Edinburgh on the Rocks - Gabriele Ketterl - E-Book

Edinburgh on the Rocks E-Book

Gabriele Ketterl

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Für die 21-jährige Anabel erfüllt sich ein Traum, als sie ihre Zusage zum Studium an der Kunsthochschule in Edinburgh bekommt. Kurzerhand lässt sie ihr altes Leben hinter sich und zieht in eine WG in Schottland. Als sie eines Nachts jedoch alleine durch den verlassenen Holyrood Park nach Hause läuft, steht sie plötzlich einer Truppe betrunkener Hooligans gegenüber. Zum Glück kommt ihr ein mysteriöser, schwarz gekleideter Motorradfahrer zu Hilfe. Zwar ist dieser ihr fast so unheimlich wie ihre Angreifer, doch seine faszinierenden blauen Augen gehen ihr von da an nicht mehr aus dem Kopf. Einige Tage später wird Anabel von ihren Mitbewohnern auf das Konzert einer angesagten Rockband mitgeschleppt. Sie traut ihren Augen kaum, als sie in dem attraktiven Sänger der Band ihren Retter wiedererkennt … 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die AutorinGabriele Ketterl, geboren in München, studierte Amerikanistik und Theaterwissenschaften an der Ludwig Maximilians Universität. Inspiration für ihre Geschichten sammelte sie durch zahlreiche Auslandsaufenthalte, unter anderem in Los Angeles, London und Madrid. Über zwei Jahre lebte sie auf den Kanarischen Inseln, weshalb sie Teneriffa als ihre zweite Heimat bezeichnet. Die Autorin hat 2013 ihren ersten Roman veröffentlicht und es folgten bereits viele weitere. Heute lebt Gabriele Ketterl wieder in München.

Das Buch

Für die 21-jährige Anabel erfüllt sich ein Traum, als sie ihre Zusage zum Studium an der Kunsthochschule in Edinburgh bekommt. Kurzerhand lässt sie ihr altes Leben hinter sich und zieht in eine WG in Schottland. Als sie eines Nachts jedoch alleine durch den verlassenen Holyrood Park nach Hause läuft, steht sie plötzlich einer Truppe betrunkener Hooligans gegenüber. Zum Glück kommt ihr ein mysteriöser, schwarz gekleideter Motorradfahrer zu Hilfe. Zwar ist dieser ihr fast so unheimlich wie ihre Angreifer, doch seine faszinierenden blauen Augen gehen ihr von da an nicht mehr aus dem Kopf. Einige Tage später wird Anabel von ihren Mitbewohnern auf das Konzert einer angesagten Rockband mitgeschleppt. Sie traut ihren Augen kaum, als sie in dem attraktiven Sänger der Band ihren Retter wiedererkennt … 

Gabriele Ketterl

Edinburgh on the Rocks

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin September 2017 (1)  © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat  ISBN 978-3-95818-170-0  Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Für Kevin De’Ath.

Wo immer du auch sein magst …

Wir mögen Menschen, die frisch heraus sagen, was sie denken,

vorausgesetzt, sie denken dasselbe wie wir.

Mark Twain (1835–1910)

1

Kunsthochschule München, März 2016

»Anabel, die Bilder sind wirklich der Wahnsinn. Und Sie wissen genau, wenn ich das sage, dann hat es etwas zu bedeuten.«

Ja, das wusste sie allerdings. Wenn sich Professor Klaus Hübner zu einer derartigen Aussage hinreißen ließ, dann war das von einem Ritterschlag nicht allzu weit entfernt.

»Meinen Sie wirklich? Ich war mir noch ein wenig unsicher.« Erneut ließ Anabel ihren Blick über die vor ihnen auf dem Tisch ausgebreiteten Zeichnungen und Aquarelle schweifen.

»Sehen Sie, genau daran müssen wir dringend arbeiten. Sie müssen endlich Selbstbewusstsein an den Tag legen. Na los, sehen Sie sich an, was Sie geleistet haben, das muss Ihrem Ego doch einen Schubs in die richtige Richtung geben, oder?« Sichtlich neugierig musterte er sie.

Anabel zog die Schultern hoch. »Ja, schon. Zumindest ein bisschen.«

Nachdenklich schüttelte ihr Professor den Kopf. »Anabel, Anabel, was soll ich nur mit Ihnen tun? Ach, wissen Sie was? Da überlegen wir jetzt gar nicht lange. Mein lieber Freund Ivo hat in Schwabing diese etwas abgefahrene Galerie. Ich weiß, dass er für die nächste Ausstellung noch junge Künstler sucht. Ich melde Sie da an, basta.«

»Aber …« Weiter kam sie nicht.

»Nichts da, ich will kein ›aber‹ hören. Sie werden sich nun endlich einmal, zusammen mit Ihren Werken, der Öffentlichkeit präsentieren. Ich habe das beschlossen und somit gibt es kein Zurück.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und er kratzte sich nachdenklich an seinem schon ergrauten Bart. »Dass man euch Jungvolk immer zu eurem Glück zwingen muss. Komisch, die mit wesentlich weniger Talent glauben immer, dass sie mindestens im Prado in Madrid ausstellen müssten. Also, Anabel, Schultern zurück, Brust raus, Kopf hoch und los geht’s!«

Professor Hübner klopfte ihr noch einmal aufmunternd auf den Rücken und entschwand sodann in seine nächste Vorlesung.

Da stand sie nun: unglaublich stolz und zugleich dermaßen aufgeregt, dass ihre Hände zitterten, während sie ihre Bilder vorsichtig wieder zusammenrollte und in die Hülle steckte. Das erste Jahr war eine Katastrophe gewesen, was nicht zuletzt in ihrer eigenen Unsicherheit begründet lag. Doch seitdem war es stetig bergauf gegangen.

Eine Ausstellung, noch dazu in einer sehr angesagten Galerie, war in München eine unglaubliche Chance, selbst wenn sie nur eine von vielen sein würde.

Voller Freude packte Anabel ihre Sachen zusammen und beeilte sich, den Zug nach Starnberg zu erreichen. Hoffentlich waren ihre Eltern nun endlich einmal stolz auf das, was ihre Tochter vorweisen konnte.

»Bellchen, Mäuslein, da bist du ja endlich. Wir warten schon seit einer Stunde.«

Der leicht anklagende Ton in der Stimme ihrer Mutter ließ prompt einen Teil ihrer Freude verpuffen. Himmel noch mal, konnte sie denn nicht einmal nach Hause kommen, ohne sofort überfallen zu werden? Und wann würde sich ihre Mutter endlich dieses schreckliche »Bellchen« abgewöhnen?

»Jetzt bin ich ja da.« Eilig streifte sie sich im Flur des elterlichen Bungalows die Schuhe von den Füßen. Sie wusste, dass ihre Mutter es ganz und gar nicht zu schätzen wusste, wenn man in Straßenschuhen ins Haus lief. Rasch schob sie die Schuhe so hin, dass sie sich in die Reihe an der Garderobe einordneten. »Und ich habe tolle Neuigkeiten für euch.«

»Warte, bis du unsere hörst. Du wirst Augen machen, Mäuslein.«

Oh, was machte denn ihr Vater um diese Zeit schon hier? Eigentlich brachte doch nichts und niemand Friedrich Taschner vor neunzehn Uhr aus seiner Steuerkanzlei.

»Toll, dass du auch da bist, Papa. Dann kann ich euch die Neuigkeit gleich zusammen erzählen.« Anabel trat in den Durchgang, der zum offenen Wohnzimmer führte.

»Bellchen, das wird warten müssen. Wir platzen fast schon und müssen dir sofort erzählen, was heute Nachmittag passiert ist.«

Seufzend betrat Anabel das Wohnzimmer, in dem ihre Eltern ihr, von der wuchtigen Ledercouch aus, entgegenstrahlten.

»Gut. Also ihr zuerst; dann aber bitte ich. Ich freue mich schon seit München darauf, es euch zu erzählen.«

»Natürlich, mein Mäuslein, natürlich. Jetzt ist erst einmal dein alter Vater an der Reihe.«

Ein wenig überrumpelt blieb Anabel stehen. »Na, dann raus damit. Ihr seht aus, als ob ihr ein paar Millionen im Lotto gewonnen hättet.« Nervös drehte sie die große Rolle mit ihren Arbeiten in den Händen.

»Nicht wir, Bellchen, du hast gewonnen.« Nun erhob sich auch noch ihre Mutter und trat mit ausgestreckten Armen auf sie zu. »Unseren allerherzlichsten Glückwunsch, mein Kind!«

»Ähm, wie jetzt? Wie könnt ihr denn wissen …?«

»Ach Kind, willst du denn behaupten, dass du es nicht geahnt hast? Dein Maximilian war heute bei uns, da schau hin.« Ihr Vater ergriff sie an den Schultern und drehte sie sanft zur Seite.

Anabels Blick fiel auf einen gigantischen, völlig überladenen Blumenstrauß. Nur leider verstand sie beim besten Willen immer noch nicht, wovon die beiden gerade sprachen.

Ihr Vater schüttelte sie leicht an den Schultern. »Anabel, nun stell dich nicht dümmer als du bist. Maximilian hat heute offiziell, so wie sich das bei uns hier einfach noch gehört, um deine Hand angehalten. Na, bist du jetzt glücklich?«

Glücklich? Nein, das war sie tatsächlich nicht, nicht im Entferntesten. Wie kam Maximilian dazu, um ihre Hand anzuhalten, ohne vorher mit ihr darüber geredet zu haben? Erst letzte Woche hatte sie Stunden damit zugebracht, ihm zu erklären, was sie alles mit dem Kunststudium erreichen könnte. Eigentlich war sie der Auffassung gewesen, dass er zumindest ein klein wenig stolz auf seine talentierte Freundin war. Und nun das? Irgendetwas passte hier nicht zusammen. Überhaupt nicht.

»Aber wir haben noch gar nicht übers Heiraten geredet. Wieso fragt er denn zuerst euch?« Anabel war verwirrt.

Ihre Mutter strich sich das wohlfrisierte, platinblond gefärbte Haar zurück. »Bellchen, weil er ein Kavalier alter Schule ist und weil seine Eltern ihn sehr gut erzogen haben.«

Marie-Luise Taschner erhob sich und glättete ihr beigefarbenes Etuikleid. »Das ist in der heutigen Zeit viel wert, weißt du?«

»Mag sein, aber nach sechs Jahren würde ich eigentlich erwarten, dass er damit zuerst zu mir kommt.«

Die Züge ihres Vaters wurden prompt ernster. »Anabel, was gibt es denn hier zu nörgeln? Maximilian gehört doch sowieso schon zu unserem Leben. Dazu noch seine ausgesprochen angenehme Familie. Ich muss zugeben, deine Mutter und ich sind sehr glücklich, dass sich alles so hervorragend entwickelt hat.«

Sie schwieg eine Weile. »Ja, ich war heute auch glücklich, aber aus einem anderen Grund. Eigentlich wollte ich euch ja erzählen, dass mein Professor der Meinung ist, dass meine Arbeiten schon seit geraumer Zeit gut genug für eine Ausstellung sind. Bitte versteht das jetzt nicht falsch, aber interessiert euch das in irgendeiner Form? Ich meine, alles worüber ich mich freue? Das, was ich erreicht habe?«

Ihre Mutter zog eine kaum merkliche Grimasse, die Anabel aber leider nicht entging. »Ach, Bellchen, sei mir nicht böse, aber unter dem Strich ist die Malerei eine brotlose Kunst, sofern du keinen großen Namen hast.«

»Mama, kannst du mir erklären, wie ich mit der Einstellung jemals einen großen Namen bekommen soll?«

»Na komm, nun sei nicht gleich aufgebracht. Du hast damit ja ein schönes Hobby, mit dem du dich beschäftigen kannst.« Auf dem Gesicht ihrer Mutter erschien ein Lächeln, das sich zunehmend vertiefte.

Unsicher huschte Anabels Blick zwischen ihren Eltern hin und her. »Ihr beiden habt da noch etwas in petto, nicht wahr? Ich sehe es euch doch an. Was kommt denn jetzt noch?«

»Nun ist es aber gut. Lass bitte diesen genervten Ton, Anabel. Es sollte dir bewusst sein, dass wir alle nur wollen, dass du eine gesicherte Zukunft hast.« Ihr Vater hob den Kopf und seine Brauen zogen sich bedrohlich zusammen. Normalerweise ein Warnzeichen, das sie einzuordnen wusste, aber heute wollte sie das schlicht und ergreifend nicht.

»Kann mir einer von euch dann sagen, warum ich überhaupt studiere?«

»Noch einmal, Anabel, zügle bitte deinen Ton. Das Studium gehört zu einer, deinem Hintergrund angemessenen Ausbildung. Du weißt, dass wir beide Germanistik bevorzugt hätten. Du hast jedoch deinen Willen durchgesetzt und wir haben uns diesem gebeugt.«

Sie musste sich auf die Zunge beißen, um sich eine bittere Bemerkung zu verkneifen. Was wollte sie den beiden eigentlich beweisen? Ihre Eltern waren tief im Gemeindeleben verwurzelte und, sehr zu ihrem Leidwesen, erzkonservative Menschen. Sie würden nie und nimmer verstehen, wie viel die Kunst ihr bedeutete. Andererseits wusste sie, dass sie ihr beileibe nichts Böses wünschten. Sicherlich wollten sie nur ihr Bestes, aber war es das auch tatsächlich – ihr Bestes? Na prima, schon wieder dieser andauernde Zweifel an ihren eigenen Gedanken. Was war es, das so sehr an ihr nagte? Woher kamen die leisen Zweifel, ob dieses Leben zwischen Einladungen, Wellnesstrips, Gartenfesten bei den zukünftigen Schwiegereltern und der Ehrenmitgliedschaft im örtlichen Golfclub das war, das für sie vorbestimmt sein sollte? Wollte sie tatsächlich Torten für Charity-Abende backen? Okay, das tat sie ja schon, aber ehrlich, Spaß machte es ihr nicht.

Ihr Vater unterbrach ihre Gedanken, indem er seinen Faden von vorhin wiederaufnahm. »Was ich noch sagen wollte und ich hoffe, dich damit endlich aufheitern zu können: Wir haben ein wunderschönes Haus für euch gefunden!« Zufrieden blickte er auf Anabel hinab.

»Haus? Für uns??«

»Ja, natürlich. Wenn ihr schon heiratet, dann müsst ihr auch angemessen wohnen. Hier unter unserem Dach klappt das ja leider nicht – in Ermangelung eines Dachgeschosses.« Friedrich Taschner lachte über seine eigene Bemerkung. »Richard und ich haben da ein ausnehmend schönes Reihenhäuschen für euch gefunden. Sehr gute Lage, nicht weit vom See entfernt, hübscher Garten mit nur drei angrenzenden Nachbarhäusern. Der Preis ist ausgesprochen vernünftig und es gefällt uns wirklich gut.«

Nun war es so weit. Es verschlug ihr die Sprache. Wie konnten sich die Väter einfach hinter ihrem Rücken zusammentun? Waren denn alle total verrückt geworden? Hochzeit, Reihenhaus … – ihr ganzes Leben schien durchgeplant zu werden.

»Toll, wirklich. Und was sagt Maximilian dazu?«

»Der ist begeistert. Das Haus ist nicht weit von der Kanzlei entfernt, und sobald er richtig einsteigen kann, hat er keine weiten Wege. Es liegt zwischen der Kanzlei Ziegler und Partner und meiner und ist damit in jeder Weise perfekt.«

»Aha, das ist ja fein, dass er es schon kennt.«

»Aber, Bellchen, einer musste es sich ja vorab ansehen und das ist doch dann immer die Entscheidung desjenigen, der den Hauptteil des Lebens finanziert.«

Super! Bravo! Mittelalter pur! Was kam denn nun noch? Fehlte noch etwas? Der Küchenplan für die ersten drei Monate, oder so? Langsam wurde ihr übel und ihre Bilder, die sie noch immer umklammerte, schienen schwerer zu werden. Mittlerweile fühlten sie sich an, als würden sie zwei Zentner wiegen.

»Hat mein Zukünftiger angedeutet, wann er mit mir darüber reden will?«

»Anabel, ich warne dich. Wehe du machst dem armen Kerl eine Szene. Er hat sich nur an gute, alte gesellschaftliche Gepflogenheiten gehalten. Alles ist perfekt. Komm jetzt bitte nicht auf die abwegige Idee, nur aus gekränkter Eitelkeit einen Misston einzubringen.«

Aha, ihr Vater fürchtete Misstöne. Immerhin. Das kannte sie: Kleine Unsicherheiten verbarg er immer hinter Strenge.

»Nein, keine Misstöne. Ich wollte nur wissen, wann er gedenkt, mich über die aktuellen Ereignisse in Kenntnis zu setzen.«

»Dein Ton will mir gar nicht gefallen. Maximilian wird heute um sieben Uhr hier sein. Falls ihr nicht etwas anderes ausmacht.«

Anabel schielte zur Wanduhr: Sieben! Das gab ihr genau zwei Stunden. Nicht gerade viel, aber sie musste schnell handeln, sonst würde die Übermacht hier im Haus ihre aufkeimenden Zweifel, ihren Ärger über die Tatsache, wie hier mit ihrem Leben umgesprungen wurde, im Keim ersticken. Zumindest reden wollte sie darüber, vielleicht reagierte sie ja einfach nur über, vielleicht war all das ja wirklich das Beste für sie. Doch die einzige, wirklich neutrale Person, mit der sie darüber reden konnte, fand sie gewiss nicht unter diesem Dach.

»Nein, das ist es nicht. Ich muss nur schnell nochmal zu Maria, um über das nächste Wochenende zu reden. Du weißt doch, dass wir den Kuchenstand beim Dorffest organisieren sollen.«

Sofort wurden die Mienen ihrer Eltern wieder heller. »Natürlich, dann seht mal zu, dass ihr das gut plant. Die Bürgermeister von Starnberg und Tutzing werden da sein.«

Sie grinste in sich hinein. »Keine Bange, wir schaukeln das schon. Ich sehe zu, dass ich pünktlich wieder zurück bin. Sollte ich mich etwas verspäten, dann unterhaltet ihr bitte Maximilian ein wenig, okay?«

»Gerne. Aber du siehst zu, dass es nicht allzu spät wird, ja, junge Dame?«

»Sicher, Papa.«

Ab und an fühlte sich ihr Leben an, als sei sie zunehmend in einen falschen Film geraten. So, als bekäme der Film Risse, durch die man in eine zweite Realität blicken konnte. Diese Realität beunruhigte sie zwar, machte aber auch sehr neugierig. In dieser Realität sah sie sich ihre eigenen Entscheidungen treffend. Dann wieder schob sich der Hauptfilm vor ihre Augen, der ihr vormachte, dass ihre heile Welt eigentlich in Ordnung war. Stimmte etwas in ihrem Kopf nicht mehr? Wurde sie langsam verrückt?

Ihr blieb keine Zeit, um sich darüber Gedanken zu machen. Eilig lief sie in ihr Zimmer, zog ein dickes Sweatshirt über und flocht sich die langen, honigblonden Haare zu einem strengen Zopf, damit sie ihr beim Radeln nicht im Gesicht hängen würden. Hektisch schlüpfte sie in ihre geliebten, alten Turnschuhe, schnappte sich das Handy und flitzte aus dem Haus. Sie sprang auf ihr altes Hollandrad, fuhr los und wählte die Nummer ihrer Freundin Maria.

Dem Himmel sei Dank ging Maria auch sofort ans Telefon.

»Bin ich froh, dass du drangehst. Hör zu, Maria. Ich bin auf dem Weg zu Tante Gesa, aber offiziell bin ich bei dir wegen nächstem Wochenende. Sollten meine Eltern anrufen, dann weißt du Bescheid, oder?«

»Servus, erst einmal. Warum sollten die bei mir anrufen? Schließlich hast du doch ein Handy?« Maria war eher der logisch denkende Typ Mensch.

»Schon, aber es könnte sein, dass sie im Moment ein wenig argwöhnisch sind.«

»Aha, bekomme ich Eckdaten oder muss ich raten?«

»Eckdaten lauten: Maximilian hat bei meinen Eltern um meine Hand angehalten, ohne vorher mit mir zu sprechen. Unsere beiden Elternpaare haben bereits ein Reihenhäuschen für uns gefunden und meine Zukunft steht damit fest.«

»Jetzt spinnen sie aber, oder? Und zwar alle. Menschenskinder, lass dich davon jetzt bitte nicht verrückt machen. War da nicht etwas mit deinem Prof und einem Termin bei ihm?«

»Ja, stell dir vor: Er denkt, ich sei gut genug für eine Ausstellung. Hörst du das? Und anstatt dass sich meine Eltern mit mir freuen, bekomme ich meine Zukunft präsentiert wie ein Gesamtpaket, das ich gefälligst zu akzeptieren habe.«

»Hm, klingt ein bisschen nach ›friss oder stirb‹. Ich versteh schon, warum du zu Gesa fährst. Gute Entscheidung. Wenn jemand helfen kann, dann sie. Und ich weiß Bescheid – falls sie sich hier melden, erzähle ich, du bist im Augenblick aus dem Haus.«

»Danke, Maria. Du bist ein Schatz.«

»Als ob ich das nicht wüsste.«

Zufrieden schob Anabel das Handy in ihre Hosentasche. Das wäre geregelt. Hoffentlich war Tante Gesa Zuhause, aber sie musste einfach da sein, denn Maria lag schon richtig. Gesa, Vaters liebenswert durchgeknallte Hippieschwester, war der einzige Mensch, der ihr dabei helfen könnte, ihre wirren Gedanken vernünftig zu sortieren.

In halsbrecherischer Geschwindigkeit bog Anabel in die enge Sackgasse ein, an deren Ende sich Gesas kleines Häuschen, mitten in einem herrlich-romantisch-verwilderten Garten, befand. Die Hecke, die das Grundstück umgab, grünte schon und an den Ranken am Haus zeigten sich die ersten Knospen. Wie genau Gesa das machte, war ihr schleierhaft, aber einen grünen Daumen hatte sie bestimmt. Schnaufend sprang Anabel vom Rad, öffnete das Gartentürchen und sprintete im Laufschritt die leicht ansteigende Auffahrt hoch zum Haus. Hier betätigte sie die alte Glocke neben der Tür und prompt fühlte sie sich um Jahrzehnte zurückversetzt. Alleine der melodiöse Klang der Glocke ließ sie lächeln. Ungeduldig klopfte sie an die Tür.

»Gesa! Ich bin’s, Anabel. Bist du da? Bitte sag, dass du da bist.«

»Sobald du die Luft anhältst und mir die Gelegenheit dazu gibst, würde ich das gerne tun.«

Gesas wuscheliger blonder Lockenkopf, in den sich hier und da erste graue Strähnchen mischten, tauchte an dem Fenster über ihr auf. »Ich komm gleich runter. Atme du erst mal durch, meine Große.«

Meine Große! Gesa ahnte ja nicht, wie dankbar sie ihr alleine dafür schon war.

Ein Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt und mit leisem Quietschen dreimal gedreht. Die hölzerne Tür öffnete sich und vor ihr stand die lächelnde Gesa, wie immer in einem weiten, fast bodenlangen Leinenkleid in buntesten Farben, die wuseligen Locken nur mit einer hölzernen Spange ein wenig in Schach gehalten; und wie immer klapperten an den Armen der Tante zahllose Holzarmreifen.

»Anabel, wie schaust du denn aus? Hast du einen Geschwindigkeitsrekord gebrochen? Du glühst ja regelrecht. Jetzt komm schon rein.«

Die Tante ergriff ihren Arm und zog sie liebevoll, aber bestimmt in den engen Flur, in dem es schon wieder nach Räucherstäbchen duftete.

»Los, ab in die Küche. Ich koch uns einen feinen Tee und dann erzählst du, was du auf dem Herzen hast.«

Anabel musste tief Luft holen, ehe sie wieder vernünftig reden konnte. »Woher weißt du, dass ich etwas auf dem Herzen habe?«

Gesa füllte den antik anmutenden Wasserkessel, stellte ihn auf dem Gasherd ab und entzündete die Flamme darunter. »Anabel, glaubst du, ich werde senil? Da täuschst du dich gewaltig. Und dass du total durch den Wind bist, das sieht ein Blinder. Dafür brauch ich keine übersinnlichen Fähigkeiten.«

Gesa angelte eine bauchige, knallrote Teekanne aus dem Schrank, kippte eine gute Menge Tee aus einer Verpackung in den Filter und hängte diesen in die Kanne.

»Hm, das riecht aber lecker. Was ist denn das für eine Mischung?«

Gesa grinste sie breit an. »Ayurvedischer Glückstee. Ich habe so das Gefühl, dass du den gerade gut gebrauchen kannst.«

Anabel zog eine traurige Grimasse. »Dann mach bitte gleich ein paar Liter davon. Ich glaube, eine Kanne langt heute nicht.«

»Kind, Glückstee habe ich pfundweise im Haus, keine Panik. Hol lieber den Honig aus dem Regal und zwei Tassen aus dem Schrank und stell das schon mal auf den Tisch.«

Anabel tat wie ihr geheißen. Sie holte zwei der riesigen Steinguttassen aus dem Schrank, stellte das Honigtöpfchen daneben und setzte sich an den massiven Holztisch in Gesas kleiner, aber urgemütlicher Wohnküche. Gesa brühte den Tee auf, stellte die Kanne auf den Tisch, setzte sich Anabel gegenüber und sah sie erwartungsvoll an.

»So, Lieblingsnichte, während der Tee zieht, fängst du bitte an zu erzählen. Ich höre!«

Und Anabel erzählte.

Sie berichtete von allem, was sich in den letzten Stunden ereignet hatte: von ihren wirren Gedanken und ihren stillen Träumen, von ihren Eltern und deren Wünschen, von Maximilian und dessen Plänen.

Irgendwann, nach ziemlich langer Zeit, unterbrach Gesa sie.

»Stop! Anabel, Stop! Sofort! Jetzt einmal langsam und der Reihe nach. Ich will nicht wissen, was mein geringfügig spießiger Bruder oder dein Beinahe-Verlobter wollen, sondern ich würde jetzt gerne hören, was du willst. Ich will wissen, was Anabel möchte.«

»Das ist ja das Problem. Ich glaube, dass ich das nicht weiß.«

»Schmarrn! Natürlich weißt du das. Du bist eine intelligente, junge Frau, die, wenn man sie ließe, sehr genau wüsste, was sie will. Zum Donnerwetter, Anabel, du bist doch kein kleines Kind mehr.«

»Das nicht, aber ich werde andauernd so behandelt.«

Gesa goss ihr mit ernster Miene die vierte Tasse Glückstee ein, klatschte ihr etwa ein Viertelpfund Honig in das Getränk und sah sie mit gerunzelter Stirn an.

»Hör zu, du sagst mir jetzt, was in der letzten Zeit das Schönste war, das du erlebt hast. Denk nach, aber nicht zu lange. Ich bitte mir Spontanität aus.« Gesa fuchtelte so heftig mit den Armen, dass ihre diversen Armreifen klapperten wie Kastagnetten.

»Gut, also da war zuerst das Wochenende in Schottland. Du erinnerst dich? Als Papa bei diesem Seminar war und Mama und mich mitgenommen hat? Ich bin durch Edinburgh gestromert und Mama hat sich zwei Tage in der Wellness-Oase des Hotels verschanzt. Es war so schön dort, also in der Stadt, nicht in der Wellness-Oase.« Grübelnd trank Anabel einen großen Schluck Tee. »Und dann heute das Gespräch mit meinem Professor. Ach, Gesa, ich war so stolz und so glücklich. Und kaum komme ich heim, werde ich wieder zum hilflosen Mädel degradiert. Leider bin ich das ja auch.«

»Unfug, das bist du nicht. Naja, ein bisschen vielleicht, aber das ist nichts, woran man nicht arbeiten kann. Aber mein Herr Bruder hat dich ja immer vom echten Leben ferngehalten. Nur weil er den Starnberger See als eine Art Insel der Glückseeligen betrachtet, muss das ja noch lange nicht stimmen, nicht wahr?« Gesa stützte das Kinn in die Handflächen und runzelte die Stirn. »Dir hat Schottland gefallen? Du machst große Fortschritte in der Kunst? Du wirst gerade komplett überfahren und weißt nicht mehr, wo dir der Kopf steht?« Lächelnd lehnte sich ihre Tante auf dem großen Holzstuhl zurück. »Anabel, ich glaube, du musst nach Schottland.«

Erstaunt ließ Anabel die Tasse sinken, aus der sie gerade trinken wollte. »Wie meinst du das? Ich muss nach Schottland?«

»Rede ich Chinesisch, oder was? So wie ich es sagte, meine ich es auch. Jetzt warte mal kurz, ich bin sofort wieder da.« Gesa sprang von ihrem Stuhl auf und eilte aus der Küche.

Ehe Anabel richtig zum Nachdenken kam, schwebte Gesa auch schon wieder rein.

»Tantchen, was ist das denn?« Erstaunt musterte sie den Gegenstand, den Gesa gerade auf dem Küchentisch abstellte. Der große, knallrosa Kasten entpuppte sich doch tatsächlich als moderner Laptop. »Ist es das, was ich denke? Coole Farbauswahl, Gesa.« Grinsend strich sie über die spiegelnde Lackoberfläche.

Auf Gesas Gesicht erschien ein triumphierendes Lächeln. »Ja, da schaust du, was? Deine – laut deinem Vater – alte Tante ist ja dermaßen was von technisch up to date.« Schwungvoll klappte sie den Laptop auf, schaltete ihn an und sah sich suchend um. »Na, Donnerlittchen, wo habe ich es denn wieder?«

»Wo hast du was?«

»Na, das Kabel für den Internetanschluss, Kind. So ganz ohne geht es ja nun doch nicht.«

»WLAN?«

»Übertreibe es nicht. Wenn das Ganze über ein ordentliches Kabel läuft, dann kann ich es mir wenigstens noch einigermaßen erklären. Wenn aber Kommunikation freischwebend durch die Luft abläuft, ist mir das immer noch ein kleines bisschen unheimlich … Ah, da ist es ja.« Gesa fischte ein langes Kabel unter dem Tisch hervor und stöpselte es ein.

Schmunzelnd beobachtete Anabel ihre Tante. Gesa war stets aufs Neue für Überraschungen gut – noch ein Pluspunkt mehr, den sie für sich sammelte.

»Jetzt warte mal, gleich habe ich es. Ah, ich bin drin. So, und jetzt noch auf die richtige Seite …«

Anabel beugte sich neugierig über den Tisch. »Gesa, weihst du mich bitte in deine Gedankengänge ein oder muss ich dumm sterben?«

»Musst du nicht, aber wenn ich richtig verstanden habe, dann drängt die Zeit, oder?«

Anabel nickte ergeben. »Ziemlich, und das auch noch in jeder Beziehung.«

»Siehst du, darum lass mich einfach mal schnell machen.« Gesa tippte eine Weile mit angestrengter Miene auf der Tastatur herum, ehe ein strahlendes Lächeln auf ihren Zügen erschien. »So, jetzt. Rutsch rüber.«

Gesa machte ihr etwas Platz und Anabel schob ihren Stuhl neben den der Tante. In dem Augenblick, als Anabels Blick auf den Bildschirm fiel, entschlüpfte ihr ein lautes »Der Wahnsinn«.

Ihre Tante hatte die Seite der Universität von Edinburgh, oder vielmehr der dort beheimateten Kunsthochschule, aufgerufen: eine Seite, auf der man eine Onlinebewerbung mit Auskunft über sich selbst und seinen Studienwunsch ausfüllen konnte.

»Menschenskinder, Gesa, ich kann mich doch nicht an der Universität in Schottland anmelden.«

Gesas Hand legte sich beruhigend auf die ihre. »Ach, und warum nicht? Sag mir einen guten Grund, bitte.«

»Meine Eltern.«

»Ich sagte: einen guten Grund! Also probiere es nochmal.«

»Maximilian … ich kann sie doch nicht alle enttäuschen. Nach allem, was sie für mich getan haben.«

»Auszeit! Sofort! Hörst du dir eigentlich selber zu, Anabel? Das sind nicht deine Worte; da melden sich doch schon wieder deine Eltern; so geht das nicht. Es ist, zum Donnerwetter nochmal, dein Leben. Ich frag dich jetzt ein paar Dinge und du antwortest mir spontan und ehrlich darauf. Hast du mich verstanden?«

Anabel nickte kleinlaut. »Hab ich.«

»Willst du heiraten und in ein Reihenhaus ziehen?«

»Eigentlich nicht.« Anabel schüttelte sich ein klein wenig.

Gesa runzelte die Stirn. »Eigentlich?«

»Na gut. Nein, will ich nicht.«

»Schon besser«, konstatierte ihre Tante mit strenger Miene.

»Willst du dein Talent mit Werbeplakaten für den nächsten Tanzabend vom Heimatverein vergeuden?«

»Nein.« Die Antwort war ihr besonders leichtgefallen.

»Willst du etwas von der Welt sehen? Willst du andere Länder kennenlernen, ganz zu schweigen von anderen Menschen, anderen Kulturen?«

»Ja, das wäre toll.«

»Ha! Ich wusste es.« Gesa lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte mit zufriedenem Lächeln die Arme vor der Brust.

»Kann es sein, dass deine Gegenargumente sich gerade ziemlich erschöpft haben, meine Große?«

Anabel zog eine Schnute und wurde nachdenklich. »Erwischt. Ganz ehrlich? Ich glaub einfach, dass ich mehr Angst als Heimatsliebe habe.«

Gesa legte ihr den Arm um die Schulter und zog sie beruhigend an sich. »Angst darfst du haben, Kind, nur feige darfst du nicht sein. Wir füllen das da jetzt aus, ich speichere es ab und du schickst mir, sobald du daheim bist, deine Zeugniskopien und deine Immatrikulationsbescheinigung von der Münchner Uni. Sobald ich alles habe, schicke ich das Ganze los. Keine Diskussion mehr.«

Anabel holte tief Luft. »Aber, Gesa, stell dir vor, die nehmen mich.«

Seufzend und mit mildem Lächeln legte ihre Tante die Hand unter Anabels Kinn und drehte ihr Gesicht so, dass sie ihr in die Augen sehen konnte. »Stell du dir lieber vor, dass das der Grundgedanke hinter der Aktion ist. Und jetzt schnell, los geht’s. Geburtsdatum – weiß ich selbst, Adresse, vollständiger Name …«

Keine fünfzehn Minuten später war der komplette Bogen ausgefüllt und Anabel starrte wie gebannt auf den Monitor. »Gesa, ich habe immer noch Angst.«

»Das ist durchaus legitim, aber mir ist es gerade absolut schnurz, Kind. Das war der erste Schritt. Du radelst jetzt in Windeseile nachhause und mailst mir noch heute Nacht die notwendigen Unterlagen zu. Ich schick dann alles sofort ab.«

Sie umklammerte Gesas rechte Hand so fest, dass sie leise knirschte. »Meinst du echt?«

Mit einem Lächeln zog die Tante ihre Hand sanft zurück. »Meine ich. Aber das wird nichts, wenn du mir die Finger brichst, Schatz. Abgesehen davon schmeiß ich dich jetzt umgehend raus, denn sonst hast du daheim gleich wieder Ärger. Lass dich nur ja nicht beschwatzen, hörst du? Edinburgh und ein selbstbestimmtes Leben warten auf dich, hast du mich verstanden?«

Anabel nickte gehorsam. »Jede Silbe, Gesa.«

»Dann raus mit dir. Ich verlass mich auf dich.«

Anabel spülte die erneut aufkeimenden Bedenken mit dem letzten Schluck Glückstee hinunter, umarmte Gesa und schwang sich auf ihr Fahrrad. Schon auf dem Rückweg wurde ihr wieder flau im Magen. Falls es klappte, wie sollte sie das ihrer Familie beibringen, ganz zu schweigen von Maximilian? Während sie in einem Höllentempo zurück nach Hause radelte, ging es in ihrem Kopf zu wie in einem Bienenstock. Aber warum machte sie sich eigentlich schon so viele Gedanken? Immerhin bestand ja noch die Möglichkeit, dass ihre Bewerbung abgelehnt wurde.

Edinburgh, Schottland, früher Abend

Verflucht aber auch, nun kam er schon wieder zu spät zu seinem Training. Alistair würde ihm die Hölle heiß machen und das zurecht. Bei dem Regen konnte er allerdings, wollte er die Fahrt überleben, nicht schneller fahren. Der Dauernieselregen hatte das Kopfsteinpflaster der Highstreet in eine verdammt gefährliche Rutschfalle verwandelt. Vorsichtig bremste Duncan ab und lenkte seine schwere Maschine in eine unscheinbare Einfahrt. »Body & Move« stand in kleinen Lettern auf einem einfachen Schild an der Mauer. Das Fitnessstudio von Stuntman Alistair Allan war ihm zu einer Art zweitem Zuhause geworden. Hier durfte er ganz er selbst sein. Er kannte Alistair seit gut fünf Jahren, und seit Duncan vor einem Jahr endlich den Mut aufgebracht hatte, ihn zu fragen, war Alistair sein Personal Coach. Immerhin war ein Parkplatz unterm Dach frei, was ihm für später einen trockenen Hintern garantierte. Er schulterte seine Sporttasche und sprintete die zwei Stockwerke nach oben.

»Sieh einer an, unsere Diva ist auch schon da.« Alistair stand, die Arme vor der mächtigen Brust verschränkt, am Empfangstresen. Der grauhaarige Hüne mit dem imposanten Vollbart und den zahlreichen keltischen Tattoos war ein lebendes Naturwunder.

»Schon mal nach draußen gesehen? Es regnet. Ich wollte mir ungern die Knochen brechen.« Duncan hob die Hand und zeigte hinaus auf die graue Regenwand.

»Wein doch noch ein bisschen. Los umziehen und dann mögen dir alle Götter Walhallas Gnade erweisen.«

»Bin ja schon weg.« Lachend schnappte er sich seinen Spindschlüssel. Genau darum mochte er diesen Laden. Er wurde wie ein normaler Mensch behandelt, vor allem von Alistair.

So schnell er konnte entkleidete Duncan sich, zog sich das enge, graue Tank Top über und schlüpfte in seine schwarze Trainingshose. Die langen, schwarzen Haare bändigte er im Nacken mit einem Haargummi. Keine fünf Minuten später stand er so im Geräteraum und musterte seinen Trainer herausfordernd.

»Schnell genug?«

»Geht so. Ab auf den Crosstrainer, Stufe zehn, wenn ich bitten darf und fünfzehn Minuten.«

»Aye, Drillmaster.«

Kaum stand er auf dem Gerät und begann das Training, fielen sie ihm auch schon auf. Schon wieder ein paar neue Gesichter, die er noch nie zuvor hier im Studio gesehen hatte. Durch die Bank weg Frauen und junge Mädchen. Er schätzte grob sieben, sofern er sich nicht irrte. Duncan senkte schmunzelnd den Blick. Damit musste er wohl leben, und Alistair würde den Teufel tun und neue Mitglieder ablehnen. Warum die Mädels hier waren, darüber bestand kein Zweifel. Seinetwegen. Er wischte sich die ersten Schweißtropfen mit dem Handtuch, das Alistair ihm in die Hand gedrückt hatte, ab und musterte sich nachdenklich in der gegenüberliegenden Spiegelwand.

Auf eine Größe von einem Meter fünfundneunzig verteilten sich – laut Waage – achtundachtzig Kilo und zwar kein Fett, sondern reine Muskelmasse. Das Training zahlte sich aus.

Neben den täglichen Übungen hatte der massige Stuntman Alistair auch noch Bewegungstraining auf Lager. So gut wie alles, was Duncan auf der Bühne bot, stammte aus Alistairs Repertoire, und es war verdammt gut.

»Hey, Großer, fertig. Ab an die Hantelstangen, aber zackig, bitte.« Alistair wedelte ihn ungeduldig in Richtung Gewichte.

Während er – quasi zum Aufwärmen – mit dreißig Kilo pro Arm seinen Bizeps malträtierte, sah Alistair ihn prüfend an.

»Was ist? Passt etwas nicht?«

Sein Trainer schüttelte missbilligend den Kopf. »Selbstkritisch ist ja okay, aber du hast das echt nicht mehr nötig. Das, was du in den letzten sechs Monaten aus dir gemacht hast, ist der Wahnsinn.«

Prustend legte er die Stangen ab. »Japp, dank dir. Und warum siehst du mich dann so seltsam an?«

»Nicht dich, du Hirn. Die Mädels hinter dir.«

Ein vorsichtiger Seitenblick zeigte ihm, wovon Alistair sprach. Plötzlich schienen fast alle weiblichen Wesen im Studio beschlossen zu haben, dass Training mit Gewichten enorm wichtig für ihre Fitness sei.

Alistair zog eine sehr seltsame Grimasse. »Stören sie dich? Im Ernst, wenn sie dich nerven, dann kündige ich ihnen wieder, aber sie sorgen dafür, dass mehr Kerle hierherkommen, du weißt schon. Leben und leben lassen.«

»Unfug! Passt schon, ich habe mich daran gewöhnt. Solange sie nur schauen und nicht an mir herumfingern, ist alles gut.«

»Das beruhigt mich«, antwortete Alistair. Während er schweigend zwei weitere Gewichte auflegte, sah man deutlich, dass ihn noch etwas beschäftigte.

»Mann, ich sehe doch, dass du noch was auf dem Herzen hast.«

»Ich frag mich nur, warum du dir nicht endlich mal eine vernünftige Frau suchst. Vielleicht würde das die Ladies ein wenig ausbremsen.« Er hob die schwer beladene Hantelstange mit Leichtigkeit auf und drückte sie Duncan in die Hand. »Der blonde Hungerhaken, der letzten Samstag im Club an dir geklebt hat, kann ja wohl nicht dein Ernst sein.«

Duncan fiel vor Lachen beinahe die Hantelstange auf die Füße. »Hungerhaken ist originell. Beruhige dich, sie ist nur ein Groupie. Ich möchte sie nicht enttäuschen. Ich war lediglich zwei oder drei Mal mit ihr aus.« Er holte tief Luft und hob die Stange in Brusthöhe, was seine Stimme ein klein wenig gepresst klingen ließ. »Ich kann keine feste Freundin in meinem Leben haben, noch nicht. Du weißt doch warum.«

»Mhm, schaden würde es dir nicht, mein Lieber. Du bist so richtig gut in Form, deine Karriere oder vielmehr die der Band, geht gerade durch die Decke, und trotzdem fühle ich deine Rastlosigkeit.«

»Alistair, ich kann nicht. Noch nicht. Ich arbeite daran, versprochen.«

»Na gut. Ich lass das mal so stehen. Jetzt ab auf die Bank, wir gehen zum ernsthaften Teil der Veranstaltung über. Ich gebe dir Hilfestellung. Wäre ja nicht auszudenken, wenn die Hantelstange auf das Goldkehlchen knallt, nicht wahr?«

Lachend wischte er sich die Hände an seinem bereits durchgeschwitzten Top ab. »Trottel! Ihr kommt doch zum Konzert hier in Edinburgh, oder?«

Freundschaftlich hieb Alistair ihm seine mächtige Pranke auf die Schulter. »Hey, Diva, ich lass mir doch das Konzert der neuen Superstars Schottlands nicht entgehen, wir werden alle da sein.«

2

Hiermit bestätigen wir Ihnen den Eingang Ihrer Bewerbung. Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie in die engere Auswahl gerückt sind und wir in Betracht ziehen, Sie an unserem Kunstzweig aufzunehmen. Bitte senden Sie uns drei Ihrer jüngsten Arbeiten zur Prüfung zu.

»Gesaaa, was soll ich denn jetzt tun?« Anabel starrte noch immer auf die wenigen Zeilen, die fast schon drohend vor ihr auf dem Monitor prangten, und das Handy in ihren Fingern bebte beängstigend.

»Ruhig bleiben und dich freuen, du Dummerle.« Die Stimme ihrer Tante am Telefon klang absolut entspannt, was Anabel gerade ein wenig aus der Fassung brachte.

»Darf ich nachher kurz zu dir kommen? Bitte!!« Sie konnte nur hoffen, dass Gesa die Panik in ihrer Stimme nicht bemerkte.

»Aber sicher darfst du. Versprich mir, dass du sofort die Bilder verschickst. Du willst doch einen guten Eindruck machen, nicht wahr?«

Anabel nickte abwesend, registrierte jedoch gerade noch, dass sie eventuell vernünftig antworten sollte. »Mach ich, Gesa, versprochen. Bis später.«

Auweia! Nun war der Super-GAU wohl doch noch eingetreten. Natürlich hatte sie an dem Abend vor fünf Tagen, als sie total verschwitzt von ihrer Stippvisite bei der Tante nach Hause gekommen war, nichts mehr gesagt. Gut, selbst wenn sie gewollt hätte, wäre sie wohl kaum dazu gekommen.

Denn kaum, dass sie das Haus betreten hatte, war ihr schon ihre Mutter mit geringfügig angesäuertem Gesichtsausdruck entgegengekommen.

»Junge Dame, ‚zwei Stunden’, hieß es. Nicht ‚beinahe drei’, oder irre ich mich?«

Nein, natürlich irrte sich ihre Mutter nicht und wieder einmal war Anabels Herz in die Hose gerutscht und hatte ihren noch sehr fragilen Mut gleich mitgenommen.

Maximilian, noch im Businessanzug, erwartete sie mit einer Riesenschachtel Pralinen im Wohnzimmer und strahlte erwartungsvoll.

Ihr Vater hingegen verharrte mit verkniffenem Gesicht auf dem Sofa und schwenkte seinen Cognac in einem bauchigen Glas. »Bellchen, du musst zuverlässiger werden. Wenn eine Zeit ausgemacht ist, dann muss sie eingehalten werden. Ich dachte, das hätte ich dir beigebracht.«

»Hast du, Papa, aber es gab viel zu besprechen und dann hatte Maria auch noch viele Ideen …«

»Schon gut, schon gut. Nicht bei mir, bei deinem Verlobten musst du dich entschuldigen.«

Der jedoch wehrte beinahe schon verlegen ab. »Nein, nein. Das ist nicht nötig. Auf mein Mädel warte ich doch gerne.« Mit einem breiten Lächeln wandte er sich an Anabel und sagte: »Schatz, deine Eltern haben dir ja schon alles erzählt. Freust du dich genauso wie ich?«

Mist! Anabel hasste Lügen, aber wenn sie in diesem Moment das sagen würde, was ihr auf der Zunge lag, würde das in enormen Ärger ausarten. Guter Rat war teuer, und so hatte sie ein geschicktes Ablenkungsmanöver eingeleitet.

»Tut mir leid, dass du warten musstest, Maxi, aber du weißt ja: Gemeindepflichten. Hast du schon was gegessen? Du hast sicher Hunger.«

Maximilian kam kurz aus dem Konzept. »Nein, ich bin direkt von der Arbeit gekommen. Hunger hätte ich schon, aber das macht doch nichts.«

Volltreffer! Mit Gemeindearbeit und Essen lag man in diesem Haushalt fast immer auf der sicheren Seite. Fast schämte sie sich, angesichts der, grob geschätzt, zwei Kilo Pralinen und seines verwirrten Gesichtsausdruckes. Doch der Zweck heiligte die Mittel.

»Papa, wie kannst du deinen zukünftigen Schwiegersohn verhungern lassen?« Mit gerunzelter Stirn wandte sie sich an ihren Vater.

»Na, hör mal, du hast uns warten lassen. Deine Mutter hat das Abendessen längst gekocht. Komm mir nicht so, Anabel.«

Während des Abendessens erzählte sie mit viel Begeisterung von ihren Plänen für das bevorstehende Fest und ließ das Gespräch mit ihrem Professor dann geschickt einfließen. Die verhaltenen Reaktionen darauf, sowohl seitens ihrer Eltern, als auch seitens Maximilians, machten sie traurig. Gerade von ihrem Verlobten, von dem sie sich insgeheim trotz allem etwas Unterstützung erhofft hatte, war sie maßlos enttäuscht.

»Ach, Schatzi, das ist ja so toll für dich. Ich freu mich wirklich, aber ist das gut und sinnvoll investierte Zeit? Denk nochmal darüber nach. Wäre es denn nicht besser, wenn du dir in der Nähe etwas Ehrenamtliches suchen würdest? Also, sobald du dieses Studium abgeschlossen hast natürlich.«

Wie ruhig sie nach dieser Aussage wurde, schien niemandem aufzufallen. Da sollte sie doch tatsächlich ihr Studium abschließen, um anschließend ehrenamtlich tätig zu werden - wie lächerlich!

Es gab Mousse au Chocolat. Aber Anabel war in ihre Gedanken versunken, als ihre Mutter den Nachtisch servierte. Das von ihr eigentlich heißgeliebte Dessert – nein, einfach alles! – schmeckte plötzlich furchtbar bitter, und je mehr sie darüber nachdachte, desto sinnvoller erschien ihr Gesas Idee.

Wie es ihr gelang, das Thema Heirat immer wieder in letzter Minute zu umgehen, war ihr selbst ein Rätsel.

Als vor wenigen Minuten die E-Mail aus Schottland eingetrudelt war, hatte sie zuerst ihren Augen nicht getraut. Ganz langsam aber begann die Neuigkeit sich zu setzen, und ebenso langsam begann es in ihrem Bauch zu kribbeln. Frisch verliebt war sie nicht wirklich, Hunger konnte es wohl ebenso wenig sein. Also blieb nur eines: Sie freute sich! Rasch suchte sie die besten ihrer Bilder aus und legte sie fein säuberlich in eine große Mappe. Über die Mappe legte sie ihre Jeansjacke. So schleuste sie die Bilder an ihrer Mutter vorbei.

»Mama, ich fahr kurz in die Bibliothek nach Tutzing. Zum Abendessen bin ich zurück.« Noch während sie mit ihrer Mutter sprach, schlüpfte sie in ihre Stiefel.

»Bellchen, willst du dich nicht endlich mal etwas gesitteter anziehen? Diese schrecklichen Cowboystiefel sind doch nichts für eine junge Dame.«

»Ja, Mama, ich denke darüber nach.«

Ärgerlich ließ sie die Haustür hinter sich ins Schloss fallen. Nein, so durfte es wirklich nicht weitergehen. Wenn sie hierbliebe, würde sie über kurz oder lang zu einer Marionette ihrer Eltern und Maximilians werden. Sie musste die wirkliche Anabel Taschner dringend festhalten, sonst würde sie auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

Anabel stieg auf ihr Fahrrad und fuhr zur nächsten Post, wo sie den Umschlag mit ihren Bildern klopfenden Herzens per Express aufgab.

»Sag ich doch die ganze Zeit. Hör mir halt einfach mal zu. Deine Eltern manipulieren dich nach Strich und Faden.« Gesa, die sich ihre langen Haare heute mithilfe von bunten Filzbändern zu einem wuscheligen Dutt zusammengebunden hatte, war gerade richtig in Fahrt. Ärgerlich krempelte sie sich die Ärmel ihrer knallroten Tunika nach oben. »Denen werden wir die Suppe gehörig versalzen.«

»Na, hoffentlich klappt das auch. Sonst schaut meine Zukunft nicht sehr vielversprechend aus.« Nervös nagte Anabel an ihrer Unterlippe.

»Natürlich klappt das. Meine schlaue, talentierte Nichte wird sich doch hier nicht kleinkriegen lassen.« Flugs zauberte Gesa den Laptop auf den Tisch und schon wenige Augenblicke später erschien ein zufriedenes Lächeln auf ihrem Gesicht. »Ah, und schon fällt mir mein Passwort wieder ein.«

Anabel war verwirrt. »Passwort? Wofür denn?«

»Skype, meine Große. Schon mal was davon gehört?«

»Gesa?!«

»Sollte ein kleiner Scherz sein. Irgendwie muss ich dich ja aufheitern. Warte mal, gleich habe ich ihn an der Strippe.«

Prima, nun war Anabel nicht nur verwirrt, sondern auch neugierig. »Wen hast du an der Strippe?«

»Na, ihn hier. Kurt, meinen ehemaligen Schulfreund. Der lebt schon seit vielen Jahren in Schottland, irgendwo da drüben in den Highlands.«

Auf dem Bildschirm ploppte ein Bild auf. Dem Bild nach zu urteilen war ihr Kurt spontan sympathisch. Ein wettergegerbtes Gesicht, umrahmt von langen, ergrauten Haaren und ein sehr männlicher Dreitagebart, allerdings auch in dezentem Grau. Seine hellen Augen blitzten sichtlich gut gelaunt in die Kamera.

»Kurt, hallo. Ich bin’s, Gesa.« Ihre Tante wedelte erfreut in Richtung Monitor.

Das Gesicht ihres Gesprächspartners verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Schon klar, Gesa. Weißt du, ich kann dich sehen.«

»Sehr witzig, mein Lieber. Aber ich habe keine Zeit für Small Talk. Wir haben wichtige Dinge zu klären.«

»Wäre ich jetzt nie drauf gekommen, Lass.« Kurt lachte noch immer.

»Äh, was?« Gesa kam kurz etwas aus dem Konzept.

»Lass – Schottisch für Mädel, meine Liebe. Wird Zeit, dass du mal ein bisschen was lernst.«

»Ach, papperlapapp. Du nun wieder. Nein, im Ernst. Ich habe heute nur eine Frage. Sag mal, Kurt, kennst du zufällig jemanden in Edinburgh, bei dem meine Lieblingsnichte hier mal für ein Jahr wohnen könnte? Wir bewerben uns gerade an der Hochschule für Kunst, weißt du?«

»Mensch, Gesa. Respekt. In deinem hohen Alter?«

Anabel mochte Kurt von Minute zu Minute mehr.

»Unverschämter Kerl! Anabel bewirbt sich und ich helfe ihr. Also, hast du eine Idee?«

Kurt nickte. »Nicht nur eine Idee. Aber ich muss erst mal telefonieren. Ab wann wisst ihr denn sicher, ob es was wird?«

Gesa legte die Stirn nachdenklich in Falten. »Irgendwann in den nächsten Tagen oder Wochen?«

Ihr virtuelles Gegenüber überlegte und kratzte sich am Kinn. »Gib mir zwei Tage«, sagte Kurt schließlich. »Ich kläre das für euch.«

»Oh, danke! Das ist sehr lieb von dir.« Gesa streichelte liebevoll die Ränder ihres Laptops.

»Gesa, du weißt schon, dass er das nicht spüren kann?«, raunte Anabel ihr leise zu.

»Das weiß sie, Lieblingsnichte, aber das vergisst sie immer wieder. Scheint auch altersbedingt zu sein.« So viel zu leise. Kurts Lachen war einfach nur göttlich.

In hervorragend gespielter Empörung runzelte Gesa die Stirn. »Freut mich ja, dass ihr Zwei euch prima versteht. Ehe ich mir hier weitere Unverschämtheiten anhören muss, verschwinde ich lieber. Und wir hören uns, sobald du was herausgefunden hast, in Ordnung?«

»Alles klar, meine Liebe. Ich drück der Lieblingsnichte dann mal kräftig die Daumen, dass alles klappt.« Kurt zwinkerte ihnen noch einmal fröhlich zu. Der Bildschirm wurde zuerst schwarz und dann erschien der Grand Canyon in seiner ganzen Schönheit.

»Das hätten wir dann schon mal angeleiert. Jetzt fehlt nur noch die schriftliche Zusage. Dann können wir Gas geben.« Ihre Tante schien sich richtig zu freuen.

»Gesa, wenn es wirklich funktioniert, kommst du dann mit, wenn ich es ihnen schonend beibringe?«

Anabel musste in diesem Moment mitleiderregend aussehen, denn Gesa schloss sie sehr fest in die Arme.

»Meine Große, was denkst du denn? Natürlich bin ich dabei. Das Gesicht meines Bruders, wenn seine süße, hilflose ›Kleine‹ ihm eröffnet, dass sie mal flott eine Weile auswandert, will ich um nichts in der Welt verpassen.«

3

»Menschenskinder, Anabel. Wo bist du denn heute geistig die ganze Zeit? Wolkenkuckucksheim, oder wie?« Maria musterte die Freundin neugierig und fragend zugleich, während sie zwei Blaubeermuffins über den Tresen ihres Standes reichte. Anabel und sie waren auf dem Dorffest.

Anabel riss sich sofort sichtlich zusammen. »Es tut mir wirklich leid, Maria, bin schon wieder bei dir.« Routiniert empfahl sie dem älteren Ehepaar, das gerade vor ihr stand und geduldig gewartet hatte, mehrere Kuchensorten.

Maria machte sich kopfschüttelnd daran, den nächsten Kuchen für den Verkauf zu portionieren.

»Vielen Dank für Ihren Einkauf, und lassen sie sich’s schmecken.« Anabel warf das eingenommene Geld in die Kasse. Da gerade niemand an ihrem Stand war, drehte sie sich zu Maria um und zuckte ratlos mit den Achseln. »Du musst wirklich entschuldigen, aber ich glaube, ich bin geistig schon in den Highlands.«

Schmunzelnd schnitt Maria die letzten beiden Stücke zurecht und steckte dann das lange Kuchenmesser wieder in den Krug mit kaltem Wasser.

»Wenn ich etwas verstehen kann, dann das. Ich bewundere sowieso deine – wie soll ich sagen? – ›Gelassenheit‹ trifft es wohl am ehesten. Hast du schon endgültige Nachricht aus Schottland?«

Anabel verneinte: »Seit der Email mit der Aufforderung, weitere Bilder zu schicken, nicht. Aber das war ja auch erst letzte Woche.«

»Ja, gut, dann brauchst du dir aber wirklich noch keine Sorgen zu machen. Die melden sich schon. Au je, die Schnabels kommen. Jetzt kannst du gleich wieder sämtliche Inhaltsstoffe aufzählen und dir ihre allergischen Reaktionen in allen Farbschattierungen beschreiben lassen.« Maria entschloss sich spontan dazu, noch eine weitere Torte zu zerteilen und überließ es Anabel, sich mit der kompliziert veranlagten Gattin des örtlichen Landrates auseinander zu setzen. Verflixt, sie würde Anabel wirklich vermissen. Andererseits war es mehr als an der Zeit für die Freundin, das Weite zu suchen. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie Maximilian, der etwa zehn Meter entfernt mit Anabels Eltern an einem der Biertische saß. Sicher sah der Anwaltsspross gut aus und machte schon einiges her. Groß, breitschultrig, markantes Gesicht; stets darauf bedacht, dass der kurzgeschnittene, dunkelbraune Haarschopf modisch zerzaust wirkte, was mit Sicherheit jedes Mal ein Vermögen beim Friseur kostete. Heute trug er, wie alle Mitarbeiter, seine Tracht. Die Lederhose und das grobe, weiße Leinenhemd standen ihm richtig gut. Was Maria störte war der abgeklärte, immer einen Hauch Überheblichkeit suggerierende Blick der braun-grünen Augen. Der Kerl war noch nicht einmal mit seiner Ausbildung fertig und führte sich auf, als sei er schon Partner in der Kanzlei seines Vaters. Er war immer freundlich zu ihr und – was viel wichtiger war – seine Anabel liebte er, daran zweifelte Maria nicht. Der einzige Knackpunkt war der Umstand, dass sie nie so richtig beurteilen konnte, ob es nicht auch zu einem großen Teil Besitzdenken war. Weit hergeholt war dieser Gedanke sicher nicht, schließlich war Anabel das hübscheste Mädchen in der ganzen Umgebung. Für Maximilian war es selbstverständlich, dass er, als zukünftiger Staranwalt, Vorsitzender des Burschenvereins und Champion des Tennisclubs, auch die schönste Freundin an seiner Seite haben musste. Irgendwie erinnerte sie das Ganze zu sehr an eine amerikanische Highschool-Schnulze. Seufzend drapierte Maria die aufgeschnittenen Tortenstücke, ließ das Messer wieder ins Wasser gleiten und warf noch einmal einen hoffentlich unauffälligen Blick an den Tisch der fröhlich feiernden Schar. Nein, Anabel tat das einzig Richtige. Sie durfte sich auf keinen Fall vereinnahmen lassen, sondern musste sich den Wind um die Nase wehen lassen.

»Ja, Fräulein Taschner, dann will ich hoffen, dass ich den Kuchen überlebe, gell? Aber Sie werden schon wissen, was Sie mir verkaufen.« Frau Schnabel beugte sich zu dem stattlichen Kuchenpaket, das Anabel ihr, in einem passenden Karton verpackt, über den Tisch reichte. »Ich bin so arm dran, fast nichts darf ich mehr essen. Ein Häppchen davon werde ich mir aber jetzt doch gönnen. Auf Wiedersehen, Fräulein Taschner.« Frau Schnabel drückte, sichtlich zufrieden, das Paket an ihren wogenden Busen und rauschte – den schweigenden Gemahl im Schlepptau – hoheitsvoll von dannen.

Anabel legte das Geld für das Kuchenpaket in die Kasse und schloss den Deckel. »Ich muss zugeben, dass ich gerade gerne ganz weit weg wäre von allen Schnabels und Konsorten.«

»Du hast also zu Hause noch immer kein Wort verlauten lassen?«

Anabel riss ihre sowieso schon großen, blauen Augen noch weiter auf. »Spinnst du? Ich mach doch nicht die Pferde scheu und dann wird’s nichts.«

Sie konnte es nicht verhindern, dass ihr Lächeln ziemlich breit geriet. »Anabel, du hast einfach eine Scheißangst, gib es doch zu. Was mich zu der Frage bringt, ob du dir dein zukünftiges Zuhause, du weißt schon, das schnieke Reihenhäuschen, schon mal angesehen hast?«

»Das ist jetzt so ein kleines bisschen gemein, findest du nicht?« Anabel wirkte ein wenig angesäuert.

»Und wenn schon? Es ist die reine Wahrheit. Ich hoffe für dich, dass du diesem goldenen Käfig entfliehen kannst. Je schneller, desto besser … ›Fräulein Taschner‹.«

Für einen Moment schien Anabel ihr antworten zu wollen, doch stattdessen hielt sie mit geöffnetem Mund inne und steckte ihre Hand in die Tasche, die an dem Gürtel des schönen, gelb-schwarzen Dirndls hing und zog ihr Handy heraus.

»Sorry. Email. Ich schau nur mal kurz, vielleicht ist es …«

Maria hätte nicht erwartet, dass Anabels Augen noch größer werden könnten, doch sie irrte sich. Die Freundin starrte ihr Display an wie das Kaninchen den Fuchs.

»Anabel, du machst mir etwas Sorgen, nicht viel, aber immerhin etwas.« Leider schwieg die Freundin noch immer und es folgte keinerlei Reaktion auf ihre Bemerkung. »Erde an Anabel: Bitte kommen! Haben sie dich ‚geblitzdingst‘, oder was ist los?«

Wortlos hob Anabel ihre Hand und hielt ihr das Display unter die Nase. Dort stand in schönstem Englisch:

Wir freuen uns sehr, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass wir Ihrem Antrag auf Aufnahme in unserem Institut stattgegeben haben. Die entsprechenden Anmeldeunterlagen werden Ihnen an die uns übermittelte Adresse zugesandt. Semesterbeginn sowie alles Weitere entnehmen Sie bitte den entsprechenden Dokumenten. Wir gratulieren Ihnen herzlich zum Erfolg Ihrer Bewerbung und freuen uns, Sie in Kürze an unserem Institut begrüßen zu dürfen.

»Maria, mir ist schlecht« Anabel sah in der Tat leicht grünlich um die Nase aus.

»Hast du noch alle Nadeln an der Tanne? Du solltest vor Freude tanzen. Anabel, du hast es tatsächlich geschafft! Ich beneide dich, weißt du das?«

»Hmmm …« Anabel deutete mit ihrem Kinn in Richtung des Tisches, an dem sich ihre Familie, Maximilian und mittlerweile auch dessen Eltern bestens amüsierten. »Beneidest du mich auch darum, denen meine Pläne zu verkünden?«

Marias Blick wanderte nachdenklich über die erkennbar mit sich und der Welt zufriedenen Menschen, die keinen blassen Schimmer davon hatten, dass sich demnächst einige ihrer Pläne in Luft auflösen würden.

Sie zog eine mitleidige Grimasse. »Das könnte allerdings übel werden. Darum beneide ich dich tatsächlich nicht.«

Was für ein wunderschöner Tag. Die Sonne schien, die Vögel sangen in den Bäumen, es war herrlich warm und man konnte, obwohl der Kalender erst Mitte April vermeldete, zum ersten Mal in diesem Jahr ohne dicke Jacke vor die Tür. Anabel stieg am Bahnhof Starnberg aus der S-Bahn und schlenderte, den Duft der zahllosen Blüten, die sich in den letzten Stunden geöffnet hatten, tief einatmend, zu ihrem Fahrrad. An der Litfaßsäule prangte die Werbung für die aktuelle Outlander-Staffel und die Bilder des Schottland-Epos riefen ihr umgehend wieder die eigenen Pläne in Erinnerung. Eine Woche war seit der E-Mail vergangen und jeden Tag führte ihr erster Weg bei der Heimkehr von der Uni zum heimischen Briefkasten. Heute war Freitag und das Wochenende könnte haarig werden. Immer wieder fingen sowohl Maximilian als auch ihre Eltern von dem Haus an. Am Mittwoch war sie notgedrungen mit ihren Eltern, ihren – wie ihr Vater sie inzwischen nannte – Schwiegereltern und ihrem – in seinen Augen – Verlobten zu dem Haus gefahren. Für jemanden, der sich ein ruhiges, gemütliches Leben mit seiner kleinen Familie wünschte, war das Domizil sicherlich wunderschön. Ihr aber kam alleine schon beim Gedanken an ruhig und gemütlich das Frühstück vom Vortag hoch. Je länger sie über alles nachdachte, desto ärgerlicher wurde sie. Während sie erleben musste, wie ihre Mutter und Frau Ziegler, wild Pläne für die Einrichtung schmiedend, durch das Haus liefen, Maximilian ihr etwas von hochmoderner Technik in der Küche, damit sie entlastet sein würde, erzählte und ihr Vater die Raten berechnete, erhob sich vor ihren Augen das Bild des majestätischen Edinburgh Castle. Eine exzellente Alternative, wie Anabel fand.

Anabel schob ihr Fahrrad die Auffahrt hoch. Die Haustür öffnete sich.

»Bellchen, da bist du ja, du hast heute einen dicken Brief aus Schottland bekommen. Müssten wir da was wissen? Habt ihr ein Partnerprogramm?«

Himmelkreuzdonnerwetter! Wurde nun auch ihre Post schon vorab analysiert?

»Ja, Mama, haben wir. Aber vielleicht darf ich ihn mir erst mal ansehen, ehe ich was dazu sage?« Ärgerlich rauschte sie an der verblüfft zurückweichenden Mutter vorbei, schnappte sich den großen, weißen Brief vom Kästchen im Flur und verschwand in ihr Zimmer.

Schwer atmend warf sie die Tür zu und ließ sich in ihren bequemen, runden Korbsessel plumpsen. Mit zitternden Händen öffnete sie behutsam und respektvoll den schweren Umschlag.

»Gesa, es wird ernst. Die Unterlagen sind da und ich soll binnen vier Wochen in Schottland sein. Wie soll ich das denn schaffen? Ich habe ja noch nicht mal eine Wohnung, ich …«

»Doch, du hast eine Wohnung«, unterbrach Gesa sie ruhig aber bestimmt. »Nun gut, nicht exakt eine Wohnung, aber du hast ein Zimmer in einer WG in Edinburgh.«

»Ich habe was?« Anabel ließ überrascht den Umschlag sinken, mit dem sie aufgeregt vor Gesas Augen herumfuchtelte.

Ihre Tante trat beiseite und gab den Eingang für sie frei. »Jetzt komm erst einmal rein, hol tief Luft und beruhige dich. Du schaust aus, als würdest du demnächst einen Herzinfarkt erleiden.«

»Du wirst lachen, so fühlt es sich auch an.« Grummelnd schlurfte Anabel hinter Gesa in die Küche.

»Nerventee mit Baldrian und Johanniskraut?«

»Sehr witzig, Tantchen«

Die aber zuckte schmunzelnd die Schultern. »Das war ernst gemeint.«

Seufzend zog Anabel einen Küchenstuhl zu sich heran und setzte sich. »Auch egal. Ich trinke heute alles, was du mir braust.«

»Brav, Lieblingsnichte.« Während Gesa ihren Tee kochte, brachte sie Anabel auf den aktuellsten Stand.

»Vorgestern hat Kurt sich zurückgemeldet. Seine Tochter Mika studiert Geschichte in Edinburgh, sie möchte einmal im Fremdenverkehr arbeiten.«

»Tourismus, Gesa. Das heißt heute Tourismus«, korrigierte Anabel fast schon automatisch.

»Nix da, Fremdenverkehr, und jetzt hör gefälligst zu. In der Wohngemeinschaft, in der sie ein Zimmer hat, steht ein Zimmer leer, da der Junge die Aufnahmeprüfung an seiner Akademie nicht geschafft hat. Schlecht für ihn, gut für dich.«

»Mensch, Gesa. Das klingt toll, aber es kostet doch sicher ein Vermögen.« Schon während sie das sagte, hätte Anabel sich selbst am liebsten geohrfeigt. Bekam sie denn nichts ohne sofortigen Zweifel hin? Immerhin schien Gesa nicht sauer zu sein, denn die goss Tee in zwei Tassen, stellte sie auf den Küchentisch und murmelte: »Warte mal, kurz. Bin gleich wieder da.«

Die Tante verschwand und Anabel hörte sie im ersten Stock rumoren. Es dauerte nicht lange bis sie zurückkam und sich zu ihr setzte. Gesa hielt ihr ein kleines Büchlein entgegen, das sich rasch als Sparbuch der örtlichen Kreissparkasse entpuppte.

»Gesa, was ist das?«

»Das siehst du doch, meine Große. Mach es auf, na komm schon. Es gehört dir.« Gesa wedelte auffordernd in Richtung des Büchleins.

»Dreitausendfünfhundert Euro? Für mich?« Vor lauter Nervosität fiel Anabel das Sparbuch aus der Hand.

»Kind, trink jetzt sofort deinen Tee. Ich sehe schon, du brauchst ihn heute.« Auffordernd schob die Tante ihr die Tasse näher. »Das Geld war schon immer für dich bestimmt, Anabel. Es sollte dir, falls du es brauchst, den Weg in dein eigenes Leben erleichtern. Ich denke, das ist der perfekte Augenblick. Nimm es, davon kannst du eine kleine Weile deine Kosten decken. Hast du selber nicht auch etwas gespart?«

Anabel nickte eifrig. »Na klar. Wofür hätte ich denn mein Geld ausgeben sollen? Ich habe doch in den Ferien immer gearbeitet. Die paar Klamotten, die ich mir dann gegönnt habe, das war kein Vermögen.« Grübelnd runzelte sie die Stirn. »Warte mal, das müssten fast viertausend Euro sein.«

Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf Gesas Zügen aus. »Mädel, damit kannst du dir ja das ganze Jahr finanzieren. Das Zimmer kostet nur zweihundert schottische Pfund im Monat und, wenn ich Kurt richtig verstanden habe, dann kauft ihr, also fünf Leute, immer reihum ein und jeder kocht einmal die Woche für alle. Super! Passt doch alles.«

Langsam wirkte Gesas Begeisterung ansteckend. »Ja, und wenn es aus ist, dann kann ich immer noch jobben, oder?«

»Du sagst es. Ach, Anabel, soll ich dir was sagen? Ich würde am liebsten mitkommen.« Gesa trank einen großen Schluck von ihrem Tee. »Wer weiß? Vielleicht komm’ ich ja nach. Der Loch Linnhe soll ausnehmend schön sein.«

4

»Bist du denn von allen guten Geistern verlassen, Anabel?« Friedrich Taschners Gesicht war so hochrot, dass sie begann, sich ernsthafte Sorgen zu machen. Wutschnaubend wandte er sich seiner Schwester zu, die, vergleichsweise entspannt, in einem der wuchtigen Wohnzimmersessel saß. »Diese Flausen kannst nur du ihr in den Kopf gesetzt haben, Gesa. Auf so einen Blödsinn käme meine Tochter nie von selbst.«

»Lieber Bruder, beruhige dich erst einmal. Du weißt doch, dass mit deinem Blutdruck nicht zu scherzen ist. Abgesehen davon brauchte Anabel mich nicht dazu, um festzustellen, dass ihr, fröhlich über ihren Kopf hinweg, ihr Leben verplant. Zum Donnerwetter, Friedrich, das Mädel ist einundzwanzig Jahre alt. Nun gesteh ihr doch bitte zu, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen.«

Gesa war mit ihrem alten, knallgelben VW-Käfer vorgefahren und trug noch immer die randlose, runde Nickelbrille, ohne die sie nicht ans Steuer durfte. Diese schob sie jetzt bis zur Nasenspitze und musterte ihren aufgebrachten Bruder. Der holte nur kurz tief Luft und brüllte sofort wieder los.

»Das kannst du sonst wem erzählen. Ich kenne dich zu gut. Du boykottierst unsere Erziehung von Anfang an. Das Kind ist doch noch gar nicht in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen. Dazu ist sie viel zu jung und unerfahren.«

Gesa beugte sich ein wenig zur Seite und warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »Hörst du das? Du bist zu jung für eigene Entscheidungen, aber zum Heiraten tät das dann schon passen.«

Anabels Fingernägel gruben sich in ihre Handballen, so angespannt war sie. »Ja, ich höre es, laut und deutlich wie immer.« Sie wollte zwar weitersprechen, doch das übernahm Gesa für sie.

»Friedrich, bloß weil du dein Leben minutiös durchplanst, da du ansonsten – sobald irgendetwas auch nur ansatzweise spontan ist – ins Schleudern kommst, muss das nicht auf deine Tochter zutreffen. Anabel hat das alles sehr gut und umsichtig geplant.«

Gesa lehnte sich sichtlich entspannt in ihrem Sessel zurück. »Du kannst dich auf den Kopf stellen und mit den Ohren wackeln, aber Anabel wird ihr Auslandsjahr jetzt durchziehen, basta.«

»Als ob du das zu entscheiden hättest …« Entschlossen trat ihr Vater einen Schritt auf seine Schwester zu.

»Ich habe das zu entscheiden, nur ich allein. Ich bin volljährig und kann und darf meine eigenen Entscheidungen treffen«, unterbrach sie ihren Vater mit einer Bestimmtheit, die sie selbst überraschte.

»Anabel, Bellchen, wie sprichst du denn mit deinem Vater?«

Ah, ihre Mutter war also nicht nur körperlich anwesend, sondern hörte tatsächlich zu.