte, wenn niemand zusah, nicht gesund, aber in letzter Zeit machte der Mann einen gebrechlichen Eindruck, was nicht unbedingt auf Tabak und Drogen zurückzuführen war. Sia war eine der Auserwählten, vor denen Otis diese Schwäche zeigte. Allerdings hätte er ihr garantiert das Vertrauen entzogen, wenn sie ihn direkt darauf angesprochen hätte. Daher schwieg sie und gab sich mit gelegentlichen Sticheleien gegen seinen destruktiven Lebensstil zufrieden.

Wie lange noch, bis es mir genauso geht?, fragte Sia sich in Gedanken. »Das Teil war übrigens nicht besonders gut bewacht.« Sie deutete mit einem Kopfnicken auf ihre Tasche, die ein paar Tische weiter mitten im Raum auf einem Stuhl neben der Tanzfläche lag.

Sofort sprang Otis auf, stieß seinen Drink dabei um und rannte zu der unscheinbaren Tasche aus Segeltuch. Sia konnte kaum fassen, dass der Mann, der sonst direkt ausrastete, wenn außerhalb der Öffnungszeiten jemand auch nur mit nassen Schuhen in den Club kam, jetzt seinen Drink als Lache auf dem Tresen und Boden einfach so ignorierte. In der Flüssigkeit spiegelte sich das Licht der bunten Neonröhren.

Mit dem Rücken zu Sia riss Otis die Tasche auf und legte einen USB-Stick an einer langen Kette frei, der wegen seiner hellroten Hülle an einen Rubin erinnerte.

»Du hast es angefasst?!«, brüllte Otis mit einer Mischung aus Entsetzen und Bewunderung.

Sia nickte mit gerunzelter Stirn. »Ich musste das Ding doch irgendwie einstecken!« Sie hatte plötzlich das Gefühl, sich für einen Fehler rechtfertigen zu müssen, der eigentlich gar keiner hätte sein dürfen. »Ich habe es aus dem Kasten genommen und dann in die Tasche gesteckt. Das Teil hat sich nur für ein paar Sekunden in meiner Hand befunden. Ist doch keine große Sache!«

»Ist doch keine große Sache«, echote Otis heiser. »Ist keine große Sache! Der Stick oder das Programm darauf hätten dadurch beschädigt werden können. Es hätte dich verletzen, töten oder gleich die ganze Stadt ins Chaos stürzen können, aber hey, keine große Sache! Ich habe dir gesagt, dass du es nicht berühren darfst!«

Sia überlegte angestrengt, konnte sich aber beim besten Willen nicht mehr an alles erinnern, als sie vor einem Monat den Auftrag bekommen hatte, den rubinroten USB-Stick zu stehlen. Sie war in einem der Hinterzimmer gewesen, in Otis’ Büro, hatte auf einem Stuhl vor einem hoffnungslos überfüllten Schreibtisch gesessen und der Dinge geharrt, während Otis in einen monotonen Monolog versunken gewesen war, bis er ihr endlich einen schmalen Ordner gegeben hatte. Darin waren ein Bild der Kette gewesen und ein handgeschriebener Zettel mit allen Informationen, die man brauchte, um sie zu stehlen. Alles hatte wie immer gewirkt. Sia hatte sich lediglich gewundert, warum sie den Auftrag bekommen hatte. Denn obwohl ihr als Diebin inzwischen ein gewisser Ruf anhaftete, war sie bei Weitem noch nicht die Beste ihres Metiers. Dafür fehlten ihr die richtige Technologie und Verbündete, sprich qualifizierte, diskrete Hacker, denen sie momentan noch nicht das bieten konnte, was sie wollten, um Sia ihre Dienste anzubieten. Eigentlich hatte sie keinen anderen als Otis, der ihr Aufträge vermittelte.

»Warum hast du mich für etwas so Wichtiges ausgesucht?«

Sie selbst glaubte immer noch nicht, dass der Diebstahl eines Speichermediums wirklich eine so große Sache war, wie Otis behauptete. Die Bewachung war ziemlich miserabel gewesen. Im Keller eines Hauses von irgendeinem der hundert Milliardäre hatte der USB-Stick in einem abgesperrten Raum in einem Glaskasten gelegen. Natürlich waren die Schlösser hochwertig gewesen, Sia hatte bei jedem einzelnen ein paar wertvolle Minuten verloren. Aber wer kam schon auf die Idee, ein angeblich so wichtiges Speichermedium ohne technologischen Schutz einzuschließen? Allein in Neo-Orbis konkurrierten fünf Hightech-Firmen um Aufträge, die sich ausschließlich mit dem Beschützen und Wegsperren von Dingen beschäftigten. Selbst die schlechteste dieser Firmen hätte einen besseren Schutz geboten als die vorsintflutlichen Sicherheitsvorrichtungen, die die Kette vor Einbrechern wie Sia hätten schützen sollen.

Das restliche Gebäude hatte Sia vor die eigentliche Herausforderung gestellt. Sie hatte unzählige Pläne entwickelt, wie sie sich hätte Zutritt verschaffen können, und jeden einzelnen wieder verworfen. Die Fenster und Türen des Hauses waren mit Scannern überwacht worden, für die Türen brauchte man nicht nur die richtigen Fingerabdrücke und das entsprechende Augenpaar, sondern auch implantierte Mikrochips. Und selbst wenn man es ins Innere geschafft hatte, wurde jeder einzelne Schritt durch Überwachungskameras und Wärmesensoren überwacht. So war es jedenfalls im Erdgeschoss sowie im ersten und zweiten Stock gewesen, aber nicht im Keller. Sia verstand es immer noch nicht. Sie hatte sich schließlich eine Einladung für ein Vorstellungsgespräch als Dienstmädchen verschafft, den Butler außer Gefecht gesetzt, als sie neben einer Treppe gestanden hatten, war schnell nach unten gehuscht und von da an war es ein Kinderspiel gewesen. Jedenfalls so lange, bis sie wieder einen Weg hinaus hatte finden müssen und dabei gezwungen gewesen war, die Vordertür zu nehmen, die sich als einzige gelegentlich öffnete, wenn jemand das Anwesen betrat oder verließ. Beinahe wäre sie geschnappt worden, denn der Herr des Hauses beschäftigte nicht nur eine, sondern zwei Sicherheitsfirmen, darunter auch Regierungsangehörige. Diese eifrigen Leibwächter waren nicht nur allesamt Mitglieder irgendwelcher militärischer Einrichtungen gewesen, sondern hatten auch Körperteile gegen technologischen Ersatz eingetauscht. Das machte sie schneller, wendiger, stärker, robuster gegen äußere Einflüsse wie Wind, Nässe, Hitze oder Kälte und vor allem kontrollierbar und leicht zu überwachen. Manche dieser Erfindungen steckten noch in den Kinderschuhen, andere Implantate waren längst allgegenwärtig in einem ausgewählten Kreis von Menschen. Wie weit man mit diesen Implantaten tatsächlich schon fortgeschritten war, wurde streng unter Verschluss gehalten. Der Ruf dieser Elite an Sicherheitsbeamten allein reichte aus, um abzuschrecken.

Sias penibler Verzicht auf jegliche Technologie in und an ihrem Körper erwies sich jedoch immer wieder als ihr persönlicher Vorteil: Sie verfolgte man nicht so leicht. Während die meisten inzwischen ein bis drei Chip-Implantate in sich trugen, war Sia völlig frei von dergleichen. Die meisten Scanner, die am Himmel ihre Kreise zogen oder wie Ungeziefer in den Ecken und an Hauswänden lauerten, nahmen Sia nicht einmal wahr. Für sie war Sia nicht mehr als ein Feldhase irgendwo in den Naturreservaten oder eine der Ratten, die es gelegentlich bis in die Städte schafften. Außerdem war Sia klein und unscheinbar und alles, was sie an sich hasste, qualifizierte sie für ihre Arbeit.

Nur das Abschütteln beherrschte sie nicht. Die wenigen Spuren, die Sia hinterließ, wenn sie beispielsweise eine virtuelle Karte aufrief, vermochte sie kaum zu verwischen. Vor allem wegen ihrer übermäßigen Vorsicht hatte es sie zwei Tage gekostet, bis sie ihren Auftrag endlich hatte zu Ende führen können. Die meiste Zeit beanspruchte ohnehin immer die Planung.

»Die Auftraggeberin und ich waren uns sicher, dass du die Einzige bist, die diesen Auftrag wird ausführen können«, murmelte Otis, während er die Kette mit einem roten Seidentuch fasste und sich ehrfürchtig vors Gesicht hielt, als wäre der USB-Stick einer anderen Welt entsprungen. »Und ich hatte Recht. Sieh es dir an … Ist es nicht einzigartig?«

Sia würdigte die Kette kaum eines Blickes. In den acht Jahren, in denen sie nun als Diebin oder Kurierin arbeitete, hatte es unzählige Ketten und Ringe und Armbänder gegeben. Ein Dutzend davon fiel Sia auf Anhieb ein, das schöner gewesen war als irgendein beliebiger USB-Stick.

»Du hast gesagt, es sei dringend. Willst du den Stick nicht endlich deinem Auftraggeber übermitteln? Soll ich ihn übergeben?«, drängte Sia.

Allmählich fühlte sie sich in der Nähe dieses Speichermediums unwohl, um das ein Aufruhr gemacht wurde, als wäre es ein heiliges Instrument und nicht nur ein Gegenstand aus Metall und einer roten Hülle.

Otis schüttelte den Kopf. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit sah Sia ihn lächeln, und zwar nicht auf die panische, gezwungene Art wie sonst, sondern aufrichtig – friedlich. Sia fröstelte bei diesem Anblick und erst recht bei dem Ausdruck in den stahlgrauen Augen des Mannes.

»Ich werde diesen USB-Stick nicht überbringen und du ebenso wenig. Du darfst ihn nicht leichtfertig aus der Hand geben, verstanden? Das ist mein bislang wichtigster Auftrag für dich.«

Sia saß auf ihrem Hocker, die Augenbrauen zusammengezogen, die Stirn in Falten gelegt, und wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte einen ganzen Monat lang Vorbereitungen für den Einbruch und Diebstahl getroffen, hatte sich eingeschleust, die Schlösser geknackt und war zwei Tage pausenlos auf der Flucht gewesen, immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass die Zeit für Otis drängte. Nun stellte sich heraus, dass er ihr das Ding schenkte, dessen einziger Wert für Sia in der Bezahlung für den Diebstahl lag.

»Du wirst alt, Otis«, sagte sie. Wenn jemand sonst etwas Derartiges verlauten ließ, endete es nicht nur in einem von Otis’ Wutausbrüchen, sondern auch in irgendeiner Art von Beweis, dass der Mann noch lange nicht zum alten Eisen gehörte.

»Das werden wir wohl bald sehen«, gab er nur lächelnd zurück. »Denn alte Leute sterben schnell auf der Flucht. Hoffen wir, dass ich noch lange lebe. Und jetzt hör mir zu: Nimm diesen USB-Stick und versteck ihn gut. Irgendwo an dir, nicht in einer Tasche, die man dir leicht abnehmen kann. Schleich dich in den Inneren Ring und …«

»Der Innere Ring?«, unterbrach Sia ihn ungläubig. »Willst du mich in den Tod schicken?«

Otis schüttelte den Kopf. »Ich habe dir nie geschadet. Du hast mir immer vertrauen können. Mehr als deinen Lehrern. Mehr als deinen Eltern. Manchmal sogar mehr als dir selbst. Also hör zu: Du wirst es schaffen. Im Inneren Ring gibt es eine Bar namens Rathaus. Jeder hat einen eigenen Zugangscode, meiner lautet Neon. Absehbar, hm? Egal. Du wirst ihn verwenden und Einlass bekommen. Frag nach Horaz und lass dich nicht abwimmeln. Du willst Sia nicht aufgeben und nicht Sapphire werden? Das spielt keine Rolle. Dein Deckname gewährt dir Sicherheit, vergiss das nie. Horaz wird dir weiterhelfen … Solange du ihm nicht mehr erzählst, als er unbedingt wissen muss, kannst du ihm vertrauen und ihm das Nötigste wahrheitsgetreu erzählen. Sollte er den USB-Stick allerdings haben wollen … Stelle sicher, dass er davon erfährt, ihn aber nicht mit eigenen Augen sieht.«

Sia wurde bei alldem schwindelig. Otis war gerne eine Plaudertasche, niemanden hörte er so gerne reden wie sich selbst. Aber dass er mit einem so ernsthaften Gesichtsausdruck über nichts sprach, das ihn in ein gutes Licht rückte, das war neu.

»Ich verstehe es nicht«, gab sie sich schließlich geschlagen.

»Das musst du auch nicht. Geh jetzt. Ich werde es dir gleichtun. Nimm den Stick, los!«, drängte Otis plötzlich.

Wie es schien, war er schon länger auf eine überstürzte Abreise vorbereitet gewesen, denn während er den USB-Stick an Sia weiterreichte, noch immer in das rote Seidentuch eingewickelt, griff er hinter die Bar und zog eine gepackte Reisetasche hervor. Entschlossen zog er Sia mit sich zur Tür. Dort blieb Otis noch einmal stehen.

»Ich habe meine Träume schon lange aufgegeben. Aber weißt du, was ich mir jetzt doch noch wünsche? Dass wir irgendwann noch einmal zusammen hier im Neon sitzen.«

KAPITEL 2

Sia konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten, aber diese letzten Worte von Otis saßen ihr tiefer in den Knochen als das Bedürfnis nach Essen und Schlaf, also schleppte sie sich weiter. Ganz wie der Mann es befohlen hatte, verstaute sie die Kette eingewickelt in das Seidentuch in ihrer linken Brusttasche. Ihr kam es seltsam vor, das Ding ohne weiteren Schutz mit sich herumzutragen, angesichts dessen, dass dieser einfache USB-Stick für Otis von großer Bedeutung zu sein schien. Mit der Trambahn fuhr sie einige Haltestellen weit ins Innere der Stadt, dann musste sie aussteigen. Der Zug passierte als Nächstes ein Terminal, das elektronisch die gebuchten Fahrtickets erfasste. Damit wäre Sia als Schwarzfahrerin enttarnt und gemeldet worden.

Solange es noch ein paar dunkle Gassen in einiger Entfernung zum Inneren Ring gab, verschwand Sia in einer von ihnen und tippte auf den zehn Zentimeter langen Armreif, der ihren linken Arm zierte. Nicht einmal Sia konnte sich trotz aller Vorsicht vor jeder Technik verschließen. Einen Cybernetic Life Assistant – kurz CLA – brauchte jeder Bewohner von Neo-Orbis, daher hatten ein paar Kollegen dafür gesorgt, dass ihrer vom Zentralsystem abgekapselt funktionierte.

»Dave?«, flüsterte sie, nachdem sie mit zwei schnellen Klicks den Kontakt hergestellt hatte. Die gewünschte Person schwebte von der Hüfte an aufwärts als Hologramm über Sias Armschiene und leuchtete viel zu hell für ihren Geschmack.

»Sapphire«, begrüßte Dave sie mit einem knappen Nicken. Mit den in Regenbogenfarben gefärbten Haarstoppeln strahlte er noch heller, als es ein Hologramm ohnehin schon tat, und auch die bunten Streifen auf seinem schwarzen Hoodie waren nicht hilfreich für Sia, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Wo soll ich dich reinbringen?«

Sia verkniff sich ein Schmunzeln. Dave tat gerne so, als wäre er ein Profihacker, dabei war er ebenso nur Durchschnitt in seinem Metier wie Sia in ihrem. Wenn er sie also fragte, wo er sie hineinbringen sollte, als könne er es garantiert schaffen, dann grenzte das an eine Lüge.

»Innerer Ring«, gab Sia trocken zurück.

»Scheiße, was?« Schon war die coole Fassade passé. »Ist das ein Code für irgendwas?«

»Nein. Ich will in den Inneren Ring und darf nicht von den Scannern erfasst werden. Kriegst du das hin oder nicht?«

An der Haltung des Oberkörpers des Hologramms und den Fingern, die in einer Linie durch die Luft schwebten, erkannte Sia, dass sich Dave an seinen Computern zu schaffen machte, was das Hologramm allerdings nicht übertrug. Damit sah das Unterfangen aus Sias Perspektive ziemlich albern aus.

»Sapphire, du musst da weg!«, rief Dave plötzlich.

Sofort setzte sich Sia in Bewegung, rannte bis zum Ende der Gasse, dann zwängte sie sich durch einen Zwischenraum, durch den sie nur seitlich passte. Schon hörte sie Schritte hinter sich, immerhin nur menschliche Schritte und nicht das Surren von Drohnen oder das Piepen der Geräte, mit denen die Polizei jeden CLA in der Nähe erfassen konnte.

»Dave, wohin?«, zischte Sia leise. Sie hatte gehofft, dass der schmale Gang sie in weitere Seitengassen führen würde, stattdessen stand sie nun auf einer belebten Straße. Die Menschen drängten sich dicht an dicht. Viele redeten in kleinen Gruppen heftig aufeinander ein, andere sprachen mit den Hologrammen über ihren CLAs und wieder andere folgten wie ferngesteuert den Routen, die ihnen die Armreife anzeigten. Besonders das grelle Licht, das die Neonreklametafeln an den meisten Hauswänden ausstrahlten, stach in Sias übermüdeten Augen. Gleichzeitig spähte sie unauffällig nach oben, nach links, rechts und geradeaus, überall fanden sich Überwachungskameras und Wärmesensoren. Das, was Sia jedoch um jeden Preis meiden musste, waren die kleinen quadratischen Scanner, die die Daten auf den CLAs der Passanten auslasen. Sia durfte weder ihre Kontakte preisgeben noch zuletzt gegangene Routen oder auch nur ihre Bankdaten.

Für ein paar Minuten verschwand die Werbung von dem überdimensionalen Bildschirm an der Hauswand eines der Wolkenkratzer und das Gerät ließ stattdessen Nachrichten laufen. Baldiges Ende von Präsidentin Reinas Amtszeit, verkündete eine Laufleiste, während den Großteil des Bildes das ebenmäßige Gesicht einer Frau mit schwarzem, gelocktem Haar einnahm. Ihr schmallippiges Lächeln wirkte einstudiert und kalt, in den dunklen Augen lag ein stechender Ausdruck. »In sechs Monaten endet die vierjährige Amtszeit von Präsidentin Reina. Über einen möglichen Nachfolger sind bislang noch keine Neuigkeiten aus dem Ministerium gedrungen. Laut der letzten Umfrage stimmen über achtzig Prozent der Befragten für eine weitere Amtsperiode der aktuellen Präsidentin. Sie wäre damit die erste Präsidentin seit knapp dreißig Jahren, für die diese Ausnahmeregelung infrage käme«, leierte der Nachrichtensprecher mit regungsloser Miene herunter. Ob es wohl einen einzigen Menschen in Neo-Orbis gab, der nicht wusste, dass diese Befragungen ausschließlich im Inneren Ring durchgeführt wurden, wo die meisten Anhänger der Regierung lebten?

»Der Innere Ring ist zu deiner Linken, ein Netz aus schmalen Gassen zu deiner Rechten. Wenn du nach rechts gehst, kann ich dich lotsen, wenn du immer noch in den Inneren Ring willst, kann ich für nichts garantieren«, erklärte Dave knapp, sodass er Sias Aufmerksamkeit wieder auf sich lenkte.

Das war einer der Gründe, warum sie den Hacker gelegentlich gerne um Hilfe bat: Er war direkt und beschönigte nichts, wenn es wirklich darauf ankam.

Otis hat mir diese Aufgabe anvertraut, erinnerte sich Sia mit einem unwillkommenen Gefühl der Verantwortung.

»Im Inneren Ring muss es eine Kneipe namens Rathaus geben. Bring mich dahin!«, verlangte Sia entschieden und rannte los.

Inmitten der Menschen wurde sie immer wieder ausgebremst und wollte auch nicht durch unnötiges Rempeln Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Schon nach kürzester Zeit kreuzte sie die Blicke zweier Männer, die sie schon nach dem Diebstahl der Kette verfolgt hatten. Beide hatten ernste Mienen und trugen beinahe jugendliche Straßenkleidung, die weder zu ihrer bedrohlichen Ausstrahlung noch zu ihren ernsten, wissenden Augen passte. Immer wieder warf Sia unauffällige Blicke zurück, bis sie irgendwann glaubte, die Verfolger abgeschüttelt zu haben. Erst dann wagte sie sich bedacht, aber zielstrebig bis zu den hellblauen Lichtfäden vor, die den Inneren Ring vom Äußeren abgrenzten.

»Bring mich da durch«, zischte Sia in sicherer Entfernung.

Normalerweise konnte man diese Begrenzung nur überschreiten, wenn eine Einladung von jemandem aus dem Inneren Ring im CLA registriert war oder man durch einen implantierten Chip nachweisen konnte, dass man von dort stammte. Alternativ tat es auch eine Magnetchipkarte, aber da diese in letzter Zeit vermehrt gestohlen wurden, stiegen die Menschen aus dem Inneren Ring immer häufiger auf Chipimplantate um.

»Das dauert einen Moment«, erklärte Dave.

Sia wusste nicht, ob er es überhaupt schaffen konnte. Fürs Erste gab sie sich damit zufrieden, sich mit etwas Abstand durch die Menschenmenge treiben zu lassen, weit genug von der Absperrung entfernt, um keine Blicke auf sich zu ziehen und ihre Absichten nicht deutlich zu machen, und nah genug, um sofort hindurchzulaufen, sobald Dave sein Okay gab. Das blaue Licht flimmerte hin und wieder, ließ jedoch nichts vom Inneren Ring erahnen. Stattdessen bildete es einen Schleier, der die betuchte Gesellschaft auf der anderen Seite vor den neugierigen Augen der Durchschnittsbevölkerung im Äußeren Ring schützte.

Schließlich war es so weit. Mit einem knappen »Jetzt!« machte Dave deutlich, dass ihr CLA nun eine Einladung enthielt – zumindest hoffte sie das.

Sia musste etwas langsamer laufen, als sie die blaue Scannerwand durchquerte, wobei sie den Atem anhielt und am liebsten die Augen zusammengekniffen hätte, bis alles vorbei war. Sias CLA schickte in diesem Moment die gefälschte Einladung an eines der Terminals in den unscheinbaren Glassäulen, die hin und wieder in die Begrenzung integriert waren. Während diese Mauer aus Licht vom Äußeren Ring aus dünn wie Papier wirkte, musste Sia tatsächlich gute fünf Meter weit gehen, um sie zu durchqueren. Jeden Moment rechnete sie damit, dass das blaue Licht um sie herum plötzlich rot leuchtete und sie entweder betäubt oder direkt erschossen wurde. Doch nichts davon geschah, am Ende stand Sia einfach nur auf der anderen Seite, wo die Straßen viel sauberer aussahen und die Menschen spärlicher vorhanden waren. Das war schlecht für Sia, denn sie hatte gehofft, sich im Inneren Ring ebenso in den Menschenmassen tarnen zu können wie im Äußeren, was unter diesen Umständen schwer werden würde. Auch die Häuser sahen anders aus und wollten ihr nicht helfen. Neben Glasfassaden und Wolkenkratzern gab es kaum schmale Gassen, keine dunklen Ecken und auch ansonsten nichts, das Sia wirklich Mut machte.

»Wo liegt mein Ziel?«, raunte Sia Daves Hologramm zu.

Das hellblaue Abbild war erstarrt und antwortete nicht mehr. Es war unmöglich, aus dem Inneren Ring mit jemandem aus dem Äußeren zu sprechen. Entweder das – oder die Systeme des Hackers waren nach diesem Vorgang überlastet. In Gedanken fluchte Sia, dann huschte sie durch die breiten Straßen, wo alles hell und beinahe steril aussah, und mied Blickkontakt, obwohl sie spürte, wie die neugierigen Augen ein paar weniger Passanten ihre Schritte verfolgten. Für Sia war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie aufgehalten und kontrolliert wurde. Wenn Dave sich dann nicht in ihren CLA hacken und eine gefälschte Einladung vorweisen konnte, stand ihr Schlimmeres bevor als nur ein paar Tage ohne Essen und Schlaf.

So unauffällig wie nur irgend möglich manövrierte Sia durch die Straßen, als würde sie ganz selbstverständlich an diesen Ort gehören, als wäre sie kein Parasit, der soeben in einen fremden Körper eingedrungen war. Nun kam Sia ihre langjährige Erfahrung als Diebin zugute. Sie hatte gelernt, sich anzupassen und sich ihr heftig pochendes Herz nicht anmerken zu lassen. Schon oft hatte sie sich eingefügt, war unsichtbar geworden. Genau dasselbe tat sie auch jetzt.

Die ersten Polizistinnen, deren Kontaktlinsen sofort alles an die Zentrale weitergaben, was sie sahen, begegneten Sia, keine zwei Minuten nachdem sie sich zur Ruhe ermahnt hatte. Statt einzuknicken oder davonzulaufen, wie es ihr jede Faser ihres Körpers riet, streckte sie den Rücken durch und tippte eifrig auf ihrem CLA, um einen geschäftigen Eindruck zu vermitteln. Zu Beginn schien es zu funktionieren. Dann hörte sie das vertraute Surren der MX-7339-Pistolen, die mit Lasern jedes Ziel punktuell pulverisierten. Sia stellten sich die Nackenhaare auf, dennoch drehte sie sich ruhig und mit einem abschätzigen Blick auf die weiß uniformierten Frauen um. Die hochmodernen Kontaktlinsen hatten die Augenfarben der beiden verändert, sodass Sia nun in ein künstliches Gelb blickte. Die Frau zu ihrer Rechten schien diese Kontaktlinsen nicht besonders gut zu vertragen, denn ihre Augäpfel waren feuerrot geädert wie bei einer Bindehautentzündung.

»Weisen Sie sich aus!«, verlangte die linke mit dem flachen Gesicht. »Sofort.«

Sia überlegte kurz, was sie tun sollte. Welche Optionen blieben ihr schon?

»Ich wurde eingeladen und werde erwartet«, verkündete sie abweisend.

Manchmal half es, herrisch zu klingen, überheblich. Beamte wie diese beiden lebten wahrscheinlich selbst nicht einmal im Inneren Ring, sondern arbeiteten hier lediglich. Damit waren sie kein Teil der besseren Gesellschaft und wurden im Optimalfall mit den Dienstboten, die im Inneren Ring verkehrten, gleichgestellt.

»Weisen Sie sich augenblicklich aus«, wiederholte die Frau mit den geröteten Augen streng.

Sie blinzelte etwas zu oft, um wirklich seriös zu wirken. Sia fragte sich für den Bruchteil einer Sekunde, warum diese Frau sich das antat, anstatt einem anderen Beruf nachzugehen.

Wer in Neo-Orbis hatte schon eine Wahl?

Sia blieb nicht einmal die Zeit, eine etwaige Einladung vorzuzeigen, denn beide Polizistinnen drückten zeitgleich ab. Eigentlich hätte Sia mit zwei winzigen, perfekt kreisrunden Löchern im Herzen und im Hirn tot umfallen müssen, doch sie stand noch. Die Pistolen leuchteten nicht mehr, sie hatten sich abgeschaltet. Eine weitere Chance gewährte Sia ihren Angreiferinnen nicht. Sie ließ sich nach hinten fallen, um beiden gegen die Knie zu treten, sodass diese ins Straucheln gerieten, rappelte sich wieder auf, zog eine zehn Zentimeter lange Titanklinge aus ihrem Gürtel und hieb damit wild um sich, um nicht zu fassen zu sein. Sia konnte nicht einmal wirklich mit der Waffe umgehen. Sie hatte sie sich nur für diesen einen Auftrag geliehen. Gemurmel wurde laut, Menschen deuteten auf sie. Lange würde es nicht mehr dauern, bis unzählige Polizisten hinter ihr her sein würden. Es wäre so einfach gewesen, durch die blaue Mauer in den Äußeren Ring zurückzukehren und zu laufen, bis Sia endgültig nicht mehr gekonnt hätte. Doch Otis hatte ihr einen Auftrag erteilt und den war sie nicht bereit so einfach aufzugeben.

Sia spürte förmlich, wie sämtliche Scanner an Häusern und Menschen ihr Gesicht und ihren ganzen Körper aus jedem erdenklichen Winkel erfassten. Wieder und wieder hörte sie das Surren der MX 7339 und kein einziges Mal trug sie auch nur einen Streifschuss davon.

Das ist unmöglich, sagte sie sich in Gedanken jedes Mal aufs Neue. In ihrem Kopf sah sich Sia längst völlig durchlöchert und ohne jeden Zweifel tot.

Erst etliche Häuserblocks weiter, wo endlich die dichter besiedelten Wohngebiete mit prachtvollen Villen und riesengroßen Grundstücken in Sichtweite kamen, auf denen sie sich gut verstecken konnte, ging sie zwischen den Hecken in Deckung. Während sie kurz verschnaufte, bemerkte Sia etwas. Nicht nur die Waffen funktionierten nicht, auch für die Kameras und Scanner blieb sie ungesehen. Keine der Linsen drehte sich zu ihr, alle blieben in ihrer ursprünglichen Position. Es war nicht erkennbar, dass sie gerade jemanden verfolgten. Eigentlich hätte alles mit Überwachungsfunktion auf Sia gerichtet sein müssen. Zuerst sehr zögerlich, dann immer sicherer verließ sie den Schutz der Heckenrosen, wagte sich vor.

Nichts geschah. Der Innere Ring von Neo-Orbis hatte sie aus den Augen verloren. Der vermeintlich sichere und eigentlich lückenlos überwachte Zirkel der Auserwählten schaffte es nicht, eine einfache Diebin ausfindig zu machen. Sia hätte platzen können vor Glück, aber sie wusste auch, dass dieses nicht ewig währen würde. Nur eines hemmte die Freude des Augenblicks: In ihrer linken Brust breitete sich ein Brennen aus, das sie beunruhigte, denn es fühlte sich an, als würde es von außen in sie eindringen. Im Moment konnte sie dem allerdings nicht auf den Grund gehen, Sia wollte keine kostbare Zeit an diesem unsicheren Ort verschwenden. Also huschte sie weiter, hielt sich im Schatten von Elektroautos und Pflanzen versteckt, bis sie schließlich fand, was selbst in der modernsten Stadt nicht vermeidbar war: ein Zugang in die Kanalisation. Ohne sich lange mit falscher Eitelkeit aufzuhalten, löste Sia die Verriegelung, stemmte den Deckel auf, sprang durch die runde Öffnung hinein und kam mit einem Platschen auf festem Boden auf. Noch einmal tippte sie auf ihren CLA, dieses Mal konnte eine Verbindung hergestellt werden. Sia vermutete, dass die Kommunikation mit dem Äußeren Ring in der Kanalisation vorrangig für Reparaturarbeiten und Ersatzteilbeschaffung ermöglicht wurde.

»Du lebst noch?«, wählte Dave als fragwürdige Begrüßung.

Sia fielen viele Antworten ein, doch sie behielt sie alle für sich. Fragen konnten später geklärt werden, falls sie dann noch von Bedeutung waren.

»Rathaus. Die Kneipe. Sei meine Augen, Dave«, bat sie daher, doch der Hacker verharrte in seiner Ausgangsposition und machte keine Anzeichen, sich allzu bald regen zu wollen.

»Was springt für mich dabei heraus?«, wollte er wissen.

Sia platzte fast der Kragen. »Das fragst du jetzt? Ich beschaffe dir schon irgendwas, aber jetzt hilf mir hier erst einmal raus!«, verlangte sie so schrill kreischend, dass sie sofort fliehen musste, denn aus einem der abführenden Tunnel hörte sie eine Regung wie das sonore Rauschen einer hochfahrenden Drohne. Mit ihrem Schreien hatte Sia wohl ihre Position verraten.

»Sorry, Sapphire, aber dein Wort reicht mir nicht als Aufwandsentschädigung«, gab Dave zu verstehen.

Im nächsten Moment verschwand das Hologramm und Sia war auf sich allein gestellt. Das war einer der Momente, in denen sie gerne bekannter in ihrem Metier gewesen wäre und auch gerne über irgendwelche Rücklagen verfügt hätte, die für jeden Hacker ein akzeptabler Preis gewesen wären.

Unter der Erde standen Sias Chancen, den richtigen Ort ohne Hilfe zu finden, nicht nur schlecht, sondern gingen gegen null. Trotzdem versuchte sie sich in den unterirdischen Tunneln zurechtzufinden und den Gestank und die penetrante Feuchtigkeit zu ignorieren. Wenn sie wieder an die Oberfläche kam, würde sie schleunigst eine Dusche brauchen und vermutlich neue Stiefel. Beides war im Äußeren Ring leichter zu ergattern als im Inneren. Sia fluchte in Gedanken. Es wäre so leicht gewesen, umzukehren, zurück in den Äußeren Ring zu fliehen, von dort aus immer weiter zu laufen bis in die kleineren Distrikte und das Armenviertel, wo die Überwachung stetig abnahm. Ehe sie sich dessen bewusst wurde, war Sia ein Stück weit einem entfernten hellblauen Licht gefolgt – die Scannerwand. Sie erstreckte sich bis hinunter in die Kanalisation. Da erst wurde Sia ihr fataler Fehler bewusst: Sie brauchte jemanden, der ihren CLA manipulierte, damit sie den Inneren Ring wieder verlassen konnte. Deswegen hatte Dave ihr also so bereitwillig geholfen. Er hatte gehofft, als Preis irgendetwas aus dem Inneren Ring abzustauben.

Mit der Erkenntnis trat auch das Wissen ein, gefangen zu sein. Kurz spielte Sia mit dem Gedanken, Dave noch einmal zu kontaktieren, dann entschied sie sich dagegen, schon allein, um Dave die Genugtuung nicht zu gönnen. Sie würde es irgendwie selbst schaffen, sie musste nur das Rathaus finden und diesen Horaz. Horaz … Obwohl es sich dabei nur um einen Decknamen handeln konnte, war Sia nicht wohl dabei. So klang für sie kein vertrauenswürdiger Mensch.

»Ich will nicht Sapphire werden«, murmelte Sia leise zu sich selbst.

Die Drohnen surrten nun nicht länger durch die Luft, sodass sich Sia etwas entspannen konnte. Sie war klug genug gewesen, sich allein auf ihre Ohren zu verlassen und jedes Mal den Tunnel zu wechseln, wenn die leisen Fluggeräusche der Luftüberwachung auch nur ein wenig lauter geworden waren.

Das ist mein bislang wichtigster Auftrag an dich.

Sia entschied sich, in die entgegengesetzte Richtung zu laufen, immer weiter weg vom Äußeren Ring, und hoffte, dass sie es auf diese Weise ins Zentrum schaffen würde. Obwohl Rathaus augenscheinlich nur der Name der Kneipe war, konnte es gut sein, dass diese Bar früher einmal tatsächlich ein Rathaus gewesen war.

Wenigstens hatte das Brennen in Sias linker Seite wieder aufgehört.

KAPITEL 3

Sia hielt ihr Vorhaben nicht lange durch. Bald war sie gezwungen, sich irgendwo gegen eine der kalten, feuchten Mauern zu lehnen. Kaum hatte sie das getan, schlief sie auch schon ein.

Als Sia wieder aufwachte, hatte sie jedes Zeitgefühl verloren. Ihr CLA zeigte Mittag an, aber es fühlte sich nicht nach Mittag an, eher nach spätem Abend oder früher Nacht. Auf jeden Fall nach einer Zeit, in der man wieder schlafen gehen konnte, denn das hätte Sia am liebsten sofort getan. Mühsam hievte sie sich hoch, widerstand dem Drang, inmitten der Kälte und Nässe und des Gestanks darauf zu warten, dass sie erneut einschlief, und schleppte sich weiter. Jeder Knochen tat ihr weh und Sia konnte sich nicht daran erinnern, jemals so gefroren zu haben.

Irgendwann bot sich die Gelegenheit eines Aufstiegs in Form einer alten, verrosteten Leiter, die schon bei der Erbauung der Kanalisation befestigt worden sein musste. War Sia schon lange genug gelaufen, um irgendwo nahe dem Zentrum an die Oberfläche zu gelangen, oder musste sie noch weiter durchhalten? Sia verbannte alle Ängste und Zweifel entschieden aus ihrem Kopf, wo sich schon ein Bild zusammenzusetzen begann, wie sie inmitten von etlichen Menschen und Polizisten den Kopf aus dem Boden streckte und sofort erschossen wurde. Nur dass die Pistolen in diesem Szenario nicht aus heiterem Himmel versagten.

Zu Sias Glück waren keine Polizisten in Sicht, als sie vorsichtig aus dem Gullydeckel linste, der sich viel zu laut öffnete und noch lauter wieder schloss, nachdem sie daraus hervorgekrochen war. So schnell und leise wie möglich huschte Sia durch die Gassen, wo sie vom ständigen Gerede über ihre fragwürdige Erscheinung und ihren penetranten Geruch verfolgt wurde. Wenigstens das Zentrum war wieder so aufgebaut, wie man es von einer Großstadt erwartete. Wohnhäuser mit auffälligen Türen und lächerlich kleinen Balkonen drängten sich dicht an dicht an Geschäfte mit übermäßig großen Namensschildern und Werbetafeln. Ampeln regelten den drängenden Verkehr, Fußgänger schoben sich eilig aneinander vorbei. Hin und wieder kläfften Hunde die Passanten an, Babys schrien und die meisten Menschen hantierten an ihren CLAs herum. Genau das gleiche Bild hatte Sia erst kürzlich in den Straßen im hier verpönten Äußeren Ring vorgefunden.

Sia sah sich unauffällig um und drängte sich in die Gassen. Zwischen all den Wolkenkratzern, die nun nicht länger nur aus Glas und weißen Säulen bestanden wie an der Grenze zum Äußeren Ring, wirkten diese Gassen noch dunkler. Mülltonnen gab es hier keine und damit auch keine Möglichkeit, darin irgendetwas Nützliches zu finden. Der Abfall wurde in der betuchteren Gesellschaft direkt von den häuslichen Mülleimern in Tonnen im Untergrund befördert. Davon konnten die Menschen im Äußeren Ring derzeit nur träumen. Sia hasste es, dass sich der Innere Ring an der Grenze zum Äußeren wirklich alle Mühe gab, einen noblen und sauberen Eindruck zu machen. Das Zentrum wirkte eher wie eine ganz normale Ansammlung durchschnittlicher Gebäude, die immer weiter in die Höhe gebaut wurden, weil in die Breite der Platz nicht reichte.

Nur das Rathaus war nicht zu sehen und auch kein Anhaltspunkt dafür. Natürlich gab es keine Straßenschilder, wie man sie hin und wieder noch in den Provinzen vorfand. In diesen ländlichen Gebieten weit außerhalb des Äußeren Rings, nahe am Meer, schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Dort gab es meist nur einen Lebensmittelladen und keinerlei Zerstreuung. Keine Diskotheken, Bars, Kinos und manchmal nicht einmal asphaltierte Straßen.

Gewöhnlich führte der CLA seinen Benutzer im Inneren Ring dorthin, wohin man wollte – vorausgesetzt, man hatte die entsprechenden Daten darauf gespeichert. Menschen aus dem Äußeren Ring, wie Sia, hatten kein Recht auf Daten, die den Inneren Ring betrafen.

Damit blieb ihr kaum eine andere Wahl. Sia lauerte zwischen den Häuserblocks in der Hocke, horchte jedem Geräusch nach und fand schließlich, wonach sie gesucht hatte: Eine Tür in ihrer Nähe öffnete sich und ein alter Mann wollte daraus hervortreten. Sia kam ihm zuvor. Sie preschte aus ihrem Versteck nach vorne, drückte den Mann zurück ins Treppenhaus, das er eigentlich hatte verlassen wollen, presste ihm die Hand auf den Mund und ließ ein leichtes Betäubungsgas aus dem unscheinbaren Armreif an ihrem rechten Handgelenk entweichen. Dabei musste sie mit der Dosierung vorsichtig sein, alte Menschen vertrugen nur sehr geringe Mengen davon. Die verbliebene Dosis würde jedoch für keine weitere Betäubung reichen. Sia musste das Gas unbedingt bei Gelegenheit nachfüllen. Gleich darauf sackte der Mann bewusstlos in ihren Armen zusammen. Sia lehnte ihn gegen die Wand zwischen Stufen und Lift und nutzte seine eigene Hand, um den CLA an seinem haarigen, faltigen Arm zu bedienen. Die meisten Lebensassistenten funktionierten nur mit den persönlichen Fingerabdrücken des Tragenden. Der Alte regte sich schon, noch bevor Sia Rathaus eingetippt hatte. Sein Gerät war wohl nicht unbedingt das neueste Modell, denn die Suche dauerte einen Moment, den Sia eigentlich nicht aufbringen konnte. Gerade noch rechtzeitig leuchtete Sias Ziel auf einer holografischen Karte auf.

Als sich die dunkelblauen Augen des Mannes wieder öffneten, blinzelte er Sia verwirrt entgegen. Noch konnte er wohl nicht scharf sehen, doch das würde sich bald ändern. Sia blieb kaum Zeit, sich den Weg einzuprägen, da rannte sie auch schon wieder nach draußen. Sie hatte die ständige Eile allmählich satt, konnte sie nicht ausstehen. Sie sehnte sich so sehr nach einem einzigen ruhigen Tag, einem Spaziergang in den Naturreservaten oder in den Provinzen und nach einem langen Mittagsschlaf in der prallen Sonne. In Gedanken träumte sie sich oft an einen solchen Ort voller Ruhe und Frieden und zu ihrer eigenen Überraschung gesellte sich dann immer Otis dazu. Vielleicht, weil er der einzige lebende Mensch war, der Sia beim Wort Familie in den Sinn kam. Immerhin war er für sie dagewesen, als ihr eine ganze Stadt den Rücken gekehrt hatte.

Fürs Erste allerdings musste sich Sia auf ihr Ziel konzentrieren. Das Rathaus sah von außen wie ein ebensolches aus. Es war groß und weiß, quaderförmig und wirkte ein bisschen altmodisch, obwohl die schillernde weiße Farbe erst vor kurzem aufgetragen worden war.

Als Sia klopfte, öffnete man ihr nur sehr zögerlich, aber dass die Flügeltüren überhaupt aufschwangen, reichte ihr für den Anfang. Immerhin musste sie nicht mehr durch die Straßen irren, wo jeder Polizist nur darauf wartete, sein Glück mit einem Schuss zu versuchen. Sicher war Sias Gesicht inzwischen allen Gesetzeshütern zugespielt worden. Die beiden Männer links und rechts von ihr führten Sia in eine große Halle. Diese bildete wohl eine Art Vorraum, der nicht nur mit einer, sondern zwei Bars an den einander gegenüberliegenden Wänden einlud, sich hier länger die Zeit zu vertreiben. Sias Eskorte indes schwieg entschieden und verfügte neben Laserpistolen auch über die klassischen Modelle, die noch Kugeln abfeuerten. Sia hatte vor diesen jedenfalls plötzlich sehr viel größere Ehrfurcht als vor den Lasern. In ihrer Fantasie bereitete ihr eine blutige Schusswunde stärkere Übelkeit als das unauffällige Loch, das ein Laser in sein Ziel brannte.

Endlich erreichten sie nach einem schier endlosen Gewirr aus Korridoren einen Raum, dessen Herzstück ein glänzender, dunkler Holzschreibtisch bildete. Dieser war groß genug, damit vier Leute zugleich daran hätten arbeiten können. Es saß jedoch nur ein einziger Mann mit einem selbstgefälligen Grinsen auf einem schneeweißen Stuhl mit Silberverzierungen. Horaz versuchte wohl wirklich, den Dichter aus längst vergangenen Zeiten nachzuahmen. Sein weiter weißer Anzug erinnerte an eine Toga und die eleganten goldenen Ornamente im schwarzen gelockten Haar sahen aus wie ein goldener Lorbeerkranz. Sia störte der Anblick. Das Silber des Stuhls harmonierte nicht mit dem Gold an dem Mann, der darauf thronte.

»Ich habe selten Gäste, die mich kennen, noch bevor sie mir das erste Mal begegnen«, gackerte er mit weit aufgerissenen Augen.

Sein linkes Auge war golden wie die Sonne, das rechte hellblau wie der Himmel. Horaz wirkte wirklich ganz und gar, als wäre er nicht von dieser Welt, was Sia wohl oder übel gefiel. Allein seine Ausstrahlung zog sie in seinen Bann.

»Mein Name ist Sapphire. Otis hat mich geschickt«, begann Sia mechanisch.

»Wenn das stimmt, dann nenn mir doch bitte das Passwort, Herzchen«, forderte Horaz sie mit schrecklich süßlicher Stimme auf, wobei er noch breiter lächelte, bis es unmenschlich aussah, und den Kopf schief legte wie ein schüchternes Mädchen. Sia hasste es, dass er sie so ansprach – Herzchen. Wie einen Menschen von niedrigem Rang, ein Betthäschen.

»Neon«, gab sie voll unterdrückter Wut zurück.

»Sehr schön!«, jubelte Horaz, sprang von seinem Stuhl auf und klatschte in die weiß behandschuhten Hände. »Ach, eine Freundin von Otis, das ist wahrhaft allerliebst! Also dann, Freundin von Otis, was führt dich hierher?«

Sia schob wütend den Unterkiefer vor und ballte die Hände in den Taschen ihrer Jacke zu Fäusten.

»Sapphire, wenn es recht ist«, wiederholte sie so geduldig, wie sie konnte. »Ich habe einen Auftrag bekommen. Ich sollte einen USB-Stick für Otis stehlen. Doch als ich das geschafft hatte, wollte er ihn nicht mehr. Ich sollte ihn behalten und dich aufsuchen.«

Horaz legte den Kopf schief, neigte ihn mal in die eine, dann in die andere Richtung. Er kramte aus einer Schreibtischschublade ein Monokel hervor, aber keines, das mit irgendwelcher Technologie ausgestattet war, sondern ein altes, klassisches. Zumindest dachte Sia zu Beginn so. Dann klemmte Horaz sich das kleine Ding vor das linke, goldene Auge, was das Monokel in hellem Licht erstrahlen ließ; weißer Nebel strömte davon weg und erfüllte in Windeseile den ganzen Raum.

»Zeig ihn mir«, verlangte Horaz.

Sia war so irritiert von der Situation, dass sie dem Befehl beinahe nachgekommen wäre, dann besann sie sich und zog entschieden den Reißverschluss ihrer Jacke zu.

»Nein«, entgegnete sie entschlossen, ohne sich dafür zu entschuldigen.

»Wie schade«, gab Horaz gedehnt zurück und schob schmollend die Unterlippe vor, während er das Monokel wieder absetzte. Sofort klärte sich die Luft und der Mann ließ sich wieder hinter seinem Schreibtisch auf den Stuhl sinken. »Dann schlage ich vor, du duschst erst einmal und leistest mir beim Essen Gesellschaft. Vielleicht stimmt dich das etwas freundlicher.«

Sia war drauf und dran, abzulehnen, da packten sie schon zwei Leibwächter an den Oberarmen und zogen sie durch einen weiteren Korridor. Da Otis Sia jedoch persönlich zu Horaz geschickt hatte, gab sie ihre Gegenwehr schnell auf und war erleichtert, als sie in einem lichtdurchfluteten Badezimmer Halt machten. Die kreisrunde Wanne mit den Spiegelkacheln war bereits mit Wasser gefüllt worden, das verlockend dampfte. Erst als sie die Rauchwölkchen des warmen Wassers sah, wurde Sia wieder bewusst, wie sehr sie fror. Zuerst befürchtete sie, diese Männer wollten sie weiter bewachen, da zogen sie sich auch schon zurück und schlossen die Türen hinter sich. Sia war sich ziemlich sicher, dass beide noch immer davorstanden, aber das interessierte sie nicht. Heilfroh, die stinkende, durchnässte Kleidung endlich ablegen zu können, ließ sie sich ins Wasser gleiten. Den USB-Stick legte sie dabei vorsichtig in die trockene Seifenschale, denn sie wollte ihn keine Sekunde aus den Augen lassen. Nicht nachdem Otis ihn angesehen hatte, als wäre er das wertvollste Objekt der Welt.

Es dauerte keine zwei Minuten im warmen Wasser, da war Sia auch schon eingeschlafen.

Als sie wieder aufwachte, war das Wasser längst kühl und ihre Haut so schrumpelig, dass sich Sia vor sich selbst ekelte. Ihre rechte Hand, die sie neben die Seifenschale gelegt hatte, war ins Wasser gerutscht, doch der Stick lag noch an Ort und Stelle. Während ihres Bades hatte man ihre schmutzige Kleidung durch frische ausgetauscht, die ihrer eigenen zum Verwechseln ähnlich sah. Sogar ein Tuch war dabei wie jenes, in das sie die Kette eingewickelt hatte. Die Stiefel passten perfekt und boten besseren Halt, die Jacke war ein bisschen eng an den Schultern, verfügte aber über mehrere Taschen, und das T-Shirt, obwohl es auf den ersten Blick wie ein ganz gewöhnliches aussah, machte einen sehr reißfesten Eindruck, während die schwarze Jeans Sias alter komplett glich.

Sia legte zuletzt ihren CLA an und hoffte inständig, dass sich niemand daran zu schaffen gemacht hatte, während sie weggetreten war.

Wieder vollständig bekleidet und mit dem USB-Stick in ihrer linken Brusttasche wollte Sia das Badezimmer verlassen, doch die Türen waren verschlossen. Sia hörte, wie ein Schlüssel umgedreht wurde, dann erst wurde sie langsam herausgelassen. Der Mann, der sich nun vor dem Bad postiert hatte, nutzte mit einem selbstgefälligen Grinsen aus, dass Sia auf sein Wohlwollen angewiesen war. Solch ein Typ passte zu jemandem wie Horaz, beschloss Sia, während sie wiederum durch lange Flure geführt wurde. Dieses Mal endete der Weg an einem Speisesaal, in dem mit Leichtigkeit zwei Dutzend Menschen bequem Platz gefunden hätten, und ebenso viele Gedecke befanden sich auf der endlos langen Tafel in der Mitte. Obwohl für so viele Gäste gedeckt worden war, saß Horaz allein auf einem der Holzstühle mit den viel zu hohen Rückenlehnen, die wirkten, als wären sie einem anderen Zeitalter entsprungen. Sogar die Leibwächter waren gegangen, was der Mann, der Sia hergebracht hatte, wohl zum Anlass nahm, um sich ebenfalls zurückzuziehen.

In aller Eile huschte eine Frau mit gesenktem Kopf herein, stellte gleichzeitig vor Horaz und an den Platz ihm gegenüber an den Längsseiten des schmalen Tisches eine Schüssel mit sehr heller Suppe und zweimal zwei Teller mit Tellerglocken. Ganz offenbar Vorspeise, Hauptgang und Nachtisch – alle wurden zeitgleich serviert.

»Es ist bald sechzehn Uhr«, erklärte Horaz, als wäre damit alles gesagt.

Wenn Sia das Gespräch voranbringen wollte, blieb ihr keine andere Wahl, als sich dorthin zu setzen, wo die Speisen aufgetragen worden waren, obwohl sie sich unwohl fühlte, Horaz so nah gegenüberzusitzen. Sie wartete mit dem Essen, bis sich ihr Gastgeber zum ersten Mal einen Löffel voll Suppe in den Mund schob. Obwohl er dabei den Blick auf sein Essen richtete, fühlte sich Sia noch immer beobachtet, und als sie selbst den Löffel an die Lippen führte, bekam sie eine ungute Vorahnung. Niemand befand sich mehr im Raum. Vielleicht wünschte Horaz keine Zeugen? Das Essen konnte vergiftet worden sein. Sia hielt inne und machte keine Anstalten, die Speisen anzurühren.

»Du bist klug«, lobte Horaz mit einschmeichelnder Stimme, »aber Klugheit macht oft zu misstrauisch. Nur zu. Oder soll ich den Vorkoster spielen?«

Aus seinem Mund klang der Vorschlag so lächerlich, dass Sia das Risiko einging und probierte. Sie hatte etwas erwartet, das intensiv nach Rahm schmeckte, dabei war die Suppe herrlich leicht und fruchtig. Trotzdem konnte Sia keine einzige Zutat herausschmecken. Bei dem Braten, den es als Hauptgang gab, erging es Sia ähnlich, nur das Dessert bestand zweifellos aus Schokolade.

»Vielen Dank«, murmelte Sia, als sie jeden Teller restlos leergeputzt hatte.

Nun fühlte sie sich ganz so, als würde sie in Horaz’ Schuld stehen, was der Mann vermutlich genau so beabsichtigt hatte. Dennoch nahm er das Gespräch nicht auf, sondern nippte an seinem Rotwein, während Sia ihren nicht angerührt hatte, sondern bei ihrem Glas Wasser geblieben war. In ihrem Metier war es nie ratsam, die Sinne zu verwirren oder gar zu verlangsamen. Irgendwann meinte Sia sogar, dass ihr Gastgeber inzwischen eingenickt war, weil er einen Ellbogen auf die Armlehne gestützt hatte und sein Kopf in seiner Handfläche lag, die Augen halb oder ganz geschlossen. Sia sah jedenfalls nur die dunklen Wimpernfächer, die vermutlich getuscht waren. Das brachte sie zu der Frage, wann sie das letzte Mal die Gelegenheit gehabt hatte, sich zu schminken, und sie kam zu dem Schluss, dass das inzwischen bestimmt etwa zehn Jahre zurücklag.

Damals, mit zwölf, war sie das erste Mal mit mehreren Freundinnen in einen Club gegangen und hatte das bunte Treiben, die laute Musik und die vielen Feiernden geliebt. Es hatte wie ein Jahrmarkt gewirkt, ein Spektakel, das jede einzelne Nacht mit sich brachte. Inzwischen wusste Sia um die vielen Geschäfte, die von der allgemeinen Partylaune mit all ihrem Krach überdeckt wurden, und konnte dem nächtlichen Treiben von Neo-Orbis nicht mehr viel abgewinnen.

KAPITEL 4

»Wohin wanderst du nur in Gedanken, mein Herz?«, riss Horaz Sia aus ihren Erinnerungen. Sein Blick glühte förmlich, das goldene Auge leuchtete dabei deutlich heller als das blaue und doch drückte seine Haltung ansonsten nichts als Ruhe aus.

Sia hatte Mühe, diesem Blick standzuhalten, brachte es jedoch irgendwie fertig.

»Meine Gedanken gehören mir«, gab sie mechanisch zurück, was Horaz zum Lachen brachte, bis die getrübten Glasscheiben davon klirrten.

Fast war sich Sia sicher, dass das Gebäude irgendwie mit dem Mann verbunden war und deswegen so leichtfertig dessen Gefühlsregungen wiedergab. Vielleicht beeinflusste Horaz Sias Wahrnehmung mit der Technologie in seinen Augen oder er steuerte manches, was hier geschah, über seine Stimme. Nur weil Sia keine Mikrofone, Kameras, Sensoren und dergleichen sehen konnte, hieß das nicht, dass sie nicht irgendwo installiert waren.

»Eine Frau mit vielen Geheimnissen, das mag ich«, bekundete Horaz, als er sich wieder etwas beruhigt hatte. »Ich weiß noch immer nichts über dich. Ein Name, der erfunden ist, ein USB-Stick, den ich nicht sehen darf. Was noch?«

Sia atmete tief durch und nutzte die Gelegenheit. »Otis war sicher, dass du mir sagen kannst, wohin ich als Nächstes gehen soll. Zuerst haben nur die Sicherheitsleute des ursprünglichen Eigentümers nach dem Stick gesucht, aber im Inneren Ring haben mich Polizisten verfolgt«, erklärte sie geradeheraus.

Es war das erste Mal seit ihrer Ankunft im Rathaus, dass sie ungeschönt die Wahrheit sagte, ohne sich lange Gedanken darum zu machen. Natürlich gab sie Horaz damit eine gewisse Macht über sich, was ihr nicht gefiel, immerhin war die Frage nach ihrem Ziel praktisch ein Freifahrtschein für den Mann, sie zu schicken, wohin auch immer es ihm beliebte.

Statt sofort seine Gelegenheit zu nutzen, schwieg Horaz mit einem überraschend nachdenklichen Gesichtsausdruck, der nicht zu dem Showman passte, als der er sich bislang zu erkennen gegeben hatte.

»Wenn du vor den Behörden fliehen willst, gibt es ein paar Möglichkeiten«, grübelte er laut. »Aber das präzise Wohin stellt mich doch vor eine Herausforderung. Weißt du denn, was Naturvölker sind?«

Sia dachte sofort an kleine Menschenansammlungen, die irgendwo in den Naturreservaten versuchten, unter dem Radar zu leben, und irgendwelche Götter um Beistand anflehten, die es entweder nie gegeben hatte oder die der Welt längst den Rücken gekehrt hatten. Diese Naturvölker lebten im Geheimen, doch gelegentlich schafften es Drohnen und Kameras, sie zu filmen. Wenn man den Satellitenbildern der Regierung glauben durfte, trugen sie dabei auch noch seltsame Gewänder aus Blättern und Pflanzen und vollführten Tänze, die dem neutralen Zuschauer den Eindruck vermittelten, die Ärmsten wären einer schweren Krankheit zum Opfer gefallen, die Geist und Muskeln befiel.

»Nicht das, was du denkst«, ging Horaz dazwischen, als hätte er Sia die Bilder angesehen, die sich in ihrem Kopf zusammenfügten. »Ich spreche von echten Naturvölkern, die nicht nur die Bedürfnisse der Menschen beachten, sondern die auch die Natur verstehen. Die Tiere und Pflanzen. Den ganzen Planeten. Fast wie Magie.«

Sia verdrehte die Augen und versetzte dem Tischbein zu ihrer Linken einen wütenden Tritt.

»Magie gibt es nicht«, statuierte sie mürrisch.

War ihr Gastgeber verrückt oder wollte er sie zum Narren halten? Es gab hochentwickelte Technologien, Hologramme, Scanner überall und fortgeschrittene Methoden zur Bekämpfung von Krankheiten und Verbrechen gleichermaßen, aber gewiss keine Magie. Seit langem wurde außerdem an Teleportationsmöglichkeiten geforscht, die allerdings über die erste Entwicklungsphase nicht hinauskamen und zu Beginn der Anwendung nur wichtigen Amtsträgern zur Verfügung stehen sollten. Auch das hatte nichts mit etwas Übernatürlichem zu tun.

Horaz schien daraufhin nicht nur enttäuscht, sondern zornig. Er ballte die Hände zu Fäusten, bis die Nähte seiner Frotteehandschuhe rissen, und beugte sich bedrohlich über den Tisch, bis sein Gesicht beinahe Sias berührte.

»Es gibt keine Magie? Und da bist du sicher, Dummkopf?«

Sia funkelte ihm nicht minder wütend entgegen. »Absolut sicher!«, betonte sie ruhig und doch voller Wut.

Sie hatte diesem Mann nichts getan, trotzdem behandelte er sie mal wie eine Attraktion und dann wie ein kleines Kind. Beides hasste Sia abgrundtief. Warum nur hatte Otis sie zu so einem Verrückten geschickt? Wäre es irgendjemand anderes gewesen, wäre Sia längst verschwunden, mit Verfolgern oder ohne.

»Dann hast du ja nichts zu verlieren«, schlussfolgerte Horaz mit einem gefährlichen Blitzen seiner strahlend weißen, dreieckig geschliffenen Zähne.

Im nächsten Moment schnellten seine Hände nach vorne und umklammerten Sias Handgelenke. Noch bevor diese sich wehren konnte, wurde sie weggezogen, aber nicht nur nach vorne über den Tisch, sondern auch weit in die Luft.

Ich stoße bestimmt jeden Moment gegen die Decke