Eigentlich nordwärts - Anja Varnholt - E-Book

Eigentlich nordwärts E-Book

Anja Varnholt

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  • Herausgeber: adeo
  • Kategorie: Lebensstil
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Anja und Jörg Varnholt hatten einen kühnen Plan: Mitten in ihrem vollen Leben mit Häuschen, Jobs, Kindern und Hund wollten sie eine dreimonatige Auszeit einlegen. Mit dem Fahrrad sollte es von Darmstadt nach Norwegen gehen. Wie letztlich alles ganz anders kam und sie von Nord nach Süd radelten, anstatt wie ursprünglich geplant in die andere Richtung, wie sie dennoch ihr Abenteuer in vollen Zügen genießen konnten, sie ihre "Eigentlichs" in wertvolle Erfahrungen umzuwandeln lernten und entdeckten, dass es manchmal viel schöner ist, sich führen zu lassen, als dem Plan zu folgen - das erzählen die beiden in diesem wunderschönen Buch. Ihre Geschichte macht Lust darauf, auch selbst die Träume vom anderen, längeren, ursprünglicheren Reisen zuzulassen und vom einschränkenden "Das geht doch nicht!" zu ungeahnten, neuen Möglichkeiten aufzubrechen. Ein unterhaltsamer Reisebericht mit großformatigen Bildern und wertvollen Gedanken über die Höhen und Tiefen unterwegs, spirituelle Erfahrungen und spannende Begegnungen.

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Seitenzahl: 221

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INHALT

DANK ZUVOR

TEIL I

PROLOG

Kapitel 01 Beginn der Reise mit Bus und Hund

VON DARMSTADT NACH TROMSØ

Kapitel 02 Transfer

VON TROMSØ NACH TRONDHEIM

TEIL II

Kapitel 03 Abenteuer vs. Komfortzone

VON TRONDHEIM ZUM FOLDSJØEN

Kapitel 04 Regenpause

VOM FOLDSJØEN NACH SELBU

Kapitel 05 Dem Fjell entgegen

VON SELBU NACH STUGUDAL

Kapitel 06 Schubladendenken

VON STUGUDAL NACH RØROS

Kapitel 07 Die Speiche

VON RØROS IN DIE FEMUNDSMARKA

Kapitel 08 Die ungeplante Königsetappe

VOM FEMUNDSEE BIS RENA

Kapitel 09 Wie kommen wir nach Oslo?

VON RENA BIS ELVERUM

Kapitel 10 Campingpech und Strandglück

VON ELVERUM BIS FETSUND

Kapitel 11 Was wird denn hier gefeiert?

VON FETSUND NACH OSLO

TEIL III

Kapitel 12 Heimweh

VON OSLO NACH UDBYHØY (DÄNEMARK)

Kapitel 13 Wie geht Ankommen?

VON UDBYHØY NACH DARMSTADT

Kapitel 14 Was bleibt?

EIN RESÜMEE

REISETIPPS, PACKLISTEN UND ANDERE PRAKTISCHE DINGE

DANKZUVOR

Wir möchten an dieser Stelle die gute Tradition aufgreifen und unseren Dank vorausschicken, denn ein Buch wie das vorliegende kann nicht im Alleingang entstehen.

Ohne die Unterstützung unserer großen Kinder Jannis und Ammely hätten wir uns nicht getraut, die Idee einer Auszeit weiterzudenken. Es war nicht nur ihre Ermutigung, sondern auch die Zusage, nach Haus und Bienen zu schauen, und nicht zuletzt das Angebot von Jannis, uns nach der Tour abzuholen. Auch Noah wollen wir an dieser Stelle danken, auch wenn man in diesem Alter wenig Chancen hat, gegen die Ideen der Eltern anzukommen. Du hast einfach klasse mitgemacht und warst oft unser Motivator und unser Beter, der die Fahne hochgehalten hat. Ihr seid alle drei großartig! Vielen Dank!

Da die Bienen für einen ungelernten Imker eine große Herausforderung darstellen, sind erfreulicherweise auch unser lieber Freund Stefan, Jörgs Kollegin Anja und der benachbarte Imker Robert mit in die Bresche gesprungen und haben die Völker kontrolliert, Honig geschleudert und Schwärme eingefangen. Eine dicke Umarmung euch dafür!

Ein großer Dank an Anjas Schulleitung, die nicht nur die Elternzeit genehmigt hat, sondern auch die Zeit für Anjas Klasse super organisiert hat. Hier seien die Eltern der Schulkinder eingeschlossen, die die Abwesenheit ihrer Klassenlehrerin ohne viel Aufhebens hingenommen haben. Ein dicker Dank auch an Jörgs TV-Redaktion! Ihr habt mich mit einem guten Gefühl ziehen lassen und dafür die ein oder andere Überstunde in Kauf genommen. So wunderbare Teams wünschen wir jedem. Danke schön dafür!

Wir möchten uns auch bei allen aus unserer Gemeinde und unserem Umfeld für den Beistand bedanken und ebenfalls bei allen, die unseren Blog gelesen und mit Kommentaren bereichert haben. Dazu gehört auch ein Dank an alle, die uns unterwegs mit so viel Offenheit begegnet sind, dass wir Teil ihrer Geschichte werden konnten, sie aber auch Teil unserer eigenen wurden.

Nicht zuletzt ein dickes DANKESCHÖN an Annette, Karo und Andi. Annette, du hast uns zuerst ermuntert, unsere Geschichte aufzuschreiben, und auch noch an unser Buch geglaubt, als klar war, dass wir mit unserem Hund ganz anders als geplant unterwegs sein würden. Karo, dir vielen Dank für deine Geduld, dein Vertrauen in uns und deine Arbeit, die dieses Buch zu dem hat werden lassen, was es jetzt ist. Andi, danke für die kreative Gestaltung und deine Ideen.

Doch der größte Dank gilt unserem Gott, der uns geführt und behütet hat, sodass wir gesund und heil wieder zurückkommen konnten.

TEIL EINS

PROLOG

Mit Tränen in den Augen verlassen wir die gekachelten, aber freundlich eingerichteten Räume der Tierklinik in Tromsø. Gerade haben wir Abschied genommen von unserem geliebten Hund Mette (genannt Metti), mit dem wir 16 Jahre unseres Lebens geteilt haben. Ja, es war abzusehen und sie hat als großer Hund auch ein hohes Alter erreicht. Dennoch liegen der Schmerz und die Leere schwer und wie ein Schleier über dem Tag. Einen Hund zum Einschläfern zu bringen ist nicht die Tagesaufgabe, die man sich freiwillig aussucht.

Eigentlich war das alles ganz anders geplant gewesen – eigentlich …

... eigentlich wollten wir in drei Monaten gemeinsamer Auszeit mit dem Fahrrad von Darmstadt bis nach Norwegen fahren. Mit unserem jüngsten, noch nicht schulpflichtigen Sohn Noah wollten wir die Gelegenheit zu einer längeren Familienauszeit nutzen, mitten in unserem beschäftigten Leben mit Häuschen, Jobs und Pflichten. Eigentlich hatten wir das alles gut geplant. Und doch kam dann alles ganz anders. Wie und warum, davon erzählen wir in diesem Buch, das genau aus diesem Grund den Titel „Eigentlich nordwärts“ trägt.

Dieses „eigentlich“ ist schon ein interessantes Wort: Es zeigt, dass wir etwas anderes tun, als wir uns vorgenommen haben, dass etwas anderes passiert, als wir erwartet haben oder gar, dass wir anders sind, als wir eigentlich gerne wären. Wie oft hören wir: „Eigentlich müsste man mal … aber …“ „Eigentlich“ ist der Disclaimer, die Entschuldigung unseres Lebens, mit dem wir uns kleiner machen, als wir sind. Zum Teil nehmen wir das aktuelle, reale Leben nicht wirklich wahr, weil wir ja eigentlich etwas anderes wollen. Aber wenn wir eigentlich etwas anderes wollen, warum tun wir es dann nicht?

Wir haben uns für den Versuch entschieden, das „Eigentlich“ zur Seite zu schieben und ein bisschen Abenteuer in unserem Leben zuzulassen. Wir haben unsere Auszeit erst geträumt, dann gedacht, irgendwann geplant und dann ... gelebt! Das führte dazu, dass Freunde und Bekannte immer wieder sagten und noch sagen: „Eigentlich habt ihr ja so recht, dass ihr das wirklich gemacht habt.“

Das eigentliche Leben ist das Leben, das genau so stattfindet, wie es das gerade tut; das Leben schränkt sich ja nicht selbst ein, es ist real im Hier und Jetzt, nur wir sind manchmal (oder oft?) woanders. Aber wenn wir uns auf das Leben einlassen, so wie es ist, und nicht dem „eigentlich könnte, müsste, sollte“ aufsitzen, bietet es viele spannende und schöne neue Momente. Natürlich gibt es auch jede Menge Möglichkeiten, das Leben zu verpassen, beispielsweise indem wir immer der Vergangenheit nachhängen oder indem wir uns nur in die Zukunft träumen. Beides birgt großes Gefahrenpotential, das Hier und Jetzt zu verpassen, um dann hinterher sagen zu müssen: „Eigentlich …“

Bücher von Reisenden gibt es ja sehr viele und wir haben auch einige davon gelesen. Dabei stellen wir fest, dass viele Menschen frustriert aufbrechen, um Veränderung zu erfahren, eine Zeitlang „das Erlebnis“ ihres Lebens zu haben. Wir sind nicht aus einem Tiefpunkt oder einer Frustration heraus aufgebrochen. Wir wollen mit unserer Auszeit unser ganz normales, derzeitiges Leben bereichern, gestalten und in die Hand nehmen, und dies vor allem nachhaltig. Menschen, die nur von Urlaub zu Urlaub oder von Auszeit zu Auszeit leben, haben meistens ihren Sinn (noch) nicht gefunden.

Nun aber zu unseren „Eigentlichs“: Um die Geschichte ganz von vorne anzufangen, müssen wir mit der Einladung zu einem 111. Geburtstag beginnen. Ein guter Bekannter und seine Frau sind in besagtem Jahr jeweils 50 und ihre Tochter 11 Jahre alt geworden, macht zusammen 111. Also alle noch mitten im Leben und auch eine entsprechend lebendige Party – das war etwa drei Jahre vor unserer Tour.

Auf dem Rückweg von der Feier haben wir dann überlegt und gerechnet, ob wir mit unseren Geburtstagen nicht auch so eine nette Zahl hinbekommen. Am Ende unserer Überlegungen stand das Jahr 2018: Wir werden zusammen 100 Jahre, unsere Kinder zusammen 50 Jahre, und wir sind 25 Jahre verheiratet. Was macht man nun mit dieser Information? Zur Kenntnis nehmen und so weiterleben? Nein! Fette Party oder eine Reise? Die Entscheidung für Letzteres fiel uns nicht schwer.

Es war uns wichtig, in der Mitte des Lebens noch einmal die Mühle des Alltags anzuhalten und zu schauen, wo der Weg uns noch hinführen wird. Wir merkten beide, dass wir etwas tun müssen, damit wir nicht im Alltag versinken und dabei die Möglichkeit einer Auszeit verpassen.

Was uns für unser Leben wichtig erscheint, wollen wir auch auf die Reise übertragen: Wir sind nämlich ganz und gar nicht die Menschen, die ihr ganzes Leben durchgeplant haben und genau wissen, wann welcher Karriereschritt dran ist. So wollen wir auch nicht vorher jede Etappe und jedes Ziel festlegen, sondern immer wieder neu hinhören, welchen Weg wir einschlagen sollen.

Da wären wir also: Wir, das sind Anja (51), Grundschullehrerin, und Jörg (49), als Fernsehredakteur und -produzent tätig. Unsere beiden großen Kinder Ammely (21) und Jannis (23) sind schon aus dem Haus und studieren beide. Noah (6) würde erst nach dem Sommer in die Schule kommen. Unsere Hündin Mette ist zum Zeitpunkt der ersten Planung schon 13 und damit über ihre Lebenserwartung hinaus und wird sicherlich das Jahr 2018 nicht mehr erleben – denken wir. Auch wenn das kein schöner Gedanke für uns ist.

Der Zeitpunkt scheint uns ideal zu sein, zumal wir für Noah noch Elternzeit „geparkt“ haben, die wir bis zum Ende seines 8. Lebensjahres abrufen können. Trotzdem kommen aber beim Nachdenken immer mehr Fragen auf: Wollen wir wirklich drei Monate mit einem Kind in Norwegen Fahrrad fahren? Mit welchem Rad soll Noah fahren? Können wir uns so eine Tour überhaupt leisten? Wir müssen unser Haus ja weiter abbezahlen, müssen für Jannis und Ammely sorgen …

Die Mitte des Lebens mit all ihren Verpflichtungen fühlt sich nicht mehr so unbeschwert an, wie die Zeit nach der Schule oder im Studium. Damals war es noch entspannt möglich, einfach das Zimmer in der WG unterzuvermieten, seinen Rucksack oder die Räder zu packen und für ein paar Wochen zu verschwinden. Wie viel Geld müssen wir vorher ansparen, um uns das Abenteuer dieser Auszeit leisten zu können? Was machen wir überhaupt mit dem Haus in der Zeit, und wer kümmert sich um die Bienen? – Jörg ist seit ein paar Jahren Imker mit einer Handvoll eigenen Bienenvölkern. Wer wird Anjas Klasse übernehmen? Wie werden die Kinder durch diese Zeit kommen? Man fühlt sich ja immer erstmal unersetzlich.

Gleichzeitig spüren wir immer wieder diese tiefe Sehnsucht nach einer gemeinsamen Familienauszeit, dieses übermächtige Bedürfnis, sich für ein paar Monate ohne tägliche Verpflichtungen durch Raum und Zeit zu bewegen. All das wegzuschieben, was wirkliche Begegnung oft so schwer macht. Begegnungen mit uns selbst, mit anderen und auch mit den großen Fragen des Lebens.

Eine kleinere, aber ganz konkrete Frage ist: Was können wir Noah in den Monaten vor seiner Einschulung mit auf den Weg geben? Wir sind uns einig, dass wir ihm weder theoretisches Wissen vermitteln noch mit ihm vorab Lesen, Schreiben und Rechnen trainieren wollen. Für seine Selbstständigkeit und seine Entwicklung würde es unserer Meinung nach wertvoller sein, wenn er Erfahrungen in der Natur sammelt und Begegnungen mit Kindern aus anderen Ländern hat. Wissen pauken, das wird er noch früh genug erleben. Aber welches Kind kocht schon seinen morgendlichen Tee auf einem Holzfeuer?

In der Planung hört sich ein Abenteuer immer idyllischer an, als es sich dann währenddessen anfühlt, und so stellen wir uns auch die Frage, ob wir uns und Noah überfordern könnten. In Skandinavien wird sicherlich nicht für drei Monate die Sonne scheinen, und was für uns als Erwachsene noch das Prädikat „Abenteuer“ bekommt, kann für einen 6-Jährigen schon grenzwertig sein.

Lange überlegen und diskutieren wir, wie Noah am besten mitradeln kann. Am Ende haben wir uns für das Stufentandem „Pino“ von Hase-Bikes entschieden, auf dem Jörg mit Noah fahren kann (siehe Materialliste). Es ist ein Tandem, bei dem Jörg hinten und Noah vorne in Liegeposition sitzt. Das sichert ihm die volle Sicht. Das Rad ist nicht ganz billig, aber für unseren Zweck perfekt. Anja fährt auf ihrem eigenen Reiserad mit.

Eines steht jedoch sehr schnell fest: In dieser Auszeit geht es uns nicht darum, uns oder anderen etwas zu beweisen, eine weitere Heldengeschichte von Rad fahrenden Heroen, die den Norden bezwingen, wollen wir nicht hervorbringen. Wir wollen auf dieser Reise hinhören, anderen zuhören und ihren Geschichten Raum geben – und nicht uns und unsere Geschichte in den Mittelpunkt stellen. Wir wollen das spirituelle Experiment wagen und versuchen, uns führen zu lassen, statt unseren Weg im Vorhinein festzulegen.

Ob das gelingen kann?

Wir wollen auch nicht im Voraus planen, wann wir wo übernachten können. Sondern dies relativ kurzfristig festlegen, um uns nicht auf bestimmte Tagesetappen festlegen zu müssen. Übernachten wollen wir dann auf Campingplätzen, über die Warmshowers-Community (siehe Infobox) und in der freien Natur. Wir haben aber auch einen Jugendherbergsausweis dabei und können uns vorstellen, in Norwegen die eine oder andere Hütte zu nehmen.

Die erste Lektion im „Führen lassen und es nehmen, wie es kommt“ erwischt uns früher als gedacht. Als wir begonnen hatten, konkreter über die Möglichkeit einer Familienauszeit zu reden, war unsere Hündin Mette schon 14 Jahre alt und damit für einen großen Hund schon recht betagt. Wir waren daher immer davon ausgegangen, dass sie leider längst nicht mehr bei uns sein würde, wenn es mit unserer Reise konkret würde.

WARMSHOWERS

Die Internetplattform www.warmshowers.org ist eine kostenfreie, weltweite Community von Tourenradfahrern. Reiseradler und Menschen, die solche beherbergen wollen, melden sich an, stellen in einem geschützten Bereich ihre Informationen zur Verfügung und haben hin und wieder jemanden zu Gast, mit dem sie spannende Geschichten und meistens einen netten Abend teilen können. Ob ein Bett, eine Matratze oder auch nur einen Platz fürs Zelt, jeder entscheidet frei, was er wann anbieten möchte. So lernt man als Teil der Community, egal ob als Host (Gastgeber) oder als Reisender viele interessante Menschen kennen.

Doch Metti hatte anscheinend andere Pläne – sie wurde 15 und dann 16, und als der Termin unseres Aufbruchs immer näher rückte, war klar: Metti muss mit. Die Verantwortung für sie auf ihre alten Tage abzugeben kam für uns nicht in Frage. Und so warfen wir alle Pläne über den Haufen und beschlossen, erstmal mit dem VW-Bus loszufahren- und dann einfach zu sehen, was passiert und wann es wie weitergeht.

Nur eins stand fest – die Richtung: nordwärts.

Aber wie können wir den Weg dorthin finden? In seinem Buch „Herztöne“ (adeo Verlag 2016) beschreibt der Autor (und Geigenbauer) Martin Schleske vier Wege der Erkenntnis. Daran angelehnt entdecken wir, dass es mindestens vier Arten gibt, auf Reisen seinen ganz eigenen Weg zu finden:

Durch Wissen: Dafür nutzen wir Karten, Navigationsgeräte, Schilder usw.Durch Empirie: Ausprobieren, scheitern und weiter probieren. Dafür brauchen wir Zeit.Durch Intuition, auch Bauchgefühl genannt: Hierbei nutzen wir unsere gesammelten Erfahrungen (oder die anderer), die wir unter Umgehung des Verstandes blitzschnell abrufen und meist nicht erklären können.Durch Inspiration: Hierfür müssen wir unser eigenes Planen so weit abgeben, damit wir uns von anderen, von der Situation und – in unserem Fall – von Gott inspirieren lassen können.

Für uns sind im Laufe der Reise besonders die Intuition und die Inspiration wichtig geworden. Je weniger wir geplant und gewusst haben, desto intensiver waren die Begegnungen und Erlebnisse, die uns dann geschenkt worden sind.

Es war für uns nicht leicht zu akzeptieren, dass es erstmal so schien, als ob aus der Radreise gar nichts werden würde. Doch wir hatten ja beschlossen, die Dinge so zu nehmen, wie sie kommen. Also ließen wir uns einfach treiben; versuchten zu lernen, nicht danach zu fragen, wohin WIR wollen, sondern welcher Weg für uns gerade dran ist. Ein inspiratives Treibenlassen, oder besser Geführt-Werden, mit vielen Begegnungen. Und auf diesem Roadtrip von Deutschland nach Tromsø haben wir so viel Gutes erlebt, dass wir sicher sind, dass der Weg so richtig für uns war.

Und dann, als wir etwa die Hälfte unserer dreimonatigen Auszeit hinter uns hatten, zeichnete sich ab, dass Mettis Zeit mit uns nun an ihrem Ende angelangt war.

Als wir die Tierklinik ohne unseren geliebten Hund verließen, war wieder alles anders geworden. Nach dem Abschiednehmen von Metti brauchen wir jetzt erstmal eine völlig neue Orientierung, wie die Reise weitergehen soll.

Rückblickend gehört der erste Reiseabschnitt mit dem VW-Bus und unsere Erlebnisse dabei zu unserer Auszeit untrennbar dazu, daher fassen wir ihn im folgenden Kapitel zusammen. Die Leser, die direkt zur Fahrradreise kommen wollen, können in Kapitel 03 weiterlesen.

VON DARMSTADT NACH TROMSØ

Ostermontag – Probepacken

Ja, der Termin rückt tatsächlich immer näher … Passt wohl alles, was wir mitnehmen wollen, in die Fahrradtaschen? Und können zwei Fahrräder das Gepäck von drei Personen aufnehmen? Am Ende ist klar: Es passt! Aber vor dem errechneten vorläufigen Gewicht von ca. 60 Kilo haben wir doch Respekt. Wir wissen jedoch, dass man als Reisender in Norwegen gut daran tut, auch im Sommer warme Kleidung dabei zu haben. Um wie viel mehr also jetzt im Frühling! Haben wir ausreichend warme Sachen für Noah? Welche lange Hose nimmt man für ein Kind mit, das seit einem Jahr rasant wächst und scheinbar im Wettbewerb mit sich selbst ist: rauswachsen oder Knie durchscheuern? Soll es dann doch die 80 €-Outdoor-Hose sein? Aber so viel Geld für eine Kinderhose? Solche und ähnliche Kleinigkeiten füllen die letzten Tage vor der Abreise.

Und dann endlich: Die betriebsamen letzten Tage der Vorbereitung sind vorüber – der Tag der Abreise ist tatsächlich gekommen! Es scheint so unwirklich, aber es ist wahr. Alle Punkte auf unserer Liste sind abgehakt, das Haus sauber hinterlassen, und nach sehr teilnahmsvollem Verabschieden an unseren Arbeitsstellen – wir haben jetzt doppelt so viele Energieriegel wie geplant – sowie unzähligen guten Wünschen aus der Nachbarschaft sitzen wir endlich im Auto. Aus unserer Kirchengemeinde dürfen wir einen wunderschönen Reisesegen mitnehmen:

Er halte schützend seine Hand über euch,

bewahre eure Gesundheit und euer Leben

und öffne euch Augen und Ohren für die Wunder der Welt.

Er schenke euch Zeit,

zu verweilen, wo es eurer Seele bekommt.

Er schenke euch Muße, zu schauen, was euren Augen wohl tut.

Er schenke euch Brücken, wo der Weg zu enden scheint und

Menschen, die euch in Frieden Herberge gewähren.

Der Herr segne, die euch begleiten und euch begegnen.

Er halte Streit und Übles fern von euch.

Er mache eure Herzen froh, euren Blick weit und eure Füße stark.

Der Herr bewahre euch und führe euch wieder zu uns.

(Reisesegen von Elisabeth für uns formuliert)

Drei Monate – von Mai bis Juli – Freiheit liegen vor uns. Na gut, relativer Freiheit. Bis zum vorletzten Tag vor der Abreise ist bei Jörg ein Wegschieben des Auto-Themas zu beobachten. Er redet und denkt noch immer ausschließlich in Richtung Radtour. Und auch wenn wir mit dem Probepacken und allen anderen Vorbereitungen erfolgreich abgeschlossen haben, bleibt doch das Grundproblem bestehen:

Ja: „Frau Hund“, wie wir sie oft liebevoll nennen, lebt noch und will wohl noch mal mit nach Norwegen, wo sie so viele schöne Urlaube mit uns erlebt hat. Deshalb fahren wir also mit dem Camping-Bus los, erstmal Richtung Nordosten. Die Fahrräder und alles, was wir für eine Radreise brauchen, nehmen wir auch mit.

Wir meiden die Autobahnen, um uns zur Entschleunigung zu zwingen. So landen wir am ersten Abend im netten fränkischen Städtchen Hammelburg auf einem Stellplatz für Wohnmobile. Der Rundumblick ist ebenso wunderbar wie das Frühlingswetter und unsere Laune. Bis … ja, bis Metti es schafft, kurz nach unserer Ankunft an der Leine komplett ins Wasser der Fränkischen Saale zu fallen, an deren Ufer wir uns befinden. Leider ist sie mittlerweile so ungeschickt und sieht so schlecht, dass dieses Missgeschick so schnell nicht zu verhindern war. Obwohl sie Wasser liebt, wirkt sie nach ihrer Rettung sehr „bedröppelt“, eben wie ein begossener Pu … nein, Mischlingshund. Damit beginnen die ersten Sorgen: Schütteln auf Hundeart schafft sie nicht mehr. Ihr dichtes Unterfell wird aber allein vom Abrubbeln mit einem Handtuch nicht trocken. Die Nächte sind noch sehr kalt und unser Bus hat keine Standheizung. Hoffentlich wird sie nicht krank!

Ein kleiner Abendspaziergang durch die sonnige Altstadt von Hammelburg belebt aber selbst unsere Hundegreisin wieder. An dieser Stelle ist es wohl Zeit für eine Vorbemerkung zu Hunden allgemein und zu Mette im Besonderen: Eine oft beschriebene Tatsache ist es, dass sich die Welt in Hundebesitzer und Nicht-Hundebesitzer teilt. Die Sichtweisen der beiden Gruppen hinsichtlich der Vierbeiner lassen sich selten überein bringen. Für die Einen ist der Hund ein festes Familienmitglied – wie für uns! Insofern wird vielleicht manchem Nicht-Hundebesitzer unsere Empathie mit unserer Metti zu weit gehen. Nehmen Sie es einfach als nicht nachvollziehbare Macke von uns Hundebesitzern hin.

Mette haben wir zum ersten Mal gesehen, als sie drei Tage alt war – eine Handvoll Hund, kleiner als ein Meerschweinchen. Als Welpe kaum zu bändigen, wurde sie mit der Geburt unseres dritten Kindes Jolene zum Therapie-Hund. So einfühlsam und sensibel sie auf unsere Tochter mit ihrer schweren Behinderung reagierte, so viel Trost und körperlichen Ausgleich verschaffte sie uns während dieser Zeit und nach dem Tod von Jolene. Ein ganzes Jahr lang trauerte sie selbst damals sehr offensichtlich um dieses Kind.

Nach einer wunderbaren Radtour am nächsten Tag mit unserem Freund Thomas, der extra dafür zu uns stößt, bleiben wir eine weitere Nacht. Zwei Tage später machen wir Station auf einem Campingplatz in Bischofsheim mit Blick auf die Kuppen der Rhön. Wir versuchen, jeden Tag eine kleine Aktion zu starten, beispielsweise einen Spaziergang oder etwas anderes, was eben mit Mette geht.

Während sie auf öffentlichen Parkplätzen im städtischen Umfeld sehr gut allein im Auto bleiben kann, widersetzt sie sich dem, sobald das Auto auf einem Campingplatz steht, mit lautem Heulen. Selbst kann sie nur noch langsam laufen und kurze Strecken bewältigen. Diese Fakten reduzieren natürlich unsere Möglichkeiten und lassen uns auch immer wieder mit der Situation hadern.

Freudig überrascht sind wir dagegen davon, welche energiegeladenen Kreativschübe diese Reise, die Natur und das sonnige Wetter bei Noah auslösen. Mit Noah die Natur zu entdecken ist auch für uns wie eine Begegnung mit Gott. Bei einem Spaziergang wird der Spielzeugprospekt sowohl zum Reiseführer als auch zum Pflanzenbestimmungsbuch. Wir freuen uns über Noahs Wortkreativität: „Wir spielen, wir wären jetzt eine Familie, die wandert, und ich hätte ein Buch dabei, in dem ich nachschauen kann, wenn ihr Fragen habt …“

In diesem Reiseführer finden sich dementsprechend die fantasievollsten Beiträge zur durchwanderten Gegend, ebenso wie die wunderlichsten Pflanzen. Gleichzeitig müssen wir genauestens auf den Weg achten, da Lavaströme das Weiterkommen erschweren. Aber auch hier hilft die von Noah bis ins Detail erdachte Spezialausrüstung, die Unbilden des Weges zu bewältigen. Wie großartig, wenn Kinder ihre Fantasie so ausleben und genießen können!

Tags darauf geht es weiter in die Nähe von Eisenach. Warum denken wir, wie so viele Menschen unserer Generation, eigentlich immer noch in Ost- und Westdeutschland? Klar, wir sind damit groß geworden, es war immer wieder Thema in der Schule. Privat kannte auch immer irgendwer jemanden, der Verwandte, Bekannte oder Freunde „drüben“ hatte. Und heute, so viele Jahre später, gibt es allerorten immer noch viel Erinnerungskultur. Aber warum fühlt man sich mit einem Autokennzeichen aus dem Westen auf einem Campingplatz, auf dem die Zeit vor dem Mauerfall stehengeblieben zu sein scheint, fast wie ein Eindringling? Liegt es am eigenen Empfinden oder hat es mit den Blicken der anderen Camper zu tun? Das werden wir wohl nie herausbekommen.

Genauso wie diese Blicke bleiben die Eindrücke vom Schwarzen Moor in der Hoch-Rhön hängen. Da ist dieses wunderbare, mit schlammig-braunem Wasser gefüllte Moor-Loch. Ein fester Handlauf auf der einen und ein dickes Tau auf der anderen Seite laden dazu ein, auf der abfallenden Holzrampe Schritt für Schritt hineinzusteigen und die Tiefe zu erfahren. Ein extra angebrachter Wasserhahn ermöglicht die anschließende Säuberung. Außer uns will jedoch anscheinend niemand die herrliche Einladung annehmen. Der medial geprägte Mensch absolviert seinen Pflichtrundgang auf dem Holzbohlenweg wohl lieber ohne zusätzliche sensitive Erfahrungen. Dabei stellt sich der anschließende Barfußgang auf den warmen Holzbohlen als sehr angenehm heraus.

Zurück auf dem Campingplatz überraschen uns die riesigen Mengen von Kaulquappen im See. Das Erstaunliche ist aber nicht nur ihre große Menge, sondern vor allem die Beobachtung, dass sie als langes, schmales Band entlang einer unsichtbaren Straße im Wasser wandern – im Zickzack-Kurs. Das erinnert uns an das biblische Volk Israel und seine Wanderung durch die Wüste. Nur Gott kannte das Ziel ihrer Reise. Sicher hat er auch bei der Kaulquappen-Straße das Ziel und den Sinn dieser Wanderung vor Augen. Wie sieht es wohl auf unserer Reise aus?

Insgesamt verläuft dieser Anfangsteil der Reise mit nur wenigen Hochs und Tiefs.

JÖRG: An der Weser sehe ich so viele Radreisende, gut ausgestattet mit Gepäcktaschen, und ich wäre so gern einer von ihnen. Im Moment sind wir nicht bei den Radreisenden angesiedelt, passen aber auch nicht so richtig zu den Wohnmobilisten mit ihren „Dickschiffen“. Die sind meistens 20 Jahre älter als wir; Familien mit Kindern in Noahs Alter sind so gut wie noch nicht unterwegs. Auf spannende Begegnungen und Geschichten habe ich gehofft. Aber im Moment machen wir irgendwie nur Urlaub und tingeln durch Deutschland.

Wir wollten doch keinen „normalen“ Urlaub machen! Was tun wir hier also gerade? Wir erinnern uns gegenseitig an unsere Abmachung: Wir wollten die Leitung dieser Tour Gott überlassen. Und neben dem „Wohin“ müssen wir ihm dann auch das „Wie“ der Reise überlassen. Die „Warum“-Frage verkneifen wir uns, denn die Erfahrung hat uns gelehrt, dass es darauf selten direkte Antworten gibt – und schon gar nicht sofort.

Die etwas getrübte Stimmung wird durch die liebevolle Gastfreundschaft von Roswitha und Günter wieder aufgehellt. Sie waren lange Zeit Mitglieder in unserer Kirchengemeinde in Darmstadt, bevor sie hierher zurück in die ehemalige Heimat nach Wurzen zogen. Wir genießen auch das Geschenk eines wunderbar abseits gelegenen Campingplatzes am Zermützelsee in Brandenburg für den Ruhetag. Die offenen Gespräche mit Mario, unserem Platznachbarn, tragen auch zur Versöhnung mit der Situation bei. Mario ist seit 25 Jahren Dauercamper und kennt hier jeden. Noah ist megastolz, dass er auf Marios chromblitzenden Motorrad sitzen darf.

Rundherum nur Wald, kein Auto- oder Flugzeuglärm, Vogelkonzert im Buchen-Wald, wunderbares Wetter und entspannte Camper – was kann man sich mehr wünschen für seinen Ruhetag?

Einige Tage später haben wir eine sehr berührende Begegnung: Wir brechen vom Jamelsee auf, und wie immer wenden wir uns vor dem Losfahren an Gott, vertrauen ihm bewusst den Tag an und bitten ihn darum, dass er uns zeigt, was wir tun sollen. Und Noah betet speziell um wertvolle Begegnungen.

Nur ein paar Kilometer weiter entscheiden wir uns dazu, noch einen kurzen Stopp am Useriner See einzulegen. Außer uns ist nur Helmut, ein 76-jähriger allein reisender Radfahrer, am Ufer. Den Taschen nach zu urteilen ist er auch eine Weile unterwegs. Jörg kommt mit ihm ins Gespräch, und schon nach wenigen Minuten schüttet ihm Helmut sein Herz aus: Er steckt durch eine Trennung in einer schweren Lebenskrise und ist einfach nur einsam. Das Gespräch dauert eine Weile, und aus dem kurzen Stopp wird ein längerer. Aber wir haben ja Zeit, und vielleicht ist gerade das Zuhören unsere Aufgabe für heute.

Ist man wirklich weit weg von zu Hause, wenn man jeden zweiten Abend mit den Daheimgebliebenen telefoniert? Die Bienen schwärmen, der Honig muss geschleudert werden, und Omas Heimfahrt vom Urlaub steht an. Es fühlt sich jedenfalls nicht weit weg an – oder fehlt uns für das „Weg“-Gefühl einfach nur die Überfahrt mit der Fähre nach Skandinavien?