EGEIRO - Die Erweckung der Sternbildwesen - S. L. Eichenberg - E-Book

EGEIRO - Die Erweckung der Sternbildwesen E-Book

S. L. Eichenberg

0,0
5,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Dieses Buch erzählt die besondere Geschichte der zwölf Sternbildwesen, die einst mit den Menschen auf der Erde lebten und die wir heute als die zwölf Sternzeichen kennen. Doch was anfänglich friedvoll begann, entwickelte sich zu einer Bedrohung für die Menschen, die sogar die Götter des Olymp zum Eingreifen zwangen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


1. Der Marktplatz von Athen
2. Der Krieg
3. Verdammter Lux
4. Die Olympioi
5. Eine erzwungene Bitte
6. Die Suche nach Hekate
7. Die Sonnentänzer
8. Die Atmosphärenfühler
9. Die Gleichklangbalancierer
10. Die Passionseiferer
11. Die Freidenker
12. Die Strebsamen
13. Die Ringsumdenker
14. Die Seelenseher
15. Die Macher
16. Die Traditionsbewahrer
17. Die Wandelliebenden
18. Die Gezeitenfühler
19. Die Geheimnisse des Garganeos
20. Grausamer Blutmond
21. Alexios
21. In Extremo
22. Es wird Zeit
23. Schwarzweiß
24. Freund oder Feind
25. Egeírô
Epilog
Danksagung

S. L. Eichenberg

 

EGEÍRÔ

Die Erweckung der Sternbildwesen

EGEÍRÔ – Die Erweckung der Sternbildwesen

 

 

 

 

© 2024 VAJONA Verlag GmbH

Originalausgabe bei VAJONA Verlag GmbH

 

 

 

Lektorat und Korrektorat: Lara Späth

Umschlaggestaltung: VAJONA Verlag GmbH,

unter Verwendung von rawpixel

Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz

 

 

 

VAJONA Verlag GmbH

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

 

 

 

 

 

 

 

 

An meine Kinder:

 

Anders zu sein, ist nicht das Ende der Welt,

es ist der Anfang deiner Geschichte.

 

Hinweis:

 

Dieser Roman behandelt Themen wie Gewalt, Mord, Suizidgedanken und Fehlgeburt.

 

 

1. Der Marktplatz von Athen

 

 

»Willkommen, werte Leser, in einer Welt voller Mysterien und Wunderlichkeiten! Treten Sie näher und tauchen Sie ein, in die Endlosigkeit der Fantasie!«, ruft ein dicklicher, kleiner Grieche, der hinter einem Stapel Schriftrollen hervorlugt. »Jede Geschichte ist ein Unikat!«, verkündet er stolz und streicht sich dabei nervös seinen Schnurrbart zurecht.

Viele Menschen schlendern über den Marktplatz. Frisches Obst und knackiges Gemüse werden angepriesen, als wären es Rohdiamanten, und das Fleisch wird gehandelt wie ganze Rinder. Selbst Töchter und Söhne werden einander in bester Absicht vorgestellt.

Während die Erwachsenen miteinander feilschen, rennen die Kleinsten durch den überfüllten Markt – auch der Junge mit den Augen wie Eiswasser. Sein gelocktes, dunkelbraunes Haar klebt ihm im Gesicht. Es ist der bisher heißeste Tag des Sommers. Sand dringt beim Rennen in seine Sandalen ein und scheuert schmerzhaft an seiner Fußsohle bei jedem Tritt.

»Hab’ ich dich, du kleiner Bengel!«, schreit ein Marktverkäufer schnaubend und packt den Jungen grob am Arm.

Die beiden schauen einander zornig an. Dem Jungen fallen die enorm buschigen Augenbrauen des Marktverkäufers auf, während dieser, die außergewöhnlich hellblauen Augen des Knaben betrachtet.

»Warum stiehlst du! Wo sind deine Eltern, Bursche?«, will der Marktverkäufer wissen. Er packt auch den zweiten Oberarm des Buben.

»Ich habe keine«, murmelt der Junge verlegen und schließt seine Hand noch fester um sein Diebesgut. Das fällt auch dem Marktverkäufer Gregorius auf. Er beruhigt sich mit zwei tiefen Atemzügen.

»Sag mir, Bursche, warum stiehlst du mir Holzfiguren, wenn du an anderen Ständen Essen oder Kleidung abgreifen könntest? Weißt du, ich habe dich schon einige Male an meinem Stand herumlungern sehen. Du hast das geplant, oder? Du wolltest schon lange eine meiner Figuren stehlen. Warum?«

Wieder starren sie einander an. Der Moment scheint diesmal schier unendlich zu sein. Ein paar Dutzend Marktflanierer recken ihre Hälse nach ihnen. Der raue Wind peitscht den beiden Sand ins Gesicht, kühlt aber auch die verschwitzten Stellen angenehm ab.

»Jetzt sag schon!« Gregorius zieht seine buschigen Augenbrauen zusammen, so stark, dass sie sich miteinander verbinden.

»Das geht dich gar nichts an, du … du alter, behaarter Affe!«, ruft der Griechenjunge und versucht sich aus den Händen des Marktverkäufers loszureißen. Er windet sich nach allen Seiten, doch Gregorius verfestigt seinen Griff nur noch mehr.

»Und wie mich das etwas angeht! Immerhin hast du eine meiner Figuren in der Hand. Das bedeutet, du hältst meinen Lohn in deiner Hand. Also sagst du mir entweder, warum du ständig vor meinem Stand herumlungerst, oder ich binde dich an einen Pfosten und erzähle jedem, dass du ein Dieb bist!«

Erschrocken streckt der kleine Junge dem Marktverkäufer die entwendete Figur entgegen.

Gregorius lockert seinen Griff und seine Augen schweifen hinab zu der Figur, die der Junge in seiner zitternden Hand hält. Er nimmt sie an sich.

»Eine der Sternzeichenfiguren«, brummt er. »Letztens fehlten schon Krebs und Widder – das warst du, nicht wahr?«

Ohne die Antwort des Buben abzuwarten, greift Gregorius nach dem Beutel, den der Junge um die Schulter trägt, und zieht ihn ihm über den Kopf. Gregorius kramt darin herum, doch lediglich einen einzigen Gegenstand ertastet er. Behutsam zieht er ihn aus dem Sack.

Es ist eine weitere Sternzeichenfigur – die der Zwillinge. Sie sieht abgenutzt aus. Die meisten Feinheiten der Schnitzarbeit sind abgestumpft. Abgesehen davon schnitzen Gregorius und seine Familie das Zeichen der Zwillinge längst anders. Er dreht die Holzfigur auf den Kopf und sogleich stockt ihm der Atem.

Hastig sagt er zu dem Jungen: »Komm mit, wir können hier nicht reden!« Er spricht diese Worte sehr leise.

Der Junge bleibt mit verschränkten Armen stehen. »Warum sollte ich dir folgen? Gerade wolltest du mich noch an einen Pfosten binden!«

Gregorius beugt sich zu ihm hinunter und flüstert: »Du hast recht, das musst du nicht. Aber der alte, behaarte Affe weiß sehr viel über das, was dich so brennend zu interessieren scheint.«

Ohne weitere Erklärungen geht Gregorius geradewegs auf seinen Marktstand zu, wo er seinem Gehilfen mit Handzeichen und Kopfnicken zu verstehen gibt, dass er für einige Zeit abwesend sein wird.

Die Arme noch immer verschränkt, folgt der Junge ihm widerwillig. Mit schnellem Schritt eilt Gregorius durch ein Labyrinth aus Häusern und Gassen. Der Junge neben ihm beginnt zu rennen, um nicht zurückzufallen.

»Woher kommst du?«, fragt Gregorius.

»Ich bin in einem der Meteora-Kloster aufgewachsen.«

»Und nun, lebst du ganz allein?«

»Ja.«

Kurz darauf erreichen sie die Klippen, wo sie stehen bleiben.

»Was machen wir hier?«, fragt der Junge ängstlich. »Hier gibt es kein einziges Haus?«

»Meines schon«, antwortet Gregorius knapp und geht bis an den Klippenrand vor.

Der Junge folgt ihm zögerlich.

Und tatsächlich: Unter dem Felsvorsprung stehen einige Häuser, die direkt in den Felsen gebaut wurden.

Hintereinander steigen sie eine lange Treppe hinab, bis Gregorius vor einer ornamentverzierten Holztür stehen bleibt. Er stößt sie mit seiner Schulter auf.

»Wegen der Meeresfeuchte hat sich der Rahmen verzogen«, erklärt er und betritt das Haus.

Der Junge folgt ihm, ohne zu zögern.

Neugierig sieht er sich um. Am Boden liegen farbig gemusterte Webteppiche. Neben der Küche gibt es lediglich zwei weitere Räume: die Wohnstube und das Schlafzimmer.

Gregorius bietet ihm einen Platz auf einem der Sitzpolster an, die allesamt mit hellbraunem Leinenstoff bedeckt sind. Als der Junge sich hinsetzt, sinkt er derart tief in das Polster ein, dass er sich genauso gut hätte am Boden niederlassen können.

Gregorius hastet zwischen Küche und Schlafzimmer hin und her. Er scheint etwas zu suchen. Plötzlich hält er inne.

»Junge, du musst mir eine Frage beantworten: Woher hast du die Figur? Die der Zwillinge, meine ich.«

»Laut den Klosterfrauen soll dies das Einzige gewesen sein, das ich besessen habe, als ich bei ihnen abgegeben wurde«, erzählt der Junge.

Gregorius nickt mitleidig und verschwindet wieder in der Küche.

Nachdem genau achtzehn Hochwellen – der Junge hat mitgezählt – am Felsen aufgeschlagen sind, huscht Gregorius mit einem Schlüssel ins Schlafzimmer und kommt kurz darauf mit einem rechteckigen Gegenstand wieder heraus.

Zufrieden setzt er sich zu seinem wartenden Gast.

»Das hier, mein Junge, nennt sich Buch. Es ist eigentlich dasselbe wie eine Schriftrolle, nur, dass man die einzelnen Seiten umblättern kann. Es ist mit einem magischen Schloss versehen, dessen Schlüssel seit Generationen verschollen ist. Die Erzählungen besagen, dass ein Zwillingskind geboren wird, welches den Schlüssel bei sich trägt«, erklärt Gregorius und streicht dabei über den türkisfarbenen Buchdeckel. Goldene Ornamente mit eingearbeiteten Sternzeichensymbolen sind darauf zu sehen. Ein Perlmuttschimmer lässt das Buch in göttlichem Glanz erstrahlen. In gradlinigen Buchstaben ist darauf zu lesen: Egeírô – Die Erweckung der Sternbildwesen.

»Die ganze Zeit über dachte ich, es wären Zwillingsgeschwister gemeint …«, murmelt Gregorius, nachdem er den Titel nochmals laut vorgelesen hat.

»Was hat das alles mit mir zu tun?«, fragt der Junge.

Gregorius lächelt ihn an und hält die Figur der Zwillinge hoch. »Das weiß ich noch nicht, aber wenn wir Glück haben, werden wir es gleich herausfinden.«

Zögernd hält er den Sockel der Holzfigur an das Schloss des Buches. Sie rastet ein. Augenblicklich beginnt der Perlmuttschimmer zu leuchten. Im Schloss ertönt ein feines Klick-Geräusch und die Verriegelung zieht ihre Stifte sanft aus der Verankerung.

Gregorius scheint von der Situation überfordert zu sein. Ohne jegliche Reaktion sitzt er da und starrt auf das Buch.

Der Junge blickt abwechselnd vom Buch zum Marktverkäufer und zurück. »Mach es auf«, sagt er gespannt.

Gregorius kehrt aus seinem Tagtraum zurück und öffnet die erste Seite.

 

 

2. Der Krieg

 

 

Wir befinden uns in der Zeit nach dem elfjährigen Krieg zwischen den Titanen und den Kindern des Kronos und der Rhea.

Einst hat sich Kronos, auf Wunsch seiner Mutter Gaia, gegen seinen Vater gestellt, da dieser einige der gemeinsamen Kinder in den Tartaros warf. Nachdem Kronos die Herrschaft seines Vaters im gleichen Stile fortgesetzt hatte, prophezeite man ihm, dass sich seine Nachkommen gegen ihn auflehnen würden. Besessen von diesem Gedanken, verschlang Kronos seine Kinder, die er mit seiner Gattin Rhea gezeugt hatte, direkt nach der Geburt. Rhea aber gelang es, eines ihrer Kinder zu retten. Sie vertauschte ihren Sohn Zeus nach dessen Geburt mit einem Stein, der in einen Lumpen gewickelt war. Geblendet von Angst und Gier verschlang Kronos den Stein, ohne etwas von dem Trug zu bemerken.

Zeus konnte im Geheimen aufwachsen. Seine Geschwister wuchsen unterdessen im Bauch des Kronos heran.

Als Zeus alt genug war, brachte er seinen Vater dazu, die Geschwister herauszuwürgen. Hades, Poseidon, Hestia, Demeter und Hera kämpften nun an Zeus’ Seite. Auf Gaias Ratschlag hin erschlug Zeus Kampe, die Wächterin des Tartaros. So befreite er die Hekatoncheiren, die große Steine auf die Titanen warfen, und die Zyklopen, welche den Herrscherblitz für Zeus, den Dreizack für Poseidon und den Unsichtbarkeitshelm für Hades schmiedeten.

Vom Olymp aus gewann Zeus – zusammen mit seinen Geschwistern, einigen Titanen, den Hekatoncheiren und den Zyklopen – den Kampf gegen Kronos und dessen Verbündete.

Zeus ist fortan Gott des Himmels, Hades herrscht über die Unterwelt und Poseidon kontrolliert das Meer. Die Titanen wurden in den Tartaros gesperrt. Die Olympier regieren die Welt …

 

3. Verdammter Lux

 

 

»Verfluchte Ziegenscheiße! Die verdammten Titanen hab’ ich besiegt und jetzt soll ich hier zu Fuß diesen vermaledeiten Hügel hochrennen!«, schimpft Zeus vor sich hin. Genervt blickt er an seinen Beinen hinunter, die von Matsch bedeckt sind, genauso wie seine goldenen Sandalen.

Auf Wunsch seiner Mutter Rhea hat er sich zum Berg Lux begeben, an dessen Gipfel der Moirentempel steht. Rhea glaubt fest daran, dass es unsägliches Unheil bringt, den Rat der Moiren nicht einzuholen. Legenden über die drei grausamen Schönheiten, auch als Schicksalsgöttinnen bekannt, gibt es zuhauf.

Die bevorstehende Prophezeiung der Moiren lässt Zeus seinen Ruhm nicht in dem Maße genießen, wie er es gerne möchte. Sollte es tatsächlich wieder einen Kampf um die Herrschaft Griechenlands geben, will er zumindest darauf vorbereitet sein. Zeus, der sonst durch sein bestimmtes Auftreten auffällt und laut seine Heldentaten kundtut, schleppt sich nun also mit schlurfenden Schritten den Kieselsteinpfad hinauf. Die Hälfte des Aufstiegs hat er bereits hinter sich gebracht. Er drückt seine Backenzähne zusammen und streicht sich langsam über seinen silberweißen Bart. Regelmäßig raunt er laut vor sich hin, nur um seinen Ärger nicht vollends herunterschlucken zu müssen.

Der Pfad führt ihn durch einen Wald, vorbei an hohen Bäumen. Urplötzlich beschleicht ihn das Gefühl, nicht mehr allein auf dem Weg zu sein. Sein animalischer Instinkt ist alarmiert, seine feinen Antennen lassen ihn aufhorchen. Er spürt, dass dieser Wald jeden seiner Schritte beobachtet.

Trotzdem geht er weiter.

Nach einem halbtägigen, kräftezehrenden Fußmarsch steht Zeus vor einer steinernen Brücke. Auf dem felsigen Torbogen ist folgende Inschrift zu lesen: Sicher schreite im Licht, im Dunkel siehst du deine Schatten nicht.

Zeus schnalzt ungläubig mit seiner Zunge, verdreht die Augen und passiert in selbstzufriedener Gelassenheit die Schwelle der Brücke. In deren Mitte hält er inne. Im Augenwinkel nimmt er ein leichtes Schimmern wahr. Als er sich über die Brückenbrüstung beugt, sieht er Hunderte gemusterte Fische, in allen möglichen Farbnuancen, im fließenden Wasser schwimmen. Ihre riesigen Dreiecksschwanzflossen schlagen wiederholt an der Wasseroberfläche auf, sodass Zeus sie in voller Pracht bewundern kann. Fast wirkt es so, als würden sie sich ihm bewusst präsentieren wollen.

Zeus ist gefesselt von dem frohen Farbenspiel. Seine Augen bleiben an einem besonderen Exemplar hängen. Ein Fisch, komplett in goldene Schuppen gehüllt. Geschickt lenkt er den Blick des Göttervaters immer weiter unter die Brücke. Zeus lehnt sich über die Brüstung, bis sich die Randsteine tief in seinen Bauch drücken. Plötzlich reflektieren die brillanten Schuppen des Fisches die Sonnenstrahlen so stark, dass Zeus ihn im Schatten der Brücke aus den Augen verliert. Er kneift seine mandelbraunen Augen zusammen, um besser ins Dunkel zu sehen. Für einen Augenblick ist es still. Dann durchbricht ein lautes Rauschen die Ruhe. Der zuvor so prächtig schillernde Fisch rast jetzt in einem Gewand aus tristem Schwarz auf ihn zu. Das grätige Skelett seines Kopfes ist klar erkennbar. Aus seinem Mund ragen spitze Zähne hervor – bereit, sich tief in Zeus’ Haut zu bohren.

Das wild gewordene Tier erreicht die Wasseroberfläche und schießt sogleich darüber hinaus.

»Verdammtes Mistvieh!«, brüllt Zeus und wirft im selben Moment einen seiner Blitze nach ihm. Doch ohne auch nur einmal aufzuflammen, wiegelt sich das Geschoss bis auf den klaren Grund des Gewässers hinab.

Das hatte Zeus sich schon gedacht, denn es existieren zahlreiche abenteuerliche Erzählungen über den Moirentempel, doch alle Geschichten haben eines gemeinsam: Auf dem Lux wirken die Kräfte der Olympioi nicht – vermutlich, um die Schicksalsgöttinnen zu schützen. Die Strategie scheint bestens zu funktionieren, denn niemand wandert ohne Notwendigkeit zum Tempel hinauf – weder Götter noch die Menschlichen.

Zeus stellt sich wieder aufrecht hin und zupft grantig seine Tunika zurecht, die einst reinweiß war, aber nun mit braungrünen Moosabstrichen überzogen ist. Das setzt ihm zu. Sein makelloses Aussehen ist eines seiner Erkennungszeichen. Im Moment jedoch gibt er sich damit zufrieden, dass der verdammte Fisch ihn verfehlt hat.

Gerade als Zeus seinen nächsten Schritt macht, sieht er den Gräuelfisch erneut. Nun schwimmt er aus dem Schatten ins sonnengetränkte Wasser. Zeus ist erstaunt, denn die Färbung des Fisches wechselt unter direktem Lichteinfall zurück zu Gold.

Ein seltsamer Ort.

Zeus wandert weiter durch den Wald, am naturgebahnten Kieselsteinpfad entlang, den Berg hinauf. Immer wieder rutschen Steine unter seinen Füßen weg. Der Wegrand ist sorgsam gestutzt.

Nachdem er das Waldstück passiert hat, befindet er sich auf einer Lichtung. Vor ihm ragt ein Felsen in die Höhe, den verschiedene Maserungen von hellbraun bis zinnoberrot durchlaufen. Ein Großteil des Gesteins ist von Moos überzogen. Doch das Moos gedeiht nicht nur am Felsen – Zeus ist umgeben von diesem zartgrünen, langhaarigen Gewächs. Die Schönheit, die es ausstrahlt, zieht ihn magisch an. Gebannt geht er in die Knie. Er verspürt den Drang, das Moos zu berühren, und seine Finger greifen beherzt hinein. Sogleich verfärbt sich die Stelle blutrot und wechselt dann über sattes Orange wieder zurück zu Grün.

Zeus zieht seine Hand zurück. Die Fäden haben seine Haut verbrannt und er empfindet dabei puren Schmerz. Tatsächlichen, reinen Schmerz. Seine Hand trägt jetzt ein Mal gleich einem schwarzen Spinnennetz davon.

Zeus beobachtet die Stelle am Boden. Nichts weiter geschieht. Er hält seine wuchtige Hand darüber und lässt sie langsam in der Luft über das Moos gleiten, ohne es zu berühren. Die Spur verfärbt sich erneut blutrot, verletzt ihn aber nicht.

Zeus ist sich sicher, vor ihm liegt kein gewöhnliches Moos. Er lässt seinen Blick rundum schweifen. Der Wald selbst scheint den Atem anzuhalten – so still ist es.

Zeus senkt seinen Kopf, so tief, bis er die feinen Kieselsteine des Waldwegs an seiner Wange spürt, und betrachtet das sonderbare Gewächs. Jetzt erst kann er es deutlich sehen: Die Moospflanzen, sie pulsieren. Zwischen den grünen Strängen schlängeln sich spindeldürre Goldfäden hindurch. Das haarige Moos umwächst Kleeblätter und Fliegenpilze, ohne sie dabei einzuengen. Unzählige Käfer balancieren auf den Fäden. Ihre hellgelb behaarten Körper wuseln schnell umher. Ihre Fühler wirken wie verworrene Augenbrauen.

Inmitten seiner Beobachtungen hört Zeus eine liebliche Frauenstimme flüstern: »Eisakono to phos.«

»Folge dem Licht«, wiederholt Zeus die gewisperten Worte und besinnt sich, weshalb er eigentlich hergekommen ist.

Er rappelt sich auf, klopft sich sauber, so gut es geht, und wandert weiter.

Am Ende des Kieselpfads erreicht er eine lange Treppe, die am Felsen entlang nach oben führt. Er betritt sie. Der Abstand zwischen den Stufen ist unangenehm gering. Immer wieder streifen seine muskulösen Oberarme die feuchte Felswand. Mit brennenden Oberschenkeln erreicht er die letzten Stufen. Zu Fuß gehen, ist er nicht gewohnt.

Verwachsene Säulen ragen vor ihm in die Luft. Ein leichter Windstoß kühlt seine verschwitzte Haut angenehm ab. Seine Ohren vernehmen ein lautes Plätschern. Zeus wendet sich der Lärmquelle zu.

Ein gigantischer Krater zeigt sich auf der anderen Seite des Felsens. Säulen, Treppen und Eingänge sind darin verbaut worden. Das muss der Tempel der Moiren sein! Das Gemäuer ist alt und beinahe gänzlich mit der Natur verwachsen, sodass es aus größerer Entfernung wohl kaum als Heimstätte der Schicksalsgöttinnen zu erkennen wäre.

Geleitet von einem schmalen Weg erreicht Zeus eine zwölfstufige Treppe, die ihn hinunter zur ersten der drei Tempelebenen führt.

Hinter einem üppigen Pflanzenbehang aus rotem Efeu lugt ein in Stein gemeißeltes Relief hervor. Zeus schiebt das Gewucher zur Seite. Zum Vorschein kommt das Abbild dreier Frauen. Alle drei halten denselben Faden in der Hand – zwei davon sind junge Damen in nachdenklicher Pose, eine ist alt und grämig. Zeus lässt die Kletterpflanze los. Die Efeuranken suchen sich allein den Weg zurück in ihre ursprüngliche Position. Gebeutelt von den Strapazen des bisherigen Weges, steigt Zeus über die nächste Treppe zur zweiten Ebene hinunter. Der Fluss, der vorhin seinen Weg kreuzte, stürzt hier in lautem Getöse den Felsen hinab. Lärmend prallt das Wasser auf dem Boden auf. Farbenprächtige Fische schwimmen wie von der Qualle gebrannt auf und ab.

Zeus blickt sich um. Auch hier ragen mehrere Säulen in die Höhe, die zu einer verschlossenen Bogentür führen. Dieser Ort ist in sich zusammengefallen, nur noch eine bedrückende Spiegelung seiner einstigen Pracht. Andererseits ist der Tempel auf eine naturbelassene Weise mit seiner Umgebung verschmolzen, was einem Ästheten durchaus gefallen mag.

Zeus macht einen Schritt weg vom Wasserfall, um nicht nass zu werden. Erstaunlicherweise springt kein Tropfen daneben. Das Wasser bleibt innerhalb der Fallbahn, als wäre eine unsichtbare Mauer darum gebaut.

»Was für eine außergewöhnliche Überraschung«, säuselt eine zarte Stimme hinter Zeus, der sogleich umherwirbelt. »Götter des Olymp trauen sich selten in unsere Gesellschaft«, säuselt sie weiter.

Bei Aphrodite! Hätte Zeus sich die begehrenswerteste Frau wünschen dürfen, sie wäre weit von dieser blond gelockten Schönheit entfernt gewesen. Ihr sanftes Lächeln und ihre himmelblauen Augen schenken ihm sofort Wärme, die sich wohlig in seinem Körper ausbreitet. Ihre weiten Locken liegen weich über ihrer rechten Schulter. Das Kleid, aus hunderten goldschimmernden Schuppen bestehend, betont ihre zierliche Taille. Die Ärmel weiten sich vom Ellbogen her und fallen offen bis zum Boden. Trotz ihrer offensichtlichen Schönheit erinnert ihn diese Frau an den spitzzahnigen Biesterfisch von vorhin.

»Ich heiße Lachesis. Man nennt mich auch die Zuteilerin. Meine Aufgabe ist es, die Lebensfäden zu bemessen«, sagt sie und greift mit ihren drei mittleren Fingerspitzen durch die Wasserwand.

»Die Lebensfäden sind unsere Bestimmung. Was ist deine, Zeus?«

Sie bewegt sich langsam um ihn herum und umkreist ihn wie ein Tiger.

»Mein Schicksal ist es, zu herrschen, Gnädigste«, antwortet er.

»Und warum bist du dann hier, wenn du dein Schicksal bereits kennst?«, hört er eine andere, strengere Stimme sagen.

Eine zweite Frau steigt die obersten Treppenstufen herab. Ihr Haar hat sie zu einem seitlichen Zopf geflochten und ihre stechend grünen Augen blitzen angriffslustig. Sie muss einige Jahre älter sein als Lachesis, ihrer Schönheit tut das aber keinen Abbruch.

»Ich bin meiner Mutter Rhea zuliebe hier. Niemals könnte ich einer schönen Frau etwas abschlagen«, antwortet Zeus belustigt.

»Normalerweise begrüßt man mich unter dem Namen Atropos – oder auch die Zerstörerin«, sagt sie, mehr aufgestachelt als geschmeichelt von Zeus’ Kompliment. Sie bleibt auf der untersten Treppenstufe stehen.

»Wo ist Klotho?!«, ruft sie Lachesis zu.

»Vermutlich im Wald. Du kennst sie ja. Sie wird bestimmt gleich auftauchen«, versucht Lachesis die ältere Schwester zu besänftigen.

»Um jemandes Schicksal vorauszusagen, müssen wir alle anwesend sein. Warum ist sie nicht hier!«, ereifert sich Atropos.

Sie eilt an Zeus vorbei auf die andere Seite der Ebene. Als sie durch den schmalen Schatten hinter einer Säule huscht, verwandelt sich ihre Gestalt für den Hauch eines Augenzwinkerns in etwas, das Zeus lieber nicht gesehen hätte. Es schien so, als hätte man ihr für die Länge eines Wimpernschlags die Haut entfernt – nur durch einen grauen Tüll verschleierte Knochen waren zu sehen. Zeus weicht zurück.

»Mir scheint, dieser Ort besitzt göttliche Kräfte«, sagt er.

»Das tut er in der Tat«, erklärt Lachesis. »Wir jedoch verfügen lediglich über das Maß an Magie, welches für unsere aufgetragene Arbeit vonnöten ist. Wir walten im Dienst des Schicksals und des Lebens. Beides steht im Zeichen des Guten und des Bösen. Sobald du die Brücke am Fluss überquerst, bringt die Sonne dir Glück und Zufriedenheit. Stehst du jedoch im Schatten, warten bereits deine dunkelsten Seelengeister auf dich.«

»Diese Schattenwesen belauerten mich den ganzen Weg über. Verfolgen sie euch denn nicht?«, will Zeus wissen.

»Wir sind eins geworden mit unseren Schatten. Wir haben sie als einen Teil von uns akzeptiert. Trotzdem ist unser Tempel so gebaut, dass er von möglichst vielen Sonnenstunden beschienen wird. In der Nacht wird das Mondlicht vom fallenden Wasser und den opalisierenden Fischen reflektiert. So müssen wir nicht in die Finsternis abtauchen, wenn wir das nicht möchten.«

»Klotho, wo warst du?«, keift Atropos plötzlich.

Eine sehr junge Frau betritt die Bogentür des Tempels. Ihr enganliegendes Lederkleid ist mit geradlinigen Silbersteinen besetzt. Sie erinnert Zeus an eine Kriegerin, die er einst kannte. Ihr straff nach hinten gebundenes, bronzebraunes Haar reicht ihr bis zum unteren Rücken.

»Ich habe Fäden geholt. Dafür muss man sich die Hände schmutzig machen, weißt du«, antwortet sie mit verächtlichem Blick in Atropos’ Richtung. Sie wirft ihre gefüllte Ledertasche auf einen Steintisch und stellt sich neben Lachesis, die ihr mütterlich übers Haar streicht.

»Redet sie von dem haarigen Moos, das hier überall wächst? Das Mistzeug hat mich verbrannt!«, ruft Zeus aufgebracht.

Lachesis amüsiert sich ob dieser stümperhaften Aussage. »Das haarige Moos, wie du es nennst, sind Lebensfäden. Die goldenen sind die bereits gesponnenen Fäden, die sich miteinander verbunden haben. Dann gibt es jene, die noch gesponnen werden müssen. Das sind die grünen. Unter diesem Geflecht von sich kreuzenden Fäden finden auch die verwelkten, also die der Verstorbenen, ihren Frieden. Sie wandeln sich zu braunen Strängen und fügen sich eines Tages wieder in die Erde ein, aus der neue Fäden entstehen können.«

Liebevoll blickt Lachesis zu Klotho und fügt hinzu: »Unsere Schwester entfädelt in sehr viel Feinarbeit die einzelnen Stränge, damit wir sie zu neuen Lebensfäden knüpfen können.«

Atropos verschränkt demonstrativ ihre Arme. »Anscheinend nicht sorgfältig genug«, keift sie und sendet Klotho einen vernichtenden Blick, »so viel Zeit wie du mit anderem verbringst!«

Lachesis atmet hörbar tief aus und schaut zu Boden. Klothos Augen hingegen weiten sich. Ihr Brustkorb bewegt sich rasend schnell, während sie einen Schritt nach vorn in den Schatten tritt. Ihren Blick richtet sie stur auf Atropos.

Zeus starrt entsetzt zu Klotho hinüber. Ihre Augäpfel haben sich dunkelgelb gefärbt. Sobald die Dunkelheit ihre Haut berührte, wurde sie fahl und aschfarben blau. Im Schatten kräuseln sich ihre Haare stumpf.

»Ich diene dem Schicksal, genau wie du es tust, Atropos! Lass deine Verbitterung nicht an mir aus!«, ereifert sich Klotho. Ihre nun tiefe Stimme hallt an den Felswänden wider.

Ein warmes Fell streicht an Zeus’ Oberschenkel vorbei. Als er nach unten sieht, erblickt er ein muskulöses, katzenartiges Tier mit spitzen Buschohren. Es schreitet auf Klotho zu und schmiegt sich an ihr Bein, bevor es sich provokativ vor ihr aufstellt. Die schwarzbraun gemusterte Kreatur fixiert Atropos und setzt sogleich zum Sprung an. Doch mitten im Flug kreuzt ein riesiger Raubvogel ihre Bahn und rammt sie am Bauch. Sofort zieht sich ihr Körper zusammen und schlägt auf dem harten Steinboden auf.

Es ist ein Geier, der Atropos vor dem Angriff der Großkatze schützte. Er landet direkt neben seiner Herrin auf dem Steingeländer. Der Vogel trägt ein schwarzes Federkleid, das ihm bis zum Hals reicht und dort von einem weißen Kragen umkreist wird. Der Hals selbst zeigt sich bis zum Kopf hinauf in kompletter Blöße. Seine schwarzen Augen sind von dunkelroten Ringen umrandet und haben sich zu bösartigen Schlitzen zusammengezogen.

Die Katze rappelt sich langsam wieder auf und schleicht sich nun an den Geier heran. Langsam und konzentriert.

»Greif sie an!«, befiehlt Atropos ihrem Raubvogel wutentbrannt.

»Nein! Hört auf damit!«, schreit Lachesis mit zitternden Händen.

»Misch dich nicht ein, Schwester!«, entgegnet ihr Atropos.

Lachesis fängt am ganzen Körper an zu beben. An ihrem goldenen Kleid kriecht tiefe Schwärze hoch. Augenblicklich legt sich Dunkelheit über den Tempel, als hätte sich der Mond vor die Sonne geschoben. Vom Schatten eingehüllt, gibt dieser Ort seine ganze Düsternis preis. Die einst satten Pflanzen sind nunmehr verkümmert und dürr.

Lachesis’ Haut wird allmählich durchsichtig, bis die Knochen darunter hervorblitzen. Ihr seidiges Haar fällt büschelweise zu Boden und ihr einst liebliches Gesicht wandelt sich zu einer hässlichen Fratze. Die Schwärze ihres Kleides wird von sattem, dichtem Nebel umwoben, aus dem kleine, dämonenhafte Gesichter hervorkeifen.

»Ich habe gesagt, ihr sollt aufhören!«, schallt ihre diabolische Stimme durch den Tempel. Lachesis türmt sich bedrohlich auf. Der Wasserfall fängt an zu vibrieren und die Fische im Fluss formieren sich zu einem Pfeil. An dessen Front schwimmt der angriffslustige Skelettfisch, den Zeus nur zu gut kennt.

Lachesis streckt beide Hände entschieden in den Himmel hinauf. Die Fische preschen empor, teilen sich in zwei symmetrische Pfeile und stürzen sich zielgerichtet auf den Geier und die Großkatze. Sie treffen den Raubvogel an seinen Krallen. Schlagartig reißt es ihn vom Steingeländer und er schleudert mit voller Wucht gegen die Bogentür. Mit dem Kopf voran gleitet er zu Boden, sein Federkleid ist mit Blut gespickt.

Der zweite Wasserpfeil trifft die Raubkatze genau zwischen den Augen. Sie überschlägt sich mehrmals und bleibt vor Klothos Füßen reglos liegen.

Die drei Schwestern wechseln unterdessen sture Blicke, bis Atropos sich als Erste abwendet. Die Moiren entspannen sich und das Sonnenlicht verdrängt langsam die Dunkelheit.

Zeus sieht zu einer schwarzen Wolke hinauf, die vor der Sonne steht und sich allmählich auflöst. Schützend hält er die Hand über die Augen, um besser sehen zu können. Die pechfinstere Wolke offenbart sich als Ansammlung hunderter Raben.

Nun sind sie alle verschwunden – die Vögel, die Katze und die Finsternis. Erneut erfüllt Stille den Tempel. Die drei Göttinnen nehmen wieder ihre menschliche Gestalt an.

Atropos setzt ein bezauberndes Lächeln auf und wendet sich an Zeus, als wäre nichts passiert.

»Zeus, möchtest du ein Spiel spielen?«, fragt sie, während sie galant die Treppe zur untersten Ebene hinunterschleicht.

Lachesis und ihre Schwester Klotho sehen sich fassungslos an, bleiben jedoch stumm.

»Ich bin nicht hier, um Spiele zu spielen«, antwortet Zeus.

»Ich denke, du hast keine Wahl«, ruft sie ihm zu.

Widerwillig steigt Zeus die Treppe hinunter, bleibt jedoch stehen, als er die letzte Stufe erreicht hat.

Atropos legt ihre schmalen Hände auf einer marmorierten Steinschale ab, welche Teil einer größeren Maschinerie zu sein scheint.

»Komm, leiste mir Gesellschaft, Zeus.«

Fragend sieht er zu Klotho und Lachesis hinauf, deren Antwort lediglich aus leerem Starren besteht.

Langsam bewegt er sich auf Atropos zu und geht dann provokativ nah, an ihr vorbei. Ihr Körperduft erinnert ihn an eine Mischung aus Zitrusfrüchten und Arvenholz.

Er stellt sich auf die gegenüberliegende Seite der Schale und erkennt augenblicklich, was die Maschinerie darstellt. Sie besteht aus drei Ebenen, welche, von oben gesehen, das Symbol der Nyx ergeben – der Göttin der Nacht.

»Was soll ich hier tun, Atropos?«, fragt er.

»Du sollst würfeln.«

»Um was würfeln wir denn?«

»Die Regeln sind denkbar einfach: Du würfelst – entweder gewinnst du Lebensjahre oder du verlierst sie.«

»Ich nehme an, ansonsten werde ich mein Schicksal nicht vorausgesagt bekommen?«

Als Antwort schüttelt Atropos genüsslich und sehr langsam den Kopf.

Zeus greift nach den sechs Würfeln. Sie sind aus Mahagoniholz und bestehen aus je zwölf Flächen. Schwungvoll lässt er sie in die Schale fallen. Das Holz klackert laut auf der glatten Marmoroberfläche. Die Maschinerie setzt sich in Bewegung. In der Mitte des Beckens befindet sich ein Metallgefüge, das die Würfel nach oben befördert.

Auf der zweiten Ebene kreisen Mondsichelblätter, die einen der Würfel zerschmettern. Die anderen fünf wandern in die zweite Schale hinauf, wo sie einmal auf den Kopf gedreht werden. Sodann werden sie von dem Metallgefüge schraubenförmig auf die Letzte der drei Spielebenen hinaufbefördert, auf der ein Stern abgebildet ist, dessen Ecken jeweils durch einen Strich verbunden sind. Wie durch Magie werden die einzelnen Würfel von je einer Ecke angezogen und verharren darauf.

Eine melancholische Harfenmelodie ertönt aus den Würfeln. Sie öffnen sich in der Mitte. Zum Vorschein kommen zwei Fische, eine Katze und drei Geier, die sich im Takt der Musik im Kreise drehen, solange, bis diese wieder verstummt.

»Zehn Lebensjahre, die an mich zurückgehen«, offenbart Atropos selbstgefällig.

Urplötzlich bricht die Nacht über sie herein. Zum zweiten Mal an diesem Tag hängen Fetzen der Finsternis über ihnen, als hätte sich ein schwarzer Stoff über Teile des Tempels gelegt. Obwohl nun alle in tiefster Dunkelheit stehen, zeigt sich keines der Schattenwesen.

Der Nachtteppich ist besetzt mit Abertausenden von Sternen. In deren schwachem Licht erscheint eine großgewachsene Frau. Ihre Haut, schwarz wie die Nacht und übersät mit Leuchtstaub, ist übergangslos mit ihrem Kleid verbunden, das mit der Dunkelheit eins ist. Es ist Nyx, die selten gesehene Göttin der Nacht.

»Atropos! Hör sofort auf damit!«, ertönt ihre Stimme. »Eure Pflicht ist es, dem Schicksal zu dienen. Mein Spiel ist nicht dazu gedacht, für eure Unterhaltung zu sorgen. Es soll den Menschlichen eine letzte Chance auf Leben bieten«, erzürnt sich Nyx. Sanfter fügt sie hinzu: »Zeus, bitte entschuldige, es gelüstet Atropos wohl nach mehr Macht, als ihr zusteht.«

Atropos verneigt sich demütig und sagt widerwillig: »Vergib mir, Nyx!«

Die Göttin der Nacht, deren Antlitz bei jeder Bewegung auffunkelt, verneigt sich entschuldigend vor Zeus. Dann verschwindet sie wortlos in der Dichte der Finsternis und nimmt die Nacht mit sich fort, um dem Tag seinen Platz zurückzugeben.

»Du willst dein Schicksal hören?«, fragt Atropos förmlich.

Ihre beiden Schwestern kommen die Stufen herunter. Lachesis nimmt Klotho an die Hand und blickt ihr dabei wehmütig in die Augen. Klotho lächelt zuversichtlich zurück und tritt in den Schatten der Säulen. Sofort wechselt ihre Hautfarbe von zartem Beige zu fadem Grau. Ihre Augen sind blutunterlaufen, mehr und mehr. Sie lässt ihre Hals- und Fingerknochen knacken und zwirbelt ihre nun fettigen Haare um ihren Zeigefinger. Zeus schaudert es beim Anblick Klothos. Sie wirft ihm ein lautloses Lächeln zu, welches ihre keilförmigen, spitzen Zähnchen zeigt. Dann zieht sie ihre Schwester ebenfalls ins Dunkel. Dicke Adern beginnen an Lachesis’ Hals zu pochen. Sie sinkt zu Boden und wirft danach ihren verkrampften Kopf nach oben. Weinend zieht sie wüste Grimassen. Lachesis’ Schattengestalt ist von tiefen Falten geprägt, ihr Kleid an den Schultern zerrissen, die Fingernägel sind lang und gelblich.

Dann greift Atropos nach der anderen Hand von Lachesis.

»Du musst in ihre Augen blicken, Zeus! In beide gleichzeitig!«, schreit Atropos gegen den aufwehenden Wind an.

Zeus versucht immer wieder, die Augen von Lachesis zu fixieren, doch ihr unmenschlicher Anblick ist für ihn kaum zu ertragen. »Du sollst ihr in beide Augen blicken! Nur deinetwegen betritt sie die erbarmungslose Dunkelheit! Also schau hin!«, schreit Atropos, die sich bereits wieder in das knöcherne Scheusal von vorhin verwandelt hat.

Zeus beugt sich zu Lachesis vor. Er kann sehen, wie der dunkelste Teil ihrer Seele seinen angeekelten Gesichtsausdruck zu genießen scheint.

»Tó moîra … aísĭmos autika phaínõ«, sprechen die drei Schicksalsgöttinnen wie aus einem Munde und wiederholen die Worte viele Male.

Plötzlich verdreht Lachesis ihre Augen und sackt in sich zusammen. Die Augen der beiden anderen Moiren sind vollständig weiß. Wie zwei Säulen stützen sie ohne jegliche Regung den Körper ihrer geistesabwesenden Schwester. Die zusammengesunkene Lachesis gibt in verschiedenen Stimmlagen wirre Worte von sich. Dann werden die Sätze auf einmal verständlicher: »Zeus, ich sehe dich auf dem Herrscherthron …«

Lachesis stockt. Ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen. Ihre eigene Weissagung scheint sie zu verstören.

»… aber die Sterblichen«, fährt sie fort, »sie rotten sich wie Ratten zusammen … ein neuer Anführer wird kommen, du wirst fallen!«

Die Schicksalsgöttin schreit und winselt, als wäre sie selbst in diesem Krieg gefangen. »Sie sind nicht länger deine kleinen Schafe! Du wirst fallen, Zeus! Du wirst fallen!«, ruft sie aufgewühlt in den Tempel hinein.

Ihre Augen verdrehen sich rasant. Die Fische im Fluss schwimmen nervös auf und ab.

Zeus schlägt dreimal auf die Säule neben sich ein.

»Ihr dummen Teufelsweiber! Ihr lügt! Das ist niemals möglich!«, schreit er. Seine Rufe hallen von den Steinwänden wider. Wütend, mit weit geöffneten Augen nähert er sich den drei Schicksalsgöttinnen. Kurz bevor er Lachesis erreicht, baut sich vor ihr eine Wand aus Efeuranken auf. Zornig lässt er von seinem Vorhaben ab. Die Falten zwischen seinen Augen ziehen tiefe Kerben. Ohne ein weiteres Wort dreht er sich um und steigt die Treppe hinauf.

Die Schicksalsgöttinnen verwandeln sich zurück. Die völlig entkräftete Lachesis sieht dem erbosten Zeus hinterher, der inzwischen die letzte Stufe erklommen hat.

Oben angekommen bleibt er stehen, füllt seine Lungen mit kühler Luft und schaut den kreisenden Milanen zu, was ihn etwas beruhigt, bevor er die Heimreise antritt.

4. Die Olympioi

 

 

Zeus rauscht ohne ein Wort an seiner Gattin Hera vorbei und zieht sich in sein Gemach zurück. Hera bleibt irritiert in der Großen Halle stehen, in welcher jeder der zwölf olympischen Götter einen Thron besitzt. Prunkvoller weißer Marmor legt sich wie aus einem Guss über Säulen, Statuen und Böden. Rechts und links stehen die Sitze der Olympioi, während der goldüberzogene Thron von Zeus die volle Höhe der Rückwand beansprucht.

Die letzten Tage war Hera damit beschäftigt, ihrem Gemahl die Prophezeiung der Moiren zu entlocken, doch sie bekam ihn nicht einmal zu Gesicht.

Eine Fußspur aus schillerndem Wasser verrät die Anwesenheit Poseidons.

»Hera, was ist los, meine Liebe?«

Poseidon deutet einen Handkuss an und steckt ihr danach einen perlmuttfarbenen Muschelring an den Finger. Hera lächelt geschmeichelt.

»Dein Bruder war bei den Schicksalsgöttinnen. Nun redet er seit Tagen mit niemandem und tigert nur in seinem Privatgemach auf und ab.«

»Lass es mich einmal versuchen«, sagt Poseidon und stößt mit dem Dreizack auf dem Boden auf, sodass es Meerwasser nieselt.

Er schreitet aus der Großen Halle hinaus, passiert den Durchgang und bleibt vor Zeus’ Privatgemach stehen.

»Andras, lässt du mich zu meinem Bruder rein?«, fragt er das löwenartige Geschöpf, das vor der Schwelle sitzt, und nickt leicht in Richtung Tür.

Andras ist Zeus’ Mantikor, ein geflügeltes Mischwesen. Sein sandgelbes Fell geht nahtlos in seine Schwanzspitze über, die mit einem Skorpionenstachel versehen ist.

Kaum hat Poseidon ausgesprochen, spannt Andras seine Flügel auf und flattert dreimal, ehe er sich wieder vor der Tür zusammenrollt. Vier lange, weiße Federn schaukeln zu Boden.

»Tut mir leid, Poseidon, er will niemanden sehen«, antwortet Andras und legt den Kopf auf seine gekreuzten Pfoten nieder.

Poseidon schüttelt genervt sein Haupt, sodass sein türkisblaues Haar wie eine Welle hin und her wogt. Bekannterweise neigt sein Bruder zur Dramatik, während er selbst sich als eher entspannt bezeichnen würde; etwas exzentrisch vielleicht, aber ansonsten sieht er sich als das umgänglichere Gemüt.

Andras hält seine Augen geschlossen und signalisiert so, dass er in Ruhe gelassen werden will.

Unverrichteter Dinge kehrt Poseidon in die Halle der Götter zurück.

Inzwischen sind auch Artemis – die Göttin der mondhellen Nächte, der Wälder und der Jagd – sowie Hephaistos, Gott des Feuers und der Schmiedekunst, eingetroffen. Hera unterrichtet sie gerade über die näheren Umstände:

»… und nach diesem Besuch hat sich Zeus ohne ein weiteres Wort seit Tagen in seinen Gemächern eingeschlossen.«

»Wie? Er hat noch nicht einmal dich hineingelassen, Hera?«, wundert sich Hephaistos. Er entledigt sich seiner Werkzeuge und setzt sich auf seinen Thron, der von den besten Schmieden des Landes gefertigt wurde. Die Sitznische besteht aus Stahlwürfeln, ein wuchtiger Schmiedehammer und eine Zange schmücken die Rückenlehne. Beide Werkzeuge kreuzen sich direkt über Hephaistos’ ungezähmter, dunkelgrauer Haarpracht. Dahinter sind Flammen eingemeißelt.

»Warum müssen wir uns versammeln?«, fragt Artemis und streicht sich eine ihrer verfilzten Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ihr tiefblaues Kleid ziert ein Adler, der in der Dämmerungssonne funkelt. Seine Flügel erstrecken sich über beide Schultern, während der Körper des Vogels die Mitte ihres Dekolletés schmückt.

»Meine Lieben, es gibt doch nichts, was man mit etwas Liebe nicht lösen könnte.« Mit diesen Worten betritt Aphrodite den Raum. Ihre Stimme klingt gewohnt kratzig, doch beim Gehen lässt sie ihre Hüften geschmeidig hin und her schaukeln. Sie schreitet an ihrem Thron vorbei, in dessen Stein ein Liebespaar gemeißelt ist, und geht auf den leeren Sitz von Ares, dem Kriegsgott, zu. Noch bevor sie sich auf dem wuchtigen Thron aus Tierschädeln niederlässt, erscheint Ares darin. Aphrodite japst auf, als sie plötzlich auf ihm sitzt. Locker legt sie ihre Arme um seinen muskulösen Hals und küsst seine Wange. Ares genießt es und seine bärenhaften Hände umfassen ihre gertenschlanke Hüfte.

»Du meinst wohl, es gibt keine Probleme, die man mit kräftigen Argumenten nicht lösen kann, Aphrodite«, sagt Ares und lässt dabei die Muskeln auf seiner Brust hopsen.

Sie kichert mädchenhaft.

Artemis rollt mit den Augen, Hephaistos äfft Erbrechen nach.

»Kann jemand nach Athene, Apollon, Demeter und Hermes rufen?«, fragt Artemis ungeduldig.

»Du hast Dionysos vergessen«, berichtigt Poseidon. »Hab’ ich nicht. Ich finde aber, ein Prolet in unserer Runde ist vollkommen ausreichend«, entgegnet Artemis mit erbostem Blick zu Ares.

Hera zieht mit Daumen und Zeigefinger ihr silberseidenes Kleid zurecht und setzt sich auf ihren Thron, der fünf Frauen in langen Kleidern zeigt, die allesamt auf eine große Wolke weisen. Im Zentrum prangt das Abbild Heras als Muttergöttin.

»Ich habe alle gerufen, sie werden sicherlich bald hier sein«, sagt sie.

Und genau so ist es.

Nacheinander erreichen Demeter, Göttin des Ackerbaus, und Hermes, Gott des Handels und Bote des Zeus, die Halle. Auch Athene und Apollon sind dem Ruf gefolgt und nehmen auf ihren prachtvollen Sitzen Platz.

»Was ist los?«, fragt Athene verwundert. Ihren Rücken hält sie gerade, das Kinn neigt sie leicht nach unten. Ihr langes, kupferrotes Haar steht im auffälligen Kontrast zu ihrem reinweißen Kleid, dessen Beinschlitz bis zum Oberschenkel Haut preisgibt.

»Das würde mich auch interessieren«, sagt Dionysos, als er die Halle betritt. In seiner Hand hält er eine Weinrebe. »Hat euch ein Menschlicher vielleicht als Schwachköpfe bezeichnet?«, provoziert er, während er sich als Letzter auf seinen Thron setzt. »Was ist es denn diesmal?«

Seine Beine lässt er locker über die Armlehne baumeln. Genüsslich zupft er sich zwei Trauben vom Stil und steckt sie sich in den Mund. Er lacht übertrieben höhnisch.

Sein Thron zeigt ein verrücktes Wirrwarr aus Motiven. Man erkennt Menschliche, die zusammen feiern, tanzen, Wein trinken, anstoßen – auch Kinder, die weinen, und Sterbliche, die flehend ihre Hände in den Himmel strecken, während sie die Augen seltsam verdrehen. Oben sind Götter zu sehen, die auf den Wahnsinn der Menschlichen herabschauen. Dionysos, bekannt als der Gott des Weines, der Freude, der Trauben, der Fruchtbarkeit, des Wahnsinns und der Ekstase, beschäftigt sich vorrangig mit Letzterem.

Artemis ist genervt und rutscht auf ihrem Thron unruhig hin und her. »Schön, dass auch der zweite Unsympath hergefunden hat. Was hätten wir sonst an Wissensdurchfall verpasst«, sagt sie.

»Bei allen dreiäugigen Riesen! Ihr Moralapostel seid immer so negativ! Such dir doch eine andere Beschäftigung. Du könntest etwa dein Gewucher da stutzen«, keift Dionysos und zeigt auf den überwachsenen Thron von Artemis.

»Das ist kein Gewucher! Das ist Natur! Von ihren Früchten kostest du doch jeden Tag – und nun störst du dich daran? Das ist ja lächerlich.«

»Trauben sind des Himmels. Das da ist Unkraut, nichts weiter«, gibt er zurück.

Hera mag es nicht, wenn die Olympioi sich streiten. »Dionysos, hör jetzt auf«, fordert sie.

»Natürlich bist du auf ihrer Seite, Hera.«

»Ich bin auf niemandes Seite, aber wir haben jetzt Wichtigeres zu besprechen.«

»Können wir damit endlich beginnen? Ich habe noch was vor«, wirft Hermes ein, der ungeduldig mit seinem Fuß auf dem Boden auftippelt.

Apollon, Gott des Lichts und der Musik, spielt derweil ein heiteres Lied auf seiner Lyra: »Zeus und seine Blitze, mit leuchtender Spitze, ist in großer Sorge, geht es wohl um Morde?«, trällert er vergnügt, ohne zu bemerken, wie es die Stimmung zusätzlich reizt. Seine zahlreichen Halsketten rasseln bei jeder Bewegung und schellen an der Lyra, als er sich am Ende des Liedes theatralisch verbeugt. Zeus und sein Mantikor stehen, von allen unbemerkt, im Durchgang zwischen der Großen Halle und seinem Gemach. Sie horchen den Streitereien. Andras macht sich bereit, um den Olympioi Zeus’ Anwesenheit klarzumachen, doch dieser hält ihn mit einer Handbewegung zurück.

»Hera, du stehst Zeus am nächsten, was kann ihn so aus der Fassung gebracht haben?«, fragt Demeter, deren Haut noch viel blasser wirkt als sonst, weil sich ihre Sorge darauf abzeichnet.

»Ich kann es dir nicht sagen, Demeter, ich bin genauso ratlos wie du«, antwortet Hera den Tränen nah.

Hephaistos klinkt sich ein: »Lösen wir das Problem sofort. Gehen wir vor Zeus’ Gemach und versuchen, ihn zur Rede zu stellen!«

»Als ob Zeus jemals gut auf Druck reagiert hätte …«, sagt Apollon mit verhaltener Stimme.

»Zeus weiß genau, was er tut. Ich vertraue ihm. Solltet ihr nicht warten können, dann müsst ihr zuerst an meiner Wenigkeit vorbei«, sagt Ares übertrieben laut. Er stellt Aphrodite vorsichtig auf den Boden und baut sich dann bedrohlich vor seinem Thron auf.

»Ich gehe davon aus, wir halten den Rat erst ab, wenn alle versammelt sind. So haben wir es schon immer getan und so sollten wir es auch jetzt machen«, schlägt Athene unter selbstauferlegter Beherrschung vor.

»Ich glaube aber nicht, dass das Problem uns alle betrifft«, erklärt Demeter. »Immerhin war Zeus wegen seiner eigenen Weissagung bei den Moiren. Ich sehe also nicht ein, hier auf ihn zu warten«, gibt sie murrend kund. Als Einzige der weiblichen Olympioi trägt sie kurzes, burschikoses Haar. Es ist aschblond, genau wie ihre Wimpern und Augenbrauen. Ihre schmalen, sichelförmigen Augen und ihre hohen Wangenknochen lassen ihr Gesicht puppenhaft wirken.

»Hermes, könntest du deine Meinung ebenfalls äußern?«, fragt Hera.

»Das möchte ich nicht. Ich habe Zeus’ Geschichte noch nicht gehört. Vielleicht hat er gute Gründe, uns warten zu lassen.«

»Vielen Dank, Hermes, ich sehe es genau wie du. Informiert mich doch, sobald mein geschätzter Bruder wieder aus seinem Loch kommt«, bittet Poseidon, erhebt sich und deutet für Hera einen Knicks an.

»Du bleibst hier, Poseidon!«, donnert Zeus’ Stimme plötzlich durch die Halle.

Poseidon verharrt. »Zeus, mein lieber Bruder, ich habe doch nur gealbert. Natürlich hätte ich gewartet.«

Zeus schreitet an Poseidon vorbei, ohne seine Ausflüchte zur Kenntnis zu nehmen, und geht klaren Schrittes auf seine Gemahlin zu. Sanft nimmt er Heras Hände in seine.

»Hera, meine Liebste, entschuldige mein Benehmen. Die Schicksalsgöttinnen haben mir ein Hindernis vorhergesagt, für das ich zuerst eine Lösung suchen musste.«

Hera empfindet es als wahnsinnig anziehend, wenn Zeus den Helden mimt. Sie lässt sich von ihm näher heranziehen.

»Und jetzt hast du eine Lösung gefunden?«, fragt sie ihn leise.

»Ich hatte eine Vorstellung davon, was ich tun wollte. Inzwischen aber sieht die Sache anders aus. Als ich euch gerade beim Streiten zuhörte, lag die Antwort auf einmal ganz klar vor mir: Die Lösung sind eure schlechten Eigenschaften.«

Zeus lächelt selbstzufrieden in die Runde, während ihn die restlichen Olympioi fragend anstarren.

»Unsere schlechten Eigenschaften?«, wiederholt Apollon verblüfft.

»Wusste gar nicht, dass wir welche haben«, wirft Aphrodite schnippisch ein.

»Wo soll ich anfangen?«, fragt Zeus beinahe heiter. Er geht zu Athene, deren Thron neben seinem steht: »Athene, du bist mühsam perfektionistisch.« Er überspringt Hera und fährt fort: »Dionysos, du bist unversöhnlich. Artemis, du bist unangenehm ehrlich.«

»Wie du gerade?«, entgegnet sie schroff.

Zeus wendet sich unbeeindruckt dem nächsten Thron zu: »Demeter, du bist engstirnig und auf dein eigenes Wohl bedacht. Poseidon, geschätzter Bruder, du bist unbeständig wie das Meer und versuchst dich immer wieder in befremdlicher Andersartigkeit. Apollon, du bist äußerst empfindlich und respektierst die Grenzen anderer nicht.«

»Ist das so?«, fällt Apollon ihm ungläubig ins Wort.

»Hephaistos, du bist ungeduldig. Ares, mein Sohn, du kannst über alle Maßen stur sein. Hermes, du wirkst oft distanziert und flatterhaft«, Zeus zeigt auf die beiden Flügelschuhe an Hermes’ Füßen: »Wie sollte es auch anders sein mit diesen Dingern?«

Er macht sofort weiter: »Aphrodite, meine schöne Aphrodite – du bist furchtbar launisch und manchmal etwas weinerlich.«

»Ach ja?«, antwortet sie beleidigt und entgegnet sofort: »Und Hera? Ist sie fehlerfrei?«

»Nun, für mich schon. Ja«, antwortet er gelassen.

Hera jedoch scheint sich unbehaglich zu fühlen. »Es sind der Fehler viele«, sagt sie zurückhaltend.

Artemis und Dionysos rufen gleichzeitig: »Unentschlossenheit!«

»Schön, dass ihr euch wenigstens einmal einig seid«, meldet sich Hephaistos. »Ich möchte aber gerne wissen, worum es hier geht. Weihst du uns endlich ein?«, wendet er sich an Zeus.

Wortgewandt und detailliert erzählt Zeus nun von seiner Reise auf den Lux. Er beginnt mit dem mühseligen Aufstieg, fährt fort mit dem Spiel der Nyx und schließt mit der Prophezeiung von Lachesis, die einen Aufstand der Menschlichen vorhersagte.

Keiner der Zuhörer versteht, was er ihnen da erklärt. Immerhin werden sie von den folgsamen Menschlichen über alle Maßen verehrt. Abgesehen davon sind sie die Götter des Olymp! Und wenn nicht einmal die Titanen einen Sieg über sie erringen konnten, wie sollten die Menschlichen das schaffen?

Die Olympioi schweigen lange. Ares findet als Erster seine Stimme wieder:

»Ich bin mir sicher, Zeus, du hast dir viele Gedanken darüber gemacht. Doch wie sollen dir unsere Eigenschaften im Falle eines Aufstandes dienlich sein?«

»Durch unsere Abbilder«, sagt Zeus mit einer nervenraubenden Selbstverständlichkeit.

Noch immer weiß keiner genau, wovon Zeus da redet. Schon oft kehrte er mit überaus verstörenden Plänen aus seiner selbst auferlegten Isolation zurück.

»Wir lassen Statuen anfertigen, die wir durch unser Blut erwecken werden. Diese Geschöpfe werden wir zu den Menschlichen schicken. Sie sollen unsere Attribute in sich tragen, was wiederum für viel Zwietracht sorgen wird«, erklärt Zeus.

»Dieser Plan, in allen Ehren, scheint mir sehr verworren zu sein«, bekundet Artemis.

»Findest du? Ich halte ihn, verdammt noch eins, für ziemlich schlau! Aber ich kann auch den anderen Weg gehen und das gesamte menschliche Volk auslöschen, wenn dir das lieber ist, Artemis!«, entgegnet ihr Zeus wütend.

Hera runzelt die Stirn ob der Ernsthaftigkeit dieser Aussage.

»Ohne Menschliche, die uns verehren, wären wir keine Olympioi mehr«, sagt Dionysos. »Ohne sie gäbe es nur noch zwölf Götterfratzen, die das Gefühl haben, etwas Besseres zu sein.« Er hält seinen gut gefüllten Rotweinkelch hoch. »Prost!«

Athene entrüstet sich über sein schamloses Verhalten und spricht mit mütterlicher Strenge: »Gewöhne dir ein wenig mehr Respekt und Anstand an, du verzogener Bengel!«

»Oh, Anstand hab’ ich, aber zeigen tue ich ihn nur in äußerster Bedrängnis«, reizt er sie weiter.

»Schon gut, Athene«, besänftigt Zeus sie, »auch Dionysos wird zwangsläufig seine Kämpfe austragen müssen. Doch im Moment geht es um einen anderen Kampf. Bleiben wir dabei!«

»Weißt du, in welchem Zeitraum der Aufstand stattfinden soll?«, fragt Ares.

»Gute Frage«, wirft Demeter ein. »Wenn Zeus’ Herrschaft bedroht ist, sind wir alle in Gefahr. Wir müssen sofort handeln!«

Wortlos schreitet Zeus an ihnen vorbei und durchquert die Große Halle. Vor dem hochgebauten Tempeleingang bleibt er stehen. Nach dem Sieg gegen die Titanen ließ er dieses gigantische Bauwerk auf der Spitze des Olymp errichten. Meterhoch ragt das steinerne Abbild seines Oberkörpers aus dem Felsen heraus. Die ausgestreckten Arme bilden den Rahmen der Tempelanlage, die inmitten seines beherrschenden und schützenden Korpus erbaut worden ist. Rundherum tost und wummert es. Zu seiner Rechten, der Landesseite, fließt Lava aus der übergroßen Tempelhand in langem Fall den Berg hinunter und landet in einem kochenden See aus heißer Materie. Auf der Meeresseite sammelt sich Wasser, das durch die steinernen Finger rinnt und dann als kraftvoller Wasserfall in einen Bach prescht, der schließlich ins Meer mündet.

Feuer und Wasser. Mit diesen beiden Elementen drückt Zeus seinen Brüdern Poseidon und Hades – dem Herrn der Unterwelt – seine Anerkennung aus.

Poseidon stellt sich neben Zeus und lässt den Blick Richtung Tal schweifen. »Wir finden eine Lösung, Zeus. Wir werden uns so lange beraten, bis wir einen geeigneten Weg gefunden haben.«

Zeus lächelt. »Danke, Bruder. Dass du an meiner Seite kämpfst, bedeutet mir viel.«

Beide lassen ihre Blicke kurz auf dem korallenfarbenen Sonnenuntergang ruhen, bis Zeus auf Poseidons Schulter klopft und zurück in die Halle schreitet. Poseidon tut es ihm gleich und so finden sich alle wieder auf ihren Plätzen ein.

Die hochmütigen Olympioi fühlen sich zunehmend von dem Gedanken beflügelt, sich Wesen zu erschaffen, die ihnen gleichen, und sinnieren noch bis zum späten Abend darüber.

---ENDE DER LESEPROBE---