Ein Engel für Miss Flint - Moira Young - E-Book

Ein Engel für Miss Flint E-Book

Moira Young

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Beschreibung

Davy David, ein 13-jähriger Waisenjunge, lebt in Brownvale, einer Stadt der harten Herzen, die von einem strengen Pastor beherrscht wird. Davy ist künstlerisch begabt und liebt es, heimlich Renaissance-Engel in den Staub auf Straßen und Höfen zu zeichnen. Er ist allein, abgesehen von einem kleinen Hund, der ihm überall hin folgt, jobbt und verbringt viel Zeit in der Bücherei, um sich Anregungen für seine Engelbilder zu holen. Eines Tages begegnet er einer älteren Dame, die einen besonderen Auftrag für ihn hat: Er soll sie mit ihrem alten Auto zu ihrem Elternhaus fahren, wo sie am ersten Weihnachtsfeiertag zu sterben gedenkt. Und so brechen Davy, der Hund und Miss Flint zu einer unvergesslichen Reise auf.

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Seitenzahl: 217

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Moira Young

Ein Engel für Miss Flint

Roman

Aus dem Englischen von Alice Jakubeit

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Motto][Prolog]Der EngelmalerDie Straße nach WestenDas Haus am MeerAnhang: SpielfilmeDank

Für Roma, wo du auch sein magst

»Sie ist auf keiner Karte verzeichnet;

die wahren Orte sind das nie.«

 

Herman Melville, Moby Dick

Manche Zeiten sind blind für Engel und dergleichen. Manche Städte ebenso.

Wäre – durch irgendeinen Zufall oder höhere Vorsehung – ein Engel vom Himmel gepurzelt, er hätte unbemerkt in Brownvales trockener Gosse gelegen, bis seine mächtigen Schwingen zu Staub verdorrt wären.

Genau solche Zeiten herrschten nämlich. Und Brownvale war genau solch eine Stadt.

Der Engelmaler

Davy schüttete die Besen aus seinem Beutel und legte sie, nach Größe geordnet, auf dem Boden aus. Es waren insgesamt zwölf, und sie bestanden aus Zweigen, Gras und Federn. Mit den größten glättete er zunächst die Erde und skizzierte grob die Umrisse. Die kleineren Gras- und Federbesen waren für die feineren Details bestimmt.

Er malte seine Engelbilder bei Tagesanbruch, wenn die Leute noch schliefen. An diesem Morgen hatte er bereits ein kleines fertiggestellt, an der Stelle hinter dem Haus des Arztes. Nun machte er sich auf dem Hof vor dem Pfarrhaus bereit für sein zweites. Das war riskant. Pfarrer Fall hatte ein furchterregendes Temperament. Doch sein Hof war der größte, ebenste Platz in der Stadt, und die Erde dort wurde täglich von einem Tagelöhner geharkt. Er war ideal geeignet für Davys Bilder, einfach unwiderstehlich. Ebenso wie Davys Bedürfnis, Bilder auf die Erde zu malen.

Er ging dieses Risiko nicht oft ein. Heute würde er es tun. Der Hund saß draußen vor dem Maschendrahttor auf dem Gehweg und verfolgte Davys Bewegungen mit lebhaftem Interesse.

»Du darfst nicht herein«, flüsterte Davy.

Der struppige schwarzweiße Terrier folgte ihm seit einem Tag. In der Meute zäher Brownvaler Streuner war er Davy nie aufgefallen, und er war auch nicht verwirrt wie ein kürzlich ausgesetzter Hund. Vielmehr hatte er etwas Hoffnungsvolles an sich, so, als wäre er zuversichtlich, dass jemand – Davy zum Beispiel – ihn bald aufnehmen würde. Er bellte einmal scharf.

»Pst!« Nervös sah Davy zum Pfarrhaus. Aber die Rollos blieben unten.

Pfarrer Fall mit seinem Herzen aus Stein hatte große Macht in Brownvale. Seine vielköpfige Gemeinde lebte nach seinen Regeln. Alkohol und Tanz waren verboten. Gesungen werden durften nur Lieder, die er selbst komponiert hatte. Seine schwarzgewandete Gestalt war ein vertrauter Anblick; von fanatischem Eifer erfüllt, schritt er durch Brownvales Straßen und sah mit Adleraugen noch die kleinste Verfehlung. Er saß in jeder Behörde und jedem Ausschuss, vom Gericht bis hinab zur Müllabfuhr, und lenkte alle Angelegenheiten nach seinem Gutdünken. Wenn man von jemandem sagen konnte, er sei eine dräuende dunkle Wolke, dann war der Pfarrer die, die Brownvale verdüsterte.

Aber er besaß nun einmal den Hof, der sich für Bilder am besten eignete.

Außerdem spielte sich Davys Leben außerhalb von Pfarrer Falls Aufmerksamkeitsradius ab. Die meisten Brownvaler übersahen Davy. Ein durchschnittlich großer Junge mit mausbraunen Haaren und dunklen Augen ohne Heim oder Familie war in keiner Hinsicht bemerkenswert. Und Davy achtete sehr darauf, sich am Rand der Stadt zu halten, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.

Niemand wusste, dass er der Engelmaler von Brownvale war.

Er malte seine Bilder überall, auf jedem ebenen, unbewachsenen oder unbebauten Fleckchen Erde. Aber keine wohlwollenden, lächelnden Engel. Davy malte die mächtigen Erzengel. Des Himmels edle, ehrfurchtgebietende Krieger. Wie den Erzengel Michael, der Luzifer stürzte. Ihre kraftvoll sich windenden Körper. Michaels in rächendem Zorn hoch zum Schlag erhobenes Schwert. Davys Bilder prangten wie kleine Unruheherde auf den ordentlichen Straßen der Stadt.

Man bog um eine Ecke, unternahm einen Spaziergang, ging nur rasch Milch holen, man konnte nie wissen. Wo tags zuvor noch keines gewesen war, befand sich plötzlich ein Bild. Ein Racheengel. Das Jüngste Gericht. Himmlische Vergeltung. Wie die Leute die Bilder aufnahmen, hing davon ab, wie sehr das Gewissen sie plagte. Sie mochten wie angewurzelt stehen bleiben. Sie mochten erschrocken zum Himmel hochblicken oder die Augen abwenden und daran vorbeihuschen wie ängstliche Krebse. Zu einem solchen Ort hatte Pfarrer Fall Brownvale gemacht. Und so kam es, dass die Engel trotz ihrer Schönheit ziemlich unbeliebt waren. Man hätte meinen sollen, dass ein Geistlicher diese feurigen Engel gutheißen würde, doch nicht Pfarrer Fall. Auch ihn plagte das Gewissen, ebenso wie alle anderen.

Dabei lag es gar nicht in Davys Absicht, irgendjemandem Schuldgefühle zu machen. Er kopierte lediglich Gemälde aus einem Bildband in der Bücherei: Engel der Renaissance. Hätten dort noch andere Bände mit Gemälden gestanden, dann wäre Davys Themenspektrum sicher größer gewesen, doch es gab nur den einen. Und unter diesen Umständen zog er die Erzengel allen anderen Engeln vor. Ihre grimmige Kampfbereitschaft machte ihm Mut.

Er rieb sich die kalten Hände. So kurz vor Weihnachten war es morgens frostig. Dann glättete er mit dem größten Reisigbesen leise, aber mit raschen Bewegungen den Erdboden.

Der Hund winselte. Davy sauste zum Tor, öffnete es und hob ihn hoch. »Du musst leise sein«, sagte er. Der Hund nahm das zum Anlass, Davy überall abzulecken.

In diesem Augenblick hörte Davy etwas. Ein Dröhnen auf der Straße, das in seine Richtung kam. Weiße Scheinwerferstrahlen strichen über den grauen Morgenhimmel. Mit wild klopfendem Herzen huschte Davy zurück auf den Hof, um sich zu verstecken. Er hockte sich unter den Lorbeerstrauch und drückte den Hund an die Brust, die Hand auf sein Maul gedrückt. »Pst«, flüsterte er.

Davy wartete und wartete, beinahe ohne zu atmen. Endlich rollte ein zerbeulter, verdreckter Laster langsam vorüber. Auf einem Gestell auf der Fahrerkabine waren Suchscheinwerfer montiert, deren Lichtstrahlen über den Himmel und den Boden strichen. Davy zuckte zurück vor dem blendend hellen Licht und schob sich tiefer hinein zwischen die wächsern-steifen Lorbeerblätter.

Mr Kite, der Schlepper, saß hinterm Steuer des Lastwagens. Egal ob tagsüber oder nachts, man wusste nie, wann er das nächste Mal auf seiner Jagd durch Brownvale streifen würde. Seine Beute waren Vagabunden und Obdachlose, ob jung oder alt, spielte keine Rolle. Solange sie nur arbeiten konnten, fing Mr Kite sie ein und verkaufte sie weiter. Dank ihm schliefen die Stadträte nachts ruhiger, hocherfreut, diese lästigen Probleme los zu sein.

Er lenkte mit einer Hand, ach, so lässig. Seine Kiefer mahlten auf einem Priem Kautabak, während sein Kopf sich von einer Seite zur anderen drehte und den Strahlen der Suchscheinwerfer folgte. Neben ihm auf dem Sitz geiferte ein Bluthund. Hinter ihnen befand sich ein Gestell mit Betäubungsgewehren. Im Käfig auf der Ladefläche kauerten bereits mehrere Gestalten und klammerten sich an den Stangen fest. Sie waren entweder zu langsam oder zu unvorsichtig gewesen oder hatten einfach nur Pech gehabt. Davy überlief ein kalter Schauder.

Mit angehaltenem Atem wartete er, bis das Motorengeräusch verklang und die Lichter wieder zu Dunkelheit verblassten; dann kroch er mit dem Hund unter dem Strauch hervor. Mr Kite aus dem Weg zu gehen war eine beständige Herausforderung.

Davy wandte sich wieder seinem Bild zu. Er hatte sich vorher überlegt, was er heute vor dem Pfarrhaus auf die Erde malen wollte. Keinen Erzengel diesmal. Nein, er würde etwas Sanfteres malen. Etwas, was besser zu Weihnachten passte. Tolmeos Engel unter den Weisen auf Seite zweiundfünfzig von Engel der Renaissance. Doch zuerst wollte er ein anderes Bild ausprobieren.

Er hatte es erst ein einziges Mal gesehen. Gestern.

Der kalte Wind blähte Davys Jacke, als er die steinernen Stufen zur Bücherei hinaufsprang. Er stieß die Tür auf und schlüpfte hinein. Drinnen war es so ruhig wie immer. Abgesehen von den Bücherei-Tramps natürlich. Die übliche kleine Schar Brownvaler Stadtstreicher war da und hielt sich warm.

Howard hatte sich neben dem Drehständer mit den Taschenbuchliebesromanen niedergelassen. Die Füße auf seinen Matchbeutel gelegt, die Lesebrille auf der Nase, war er so vertieft in Amber von Kathleen Winsor, dass Davy zweimal seinen Namen sagen musste, ehe er aufblickte. Howard spähte über den Rand seiner Brille hinweg. »Ah«, sagte er unbestimmt.

Davy sprach leise. »Mr Kite war heute Morgen in der Stadt, Howard. Mit seinem Laster. Wenn du ihn siehst, lauf weg und versteck dich. Lauf weg und versteck dich, Matrose. Und das ist ein Befehl.«

Howard salutierte – »Aye, aye, Käpt’n« – und wandte sich wieder seinem Buch zu.

Davy seufzte. Es bestand kaum Hoffnung, dass Howard daran denken würde. Zwar verbrachte Davy sein Leben am Rand von Brownvale, aber er hatte seinen eigenen kleinen gesellschaftlichen Kreis. Hauptsächlich Mr Timm und die Bücherei-Tramps, dazu Miss Shasta Reed, die das Bellevue-Lichtspielhaus auf der Main Street betrieb. Außerdem ein paar ältere Leute, für die er Gelegenheitsarbeiten übernahm.

Mr Timm war damit beschäftigt, Geschichtsbücher in Kartons zu verpacken. Davy schlüpfte um den Tresen herum ins Büro des Bibliothekars, um sich in dem mit Rissen durchzogenen Porzellanbecken die Hände zu waschen. Der kleine Raum erschien Davy immer zu privat: am Garderobenhaken Mr Timms Mantel mit dem abgewetzten Kragen und den fadenscheinigen Ärmeln; auf dem Schreibtisch sein Zwiebelsandwich im Wachspapier. Nachdem Davy sich die Hände an dem verschlissenen Handtuch im Handtuchspender abgetrocknet hatte, ging er zurück in den Lesesaal, zog Engel der Renaissance aus der Abteilung »Nur zur Benutzung in der Bibliothek« und ging damit an einen Lesetisch.

Neben Jewel war ein Stuhl frei. Jewel, die älteste der Bücherei-Tramps, hatte das Kinn voller Haare und eine Schüttelkrankheit, die ihren Kopf unablässig leise wackeln ließ. Sie las ein Bilderbuch für kleine Kinder. Dabei bewegte sie die Lippen und fuhr mit einem gichtigen Finger die Zeilen entlang. »Ich lese gern«, sagte sie zu Davy, als er sich neben sie setzte.

»Ich auch«, erwiderte er. Dann schlug er das Buch auf und blätterte die schweren Seiten um. Francesco Maffei. Bruegel der Ältere. Raffael. Der Titel des Gemäldes, der Name des Malers und ein paar Daten: Mr Timm nannte das die »Zuschreibung«. Von jedem Gemälde gab es eine ganzseitige Farbabbildung. Davy ließ sich Zeit, damit seine Augen alles aufnehmen, sich jedes kleinste Detail einprägen konnten. Dann hielt er inne und runzelte die Stirn. Dieses hatte er noch nie gesehen. Seit vier Jahren dreimal pro Woche, so oft hatte er Engel der Renaissance schon studiert. Dennoch war ihm dieses spezielle Gemälde noch nie aufgefallen.

Es war eine nächtliche Szene in einem Wald. Ein Mann stand Wache über einer Leiche. Im Gegensatz zu den Erzengeln trug er keine Rüstung, hatte weder Flügel noch einen Heiligenschein. Doch er war ein Krieger, furchteinflößend, ebenso wie sie. Zäh und schlachtenerprobt hielt er das Heft seines Schwerts gepackt. Neben ihm stand ein prachtvoller Jagdhund, so groß wie ein kleines Pony, mit struppigem Fell und einem noblen Kopf. Die bleiche Leiche, die sie bewachten, mochte die eines Freundes oder Kameraden sein, nach dem Tod auf einem großen flachen Felsen aufgebahrt.

Die Farben waren düster. Der Hund und der Mann blickten aus dem Bild hinaus, die Augen geradeaus gerichtet. Irgendetwas war sonderbar an ihnen. Aber was? Davy sah genauer hin. Ja, ihre Blicke schienen ihm zu folgen, egal wohin er sich bewegte. In diesen festen Blicken lag eine Aufforderung. Eine direkte Aufforderung. Als würden sie ihn kennen und irgendetwas von ihm erwarten. Das war beunruhigend. Dieses Bild war völlig anders als die übrigen Gemälde in dem Buch. Davy suchte nach der Zuschreibung, doch da war keine. Kein Titel, kein Malername, keine Daten, nicht ein Wort. Nur das Gemälde, das für sich sprach.

Er ging damit an den Tresen. Mr Timm arbeitete gerade eine ausgedruckte Liste durch. Davy sagte, an die kahle Stelle auf seinem Kopf gewandt: »Mit dem Buch ist was passiert. Es ist nicht mehr dasselbe.« Mr Timm setzte einen ordentlichen Haken. Und dann noch einen. »Da ist eine Seite, die ich noch nie gesehen habe, die war bis jetzt nicht da. Ein neues Gemälde. Alles andere ist so wie immer, aber –« Davy streckte ihm das Buch hin – »das ist anders, Mr Timm. Ist das ein neues?«

»Neu!« Mr Timm blickte auf. »Wann hätte ich zuletzt Geld für neue Bücher gehabt? Oder überhaupt Geld für irgendetwas? Ausrangierte Bücher, Spenden, abblätternde Wandfarbe …« Niedergeschlagen deutete er auf die Regale und schnippte mit den Fingern.

Erst jetzt fiel Davy auf, dass die Bücher in den Regalen sichtlich ausgedünnt waren. Es schien, als hätten die Brownvaler Leser angesichts der bevorstehenden Schließung der Bücherei über die Feiertage allesamt die Höchstzahl von acht Büchern entliehen.

»Es ist nur so, dass es sich verändert hat«, sagte Davy. »Ich meine, das Buch, Engel der Renaissance. Mr Timm? Alles in Ordnung?«

Der Bibliothekar hatte die Brille abgenommen und kniff sich in den Nasenrücken. Er lächelte matt und sagte: »Ich bin nur müde, mein Sohn. Komm morgen wieder und erzähle es mir dann.«

Stirnrunzelnd betrachtete Davy das Bild, das er gerade auf dem Hof des Pfarrers gemalt hatte. Es war ihm völlig misslungen. Der Wache haltende Krieger hätte etwas Erwartungsvolles, etwas aktiv Wartendes ausstrahlen müssen. Und der Jagdhund … Den hatte er auch nicht richtig hinbekommen. Doch je mehr er sich bemühte, sich das unversehens entdeckte Gemälde wieder vor Augen zu führen, desto nebulöser und ferner wurde die Erinnerung daran. Er benötigte Zeit, um es eingehender zu studieren.

Mit dem großen Besen fegte er alles beiseite unter den Lorbeerstrauch. Dann glättete er die Erde für das geplante Bild, Tolmeos Engel unter den Weisen. Jetzt, wo Mr Kite fort war, war wieder alles still in Brownvale. Im winterlichen Morgengrauen stand Davy da und schloss die Augen. Er rief sich den Tolmeo ins Gedächtnis und verankerte ihn dort. Dann ließ er die Erinnerung durch seinen ganzen Körper fluten und begann zu malen. Er arbeitete geschwind, in einer Art Rausch. Bückte, drehte, reckte sich. Die Besen schienen ein Teil von ihm zu sein. Er hatte den Tolmeo schon so oft gemalt, dass sein Körper sich daran erinnerte. So kam es Davy jedenfalls immer vor: dass Gemälde, die er sich einmal eingeprägt hatte, in seinem Inneren bewahrt blieben.

Und obwohl er als Material nur die trockene braune Erde zur Verfügung hatte, stellte er sich vor, er zöge Farben aus dem Morgenhimmel im Osten. Dunstiges Rosa, das ins Grau zerlief und zu Violett wurde. Tiefes Scharlachrot, leuchtendes Gelb, glänzendes Gold. Von seinen Augen durch seinen gesamten Körper bis in die Finger und schließlich in die Erde und das Bild, das er malte. Die Farben verschmolzen und verschoben sich. Das Licht glühte. Erde war Erde, das wusste Davy wohl, doch er spürte, dass diese Phantasievorstellung seinen Bildern irgendwie zusätzliches Leben einhauchte.

Nachdem Mr Kite in seinem Lastwagen vorübergefahren war, hatte Davy den Hund wieder vom Hof ausgesperrt. Während er malte, lief das Tier hin und her und winselte. Gerade als Davy nun sein Bild beendete, sprang der Hund übers Tor. Er stürzte sich auf den Besen in Davys Hand, packte ihn und rannte davon.

»Nein!«, zischte Davy.

Er jagte ihm hinterher, um das Pfarrhaus herum und über den Weg, an dem die Mülltonnen standen. Das Rollo am Fenster des Arbeitszimmers war halb hochgezogen, und drinnen brannte Licht. Gerade als Davy nach dem Besen griff, erblickte er durchs Fenster den Pfarrer.

Er stand dort in seinem Arbeitszimmer und füllte Whisky in eine Taschenflasche ab, mit zügigen Bewegungen, als ob er das schon oft getan hätte. Als die Taschenflasche voll war, ließ er sie in die hintere Hosentasche gleiten, trank rasch einen Schluck aus der Whiskyflasche und verbarg diese in einem ausgehöhlten Buch, das zurück in den Bücherschrank wanderte. Mit schwungvoller Gebärde schloss der Pfarrer den Schrank ab und versteckte den Schlüssel über der Tür. Davy gaffte mit offenem Mund. Pfarrer Fall war ein heimlicher Trinker. Was für ein heuchlerischer alter Schwindler. Was für ein Betrüger.

Der Hund ließ den Besen fallen und bellte. Pfarrer Fall blickte auf und entdeckte Davy vor dem Fenster. Davy drehte sich um, wollte davonrennen und prallte gegen die Mülltonnen. Es schepperte laut, der Hund jaulte, und Davys stilles Leben in Brownvale flog ihm um die Ohren.

 

In panischer Eile rannte er zurück auf den Hof, um seine Besen einzusammeln. Während er noch über den Boden krabbelte, sprang die Haustür auf und spuckte den Pfarrer aus. Mit einem einzigen Satz brachte er die Treppe hinter sich, packte Davy am Kragen und riss ihn hoch. Ein schmächtiger Junge von dreizehn Jahren hatte einem erwachsenen Mann nichts entgegenzusetzen, und der Pfarrer war einmal Amateurboxer gewesen. Eingedenk der frühen Stunde und seiner Frau, die oben noch schlief, hielt Pfarrer Fall seine Wut im Zaum. »Bring den Hund zum Schweigen«, sagte er.

Auf Davys fieberhaftes »Pst, pst!« hin verstummte der Hund.

»Ich hab nichts gesehen, das schwöre ich«, beteuerte Davy.

Pfarrer Fall stieß Davy sein unrasiertes Gesicht so dicht vor die Nase, dass der seinen säuerlichen Whisky-Atem roch, und zischte wütend: »Du bist weg. Von diesem Augenblick an. Kapiert? Ich rufe Mr Kite, und wenn der dich findet, dann wirst du dir bei Gott wünschen, du hättest die Stadt verlassen, wie ich es dir sage.«

Mr Kite. Davy war ihm heute bereits einmal ausgewichen. Ein zweites Mal würde er vielleicht nicht so viel Glück haben.

»Bitte, ich sag niemandem was, niemals«, sagte Davy.

»Du warst das also die ganze Zeit. Diese verdammten Engel überall. Sogar hier auf meinem Hof, direkt vor meiner Nase. Was meinst du damit?« Der Pfarrer schüttelte ihn kräftig. »Was meinst du damit?«

Der Hund begann wieder zu bellen.

»Nichts, ich schwöre«, sagte Davy.

Ein Rollo schnellte in die Höhe. Ein Fenster wurde aufgerissen. Erschrocken sahen Davy und der Pfarrer nach oben. Mrs Fall beugte sich aus ihrem Schlafzimmerfenster im Obergeschoss. Sie trug Lockenwickler und hatte sich der Kälte wegen in einen wollenen Morgenmantel und einen Schal gehüllt. »Pfarrer Fall«, sagte sie. »Erklären Sie sich, Sir!«

Die Verwandlung vollzog sich von einem Augenblick zum anderen. Ziemlich beeindruckend. Der Pfarrer legte Davy freundschaftlich den Arm um die Schultern und lächelte voller geheuchelt väterlicher Sorge. »Der kleine Hund des Jungen hat in den Mülltonnen gewühlt, meine Liebe. Ich wollte ihn unbedingt zur Ruhe bringen, bevor er dich weckt.« Sein Tonfall war schmierig und beflissen, doch sein Arm umschloss Davys Schultern wie ein Schraubstock.

Mrs Fall sagte zu Davy: »Die Sorge des Pfarrers um mein Wohlergehen ist direkt proportional zu seiner Gier nach meinem Geld.« Ihr Blick fiel auf Engel unter den Weisen. »Du bist also der, der die Engelbilder malt.«

»Ja, Ma’am.«

Sie winkte ihn näher heran. Der Pfarrer schob ihn vor, bis er unter ihrem Fenster stand. Neugierig betrachtete Davy sie. In der Stadt sah man Mrs Fall kaum jemals. Es hieß, die Ehe mit dem Pfarrer hätte sie chronisch erkranken lassen. Jedenfalls war sie mager und bleich und hatte ein gequältes, verkniffenes Gesicht, aber ihre Stimme war ziemlich kräftig. Ihre Worte durchbohrten die morgendliche Stille, und der Pfarrer zuckte zusammen, als spürte er jedes einzelne wie einen Stich.

Je länger Mrs Fall Davys Bild betrachtete, desto weicher wurde ihre Miene. »Ich habe einmal das Original gesehen«, erzählte sie. »Engel unter den Weisen. Als junge Frau habe ich mit meinem Vater die Überfahrt über den Ozean in die Alte Welt gemacht. Wir haben die großen Museen besucht, die bedeutenden Kulturdenkmäler.« Sie sah Davy in die Augen. »Das hast du sehr gut getroffen, es fehlen nur die Farben. Woher kennst du alle diese Gemälde?«

»Ich kopiere sie nach einem Buch«, antwortete er.

»Wie heißt du, Engeljunge?«

»Davy David, Ma’am.«

»Höre auf meinen Rat, Davy David. Verbring nicht dein ganzes Leben damit, im Staub zu scharren. Aber einstweilen darfst du gerne auf meinem Hof Engel malen. Mr Fall hat dich sicher nicht bezahlt, der Pfarrer ist ein Banause. Da hat er einen Tolmeo-Engel vor sich, und er würde glatt darüber hinwegtrampeln«, sagte sie. »Halt die Hand auf.«

Davy fing die Münze auf, die sie fallen ließ. Sie war schwer.

»Danke, Ma’am. Vielen Dank!« Er las seine Besen auf und steckte sie aufs Geratewohl in den Beutel.

Mrs Fall sah zum Himmel und zog den Schal enger um sich. »Der Wind frischt auf«, sagte sie. »Sie sind ohne Mantel draußen, Mr Fall, Sir. Tun Sie mir den Gefallen und holen Sie sich den Tod.«

Der Pfarrer warf seiner Frau einen zutiefst hasserfüllten Blick zu und verschwand türenknallend im Haus. Mit einem trockenen, triumphalen Lächeln schob Mrs Fall ihr Fenster zu.

Davy schulterte seine Tasche und verließ eilig den Hof. Als er den Hund auf die Straße scheuchte und sich umdrehte, um das Tor zu schließen, sah er Pfarrer Fall am Fenster stehen und ihn anstarren. Davy zuckte zusammen. Die Miene des Pfarrers war finster: Er sann auf Vergeltung.

Dieses Problem hatte sich keineswegs erledigt, das war Davy klar. Er würde sich möglichst schnell etwas überlegen müssen.

 

Mrs Fall hatte recht. Der Wind frischte wirklich auf.

Eine Böe fegte durchs Tor und kreiste um den Pfarrhof. Sie fuhr an den Rändern des Tolmeo entlang, dann zog sie weiter. Als suchte sie nach etwas Bestimmtem. Unter dem Lorbeerstrauch fand sie, was sie gesucht hatte. Und das war der kleine Haufen Erde, die beiseitegefegten Überreste von Davys Waldszene, dieses sonderbaren Bilds mit dem Krieger und seinem Hund.

Die Böe wirbelte einen Teil dieser Erde in die Luft und fegte sie die Straße entlang. Vorüber an der wispernden Kirche, dem Gemurmel in der Bücherei und dem warmen Hefeatem der Bäckerei. Vorbei am Surren des Lichtspielhauses und dem Schaufenster des Elektrowarengeschäfts, in dem die Fernseher rauschten, die nur wenige sich leisten konnten.

Sie stieß auf den kleinen schwarzweißen Hund, der für sich allein saß. Die Böe fegte ihm ein wenig Staub um die Ohren und brachte ihn zum Niesen, dann zwickte sie ihn kurz in den Schwanz und eilte weiter.

Die Böe blies die Erde von Davys Bild bis ans andere Ende der Stadt, dorthin, wo die Main Street zur Straße nach Osten zu anderen Orten wurde. Sie trug sie zum verrammelten Museum, einer hohen Villa im Zuckerbäckerstil aus der Zeit von Brownvales Wohlstand. Die Balken ächzten von der Anstrengung, die Wände aufrecht zu halten. Ein Knarren lief durch die Böden und die Treppen. Die Ausstellungsstücke in ihren Glaskästen seufzten, von der Stadt vergessen, während sie von der Zeit träumten, da sie lebendig gewesen waren. Die Böe brauste den Weg entlang, schlüpfte unter der Tür hindurch und legte ihre staubige Fracht im Foyer ab. Und dort, auf den Fliesen mit dem Schachbrettmuster, begann die Erde, sich in einem beschwörenden Tanz zu drehen.

Die Kirchenuhr schlug neun, als Mrs Taft, die Putzfrau der Falls, den Pfarrhof durch das hintere Tor verließ. Mit einem Armvoll Einkaufstüten kam sie die Gasse entlang, vorbei an der Mauer, wo Davy wartete. Er schlüpfte dahinter hervor und folgte ihr. Sie hörte seine Schritte und blickte sich um, sah ihn und ging schneller. Doch der Wind schnappte nach ihrem Rock, und als sie versuchte, ihn züchtig wieder hinabzuziehen, stolperte sie und ließ die Tüten fallen. Glas klirrte.

Davy sammelte den Kohlkopf und die Kartoffeln wieder ein, die davongekullert waren. Gemeinsam lasen sie auf, was herausgefallen war, und steckten es zurück in die Tüten. Mrs Tafts Wangen waren gerötet. Wortlos reichte Davy ihr einen Pfarrkalender für das kommende Jahr und fing dann ein Blatt Papier mit dem Briefkopf der Pfarrei wieder ein. Dem betäubenden Duft nach zu urteilen, war das zerbrochene Glas ein Parfumflakon gewesen. Mrs Taft klaute bei den Falls. Davy nahm die Tüten, und Seite an Seite gingen sie schweigend durch den windigen Morgen. Alte Zeitungen verfingen sich an toten Laternenpfählen. Abfälle purzelten durcheinander, wussten nicht, wohin.

Noch nie hatte Davy Mrs Taft aus nächster Nähe gesehen. Sie war beinahe hübsch, allerdings verblühte sie bereits. Es war eine Tatsache, dass Brownvale die Menschen früh auszehrte. Die Stadt schien ihnen die Jugend auszusaugen und sie leer zu trinken wie ein durstiger Wüstenreisender. Davy dachte an Mrs Tafts Ehemann, der nur drei Monate zuvor im Aufbahrungsraum des Bestattungsinstituts Field & Sons gelegen hatte. Davy hatte sich hineingeschlichen, um mit eigenen Augen zu sehen, worüber in der Stadt an allen Ecken getuschelt wurde. Und wie alle anderen auch hatte er vor köstlichem Grausen eine Gänsehaut bekommen beim Anblick von Ben Taft in seinem Sarg mit dem schweren Vorhang aus schwarzer Seide, der sorgsam dort platziert worden war, wo der Kopf hätte sein müssen. Den hatte Mr Taft sich nämlich draußen am Schlachthof von einer Kuh abschlagen lassen.

Endlich ergriff Mrs Taft das Wort. »Parson Fall wird den Schlepper auf dich hetzen. Wenn du klug bist, verlässt du die Stadt, wie er dir gesagt hat.«

»Ich sage nichts vom Whisky, das schwöre ich«, beteuerte Davy. Eine Weile gingen sie schweigend dahin, dann fragte er: »Würden Sie bei ihm ein gutes Wort für mich einlegen?«

»Und warum sollte ich das tun?« Mrs Taft sah ihn nicht an, sondern blickte stur geradeaus.

»Ich lebe hier«, sagte Davy. »Schon immer. Wo soll ich denn hin?«

»Mir ist egal, wo du hingehst. Du und deine Engel da. O ja, er hat es mir erzählt. Sie machen mir natürlich nichts aus«, fuhr sie fort und hob den Kopf. »Im Gegensatz zu manch anderem kann ich zum Glück sagen, dass ich ein reines Gewissen habe. Was soll das überhaupt, diese Bilder auf der Erde?« Sie klang aufrichtig neugierig.

Davy kam ins Grübeln. Er hatte noch nie in Worte fassen müssen, warum er diese Bilder malte. Schließlich sagte er: »Es ist dieses Gefühl, in mir drin. Ich muss die Bilder malen. Ich muss einfach.«

Ihre Lippen wurden schmal. »Wir tun alle, was wir tun müssen.«

Davy überlegte, was er noch sagen, wie er sie überreden könnte. Sie setzten die Schuhe im Gleichschritt auf die Erde. Ihre waren ebenso abgetragen wie seine. Ihre Strümpfe waren mehrmals gestopft.

»Ich sehe alles Mögliche in der Stadt«, sagte er schließlich. »Was die Leute so anstellen, meine ich.«

Sie ging schneller, den Kopf hoch erhoben. Ihre Wangen waren gerötet.

»Aber ich behalte das, was ich sehe, für mich«, fuhr er fort. »Bitte, würden Sie mit dem Pfarrer sprechen? Würden Sie ein gutes Wort für mich einlegen?«

»Tut mir leid, das kann ich nicht.«

Davy wollte es eigentlich nicht sagen, aber sie ließ ihm kaum eine andere Wahl. »Sie und er, ich hab gesehen, wie Sie sich geküsst haben.«

Jetzt war sie knallrot. »Pfarrer Fall hat gelobt, mich zu heiraten«, sagte sie. Von diesen Dingen verstand Davy nicht viel, aber es erschien ihm unwahrscheinlich. Zwar sagte er nichts, doch sie spürte seine Skepsis und fuhr auf: »O doch, das wird er. Ganz sicher. Sobald seine Frau da endlich tut, was sich gehört, und stirbt.«