Highlands mit Hindernissen - Gabriele Ketterl - E-Book

Highlands mit Hindernissen E-Book

Gabriele Ketterl

4,3

Beschreibung

Carolas Leben scheint perfekt: toller Job als Spezialistin für Luxusreisen, ein erfolgreicher Mann an ihrer Seite, eine coole Wohnung. Doch ihr wahr gewordener Traum geht jäh zu Ende, als ihr Freund über Nacht mit dem gemeinsamen Geld auf einen Selbstfindungstrip nach Thailand verschwindet. Damit nicht genug, übernimmt im Job der Juniorchef das Ruder. Der will für frischen Wind sorgen und schickt Carola gemeinsam mit der Praktikantin Lea auf einen Adventure Trip nach Schottland. Notgedrungen und mit Todesverachtung stolpert Carola auf High Heels durch die Highlands – von einem Schlamassel ins nächste. Bis sie schließlich in den Armen des schottischen Raubeins Arran landet, der hinter die Fassade der toughen Karrierefrau blickt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 451

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,3 (4 Bewertungen)
1
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Highlands mit Hindernissen

Gabriele Ketterl

© 2017 Amrûn Verlag

Jürgen Eglseer, Traunstein

Covergestaltung: Claudia Toman

www.autorendienst.net

Lektorat & Korrektorat: Lektorat Rohlmann & Engels

Alle Rechte vorbehalten

ISBN – 978-3-95869-282-4

Besuchen Sie unsere Webseite:

http://amrun-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

München, Mai 2015

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Danksagung

Die Vergangenheit ist in Stein gemeißelt.

Die Zukunft, die kannst du sehr wohl verändern!

Für Schottland und die Schotten –Ein wunderbares Land und seine tollen Menschen

München, Mai 2015

Einen wunderschönen Guten Morgen zusammen. Uns erwartet ein sonniger Sonntag ...«

Sekunde! Sonnig war ja in Ordnung, aber wie kam der Kerl im Radio auf Sonntag? Schlaftrunken wälzte Carola sich zur Seite. Na prima! Da hatte sie wohl wieder einmal vergessen, den Wecker auszuschalten. Immerhin lag Jan nicht mehr im Bett. Der wurde, nicht ganz zu Unrecht, fuchsteufelswild, wenn am Wochenende der Wecker losplärrte. Erleichtert dankte sie dem Schicksal dafür, dass er offenbar schon beim Joggen war. Sie fand es gut, dass er auf sich und seinen Körper achtete. Schließlich ging er auf die vierzig zu und in seinem Job als Immobilienmakler in einer der größten und renommiertesten Firmen Münchens musste er mit den jungen – wie er es nannte – übermotivierten Uni- und Fachhochschulabsolventen Schritt halten. Wollte man eine Villa zum durchaus knackigen Preis von fünf Millionen verkaufen, musste das Gesamtbild passen, dazu gehörte ein makelloses Äußeres. Das wusste Jan und daher joggte er fast jeden Morgen durch den Englischen Garten.

Carola streckte sich genüsslich. So wie sie ihn kannte, würde er frische Brötchen mitbringen und sie konnten gemütlich frühstücken. Hoffentlich! Denn seit sie, zugegeben etwas eigenmächtig, die vegane Lebensweise eingeführt hatte, waren Diskussionen bei Tisch vorprogrammiert. Jan stand nicht sonderlich auf Produkte, bei denen der Name mit »Wie« begann. »Wie«-Käse, »Wie«-Wurst, »Wie«-Joghurt wurden von ihm höchst misstrauisch beäugt und als »Wie«-Essen bezeichnet. Aber Carola war sich absolut sicher, dass er früher oder später die Sinnhaftigkeit dieser Ernährung nachvollziehen konnte. Spätestens, wenn seine Haut erstrahlte und sein Haar füllig und glänzend war. Nicht, dass es das nicht jetzt schon gewesen wäre, aber wie lange noch? Dem galt es vorzubeugen, insbesondere da auch sie sich ein jugendlich frisches Hautbild und einen straffen Körper erhalten wollte.

Na, das würde sich schon alles einpendeln. Früher oder später war Jan immer zur Vernunft gekommen. Zum Beispiel als sie ihn kurzerhand in ihrem Fitnesscenter zum gemeinsamen Spinning angemeldet hatte. Seinem Argument »Kannst du mir sagen, warum ich mich von einem muskelbepackten Kerl anbrüllen lassen muss, dabei wie ein Blöder in die Pedale trete, nur um nach einer Stunde schweißüberströmt zusammenzubrechen und nach einem Sauerstoffzelt zu japsen, wenn ich rund um München und direkt vor der Haustür wunderschöne Outdoor-Möglichkeiten habe?« konnte sie nicht wirklich viel entgegensetzen. Um des Friedens willen war er der Spinning-Stunde dann doch treu geblieben.

Carola krabbelte seufzend unter der Decke hervor. Der Radiomann behielt offensichtlich recht. Strahlende Sonne, stahlblauer Himmel und fröhlich singende Vögel. Eine regelrechte Idylle.

Sie schlang ihren Morgenmantel um sich und ging hinaus auf den kleinen Balkon, von dem aus sie in die grüne Oase einer gepflegten Gartenanlage blickte. Ja, sich für diese Wohnung zu entscheiden, war richtig gewesen. Ein Traum von 120 Quadratmetern, nur knapp zehn Minuten vom Englischen Garten entfernt. Der Preis war happig, aber schließlich arbeiteten sie beide und wollten sich, wenn sie am Abend nach Hause kamen, wohlfühlen. Das konnte man wahrlich in diesen vier Wänden mit Whirlpool, Traumküche und offenem Kamin im Wohnzimmer.

Zufrieden tapste sie ins Bad und stellte sich vor den großen Spiegel. Hoppla. Heute hätte der Spiegel gerne ein wenig kleiner sein dürfen, eventuell auch ihr Spiegelbild etwas unschärfer. Die Figur passte, aber wie war das mit dem jugendlich frischen Hautbild gleich noch mal? Das, was ihr da entgegenblickte, kam ihrem Ideal leider nicht so nahe, wie sie es sich, nachdem sie nun seit Wochen vor dem Fernseher Sonnenblumenkerne statt Nachos knabberte und grüne Smoothies statt Rotwein trank, eigentlich erhofft hätte. Unwillig zog sie an ihrem Gesicht herum, doch das änderte den Gesamteindruck nicht wirklich. Sie gab auf. Schließlich war Sonntag und damit genug Zeit, um etwas für sich zu tun.

Carola zog ihrem Spiegelbild eine hoheitsvolle Grimasse und rauschte in die Küche. Der vernünftig bestückte Kühlschrank wartete neben den Lebensmitteln auch mit einer winzigen »Schönheitsecke« auf. Darin tummelten sich stets eine Packung Sahnequark (nicht vegan), eine halbe Bio-Salatgurke, Honig und Weizenkleie. Dass Jan das aus Versehen – oder aus schierer Verzweiflung – noch einmal in Zaziki verwandelte, würde hoffentlich nicht passieren.

Carola rührte sich flink eine Quarkmaske aus zwei Esslöffeln Quark, einem Esslöffel Honig und einem Esslöffel Weizenkleie an, hobelte ein kleines Stück der Gurke ab und verschwand damit im Badezimmer. Mit einem Stirnband bändigte sie ihre langen, dunkelbraunen Haare, wusch sich rasch das Gesicht, um es dann mit einer dicken Schicht der Quarkmasse zu bedecken. Über die Augen klebte sie sich gewissenhaft die gehobelten Gurkenscheibchen. Schön sah das nicht aus, aber dafür würde sie später mit klarer, erfrischter Haut aufwarten können. Ein wenig gehandicapt, da sie die Augen nur noch einen Schlitz öffnen konnte, tastete sie sich zurück in die offene Küche, stieß sich den Oberarm an der Marmorplatte der Küchentheke und angelte fluchend die Pads für die Kaffeemaschine aus dem Schrank.

Während der Kaffeeduft durch die Küche zog, deckte sie den Tisch, öffnete eine frische Packung Reismilch, holte die vegane Margarine und die Biomarmeladen aus dem Kühlfach und stellte zwei Sojajoghurts bereit. Na, das sieht doch sehr gut aus. Zufrieden begutachtete sie das Ensemble. Dazu nun noch ein wenig Obst und fertig war das gesunde Frühstück. Leise vor sich hin summend, soweit die langsam trocknende Quarkmaske das zuließ, bereitete sie den zweiten Kaffeebecher vor, als ihr Blick auf einen Umschlag fiel, der an der Vase auf der Anrichte lehnte. Nanu, was ist das denn? Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, was den Gurkenscheiben nicht gut bekam. Rasch schob Carola sie wieder in Position unterhalb ihrer Augen und tastete nach dem Umschlag.

»Carola«. Mehr stand nicht auf dem edlen, cremefarbigen Papier, mit dem sie und Jan normalerweise ihre weniger werdenden Einladungen verschickten. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sollte Jan ihr tatsächlich, nach langer Zeit, wieder einmal einen Liebesbrief geschrieben haben? Es war eine gefühlte Ewigkeit her, seit er das zum letzten Mal getan hatte.

Vorsichtig, um Erschütterungen zu vermeiden, setzte sie sich an den Tisch und öffnete neugierig den Umschlag. Sie erkannte Jans Handschrift sofort.

Liebe Carola,

wenn du das liest, sitze ich in einem Flieger nach Bangkok, von wo aus ich voraussichtlich auf einige Inseln reise. Wohin es mich verschlagen wird, weiß ich nicht und das ist gut so. Viel zu lange verlief mein, nein, unser Leben in viel zu geordneten Bahnen. Alles exakt geplant, alles vorausbestimmt, und das meist von dir.

Sorry, meine liebe Carola, doch ich kann das nicht mehr. Mein Leben und die Fesseln, die vor allem du ihm angelegt hast, drohen mich zu ersticken. In Thailand werde ich versuchen, endlich wieder den Jan zu finden, der ich vor vielen Jahren einmal war. Meine Stelle habe ich fristgerecht – ordentlich, nicht wahr? – gekündigt. Das Geld habe ich von unserem Konto geholt, wobei ich mit Fug und Recht behaupten möchte, dass mein schlechtes Gewissen sich in Grenzen hält.

Seit drei Jahren berappe ich monatlich ein Vermögen für eine Wohnung, in der ich mich nie heimisch gefühlt habe. Kühl, edel und geschmackvoll, jedoch ist sie weder gemütlich noch vermittelt sie die Geborgenheit, die ich mir von einem Heim wünsche. Kurz: Es war stets deine Wohnung.

Ich habe dir die Rate für die nächste Hypothekenzahlung auf dem Konto belassen, den Rest habe ich mir erlaubt mitzunehmen. Ich weiß nicht, ob es etwas nützt, dir das zu sagen, aber ich rate dir dringend, deine Prioritäten neu zu überdenken. Vielleicht tust du das bei einem Glas veganen Rotweins und gönnst dir ein paar Sonnenblumenkerne dazu. Ich für meinen Teil freue mich auf Sonne, Fröhlichkeit, Chicken Curry extrascharf und diverse Flaschen kühles Singha (Ja, genau! Das Bier, von dem du bei unserem letzten Urlaub behauptet hast, es sei pures Gift!).

Für den unwahrscheinlichen Fall, dass es dir bisher nicht klar wurde: Ich verlasse dich!

Trotz allem wünsche ich dir und deinem Tofu-Grünkern-Auflauf für die Zukunft alles Gute und hoffe von Herzen, dass du irgendwann lernst, die alte Carola wiederzuerwecken. Damit meine ich die Carola, in die ich mich einst verliebt habe.

Dein Jan

Nein, das war vollkommen unmöglich. Seit wann machte Jan denn so schlechte Scherze? Wollte er ihr etwas heimzahlen? Hatte sie einen Jahrestag vergessen?

Mit lautem »Platsch« landete ein kleines Häufchen Gurkenscheiben direkt auf »Dein Jan« und die Schrift begann sofort zu verlaufen. Rasch klaubte sie die Gurke vom Papier und legte sie auf ihren Teller.

Das konnte doch alles nicht wahr sein, das war ein Irrtum, ein dummer Irrtum! Zitternd legte sie das Gesicht in ihre Hände – ein blöder Fehler. Eilig, die bröselnde Maske so gut wie möglich auffangend, lief sie ins Badezimmer und schrubbte sich den Quark von der Haut. Da nun auch noch die Tränen zu fließen begannen, schaufelte sie sich eiskaltes Wasser ins Gesicht und versuchte krampfhaft, sich zu beruhigen. Vollkommen unmöglich. Ihr Jan, der immer zuverlässige, pünktliche, gewissenhafte Jan, tat so etwas nicht. Punkt!

Kaum kehrte sie in die Küche zurück, musste sie sich eingestehen, dass er es wohl doch tat. Zumindest zeigte ihr mit fliegenden Fingern aufgerufener Online-Banking-Account exakt die Summe, die er angekündigt hatte. Knapp zehntausend Euro fehlten, dreitausend Euro waren noch auf dem Konto. Damit war das Sicherheitspolster von drei Monatsraten, das sie sorgsam bewahrt hatten, futsch.

Nur, wie sollte sie denn allein mit ihrem Gehalt diese Wohnung finanzieren? Mit zweitausendachthundert Euro netto könnte das ein wenig problematisch werden. Langsam begriff sie, dass es wirklich Jan gewesen war, der jeden Monat mit zweitausenddreihundert Euro all das hier finanzierte. Gut, mit einem Nettogehalt von über sechstausend Euro war das wohl auch nicht zu viel verlangt. Oder etwa doch?

Carola wusste nicht mehr, was sie denken sollte. Abwesend kippte sie die Reismilch in den erkalteten Kaffee, was zugegebenermaßen nicht besonders schmeckte. Überhaupt schmeckte ungesüßter Kaffee nicht, aber Zucker war Gift für den Körper und künstlicher Süßstoff kam ja wohl nicht infrage. Ach verdammt, was sollte sie jetzt nur tun?

Während ihr die Tränen über die Wangen liefen, räumte sie die Lebensmittel zurück in den Kühlschrank.

Als sie die Margarine ins Butterfach stellte, fiel ihr Blick auf ein schwarz-braunes Etwas, das Jan immer ganz oben, ganz hinten verbarg. Ein Riegel Mars. Dieser miese, heimtückische Verräter! Nicht nur, dass er sie alleine ließ, er tat es auch noch mit etwas, von dem er wusste, dass sie es früher geliebt hatte.

Aber nicht mit mir! Voller Verachtung warf sie die Kühlschranktür zu und verschwand im Bad.

Nach einer heißen Dusche und endlich auch vernünftig gekleidet fühlte sie sich so lange wohl, bis sie den von Gurkensaft und Quarkkrümeln entstellten Brief wieder erblickte. Es war ein seltsames Gefühl, so als kämen die Wände ihrer Wohnung langsam auf sie zu. Ihre Hände begannen zu zittern und ihr wurde, trotz des warmen Frühlingstages, kalt. Unter Menschen zu gehen, kam nicht infrage, aber allein sein ging auch nicht. Überhaupt nicht.

Petra! Ihre Freundin war die letzte Hoffnung und wenn sie ehrlich zu sich war, auch gleichzeitig die einzige. Irgendwie schien sie nicht mitbekommen zu haben, wann ihr die restlichen Freundinnen abhandengekommen waren.

Kaum vierzig Minuten später klingelte es bereits und Petra stand, eine Flasche Prosecco in der einen Hand, eine Flasche Aperol in der anderen, vor ihrer Haustür.

»Danke, dass du so schnell gekommen bist.« An ihrer Stimme musste sie dringend arbeiten, die klang ja grauenhaft.

»Na hör mal, was glaubst du denn? Wofür sind Freunde da, wenn nicht, um in solchen Situationen zu helfen?« Petra schob sie kurzerhand beiseite, ging in die Küche und stellte ihre Flaschen ab. »Noch ist das Zeug schön kalt, sind deine Gläser im Schrank im Wohnzimmer?«

Carola nickte. »Aber du weißt schon, dass Alkohol pures Gift für den Organismus ist?«

Petra drehte sich mit gerunzelter Stirn zu ihr um. »Meine liebe Carola. Sei mir bitte nicht böse, aber das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Wir haben das Zeug früher literweise weggekippt und haben es auch überlebt. Du hast schon einen an der Klatsche, wenn ich das mal so unverfroren behaupten darf.«

»Ich will doch nur auf mich achten.«

»Indem du dir alles versagst, was auch nur annähernd Spaß macht oder lecker schmeckt? Mensch, Carola, schau dich doch an, du bist zum Trauerkloß mutiert und da wunderst du dich, dass Jan das Weite sucht? Ich hole jetzt Gläser, basta.«

Petra marschierte kopfschüttelnd ins Wohnzimmer, kam mit zwei langstieligen, bauchigen Gläsern zurück und mixte, wie sie das schon früher getan hatte, zwei leckere Aperol Spritz.

»Da, du trinkst das jetzt, sonst könnte es sein, dass ich ausgesprochen ungehalten werde.«

»Och menno, ich dachte, du wärst hier, um mich zu trösten. Und nun schimpfst du mit mir.« Mit zerknitterter Miene langte Carola nach dem Glas, das Petra ihr auffordernd hinhielt.

Die ließ sich in einen der eleganten Stühle am Esstisch plumpsen und musterte sie eine Weile schweigend.

»Carola, im Ernst. Wann hast du das letzte Mal laut und von Herzen gelacht? Wann hattet ihr, also du und Jan, das letzte Mal so richtig Spaß zusammen?«

Carola dachte angestrengt nach. Die letzten Monate waren hart gewesen. Sie, die gelernte Reisekauffrau, musste wie immer im Frühjahr viel arbeiten. Neue Reisevorschläge, neue Hotels, Frühlingsreisen für Verliebte und so weiter. Da war wenig Zeit geblieben für traute Zweisamkeit. In Jans Firma waren drei neue Makler angestellt worden, junge, hungrige Kerle, die nur für den Job zu leben schienen.

»Die Situation in der Firma mit neuen Kollegen, das war für Jan eine ziemliche Herausforderung, doch ich habe ihn immer angespornt und ihm Mut gemacht«.

»Angespornt? Aha!« Petra nahm einen großen Schluck, ehe sie weitersprach. »Versteh mich nicht falsch: Ich finde es total daneben und feige, dass er dich einfach so im Stich lässt, ohne dir die Möglichkeit zu geben, etwas an der Situation zu ändern und ohne mit dir darüber zu reden. Aber dass er von der Lage grenzenlos frustriert war, hätte dir doch auffallen müssen. Das haben ja sogar Außenstehende gesehen, aber wir können uns nicht einfach ungefragt in eure Angelegenheiten einmischen.«

»Frustriert?«

Sie nickte. »Erinnerst du dich, als Mark und ich das letzte Mal zum Essen bei euch waren?« Petra drehte nachdenklich das Glas in ihren Händen. »Also, jetzt mal ganz gerade heraus, deine Ankündigung, ab sofort nur noch vegan zu leben und zu kochen, kam für Jan schon etwas überraschend, oder?«

»Na ja, ich wollte ihn eben überraschen.«

Lachend lehnte Petra sich in ihrem Stuhl zurück und wippte leicht. »Das ist dir gelungen. Ich werde seinen Blick nie vergessen, als er das Tofugeschnetzelte in Sojasahne und Vollkornnudeln sah. Du weißt schon, dass Mark und ich später noch beim Pizzaservice waren? Nicht böse sein, aber das Zeug, das du da fabriziert hast, hat nach Arsch und Fritzchen geschmeckt.«

»Dafür war es gesund.«

»Gesund ist Pumpernickel auch, aber wer zur Hölle isst das freiwillig?«

»Ich.«

Petra seufzte laut auf. »Warum wundert mich das nur nicht?«

Eine Stunde und zwei Aperol Spritz später waren sie immerhin so weit übereingekommen, dass es besser war, dass Jan sich jetzt davon gemacht hatte, als wenn es ihm später eingefallen wäre. »Stell dir vor, ihr hättet Kinder gehabt und er wäre in seine Midlife-Crisis gerutscht. Dann wäre Holland wirklich in Not gewesen.«

»Also mal ehrlich, so wie die Dinge jetzt liegen, ist zwar nicht Holland in Not, aber dafür meine Wenigkeit. Oder kannst du mir sagen, wie ich mit meinem Gehalt die Wohnung halten soll?« Carola blickte fragend von ihrem fast leeren Glas auf.

»Frag deinen Chef nach einer Gehaltserhöhung und lass dir die Hypothek neu berechnen. Kleinere Raten, dafür eben länger zahlen.« Petra zog eine abschätzige Grimasse. »Damit finanzierst du zwar die Bank um einiges mehr, aber du könntest die Wohnung behalten.«

»Leisten könnte ich mir dann aber nichts mehr.« Carola sah sich bereits sämtliche Verträge kündigen, vom Monatsmagazin für die Dame bis zum Fitnesscenter.

»Ja, Mädel, da musst du durch. Entweder oder. Um ehrlich zu sein, würde ich ja die Wohnung aufgeben.«

»Niemals, ich habe so hart dafür geschuftet. Es ist meine Traumwohnung, dann hätte ich nicht nur Jan, sondern auch noch mein Zuhause verloren.«

»Hmpf, also echt. Ich würde sie verkaufen und mir was Kleines und Kuscheliges suchen. Aber das musst du wissen. Gib dein Glas her. Dein Gesichtsausdruck sagt mir, dass du dringend noch was zu trinken brauchst.«

Am Abend war nicht nur die Prosecco-Flasche leer, sondern auch die Champagnerflasche, die Carola und Jan für besondere Anlässe in der Kammer aufbewahrten. Petra vertrat eindeutig die Meinung, dass das ja wohl ein besonderer Anlass sei und Aperol schmeckte auch mit schweineteurem Champagner. Carolas Welt schwankte ein wenig und außerdem war da doch ein bohrendes Hungergefühl. Während Petra sich eine Pizza liefern ließ, brachte sie selbst nur den Sojajoghurt hinunter, etwas wenig als Basis für vier Cocktails. Die Freundin schloss sie zum Abschied fest in die Arme.

»Hör zu, Carola, wenn du mich brauchst, bin ich da. Ich würde dir aber dringend raten, endlich mal wieder mehr zu leben, falls du weißt, was ich meine.«

Sie nickte kleinlaut. »Ich weiß, aber mit der Umsetzung hadere ich gewaltig.«

»Du bekommst das schon hin. Da bin ich absolut sicher.« Petra tätschelte gönnerhaft ihren Rücken, ehe sie sich schwankend auf den Heimweg machte.

Wäre sie selbst sich doch nur annähernd so sicher gewesen wie Petra. Carola tastete sich durch ihre sich in seltsamen Schwingungen befindende Wohnung und stoppte am Kühlschrank.

Leben! Genau! Sie würde sofort damit anfangen. Todesmutig angelte sie den Marsriegel aus dem Fach und verschlang ihn mit nur drei Bissen. Zwar schmeckte er genauso gut, wie sie ihn in Erinnerung hatte, aber Hochgefühl stellte sich keines ein. Nun ja, man sollte wohl nicht zu viel auf einmal verlangen. Als geradezu fataler Fehler hingegen stellte sich ein unüberlegter Blick in den Kleiderschrank von Jan heraus. Ordentlich in Reih und Glied hingen dort seine teuren Designeranzüge, wohingegen seine wenigen Freizeitklamotten allesamt verschwunden waren. Es war tatsächlich so, wie er geschrieben hatte: Sein altes Leben hing noch immer hier im Schrank. Er hatte es aufgegeben, zurückgelassen, so wie er sie zurückgelassen hatte.

Heulend warf sie die Schranktür zu, wankte ins Bad, putzte sich die Zähne und vergrub sich unter der Bettdecke. Spontan entschloss sie sich, Sonntage – neben treulosen Freunden - auch zu hassen.

Kapitel 2

Sie dankte den Göttern, dass die Sonne auch am nächsten Tag vom Himmel lachte – ein Umstand, der es ihr ermöglichte, ihre Sonnenbrille zu tragen, ohne dass es seltsam wirkte. Puder und Make-up allein waren eindeutig zu wenig, um die Spuren des gestrigen Tages zu kaschieren.

Unter ihren verquollenen Augen lagen dunkle Schatten und sie hoffte inständig, sich mit Heuschnupfen herausreden zu können. Die komischen Blicke der anderen U-Bahn-Fahrgäste kümmerten sie wenig, doch als sie an der Haltestelle Moosfeld ausstieg und sich auf den Weg in den Sender machte, wurde ihr mulmig. Carola hasste es wie die Pest, Privates mit Kollegen zu erörtern. Der Heuschnupfen war ihre letzte Rettung.

So rasch sie konnte, eilte sie durch den langen, hell erleuchteten Flur im zweiten Stock, von dem aus die zahlreichen Türen in die Büros und den Besprechungsraum abgingen. Aufatmend betrat sie schließlich das eigene Büro, das sie sich mit ihrer Crew teilte. Tatsächlich schien es gut zu funktionieren. Jürgen, ihr Kameramann, und Klaus, ihr langjähriger Tontechniker, versuchten, sich mit guten Ratschlägen in Sachen Antiallergikum gegenseitig zu übertreffen, und bedauerten Carola aufrichtig, sobald diese ihre Brille abnahm. Carola entschied gerade, sich dann doch langsam ein wenig besser zu fühlen, als von Suse, der Teamassistentin vom Chef, die Nachricht kam, man möge sich doch bitte umgehend im großen Besprechungsraum einfinden. Auf Carolas besorgte Frage, was denn los sei, erhielt sie nur ein atemloses »Keinen Schimmer, außerordentliches Jour fixe!«.

Außerordentlich? Das klang nicht gut. Carola kannte das: Kam ein Unglück, folgte das zweite meist auf dem Fuße. Doch Mutmaßungen brachten sie nicht weiter, sondern machten sie lediglich noch nervöser. Also goss sie sich rasch eine Tasse grünen Tee ein und folgte Klaus und Jürgen ins Besprechungszimmer, wo bereits alle anderen versammelt waren.

Peter Friedberg, der sechzigjährige Chef des Senders, hatte am Ende des langen Besprechungstisches Platz genommen, sein Sohn Carsten stand hinter ihm ans Fensterbrett gelehnt, da alle Stühle besetzt waren. Schon lustig, der Juniorchef stand, während die Angestellten saßen. Doch das war eben Carsten mit seinen neumodischen Ideen.

Klaus, der den letzten Platz ergattert hatte, erhob sich sofort und überließ ihn Carola. »Mit deiner Allergie hier auch noch rumstehen, kommt überhaupt nicht infrage.«

Sofort sah Peter auf. »Allergie? Carola, geht es dir nicht gut?«

»Nein, nein, alles in Ordnung, nur Heuschnupfen. Kein Thema, ich bin okay.« Das wiederum war typisch Peter, stets besorgt um andere.

Sie musterte den langjährigen Chef beinahe schon liebevoll. Das dichte, graue Haar stand ihm wie immer chaotisch vom Kopf ab, die randlose Nickelbrille hatte er fast bis zur Nasenspitze geschoben und sah aufmerksam darüber hinweg. Der obligatorische graue Rollkragenpullover, von denen er wahrscheinlich über zwanzig in seinem Fundus hatte, war an den Armen hochgeschoben und er trug wie immer seine geliebten schwarzen Stoffhosen. Müde wirkte er in letzter Zeit, kein Wunder, schließlich war er meist einer der Letzten, die den Sender am Abend verließen. Trotz seiner sechzig Jahre und aller Müdigkeit sah Peter noch immer verdammt gut aus.

Er setzte sich aufrecht hin, ließ seinen Blick über seine Crew schweifen, schob die Brille zurecht und setzte an zu sprechen. »Sind nun alle da? Sehr gut, bitte entschuldigt, dass ich euch so überraschend von eurer Arbeit wegholen ließ, doch ich muss euch leider etwas ankündigen, von dem ich glaubte, es noch etwas länger hinauszögern zu können.«

Oh weh! Das klang gar nicht gut. Dass die Einschaltquoten gesunken waren, das wusste sie, aber darum gleich ein solcher Auflauf? Da musste noch mehr im Busch sein. Ehe sie sich noch mehr Gedanken machen konnte, fuhr Peter fort.

»Wie ihr ja alle wisst, bin ich seit einiger Zeit gesundheitlich ein wenig angeschlagen. Dass ich versucht habe, das zu verdrängen, hat sich nun am Samstag gerächt. Ich wurde mit einer Herzattacke in die Klinik geflogen, wo ich jetzt noch wäre, wenn ich mich nicht selbst entlassen hätte.« Das ungehaltene Schnauben seines Sohnes ignorierend, fuhr Peter fort. »Allerdings war mir das Warnung genug. Ich hänge nun doch am Leben. Daher habe ich eine Entscheidung getroffen, von der ich hoffe, dass ihr sie gemeinsam mit mir und Carsten tragen werdet. Mit dem heutigen Tag übergebe ich den Sender in Carstens Hände.«

Zwar sprach Peter weiter, doch das hörte Carola nicht mehr. Carsten als neuer Senderchef, der Junior und seine neuen, fortschrittlichen Ideen. Wenn sie jetzt nicht aufpasste, würde er ihr das von ihr so sorgfältig aufgebaute Ressort unter dem Hintern wegrationalisieren. Die Luxusreisen, die sie zusammenstellte, suchten ihresgleichen. Die Hotels waren sorgfältig ausgewählt, die Rahmen- und Wellnessprogramme von vorne bis hinten durchgeplant. Sie überließ nichts dem Zufall und seit es ihre Reisen gab, waren in den ganzen Jahren nur eine Handvoll Beschwerden eingegangen, die meist von einer viel zu hohen Erwartungshaltung zeugten. Sie würde unbedingt noch einmal mit Peter reden müssen, um hier für klare Verhältnisse zu sorgen.

Als er just in diesem Augenblick in die Runde blickte und fragte, ob alle seine letzten Ausführungen verstanden hätten, nickte sie schuldbewusst. Tatsächlich hatte sie keine Ahnung, worüber er gesprochen hatte. Sie gedachte, das später in Erfahrung zu bringen, zuerst musste Kriegsrat mit Klaus und Jürgen gehalten werden.

»Carola, bitte, du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass sich nichts ändern wird?« Jürgen nagte nervös an einem Doppelkeks.

Sie winkte abwehrend in seine Richtung. »Das habe ich nicht gesagt. Wir müssen uns einfach von Anfang an gut verkaufen. Also wirklich, Leute, das haben wir doch bis heute bestens hinbekommen.«

Klaus krauste nachdenklich seine große Nase. »Du sagst es, Carola, bis heute. Peter ist ein sehr geduldiger Chef, der sich meist scheut, Veränderungen vorzunehmen. Komm, sei ehrlich, unsere Einschaltquoten machen schon nachdenklich.« Er warf einen fragenden Blick in die Runde. »Also zumindest mich.«

Sie blickte stirnrunzelnd in ihren Teebecher. Nur half der Bodensatz des Grüntees ihr auch nicht weiter.

»Ach, Leute, das liegt nicht an uns. Unsere Sendungen sind ausnehmend gut und unterhaltsam. Unsere Reisen, wenn sie denn gebucht werden, hinterlassen stets einen guten Eindruck.«

»Japp, du sagst es, Carola. Wenn sie gebucht werden. Derzeit flutscht das aber nicht so wirklich. Da können wir uns die Zahlen noch so akribisch zurechtschieben. So wohlwollend können wir gar nicht auf die Zahl blicken, dass es erfreulich wäre.«

»Meine Güte! Wir haben halt einen kleinen Durchhänger. Die Sendung von Marco ist derzeit total im Keller.«

Jürgen rieb sich grinsend über das mit Bartstoppeln übersäte Kinn. »Liebste Chefin, könnte das eventuell daran liegen, dass Marco Skireisen verkauft?«

Nun musste sie doch schmunzeln. »Schon in Ordnung. Ich habe es verstanden. Ich lasse mir etwas einfallen, versprochen. Auf jeden Fall müssen wir zusammenhalten. Wir sind ein sehr gutes und erfolgreiches Team. Das muss auch Carsten einsehen und er kann nicht so einfach umorganisieren.«

»Nun seien wir doch einfach einmal vorsichtig optimistisch. Vielleicht zerbrechen wir uns ja die Köpfe vollkommen umsonst und Carsten denkt gar nicht an eine Umstrukturierung.« Klaus erhob sich von seinem knarzenden Bürostuhl und streckte die langen, schlaksigen Gliedmaßen. »Ich hab jetzt Hunger und geh mir was zu futtern holen. Wer kommt mit?«

Carola lehnte dankend ab. Zum einen weil ihr noch immer flau im Magen war, zum anderen weil ihre zur Schau gestellte Sicherheit bei Weitem nicht so groß war, wie sie nach außen hin vorgab. Hinzu kam, dass die nächste Sendung bereits komplett abgedreht und schon beim Schneiden war. Es musste eine neue Idee her und zwar zackig, etwas, das Carsten überzeugte und ihr und ihrem Team das nächste Projekt sicherte, sodass er gar nicht erst auf wie auch immer geartete, schräge Ideen kam.

Entschlossen fuhr Carola den Laptop hoch und öffnete ihren Sammelordner mit den Locations, die alle noch auf ihrer Liste standen. Das wäre doch gelacht, wenn sie ihre Kompetenz nicht auch vernünftig nutzen könnte. Wie wäre es denn mit ... Sri Lanka?

»Carola!«

Wie von der Tarantel gestochen fuhr sie hoch. Es war aber auch nicht leicht, aus einem Tagtraum aufzutauchen, in dem man an einem schneeweißen Sandstrand auf einer mit weichen Tüchern ausgestatteten Liege lag, um sich von einem jungen, knackigen Masseur mit dem Aussehen eines Jason Momoa durchkneten zu lassen. Allerdings klang Suses Stimme mehr als gereizt und so zwang sie sich zurück in ihr Büro im Münchner Osten.

»Äh, entschuldige bitte, Suse, ich arbeite gerade die neue Ayurveda-Reise aus. Sri Lanka, sehr schön, sehr edel. Ich war geistig wohl schon dort.«

Suse grinste sie frech an. »Fürs Erste würde es mir schon genügen, wenn du den weiten Weg in Carstens Büro mit mir zurücklegst. Er möchte mit dir sprechen.«

Schon? Carola schluckte nervös. Das war aber sehr schnell gegangen, blieb nur zu hoffen, dass Jürgen und Klaus mit ihren Vermutungen nicht doch noch richtiglagen. Daran wollte sie aber derzeit nicht denken. Eilig sicherte sie die begonnene Datei und klappte den Laptop zu.

»Ich komme schon. Wir wollen den neuen Chef doch nicht warten lassen, nicht wahr?«

»Nein, das wollen wir ganz sicher nicht.« Suses hämisches Grinsen ignorierte Carola geflissentlich. Nun rächte es sich wohl doch, dass sie Peters persönliche Assistentin für die Exposés ihrer Reisen missbraucht hatte. Suse schrieb zwar immer geduldig, aber dass sie es nicht gerne tat, wusste Carola. Leider machte ihr Delegieren schon immer Spaß und warum auch nicht, wenn man es sich herausnehmen konnte.

In Gedanken versunken stiefelte sie neben Suse durch die langen, von vielen Türen gesäumten Flure des Senders. »Suse, warum bringst du mich eigentlich? Ich weiß doch, wo Carstens Büro ist?«

»Nun, weil ich da sowieso hin muss. Ich arbeite seit heute dort.«

Carola runzelte überrumpelt die Stirn. »Soll das heißen, dass Peter schon weg ist?«

Suse nickte mit trauriger Miene. »Peter soll sich schonen, und ich bin froh, dass er das auch tut. Carsten wird das Kind schon schaukeln.«

In diesem Punkt hegte Carola zwar ihre Zweifel, doch die behielt sie lieber für sich. Kaum erreichten sie Carstens Räume, eilte Suse zur Tür, öffnete sie und konstatierte: »Carola wäre jetzt da.«

»Na dann, rein mit ihr.« Carstens fröhliche Stimme irritierte sie. Warum hatte der Kerl so gute Laune?

Sie strich sich ihren engen Rock glatt, zauberte ein zuversichtliches Strahlen auf ihr Gesicht und betrat mit festem Schritt das modern gestaltete Büro ihres neuen Vorgesetzten.

»Carola, danke, dass du gleich kommen konntest. Bitte setz dich doch.« Carsten deutete einladend auf einen der zwei schwarzen Lederstühle vor seinem Schreibtisch. »Sorry, dass ich schon an meinem ersten Tag durch meine Aktivitäten für Hektik sorge.«

Offenbar wirkte ihre Miene nicht ganz so selbstsicher, wie sie es sich erhoffte. Carsten hielt in seiner Ansprache inne und musterte sie fragend. »Darf ich dir einen Kaffee anbieten oder sonst was? Du siehst ein wenig blass aus. Immer noch die dumme Allergie?«

»Wie? Allergie? Ach so, ja, natürlich. Keine Ahnung, woher das auf einmal kommt. Ich hatte so was noch nie.« Die Kurve hatte sie gerade noch mal gekriegt. »Aber danke, keinen Kaffee, das ist ungesund. Aber ein Glas Wasser wäre tatsächlich nicht übel.«

Während Carsten aufstand und ihr an der kleinen Bar, die in einem uralten Schrankkoffer untergebracht war und um die so ziemlich alle ihn beneideten, ein Glas Mineralwasser eingoss, gelang es ihr, sich zu sammeln. Aktivitäten! Wenn sie das schon hörte. Musste denn immer alles umgeworfen werden? Natürlich ging das Leben weiter, aber bewährte Dinge sollten doch beibehalten werden. So dachte zumindest sie, ob das auf Carsten auch zutraf, würde sich wohl in den nächsten Minuten herausstellen.

Er reichte ihr lächelnd das Glas, umrundete seinen Schreibtisch und setzte sich.

»So, wo war ich? Ach ja, Aktivitäten und Hektik. Wie gesagt, tut mir echt leid, aber ich möchte einfach, dass alles problemlos weiterläuft.«

Oh ja! Weiterlaufen klang gut. In der Richtung durfte er seine Aktivitäten gerne ausbauen. Carolas steifer Rücken entspannte sich und sie nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas.

»Da stimme ich dir uneingeschränkt zu. Wie kann ich dich unterstützen?«

»Nun«, Carsten lehnte sich in seinem Sessel zurück und fuhr sich sichtlich nachdenklich durch seinen dunkelblonden Haarschopf, während seine braunen Augen auf dem vor ihm liegenden Laptop ruhten. »Ich habe mir mal alle Zahlen durchgesehen und dabei natürlich auch die deiner Sendung. Gleich einmal vorausgeschickt: Ich mag deine Sendung. Du hast Stil und deine Moderationen sind eloquent und sehr ansprechend. Das einzige Problem scheint zu sein, dass den Leuten das Geld nicht mehr ganz so locker sitzt. Daher möchte ich – bitte sieh das nicht als endgültig an – vorerst einmal alle Fernreisen streichen.«

So viel zu dem Jason-Momoa-Verschnitt eines Masseurs und seinen magischen Händen. Carola konnte gerade noch ein enttäuschtes Seufzen unterdrücken.

»Carsten, das verstehe ich absolut. Gar kein Thema.« Sie hoffte, dass das nicht allzu gönnerhaft geklungen hatte, doch Carsten schien geistig schon einen Schritt weiter zu sein.

»Lass uns im europäischen Raum bleiben und hier Kreativität an den Tag legen.«

Europäischer Raum war schon mal nicht so schlecht. Zumindest klang es nicht nach Bäderreise durch den Schwarzwald. Wobei ...

»Ich war als Teenager mit meinen Eltern ein paar Wochen in Schottland und ich erinnere mich, dass das Land mich von der ersten Sekunde an begeistert hat.« Carsten rutschte grinsend in seinem Stuhl nach unten. »Und ich möchte bemerken, ich war ein etwas anspruchsvoller und schnell gelangweilter Teenie. Daher wäre meine Idee für deine nächste Reise Schottland. Was hältst du von dem Gedanken?«

»Schottland? Carsten, ich bin begeistert! Ehrlich, das ist eine wunderbare Idee. Dort gibt es unzählige Möglichkeiten.«

Ihr Chef strahlte sie an. »Freut mich, dass du das auch so siehst.«

Carola hörte wohl, dass Carsten weitersprach, doch in ihrem Kopf tauchten bereits die ersten Stationen ihrer nächsten Reise auf und Carstens Stimme rückte in den Hintergrund. Sie sah bereits Edinburgh mit seinen himmlischen Hotels, die schicken Restaurants, Sonderführungen durch das Schloss, ein Dinner in einem der edlen Herrenhäuser. Oh wie schön! Ganz zu schweigen von den fantastischen Golfplätzen, die Schottland zu bieten hatte, die Schlosshotels oder umgebauten Burgen. Man könnte Range Rover anmieten, um die Gäste zu chauffieren, das wäre besser als Busse und allemal angenehmer für die anspruchsvolle Klientel.

»Carola, bist du noch bei mir?« Carstens Miene wirkte plötzlich angespannt.

»Aber sicher, ich sage nur nichts, damit ich auch nichts vergesse und das alles sofort umsetzen kann.«

Donnerlittchen! Sie musste sich schleunigst abgewöhnen, mit ihren Gedanken schon immer meilenweit voraus zu sein und ihrem Gegenüber nicht richtig zuzuhören.

»Ach so, ich dachte doch tatsächlich, dass ich dich langweile.« Carsten beugte sich vor und legte seine Unterarme auf den Schreibtisch, wobei er nervös mit den Fingern auf die Holzplatte tippte. »Allerdings hat Vater das Problem ja bereits angesprochen, es ist dir also nicht neu, nicht wahr?«

»Absolut nicht.« Mist, verdammter. Sie versuchte krampfhaft, sich seine letzten Sätze ins Gedächtnis zu rufen, aber da waren leider nur Burgen auf windumtosten Hügeln.

»Fein. Dann kannst du ja, wenn du gleich Zeit hast, auch schon ein paar Gedanken dazu ausarbeiten, und wir sehen uns morgen Nachmittag, sagen wir um fünf Uhr, hier für eine Vorbesprechung. Bitte glaub nicht, dass ich dir und deinem Urteil nicht vertraue, aber ich möchte sehen, wie sich so eine neue Strategie umsetzen lässt, ja?«

»Selbstverständlich, das ist doch keine Frage. Also sehen wir uns morgen?«

»Ja, fünf Uhr. Vorher habe ich eine Besprechung mit ein paar wichtigen Werbekunden.«

Carola lächelte nachsichtig. »Gar kein Thema, unsere Geldgeber gehen immer vor.«

»Stimmt wohl.« Carsten wirkte nun deutlich entspannter und tippte bereits eifrig auf seinem Laptop.

Das Gespräch war offensichtlich beendet und so erhob sie sich, zupfte ihr Kostüm zurecht und wollte den Raum verlassen, als er sie noch einmal zurückrief.

»Sag mal, kennst du Lea eigentlich schon?«

Lea? Welche Lea? So viel konnte er Carola in der kurzen Zeit ihrer mentalen Abwesenheit gar nicht erzählt haben. Einfach mal forsch drauf los. »Nein, bisher nicht.«

»Hätte ich mir eigentlich denken können. Bei euch sind die Praktikanten ja so gut wie nie. Aber das soll nicht das Problem sein. Ich sehe einfach zu, dass sie morgen bei unserem Gespräch dabei ist, da könnt ihr euch beschnuppern. Bis Morgen, Carola.«

Nicht gut! Gar nicht gut. Leise zog sie die Tür hinter sich ins Schloss. Suse blickte von ihrer Tastatur auf und lächelte sie pflichtschuldig an. »Du siehst unentschlossen aus. Kann ich dir behilflich sein?«

Sie versicherte sich, dass die Tür zu Carstens Büro wirklich geschlossen war. Das hätte ihr nun noch gefehlt, dass er ihre Frage gehört hätte.

»Kannst du tatsächlich. Kennst du zufällig eine Lea?«

»Aber natürlich. Das ist die nette Praktikantin, die Peter noch eingestellt hat. Kennt ihr euch noch gar nicht?«

Carola schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, das Vergnügen hatte ich noch nicht.«

»Na, dann werdet ihr euch sicher bald treffen. Lea ist echt cool.« Offenbar war das Gespräch für Suse beendet, denn sie wandte sich wieder ihrem Computer zu, und so verließ Carola verunsichert das Zimmer.

Auf dem Weg zurück in ihre Abteilung, kam Schritt für Schritt ihre Selbstsicherheit zurück. Wo lag denn das Problem? Sie war kurz abgelenkt gewesen. Was konnte Carsten in der kurzen Zeit schon Weltbewegendes verkündet haben? Hauptsache war doch, dass ihre Sendung ganz offensichtlich nicht abgesetzt werden sollte. Im Gegenteil, der Chef selbst machte sich Gedanken zu guten Destinationen. Das war doch durchaus positiv.

Als sie die Klinke der Tür zu ihrem geräumigen Büro herunterdrückte, strahlte sie voller Vorfreude. Jürgen und Klaus sahen sichtlich neugierig von ihren Bildschirmen auf.

»Und?«, fragte Jürgen.

»Was, und?«

»Jetzt spann uns doch nicht auf die Folter. Was hat Carsten gesagt? Haben wir eine Zukunft oder hat er uns den Geldhahn abgedreht?« Klaus war sichtlich nervös.

Sie setzte ein dezentes Lächeln auf und ging erst einmal wortlos zur Anrichte, auf der Wasserkocher und Kaffeemaschine standen, machte Wasser heiß und brühte sich einen leckeren, blutreinigenden Brennnesseltee auf.

»Carola?!«

»Jaja, ist ja schon gut. Ich wollte euch nur schmoren lassen. Gute Neuigkeiten für uns, Jungs, die Sendung wird weiterproduziert. Nicht nur das, Carsten hat noch eine tolle Idee gehabt. Was haltet ihr von einer Traumreise durch Schottland?«

Jürgens Züge hellten sich zusehends auf. »Schottland? Wie cool ist das denn? Ist das dein oder vielmehr sein Ernst?«

»Absolut! Wir haben gerade darüber gesprochen und bis morgen Nachmittag soll ich schon erste Ergebnisse liefern.« Sie nippte zufrieden an ihrem Tee. »Und aus diesem Grund setzte ich mich sofort ran und bitte darum, nicht mehr gestört zu werden.«

Klaus wandte sich seinem Bildschirm zu. »Dann mach du mal. Wir halten dir den Rücken frei.«

Jürgen klopfte ihr bewundernd auf die Schulter. »Super, Carola. Das hast du prima gedeichselt. Respekt!«

Sie genoss das Lob und das Hochgefühl, das sich bei ihr einstellte. Nun musste sie erst einmal eine exquisite Reise zusammenstellen und dann, sobald alles unter Dach und Fach war, konnte sie vorsichtig das Thema Gehaltserhöhung ansprechen. Hoch motiviert klappte sie ihren Laptop auf.

Abgesehen davon, dass ihre Augen noch immer brannten, spürte Carola nichts mehr von dem Schmerz des letzten Tages. Die Dinge entwickelten sich genau so, wie sie es sich im Stillen erhofft hatte.

Kapitel 3

Edinburgh, das traumhafte Castle, die riesige mittelalterliche Burganlage würde die Gäste begeistern. Gleich im Anschluss die Royal Mile, hier vorrangig mit Verkostung einer typischen Spezialität des Landes und einem Drink in einem der urigen Pubs. Selbstverständlich hoch exklusiv mit vorab reservierten Plätzen und zwei hervorragenden Führern. Eine Führung durch Holyroodhouse, wenn alle anderen Gäste weg waren und die tief stehende Nachmittagssonne die Räume in goldenes Licht tauchte. Zum Abschluss einen Champagnerempfang auf der Terrasse – oh ja, das klang doch sehr gut.

Carola lehnte sich zufrieden zurück und dehnte ihren schmerzenden Rücken. Sich zu verkrampfen, sobald sie sich ganz besonders konzentrierte, war eine ihrer dummen Eigenschaften. Sie reckte und streckte sich eine Weile, danach musste sie sich aber wieder auf die Reise konzentrieren.

Wo sollten die Gäste wohnen? Die Auswahl an erstklassigen Hotels war groß. Sollte sie auf Nummer sichergehen? Das Sheraton kannte sie bestens, hier wüsste sie genau, was auf sie zukäme, und von dort aus ließen sich alle Ausflugsziele hervorragend erreichen. Oder doch ein altes, exklusives Traditionshaus wählen?

Carola nagte an ihrer Unterlippe und dachte angestrengt nach. Das Dinner im Hotel einzunehmen, kam nicht infrage, ging man von vier bis sechs Paaren aus, würde ein vom Earl of Astonbury ausgerichtetes Candle-Light-Dinner sicherlich den gewünschten Effekt erzielen. Ein Abend auf Schloss Astonbury war schlicht unvergesslich. Dass auch die Kosten für so ein Event unvergesslich waren, musste sie einfach akzeptieren, dafür würde es in den Highlands ein wenig preiswerter ... hoffentlich.

Es war schon dunkel, als sie das nächste Mal von ihrem Bildschirm aufblickte. Mittlerweile schmerzten ihre Augen höllisch und ob ihr Rücken jemals wieder die richtige Krümmung einnehmen würde, stand in den Sternen. Wichtig war im Moment jedoch lediglich, dass sie bereits den Ablauf für die Anreise, den Transfer, die Begrüßung und die ersten beiden Tage komplett erarbeitet hatte. Ja, sie konnte mit Fug und Recht stolz auf sich sein. Das war bis jetzt ein wirklich faszinierendes Programm, das keinen der sicherlich anspruchsvollen Reiseteilnehmer enttäuschen würde. Wenn Carsten damit nicht zufrieden war, wusste sie auch nicht mehr. Gut, es war teuer, dafür wurde aber auch ein Programm geboten, das seinesgleichen suchte.

Sie formatierte das Dokument so ordentlich und übersichtlich, wie sie es immer tat, druckte es aus, lochte die Blätter und zog sie auf drei Kladden. Eine für Carsten, eine für ihre Kameracrew und eine für sich selbst. Sehr schön!

Sie warf einen bedauernden Blick in ihre Teetasse, in der sich am Grund nur noch die letzten Reste ihres Grüntees als dunkle Ränder abzeichneten. Verflixt, wie spät war es eigentlich? Ein Blick auf die Uhr bescheinigte ihr zu ihrem eigenen Erstaunen, dass es schon nach acht Uhr war. Sie war sich sicher, dass Jürgen und Klaus sich verabschiedet haben mussten, als sie gegangen waren. Bekam sie gar nichts mehr mit? Sie sah suchend durch das im Halbdunkel liegende Büro. Nein, sie war eindeutig alleine, alle PCs waren ausgeschaltet, nur der Drucker summte noch leise vor sich hin. Seufzend stellte sie ihn ab, fuhr ihren Laptop herunter, bereitete die Unterlagen für den nächsten Tag vor, griff sich Blazer und Handtasche und verließ ihr Büro.

Da in der Wohnung sowieso niemand auf sie wartete, machte es nichts, dass es später geworden war. Während sie langsam die Treppe nach unten lief, was einfach gesünder war als der Aufzug, kam ihr in den Sinn, dass es beileibe nicht das erste Mal war, dass es später geworden war. Jan hatte ihr so gut wie nie Vorwürfe gemacht, auch wenn er stundenlang auf sie hatte warten müssen. Meist stand sogar ein leichtes Abendessen bereit, darauf würde sie wohl nun verzichten müssen. Es war doch wirklich eine Schande, dass Jan ihrer beider Leben so einfach in die Tonne trat.

Als eine knappe Stunde später die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss fiel, erschien ihr das eigene Zuhause still und seltsam leer. Eilig knipste Carola das Licht im Flur und das im Wohnzimmer an. Sie hängte ihren Blazer ordentlich auf den Bügel an der Garderobe, schlüpfte im Bad in ihren kuscheligen, wollweißen Wellnessanzug und tapste in die Küche. In ihrem Kühlschrank herrschte bis auf zwei Sojajoghurts, eine Packung vorgekochter und vakuumierter Rote Beete sowie einem Haferdrink Natur gähnende Leere. Tja, da hätte sie wohl daran denken sollen einzukaufen. Das war hart.

Zähneknirschend entschied sie sich, die Joghurts mit Dinkelflocken zu mischen und sich dazu ein Glas des Haferdrinks zu gönnen. Wild entschlossen, ihr Abendessen trotzdem zu genießen, setzte sie sich an die Theke ihrer offenen Küche. Zwar verzog sie angewidert das Gesicht, doch ihre Möglichkeiten waren leider begrenzt, daher aß sie das Gemisch tapfer auf. Als sie die Schüssel in der Spülmaschine verstaute und an ihrem Haferdrink nippend ins Wohnzimmer lief, wurde ihr schlagartig klar, dass Jan insbesondere ihr Leben in die Tonne verfrachtet hatte.

Verdammt nochmal, der Idiot fehlte ihr tatsächlich. Nein, nein und nochmals nein! Das kam nicht infrage! Entschlossen, nicht wieder in Selbstmitleid zu verfallen, knipste sie den Fernseher an. Amazon Prime offerierte ihr eine breite Bande an guten Filmen. »Sinn und Sinnlichkeit« mit Hugh Grant und Alan Rickman war die optimale Lösung.

Nein, ganz falsch, aber so richtig falsch! Gleich zwei Happy Ends waren nun doch zu viel. Mist! Verheult krabbelte Carola kurz vor Mitternacht in ihr Bett, nicht ohne vorher noch ein Memo an sich selbst verfasst zu haben: Vorerst nur noch unverfängliche Dokumentationen über das Leben in der Tiefsee!

Ach du Schande! Lea starrte erschrocken in den Spiegel. Warum konnte sie es sich nicht abgewöhnen, mit nassen Haaren ins Bett zu gehen? Sollte sie tatsächlich als verunglückter Gremlin zur anberaumten Besprechung beim neuen Chef aufschlagen? Verzweifelt versuchte sie, das Malheur auf ihrem Kopf in den Griff zu bekommen. Begleitet von leisen Schmerzensschreien zwang sie die Bürste durch ihre langen, fast schwarzen Locken. Letztendlich würgte sie ihre dichte Haarpracht in einen festen Dutt, den sie mit zwei großen, gebogenen Holzkämmen feststeckte. Half ja alles nichts, sie musste einigermaßen vorzeigbar aussehen.

Vorsichtig zupfte sie zwei Strähnen heraus, wickelte sie im ihren Finger, zog sie in die Länge und betrachtete ihr Werk im Spiegel. Das musste genügen, basta. Rasch noch das weiße Shirt, die Jeans und die weißen Segeltuchschuhe. Die silbernen Creolen waren das letzte Zugeständnis an ihren Arbeitgeber, dann schlurfte sie müde in ihre winzige Küche.

Dort stellte sie herzhaft gähnend ein großes Glas Milch in die Mikrowelle, kippte zwei Löffel Nescafé und drei Löffel Zucker hinein und nippte zaghaft an dem dampfenden Gebräu. Jepp, schmeckte lecker und weitere Schlucke machten rasch wach. Fröhlich und lauthals Santianos »Walhalla« mitsingend suchte sie ihre Utensilien zusammen und warf sie in den großen, bunten Rucksack. Neugierig war sie schon, was Carsten heute von ihr wollte, aber Suse hatte eisern geschwiegen, daher musste sie wohl bis zum späteren Nachmittag warten.

Genüsslich schlürfte sie ihren Kaffee fertig, tunkte noch rasch einen etwas hart gewordenen Schokodonut hinein, ehe sie die neue Jeansjacke, ein Geschenk ihrer Mutter zum zweiundzwanzigsten Geburtstag, überstreifte. So, fertig! Sie schulterte ihren Rucksack und stellte das Glas im Spülbecken ab. Eilig lief sie die zwei Stockwerke bis zum Erdgeschoss hinunter, griff sich ihr dort abgestelltes Rad und öffnete die Haustür.

»Liebes Fräulein Lea. Wann wollen Sie denn endlich einmal ihr Fahrrad im Keller oder draußen deponieren wie alle anderen auch?«

Ertappt zuckte sie zusammen. »Entschuldigung, Frau Maier, aber gestern war es schon wieder so spät. Heute Abend bring ich es ganz sicher runter, ja?« Sie schenkte der alten Dame ein strahlendes Lächeln.

Die zog nur tadelnd die Augenbrauen zusammen. »Das will ich aber auch hoffen.« Lange gelang der tadelnde Blick ihr allerdings nicht. »Sie arbeiten zu viel, Fräulein Lea. Sie sehen schon wieder ganz blass aus.«

Lea grinste nur. »Ach, Frau Maier, Sie wissen doch, edle Blässe und so.«

»Nichts da. Wenn Sie heute heimkommen, klingeln Sie bei mir. Ich hab einen leckeren Blaubeerkuchen gebacken. Da holen Sie sich ein Stück, verstanden?«

»Jawohl, sehr, sehr gerne, Frau Maier.« Schmunzelnd schwang sich Lea auf ihren Drahtesel. »Das mache ich.« Sie hörte noch, wie die Frau leise vor sich hin brummelnd wieder im Haus verschwand. Na, der Tag fing doch ganz nett an. Lea schnürte ihren Rucksack gut fest und trat kräftig in die Pedale.

Kapitel 4

Eigentlich hätte Carola an diesem Morgen gerne noch weiter geschlafen. Das war doch mal ein Traum, der sich sehen lassen konnte. Mit Alan Rickman in einem herrlichen Herrenhaus irgendwo im englischen Süden zu leben, wäre ihrer Vorstellung von Glück recht nahegekommen. Nur leider war dieser wundervolle Mann genauso tot wie ihr derzeitiges Liebesleben, also konnte sie auch aufstehen.

Kritisch prüfte sie nach einer ausgiebigen Dusche und überlegter Kleiderwahl ihr Aussehen in dem großen Flurspiegel. Doch, sie konnte sich sehen lassen. Ihr langes Haar war zu einer sehr edlen Banane geschlungen, die burgunderrote Bluse harmonierte perfekt mit dem dunkelgrauen Bleistiftrock und den hochhackigen, dunkelgrauen Pumps. Dezente Weißgoldohrringe vervollkommneten das Ensemble.

Sie schlüpfte in den passenden Kurzblazer, zupfte den Kragen ihrer Bluse zurecht und lächelte ihrem eigenen Spiegelbild zufrieden zu. »Du wirst das schon schaukeln, altes Mädchen.«

Heute benötigte sie in der U-Bahn keine Sonnenbrille und gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, dass sie im Falle eines Falles das exzellente Antiallergikum lobend erwähnen musste, das sie zu Hause hatte.

Kaum stieß sie voller Elan die Tür zu ihrem Büro auf, drehten sich zwei zufriedene Gesichter zu ihr um.

»Carola, du hast dich selbst übertroffen. Wenn die Reise in dem Stil, in dem du die ersten Tage durchorganisiert hast, weitergeht, wird das ein echter Knüller.« Klaus war offenbar begeistert.

Jürgen nickte zustimmend. »Ja, das hat Stil. Wieder ziemlich teuer, aber definitiv keine Reise von der Stange.«

»Es gefällt euch also? Das freut mich. Ich muss zugeben, dass ich mir auch besonders viel Mühe gegeben habe. Die erste Reise unter der neuen Senderleitung zu verbocken, können wir uns nun wirklich nicht erlauben.«

Klaus erhob sich von seinem Platz und klopfte Carola auf dem Weg zur Kaffeemaschine beruhigend auf die Schulter. »Keine Bange, das ist erstklassig. Carsten muss es einfach lieben.«

Zufrieden lächelnd verzog sie sich an ihren Schreibtisch. Das Lächeln drohte ihr kurzzeitig auf ihren Zügen zu gefrieren, als sie den Berg von Quittungen ihrer letzten Reise erblickte. Heute musste sie die Kostenabrechnung dafür wohl endlich abgeben. Suse würde ihr ansonsten kräftig die Leviten lesen. Zwei Stunden später wäre es ihr lieber gewesen, wenn sie die Abrechnung direkt in der Buchhaltung hätte abgeben können. Doch Peter hatte vor einem halben Jahr eingeführt, dass er sämtliche Abrechnungen zuerst sehen wollte. Carsten würde das wohl kaum ändern. Die Auflistung war fertig, alle Quittungen eingegeben und ordentlich abgeheftet. Schon zum zweiten Mal tippte sie die diversen Beträge in den Taschenrechner. Doch auch dieses Mal wurde es nicht weniger. Die Summe leuchtete regelrecht bedrohlich aus dem Display: 7.898,45 €.

Mist aber auch! Wenn sie bedachte, dass sie der Meinung war, dass es eigentlich gar nicht so viel sein konnte, hatte sie sich wohl gründlich geirrt. Ach, und wenn schon. Die letzte Sendung war qualitativ einwandfrei und ausgesprochen schön aufgemacht gewesen. Die Resonanz auf die vorgestellte Reise würde den Aufwand sicher rechtfertigen.

Flott stellte sie die Abrechnung fertig und brachte sie eine knappe Stunde später bei Suse vorbei. Die warf nur einen kurzen Blick auf das Deckblatt und legte sie neben sich.

Ihre knappe Aussage »Da wird Carsten sich freuen« wusste Carola nicht so recht einzuordnen und daher verließ sie lieber mit kurzem Nicken in Richtung der Chefsekretärin das Vorzimmer.

»Suse war auch schon mal freundlicher. Weiß jemand, was mit ihr los ist?« Mit einer Tasse Darjeeling und zwei Reiswaffeln bahnte sie sich vorsichtig ihren Weg hinter Jürgens Stuhllehne vorbei in Richtung ihres Schreibtisches.

»Sag nicht, das hast du nicht mitbekommen! Ihre Mutter ist in ein Pflegeheim eingewiesen worden. Das Geld der Krankenkasse und die Rente der Mutter decken gerade mal drei Viertel des Betrages. Suse muss nun den Rest berappen. Das ist echt hart für das Mädel. Sie wollte doch nächsten Winter mit ihrem Freund nach Neuseeland. Das musste sie alles canceln, obwohl sie nun schon seit drei Jahren darauf gespart hat. Tut mir echt leid, die Kleine.« Jürgen schüttelte nachdenklich den Kopf. »Manchmal ist das Schicksal schon verdammt ungerecht.«

»Hmpf.« Das war ihr nun doch unangenehm. Wie konnte ihr das denn entgehen? Selbst sie, die sie mitten in einem Wust aus Arbeit und Plänen steckte, sollte so gravierende Ereignisse eigentlich zur Kenntnis nehmen. Es kam nicht gerade gut, wenn man dann mit schweinehohen Abrechnungen für Luxusreisen um sich warf, wenn der andere auf einmal enorme Abstriche machen musste. Allerdings war es ja ihr Job und keine Vergnügungsreise, wobei es zugegeben schon verflixt viel Spaß gemacht hatte.

Nach der Mittagspause saßen sie zu dritt über den Landkarten Schottlands und übertrafen sich mit guten Ideen in Sachen Golfhotels und Unterhaltungsmöglichkeiten. Carola hatte allein nach drei Stunden gute fünf Seiten mit Stichpunkten und ausgesprochen guten Vorschlägen für den Rest der Reise. Es war bereits kurz nach halb fünf Uhr, als Klaus sich sichtlich zufrieden zurücklehnte.

»Leute, das wird wirklich der Hammer. Ein bunter Reigen aus Tradition, Eleganz, Sport, Geschichte und jede Menge Kulinarisches. Ganz zu schweigen von den Zugfahrten und den Kutschen am Urquhart Castle. Wenn das mit den Highland Pipers noch klappt, ist es dermaßen schön und rund, dass es besser nicht geht.«

Carola nickte eifrig. »Das ist absolut richtig. Ich kann es kaum erwarten, Carsten nachher die ersten Tage vorzustellen. Er wird begeistert sein, und vor allem kann ich dann gleich die weiteren Pläne nachlegen. So sieht er sofort, dass wir uns wirklich viele Gedanken machen und keine Zeit verlieren.«

»Mylady, MacSeidel, Ihr habt erneut herausragende Arbeit geleistet.« Jürgen kratzte sich lächelnd an seinem von einem stylischen Dreitagesbart bedeckten Kinn.

Carola verbeugte sich mit holdem Lächeln. »Euer Lob ehrt mich.« Ein erneuter Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es an der Zeit war, sich zu Carsten auf den Weg zu machen. Zu spät zu erscheinen, war ein absolutes No-Go und so strich sie ihren Rock glatt, zupfte den Kragen der Bluse in Form, prüfte noch einmal den Sitz ihrer Frisur, schnappte sich die drei Kladden mit dem ersten Entwurf und atmete mehrmals tief durch.

»Carola, na komm, das ist doch nicht dein erster Auftrag. Die Vorschläge sind klasse. Er wäre ja doof, wenn er sie nicht abnicken würde, noch dazu, da es sein Vorschlag war.« Klaus‘ Worte beruhigten sie tatsächlich.

Also straffte sie ihre Schultern, öffnete die Tür, um nach draußen zu gehen und stieß prompt mit der atemlosen Suse zusammen.

Verwirrt musterte sie die etwas hektisch wirkende Sekretärin. »Suse, ich bin schon auf dem Weg. Bin ich denn zu spät?«

»Nein, überhaupt nicht.« Suse wedelte abwehrend mit beiden Händen. »Ich bin wegen euch hier, Jungs. Seid ihr bitte so lieb und meldet euch jetzt gleich mal kurz bei Thomas im Studio? Das wäre prima. Na komm, Carola.«

Zwar trabte sie folgsam hinter der flott vorauseilenden Suse her, doch verwirrt war sie nun schon. Was sollten ihr Kameramann und ihr Toningenieur denn im Studio? Die beiden lieferten ihr Material doch stets fix und fertig direkt ab? Sie kam nicht wirklich dazu, weiter darüber nachzudenken, denn sie erreichten das Chefbüro und just in dem Augenblick als sie in den Vorraum, der nun Suses Reich war, eintraten, öffnete sich linker Hand die Doppeltür zu Carstens Allerheiligstem. Drei gut gelaunte, ausgesprochen elegant gekleidete Männer traten heraus. Carsten schüttelte ihnen der Reihe nach die Hand und schien ausgesprochen guter Dinge zu sein. Carola wollte gerade die Tür zum Sekretariat hinter sich schließen, als sie von außen wieder aufgedrückt wurde und eine junge Frau in den Raum stürzte.

»Sorry, komme ich zu spät?«

Carola registrierte die Jeans, die wohl vom Rennen roten Wangen und die Turnschuhe. Was war das denn für ein Aufzug, um in das Büro des Chefs zu kommen? Ganz besonders, wenn eindeutig hochrangige Werbekunden anwesend waren. Die allerdings reagierten anders, als von ihr erwartet.

»Ja, junge Frau, das kann man so sagen. Nun, da wir im Aufbruch sind, schneit der Frühling hier herein. Das verzeihen wir Ihnen so schnell nicht.« Der Älteste der drei musterte die Frau mit einem wohlwollenden Schmunzeln, während er Carola nur kurz zunickte.

Männer! Das Mädchen zog bedauernd die Schultern hoch, grinste die Herren entschuldigend an und vermeldete, dass sie sich das nächste Mal ganz sicher sputen würde. Carstens Gäste verließen lachend das Vorzimmer und schon als die Tür ins Schloss fiel, wedelte Carsten sie und das Mädchen in sein Zimmer.

»Fein, dass ihr so pünktlich seid. Kommt rein, meine gute Laune muss ausgenutzt werden.«

»Das scheint ein gutes Gespräch gewesen zu sein«, erkundigte Carola sich vorsichtig.