Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
"Ein Gespräch mit dem eisernen Wasserklosett" ist die bewegende und zugleich ironische Lebensbeichte einer Frau, die ihr Herz einem ungewöhnlichen Zuhörer ausschüttet – dem Wasserklosett ihrer Gefängniszelle. Von einer behüteten Kindheit in Russland über eine gescheiterte Ehe, toxische Liebschaften, Drogen und Diebstahl bis hin zur Haft in Deutschland – mit schwarzem Humor, feiner Ironie und schonungsloser Offenheit erzählt sie von ihrem Weg durch ein Leben voller Brüche und den Menschen, die es geprägt haben.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 297
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Boris Rausch
Ein Gespräch mit dem eisernen
Wasserklosett
Eine ehrliche Liebeserklärung an das menschliche Versagen
Kapitel 1
Die Sonne brannte gnadenlos vom Himmel, ohne auch nur einen Moment innezuhalten. Kein einziges Wölkchen war in Sicht, das diese erdrückende Hitze für einen Augenblick mildern könnte. Mein Körper war von einer Schicht Schweiß überzogen, die meine Kleidung wie eine zweite Haut an mich presste, und ich fühlte mich, als wäre ich in einen Raumanzug gezwängt – fest umschlossen und eingesperrt, jedoch ohne die Freiheit, die Weite des Alls zu genießen. Wie gerne würde ich jetzt irgendwo im grenzenlosen Raum schweben, schwerelos und eingehüllt in die stille, ewige Kälte des Universums!
Stattdessen saß ich auf einer Bank, die ein kleines Schild „Gestiftet von der Sparkasse Münster“ zierte, im ruhigen Innenhof eines Wohnhauses. Der Platz wurde von einer gewaltigen Eiche beherrscht, deren weit ausladende Äste uns einen schützenden Schatten spendeten. Dieser Baum war unser stiller Retter, seine dichte Krone unser Zufluchtsort vor der Sonne und manchmal auch vor dem Regen, wenn der Himmel beschloss, sich über unsere Sünden auszuweinen. Ein kunstvoll geschmiedeter Zaun umgab den Hof, als wollte er den Frieden der Hausbewohner bewahren.
Hier war es ruhig, kaum jemand störte die Stille. Hin und wieder sahen wir die Bewohner, die ihren Weg zur Haustür nahmen und uns mit misstrauischen Blicken bedachten. Wir wussten nur zu gut, wie schnell hier die Telefone gezückt wurden, um die Polizei zu rufen. Also verhielten wir uns stets unauffällig, fast unsichtbar. Alex und ich kamen oft nach einem anstrengenden Tag hierher, um einen Moment der Ruhe zu genießen, bevor wir uns in die Tüten vertieften, die wir mitgebracht hatten.
„Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, Waldemar anzurufen“, sagte ich ungeduldig zu Alex. „Er muss inzwischen etwas geholt haben. Ich bin sicher, er hatte vor, heute einzukaufen.“
Während ich sprach, spielte ich nervös mit einem Knopf an meinem T-Shirt, versuchte, ihn um meinen Finger zu wickeln, doch er gab nicht nach. Etwas war mir in Erinnerung geblieben, ich wusste es einfach: Waldemar musste etwas besorgt haben, es konnte gar nicht anders sein.
Solche Gespräche führten wir oft, während wir auf unserer Bank saßen und versuchten, unsere Beute zu zählen. Wenn ich von Beute sprach, meinte ich teure Accessoires, Parfüms, kleine Elektrogeräte – all das, was sich schnell zu Geld machen ließ. Dinge, die wir benötigten, um den nächsten Tag zu überstehen.
Alex und ich waren ständig am Planen und Tüfteln. Immer wieder schmiedeten wir neue Strategien, wie wir das nächste Geschäft um ein paar wertvolle Stücke erleichtern könnten. Unser Ziel war es, genug Geld aufzutreiben, um den täglichen Bedarf an Heroin zu decken. Viele stellten sich das Leben von Abhängigen als faul und ziellos vor, als ein Dahintreiben in Trägheit. Doch unser Alltag war das Gegenteil: eine unaufhörliche Jagd, die uns all unsere Energie und eine düstere Kreativität abverlangte. Nichts wurde uns geschenkt – wir mussten es uns immer wieder aufs Neue erkämpfen.
„Rufe jetzt doch mal endlich Waldemar an!“, sagte ich wieder zu Alex. „Er hat auf jeden Fall etwas mitgebracht, ich hörte ihn gestern mit jemandem am Telefon verhandeln, er wollte nach Amsterdam fahren und etwas holen.“
„Aber um was zu kaufen, müssen wir doch erst mal die Ware loswerden“, widerspricht mir Alex. „Er hätte selbst nichts dagegen, unseren Arbeitstag zu einem logischen und am besten zu einem glücklichen Ende zu bringen, aber er bewahrt im Vergleich zu mir etwas mehr Ruhe.“
In letzter Zeit verstanden Alex und ich uns blendend und arbeiteten ziemlich gut zusammen. Betrachtet man uns von außen, könnte man fast meinen, wir seien ein eingespieltes Team. Den ganzen Tag streifen wir durch die Stadt, weichen geschickt dem Einfallsreichtum der Ladenbesitzer aus, die ihre Ware vor uns schützen wollen. Abends setzen wir uns unter unseren Baum im Schatten, sortieren unsere Beute und kassieren unser wohlverdientes Geld.
In Deutschland wird man für Diebstahl nicht gerade belohnt, aber glücklicherweise werden einem die Hände wie in manchen östlichen Ländern nicht abgehackt. Kein Wunder also, dass es hier einige erfolgreiche Gruppen und Einzelgänger gibt, die Tag für Tag unterwegs sind, um sich ein paar zusätzliche Mark zu sichern.
In der Stadt zogen sowohl einzelne Diebe als auch ganze Banden umher, jeder mit seinem eigenen Grund, das Gesetz zu brechen, und jeder mit einer eigenen Strategie, um erfolgreich zu sein. Unser Freund Aschot, der aus einer sonnigen Kaukasus-Republik stammte, hatte große Träume: Er wollte die Karriere eines Freundes namens Rustam wiederholen. Ashot sprach stets mit Ehrfurcht von diesem legendären Landsmann, als wäre Rustam ein Held, dessen Weg nachzueifern allein schon Ehre genug wäre.
Rustam reiste nach Spanien, um dort ein besseres Leben zu finden. Man erteilte ihm eine Aufenthaltsgenehmigung und erklärte, dass er sich im Land dauerhaft niederlassen könne, wenn er drei Jahre lang ein einwandfreies Führungszeugnis vorweisen und für seinen Lebensunterhalt selbst aufkommen würde. Er dachte darüber nach und kam zu dem Entschluss, dass er den Start in sein neues Leben lieber von einem etwas höheren Sprungbrett aus angehen wollte. Er bemühte sich also um eine fiktive Stelle in einem Restaurant, offiziell als stellvertretender Assistent des dritten Kellners in der vierten Reihe von links. Dann reiste er nach Deutschland und erklärte sich dort kurzerhand zum politischen Aktivisten, um Asyl zu beantragen. Sein Fall wurde geprüft, und man gestattete ihm, so lange im Land zu bleiben, bis eine endgültige Entscheidung getroffen sei. Rustam schlug also seinen eigenen Weg ein und gründete ein Geschäft, das sich auf den Verkauf von teurer Kleidung, Accessoires und Kosmetika spezialisierte. Der einzige Unterschied zu gewöhnlichen Händlern bestand jedoch darin, wie er an seine Waren gelangte. Statt diese regulär zu kaufen, befreite er sie mit einer geradezu Robin-Hood-haften Gelassenheit aus den Regalen edler Boutiquen und Geschäfte. Er rekrutierte einige seiner Landsleute und baute daraus eine gut organisierte Gruppe, die es geschickt verstand, die Auslagen der Läden mit minimalen Verlusten zu leeren und der Polizei dabei in den meisten Fällen zu entgehen. Dank der gut laufenden Geschäfte konnte Rustam sich einen erstklassigen Anwalt leisten, der ihm und seiner Gruppe regelmäßig aus brenzligen Situationen half und ihm obendrein die deutsche Aufenthaltserlaubnis sicherte. So überlebte er einige Jahre in Deutschland und sparte dabei genug Geld, bis die Zeit gekommen war, in Spanien bei der Behörde vorzusprechen. Er erschien dort mit einem blitzsauberen, makellosen Führungszeugnis, das bescheinigte, dass er niemandem je etwas zuleide getan hatte und nicht einmal bei Gelb die Straße überquert hatte. Hinzu kam die Bestätigung, dass er all die Jahre fleißig im Restaurant als stellvertretender Assistent des dritten Kellners von links in der vierten Reihe arbeitete. Da waren die spanischen Behörden doch außerordentlich zufrieden, einen solchen Musterbürger im Land begrüßen zu dürfen, und er bekam den lang ersehnten Stempel im Pass, der ihm die Türen zum unbeschwerten europäischen Leben öffnete. Rustam kehrte nicht mit leeren Händen nach Spanien zurück. Er brachte eine kleine Handtasche voller Geldscheine mit, die ausreichten, um sich dort ein kleines Strandrestaurant zu eröffnen und ein ruhiges, bürgerliches Leben zu führen. Unser Freund Ashot kam ebenfalls nach Spanien und traf dort zufällig seinen alten Landsmann Rustam wieder. Rustam hatte mittlerweile die Rolle eines erfahrenen Mentors übernommen und zeigte Ashot am eigenen Beispiel, wie sich Träume verwirklichen lassen. Inspiriert von diesem Vorbild beschloss Ashot, Rustams „Heldentat“ zu wiederholen und sich selbst auf die beschwerliche Pilgerreise ins Land der Deutschen zu begeben.
Abgesehen von Ashot lief die gesamte Landkarte Osteuropas hier übers Feld. Besonders beliebt war Deutschland für seine liberalen Gesetze bei den Polen, Bürgern der baltischen Republiken, Weißrussen, Jugoslawen und vielen anderen, die sich im Grenzgebiet zwischen Finnland und China tummelten. Wir haben hier in diesem Rosarium eine eigene Nische eingenommen und arbeiteten hauptsächlich nur mit teuren Accessoires, jeglichem Zubehör, Kosmetika und Kleidung.
Das Wichtigste haben wir für heute geschafft, in unserer Tasche war genug Ware, um uns die nächsten Tage über Wasser zu halten. Jetzt blieb nur noch, einen Abnehmer zu finden, der uns genug Geld dafür bietet, und dann noch irgendwo einen Diller ausfindig zu machen, der uns Stoff verkauft.
Das Ziel wäre also, sich für ein paar Tage mit Pulver abzudecken, wobei der Einkauf auch nicht immer so einfach abläuft, wie man es sich vorstellen kann, und ebenfalls organisiert und gestaltet werden muss. Aber ich bleibe vorerst bei unseren Abnehmern – sie sind in den meisten Fällen sehr wählerisch und machen es uns nicht gerade einfach, wenn es darum geht, die Ware in das Geld umzuwandeln. Die wollen immer nur die Sachen von den teuren Markenherstellern abkaufen – teure Rasierklingen, Aufsätze für die elektrischen Zahnbürsten, guter Alkohol und Parfum, Markenkleidung, sehr beliebt sind ebenfalls Brillen, Gürtel, Taschen und viele andere Kleinigkeiten, die in den Läden viel Geld kosten. Die Ladenbesitzer wissen ganz genau, was für uns von Interesse ist, und versuchen natürlich, solche Waren sehr raffiniert vor dem Diebstahl zu schützen. Die Sachen, die nicht so intensiv geschützt werden und einfacher zu holen sind, wollen die Diebesgut-Händler nicht entgegennehmen. Nachdem der Verkaufserlös ordentlich in unserer Tasche verstaut war, begaben wir uns auf die Suche nach einem neuen Dealer. Dealer mussten häufig gewechselt werden, da sie regelmäßig festgenommen und ins Gefängnis gesteckt wurden. Die meisten von ihnen waren ebenfalls abhängig, schafften es aber noch, nach Holland oder Belgien zu fahren, dort Kontakte zu knüpfen und die Ware über die Grenze zu bringen. Dabei riskierten sie viel: Zivilstreifen kontrollierten regelmäßig verdächtige Fahrzeuge in Grenznähe, stets bereit, Drogenfunde zu konfiszieren und die Fahrer festzunehmen. Der Aufwand und die Gefahren waren erheblich und nicht für jeden zu stemmen.
Mit Alex kamen wir zusammen, weil wir eine gemeinsame Not hatten, und diese hieß Heroinsucht. Wenn du richtig drogensüchtig bist, kommst du irgendwann zu der Erkenntnis, dass die Sucht täglich einen Bedarf an Geld hat, den du mit einer gewöhnlichen Arbeit niemals abdecken kannst; mit dem Stehlen jedoch konnte man sich gerade noch über Wasser halten, aber einfach ist es nicht. Da muss man eigene Kreativität jeden Tag aufs Neue unter Beweis stellen und sich extrem erfinderisch zeigen. Denn die Ladenbesitzer haben diesen Kampf natürlich nie aufgegeben, im Gegenteil lassen sie sich immer etwas Neues einfallen, wie sie uns bekämpfen. Für jeden Trick, den wir einsetzten, fanden die Ladenwächter ein Gegenmittel. Zuerst haben wir unsere Sachen ganz einfach gedreht: Wir betraten das Geschäft, einer von uns lenkte die Verkäufer mit irgendwelchen dummen Fragen ab, während der zweite die Ware in eine einfache Tasche legte und das Geschäft verließ. Aber solche einfachen Tricks funktionieren nur in den kleinen Geschäften mit billigem Zeug, die in den meisten Fällen eine Besetzung aus zwei Mitarbeitern und praktisch keine Sicherheitsmaßnahmen vorzuweisen hatten. Unser Ziel war es, die Gewinne zu erhöhen, ohne dabei noch mehr Zeit in die Sache zu investieren. Also mussten wir in die teureren Läden gehen, die mit Überwachungskameras ausgestattet waren, dort gab es Aufpasser und arbeiteten versteckte Detektive, dazu war die Ware mit Alarmaufsteckern versehen. Das hat uns gezwungen, viel mehr Geschick an den Tag zu legen. Zum Beispiel gelang es Alex, ein paar Pullover, T-Shirts, mehrere Jeans in der Umkleide mitzunehmen, dort die ganzen Klamotten anzuprobieren und den Laden wie ein aufgeblähter Gartenzwerg zu verlassen. Die Aufpasser haben wohl nicht an die lebendigen Gartenzwerge geglaubt, deswegen fiel er oft auf und wurde von den braven Jungs angehalten. Nach einer Weile wurden wir mehrmals bei solchen Tricks erwischt und mussten die Taktik radikal ändern. Da haben wir angefangen, die Alarmaufstecker mit Alufolie umzuwickeln oder in eine mit Alufolie präparierte Tasche zu stecken, so konnte man unauffällig durch die Schranken passieren, ohne Alarm zu aktivieren. An anderen Tagen brachten wir einfach eine Zange mit und schnitten die Alarmaufstecker ab. Es ist nie dieselbe Taktik gewesen, die wir angewendet haben, wir mussten immer variieren und uns an die aktuelle Situation anpassen. An manchen Tagen habe ich einige Sachen zum Anprobieren in die Umkleidekabine mitgenommen und diese dort liegen lassen, bin dann aus dem Geschäft rausgegangen, und die Detektive konnten mich ruhig anhalten und durchsuchen, da ich absolut sauber war. Nach mir kam Alex, er zog die von mir abgelegte Klamotten an oder versteckte diese unter eigener Kleidung; die Sachen, die er in die Umkleidekabine mitgenommen hatte, hängte er zur vollen Zufriedenheit der Detektive wieder zurück und blieb damit außer Verdacht. Da waren aber auch viele andere Tricks, die unsere Kollegen an den Tag gelegt haben. Ein solide aussehender Mann, etwa Mitte fünfzig, wir kannten ihn unter dem Namen Klaus, hat sich die Geschäfte ausgesucht, wo die Verkäufer die größte Kulanz gegenüber dem Kunden zeigten. Er besorgte sich aus diesem Laden eine Tüte und legte direkt im Geschäft ein paar Sachen rein, die ihm zugesagt haben. Dann ging er damit zur Kasse und erzählte eine lange Geschichte darüber, dass er gestern den Tüteninhalt von seiner Frau geschenkt bekam, jedoch könne er damit nichts anfangen und er bekäme gerne das Geld zurück. Da es sich doch um ein Geschenk gehandelt hätte, besäße er keine Quittung, mit der er den Kauf belegen könnte. Die Verkäuferinnen haben sehr oft aus Kulanz die Sachen zurückgenommen und ihm das Geld ausgezahlt. Wenn man es kurz fasst, überlebte jeder, wie er nur konnte und wozu eigene Talente ausgereicht haben. Übrigens ist dieser Klaus später daran aufgefallen, dass er diese Masche mit Sportanzügen durchzog, die gerade erst vor einer halben Stunde zum ersten Mal auf den Regalen ausgelegt wurden und demnach gestern von seiner imaginären Frau unter keinen Umständen hätte gekauft werden können.
Ich muss an dieser Stelle auch Alex etwas näher vorstellen. Was kann ich also über ihn erzählen? Er ist ein junger Mann, etwas über das Teenager-Alter hinaus, mit braunen Haaren und dunklen Augen. Wenn ich ihn anschaue, kommt mir in den Sinn, dass er irgendwann einmal ein sehr strahlendes und weißzahniges Lächeln gehabt haben muss, das er jetzt niemandem mehr zeigen mag. Nun lächelt er selten, weil er wie die Kriminellen aus den vielzähligen Serien über Gangster aussehen mag. Er stand nie ruhig an einer Stelle, wechselte immer von einem Fuß zum anderen und spuckte alle paar Sekunden über die Zahnlücke aus. Gleichzeitig versuchte er, einen im Fernsehen belauschten Schurkenjargon zu sprechen, und kniff auf seltsame Weise die Augenbrauen zusammen, um den Eindruck eines harten Kerls zu erwecken. Alex stammte aus der Wolga-Region und lebte dort in einem kleinen deutschen Dorf. Zuhause hatte seine Familie einen großen Hof mit einer weiträumigen Nutzfläche, die einem sehr viel Arbeit abverlangte. Seine Mutter war Buchhalterin in der Kolchose und sein Vater arbeitete zwischendurch als Schweißer auf einer Baustelle in der Stadt. Alex konnte sich noch erinnern, dass sein Vater manchmal über Wochen nicht zu Hause gelebt hatte. Da wusste der kleine Alex von seiner Mutter, dass der Vater in der Stadt Geld für die Familie verdiene. Irgendwann ist der Vater auch nach mehreren Wochen nicht mehr erschienen und der zehnjährige Aljoscha (Alex) erfuhr aus dem belauschten Gespräch zwischen Oma und Mutter, dass Papa ein Bastard, ein Arschloch, ein Schurke und sogar eine richtig miese Schlampe sei, und aus allen diesen Gründen würde er schon wieder eingebuchtet. Damals verstand der kleine Aljoshenka immer noch nicht ganz, was hinter dem Wort „eingebuchtet“ steckte, aber aus dem Gespräch wurde klar, dass der Papa mindestens drei Jahre oder sogar länger nicht zu Hause erscheinen werde und das nur im Fall, wenn er sich gut benehmen würde ... So der Anwalt. Alexeys Eltern haben nie viel Wert auf schulische Leistungen ihrer Kinder gelegt, Papa meinte, dass in der Kolchose immer Menschen gebraucht werden und hier auf dem Land auch ohne Schule niemals jemand verhungern wird – „Alex und sein älterer Bruder Sergej werden schon lernen, wie man Traktor bedient, und damit ist immer gutes Geld zu verdienen, all diese Stadtspinner würden noch neidig sein.“ Und tatsächlich hatte Alex keine Sterne vom Bildungshimmel geholt; an seinem Beispiel konnte man deutlich sehen, dass nicht aus jedem Landbewohner ein Einstein aufwächst. Dafür wusste er aber ganz genau, wie man tägliche Arbeit erledigt und wurde dafür regelmäßig von der Mutter als guter Junge ausgezeichnet. Was die Frage mit dem Vater betraf, der irgendwo oder in etwas eingebuchtet war, da halfen ihm die Schulfreunde, die in der Nachbarschaft lebten. Die haben ihn aufgeklärt, was mit dem Vater tatsächlich passiert ist. Laut Gerüchten betrank sich der Vater von Alex eines Nachts zu Ehren seines neugeborenen dritten Sohnes und holte seine Schrotflinte aus dem Keller; diese war natürlich nicht registriert, jedoch konnte sich der Papa das Vergnügen nicht entgehen lassen, einen lauten Gruß zu Ehren des Neugeborenen mitten im Dorf zu verkünden. Alex wusste sogar, als Papa, während die Mutter noch im Krankenhaus verweilte, seinen beiden Brüdern und seiner Schwiegermutter erklärte: „Nun sollen alle im Dorf erfahren, dass er immer noch imstande sei, einen Jungen zu meistern.“ Mit diesem Motto ist er durch das Dorf gezogen und alle Nachbarn über seinen Stolz informiert, indem er in die Luft schoss. In den nächsten drei Jahren hatte Aljoscha seinen Vater nicht mehr gesehen, denn am anderen Ende des Dorfes warteten bereits Polizisten, die den stolzen Vater von drei Söhnen erfolgreich verhafteten. Das Gericht entschied später, einem vorbestraften glücklichen Vater für die Schüsse auf der Straße einer geschlossenen Ortschaft aus einer nicht registrierten Waffe im betrunkenen Zustand drei Jahre Aufenthalt in der weit abgelegenen Region des Landes hinter einem dicken, hohen Zaun zu schenken. Zum ersten Mal hat der Vater von Alex seine Haftstrafe auch für einen anständigen Paragraphen aus dem Strafgesetzbuch abgesessen. Als er von der Armee nach Hause kam, wurde er für die auf dem Land übliche Weise mit einem Arbeitsbuch und einer Ehefrau ausgestattet. Seine Frau, also die Mutter von Alex, war ein paar Jahre älter als er, hatte ein ziemlich unattraktives Aussehen und war wegen ihrer angeborenen Schüchternheit nie in einer Beziehung. Bevor sie den Vater von Alex getroffen hatte, lebte sie in der Angst, für immer allein zu bleiben, deswegen gab sie dem einzigen Bewerber schnell und bereitwillig den Vorzug. Sie haben schnell ein Haus von den Nachbarn gekauft, da diese in die Stadt zogen. Dort lebte die junge Familie eine Zeitlang sogar sehr glücklich zusammen. Der Vater erlernte beim Militär einen Beruf und durfte sich nach dem Wehrdienst als Schweißer bezeichnen; mit diesem Zeugnis reiste er zur Stadt, um dort gutes Geld zu verdienen. Eines Tages geriet er betrunken in einen Streit mit einem dieser überheblichen Stadtkerle, die viel von sich hielten und ihn in der Schlange für Bier nicht vorlassen wollten. Ein Wort nach dem anderen und es ergab sich eine hoch zivilisierte Diskussion mit einer anschließenden, nicht weniger kulturell behafteten Schlägerei. Nachdem der Vater von Alex zum ersten Mal für eineinhalb Jahre hinter Gittern landete. Der Grund für seine Dienstreise wurde vom Gericht als schwere Körperverletzung bezeichnet. Der erste Bruder von Alex kam zur Welt, während der Vater die Folgen seines unruhigen Charakters irgendwo ziemlich weit weg von Zuhause verbüßt hat. Wie es in solchen Fällen öfters in der Geschichte der Menschen vorkam, sprach ihn der Erstling nach seiner Rückkehr mit Onkel an. Das wollte der Vater natürlich nicht so hinnehmen und er fing langsam an, die Ehefrau ordentlich zu verspotten und ihr Untreue vorzuwerfen. Die Mutter war nicht bereit, die Gewalt ohne Weiteres zu ertragen und er flog nach einigen Auseinandersetzungen mehrmals mit all seinen Sachen aus dem Haus. Jedoch wurde ihm jedes Mal aufs Neue unter dem festen Versprechen, mit diesem Benehmen aufzuhören, verziehen. Außerdem ging Papa oft zur Arbeit in die Stadt, und in dieser Zeit fiel das Atmen zu Hause viel leichter und die schweren Erinnerungen waren auf einmal einfacher zu ertragen, wenn das Familienoberhaupt das Geld aus der Zivilisation mitgebracht hat. Als der zweite Sohn in der Familie zur Welt kam, hieß er Alexei; zu Ehren des Neugeborenen bekam seine Mutter wieder Vorwürfe und Schläge mit einer Erklärung: das Kind würde aus einem Fremdgang entstehen. Ob es der Wahrheit entsprach, kann nur der Allmächtige oder die DNA-Analyse anzeigen. In dem Dorf, wo sich dieses Drama abgespielt hat, gab es weder das eine noch das andere. Deswegen blieb dieses Thema lange Zeit auf der Tagesordnung und wurde selbst durch die Geburt seines dritten Sohnes nicht aus der Welt geschaffen. Dann kam eine Erleichterung, da der Vater dauerhaft abwesend war. Aljoscha, zuvor fleißig im Haushalt und auf dem Hof, schaffte es, sich ohne väterliche Aufsicht einer Gruppe der Gleichaltrigen anzuschließen, die ihm beibrachten, „die richtige Luft“ zu atmen. Und als der Vater dann zurückkam, konnte guter Junge Aljoscha bereits mehrere Anzeigen bei der Polizei, Erfahrung im Umgang mit leichten Drogen und Alkohol vorweisen. Papa ging nicht mehr in die Stadt, hat aber einen Job in der Kolchose gefunden und war deshalb die meiste Zeit zu Hause. Wenn er nicht zur Arbeit musste, erledigte er morgens die Hausarbeit, trank tagsüber ein paar Gläser Wodka und ging dann ins Schlafzimmer. Die Frau wurde dorthin bestellt, um die Ehepflicht zu erfüllen; nach dem Gefängnis war der Vater hungrig nach der Zuneigung und wünschte sich wohlverdienten Trost. Gleichzeitig beschuldigte er seine Ehefrau, immer noch eine Hure zu sein, und wenn er zu viel trank, schlug er sie mehr denn je. Die Mutter fand sich damit langsam ab und hatte es nicht eilig, den Ehemann der Polizei zu melden, denn sie traute sich nicht, zum dritten Mal allein ohne Ernährer und mit drei Kindern und alter Mutter zu bleiben.
Im Dorf, in dem Alex lebte, kam es zu merkwürdigen Veränderungen – viele Menschen begannen, ihre Häuser zu verkaufen und nach Deutschland zu ziehen. Immobilien fielen stark im Preis, und als Alex’ Mutter sich daran erinnerte, dass sie auch deutschstämmig war, konnte von einem lukrativen Verkauf des Hauses keine Rede mehr sein. Dennoch wurde beim Familienrat, bestehend aus Mutter, Vater und Großmutter, eine Entscheidung getroffen: Die Zeit sei reif, ihre deutschen Wurzeln auf deutschem Boden zu verpflanzen. Nach einer langen Vorbereitung der notwendigen Dokumente zog die Familie in ihre historische Heimat. Von Kindheit an sprach die Mutter ein wenig Deutsch, sodass sie schnell lernte, sich in der Wildnis der deutschen Bürokratie zurechtzufinden. Zu dieser Zeit erinnerte sich sein Vater daran, dass Deutschland ein Land des Bieres sei, und begann mit noch größerer Lust zu saufen, was mit folgenden Begründungen erklärt wurde: „Wenn es schon so eine Vielfalt existiert, dann muss man alles probiert haben.“
Alle Übersiedler lebten zu Beginn ihrer Reise im Lager. Das Lager bestand aus kasernenartigen Gebäuden, die in separate kleine Wohnungen mit jeweils zwei Räumen unterteilt waren, in denen sich vorübergehend Menschen niederließen. Die Kasernen wurden so angelegt, dass die gesamte Siedlung ein kleines Dorf mit allen notwendigen Kommunikationen bildete. Auf dem Territorium gab es zwei große Geschäfte, eine Bushaltestelle, ein Bürogebäude und viele andere Einrichtungen wie Kindergarten und Säle mit Schreibtischen für den ersten Deutsch-Blitzkurs. Die beliebtesten Waren in den hiesigen Läden, die öfter als die anderen über die Kasse gingen, waren Wodka, Sixpacks Bier und ein paar Brotlaibe mit der billigen Wurst. Diese seltsame Kombination an Lebensmitteln musste doch irgendwo konsumiert werden, deswegen war der meistbesuchte Ort dieser Anlage die Erholungsinsel mit Bänken, Tischen und weiteren Kleinigkeiten, in und unter die man die leeren Flaschen und Dosen verstecken konnte. Der Morgen in solchen Anlagen begann immer zivil. Die Menschen versammelten sich vor dem Verwaltungsgebäude; es gab immer reichlich Anlässe, die man mit den Beamten besprechen konnte: von der Verbesserung der Wohnbedingungen über die Jobsuche bis hin zur Familienzusammenführung. Für den Anlass des Wiedersehens mit Verwaltungsbeamten zogen Frauen ihre besten Kleider an, deren Muster nur in den landwirtschaftlichen Handelsketten der Wolga-Region zu finden waren. Sie putzten ihre goldenen Vorderzähne zu einem strahlenden Glanz und trugen ein solches Make-up auf, mit dem niemand auf der Welt einen Fehler in der Frage ihrer geografischen Herkunft machen könnte. Männer kamen jedoch etwas minimalistischer angezogen, in Adidas-Anzügen, wobei ein T-Shirt unter der Jacke sich bemühte, die Brust des Besitzers der umliegenden Welt zu öffnen. Jedoch schien die Hose mit drei Streifen und langgezogenen Knien eine exklusive Modeerscheinung zu sein. Die etwas jüngere Generation des männlichen Geschlechts trug ebenfalls Adidas-Jacken, steckte diese gerne in die Schuluniformhose ein. Die modischsten und fortgeschrittensten hatten Hemden mit der schrecklichsten Bemusterung; diese wurden unbedingt mit bis zum Bauchnabel offenen Knöpfen getragen, was eine entspannte Lebenseinstellung und besondere moralische Haltung in die Umwelt ausstrahlen musste. Diese Art, so unbeholfen mit Hemdknöpfen umzugehen, diente auch dazu, eine fingerdicke Kette aus einem gelben Metall den Mitmenschen zu präsentieren. Die goldene Farbe auf solchen Ketten war nicht immer gleichmäßig aufgetragen, und die Kette öffnete der Welt ihre Kupferseele, was aber den Besitzer auf keinen Fall gestört oder ihm Minderwertigkeitskomplexe eingejagt hat.
Nach der Kommunikation mit der Verwaltung wurden die Büros ihrer Mitarbeiter mit Nistpuppen, Flaschen russischen Wodkas, Flaggen der Sowjetunion und anderem zum Zweck der Bestechung mitgebrachten Souvenirs aufgefüllt. Das sollte nach der alten sowjetischen Tradition helfen, die anstehenden Probleme zu lösen. Denn die Erfahrungen aus der Heimat zeigten, dass viele Probleme im Leben mit Hilfe einer dem richtigen Beamten zum richtigen Zeitpunkt präsentierten Flasche viel einfacher gelöst werden konnten.
Was sie schnell lernen musste, war, dass es in Deutschland eine unausgesprochene Regel gab: Die Beamten sind gegen kleine Bestechungen immun. Zwar könnte ein deutscher Beamter, der mit tatsächlich hohen Summen gelockt wird, schwach werden, doch die Beamten des Sozialdienstes zeichnen sich durch hohe moralische Standards und eine starke Resistenz gegenüber kleinen Bestechungen aus. Größere Beträge waren ohnehin nicht zu erwarten. Je besser die Beamten in einem Land sozial und finanziell geschützt sind, desto höher ist die Schwelle der Bestechungsgelder, bei der sie schwach werden.
Jedoch, wenn es um die Souvenirs ging, nahmen sie diese bereitwillig an und übersäten damit alle freien Regale ihrer Büros. Niemand nahm etwas mit nach Hause – hatten Angst, wegen Korruptionsverdachts angeklagt zu werden. Es wurden aber keine Flaschen angenommen, da diese einen tatsächlichen Wert hatten und bereits als Bestechung gelten konnten. Was die Männer in der Siedlung nicht unzufrieden machen konnte, denn alles, was nicht in die fremden Hände geriet, konnte direkt zweckgebunden zur Anwendung gebracht werden. Was blieb einem Aussiedler aus der Sowjetunion noch übrig, womit konnte er hier noch sein von der Arbeit nicht belastetes Leben ertragen? Und die Arbeit schien, während sie in den Siedlungen gelebt haben, noch in weiter Ferne. Dabei hat so ein Aussiedler aus Kasachstan sein ganzes Leben lang auf dem Land gearbeitet, Traktoren repariert, Tiere in seinem Heimatdorf gezüchtet und hatte dort immer einen guten Ruf und war stolz darauf. Am eigenen Hof konnte er von der Erde seine Familie ernähren, und das machte ihn in seinen eigenen Augen wertvoll. Und jetzt, als er hier in Deutschland ankam, wurde er zu einem drittklassigen Mann, für den es sehr oft nur ein Weg durch die Flasche zur glücklichen Realität zu sein schien.
Die Mutter von Alex erkannte schnell, dass sie nun in einem zivilisierten Land lebte und keinen Ehemann mehr brauchte, um ihre drei Kinder zu ernähren und großzuziehen. Entschlossen packte sie die Sachen von Alex‘ Vater zusammen, warf ihn aus dem Haus und reichte die Scheidung ein. Dieser Umstand hatte eine äußerst bedauerliche Auswirkung auf seinen Geisteszustand, und er begann allmählich den Verstand zu verlieren. Er zog in eine Unterkunft, fing an, viel mehr zu trinken und trug tief in sich einen starken Groll gegen das bittere Schicksal und gegen die Schlampe, die einst seine Frau war. Seine Kinder durfte er jetzt nur noch alle zwei Wochen sehen und das nur in Anwesenheit eines Sozialarbeiters. Vor Gericht erklärte seine Frau, sie sei wiederholt von ihrem Ehemann geschlagen worden und wolle daher keinen privaten Kontakt mehr zu ihm haben, außerdem wolle sie die Kinder vor seiner Aggressivität schützen.
Trotz dieser ganzen unnötigen Formalitäten kam der Ehemann auf die Frau zu, hielt sie auf der Straße an und erzählte ihr, sie sei eine Schlampe und eine Prostituierte in der gleichen Person. Er behauptete, sie habe ihn mit mehreren Männern gleichzeitig betrogen und sogar in Pornofilmen mitgespielt, die seiner Überzeugung nach nach Russland und Kasachstan geschmuggelt und dort verkauft wurden.
„Was für eine Hurre!“, schrie er seine bald ehemalige Ehefrau an. „Du willst mich etwa vor meinen Verwandten und Freunden blamieren?“, fragte er und schlug zu. Er war fest davon überzeugt, dass diese schmutzigen Filme, in denen seine Frau die Hauptrolle spielte, unbedingt von seiner gesamten Verwandtschaft gesehen werden würden. Er war sicher, dass er danach niemandem mehr in die Augen schauen könnte, ohne sich für seine Frau und die Mutter seiner Kinder zu schämen. Daraufhin beschloss die Mutter von Alex, dieser Tortur ein Ende zu setzen; sie ging zur Polizei und ließ die Verletzungen und blauen Flecken protokollieren, danach wurde der Vater bis auf Weiteres eingesperrt.
Da diese Art von Ausschweifungen mit auffallender Regelmäßigkeit vorkam und sein geistiger Zustand dem diensthabenden Richter sehr besorgniserregend erschien – er war blass, aggressiv, konnte dem Gespräch nicht folgen und wiederholte immer wieder, dass er seine Ex-Frau geschlagen habe, weil sie eine Prostituierte sei und ihn vor der ganzen Welt entehrt habe – entschied das Gericht, ein psychiatrisches Gutachten erstellen zu lassen. Sein Zustand sollte genauer beobachtet werden, weshalb er in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde.
Der Psychiater, der beauftragt wurde, das Gutachten zu erstellen, hörte ebenfalls die Behauptung, dass die Ehefrau des Patienten eine Prostituierte gewesen sei und, wie es für Prostituierte angeblich üblich sei, auch in Pornofilmen mitgewirkt habe, um sich dort mit mehreren Männern gleichzeitig zu vergnügen. Das Positive an der ganzen Geschichte, so meinte der Patient, sei jedoch, dass es für diese Behauptungen angeblich unwiderlegbare Beweise gebe.
„Könnten Sie mir diese Beweise auch vorlegen?“, fragte der Gutachter, neugierig und vielleicht ein wenig skeptisch.
„Natürlich kann ich das“, erwiderte Alex’ Vater, plötzlich mit neuem Elan. Sein Zustand hatte sich merklich verbessert – nicht zuletzt dank der Medikamente, die ihn in eine Art medikamentöse Gelassenheit versetzt hatten. Mit einem schnell triumphierenden Lächeln setzte er hinzu: „Ich habe alle Beweise, und es ist alles dokumentiert.“
„Nun, wie könnte ich diese Dokumente sehen, auf die Sie sich so freundlich beziehen?“, versuchte der Gutachter, den Faden weiter aufzunehmen und dabei ernst zu bleiben.
„Hören Sie mal! Gehen Sie einfach zu Ihrem Arzt und lassen Sie sich die Vorgeschichte ihrer Behandlung zeigen!“, Alex’ Vater sah den Gutachter an, als hätte er gerade die genialste Verschwörung aller Zeiten enthüllt. „Sie werden sehen, dass sie vor nicht allzu langer Zeit operiert wurde.“ Und als weiterer Beweis blieb da noch die Narbe auf ihrem Bauch.
Er erzählte diese Geschichte jedes Mal sehr geheimnisvoll und sah sich vorsichtig um, als ob ihn jemand ausspionieren würde, weil er schreckliche Angst vor der Rache der Porno-Mafia hatte, die bereit wäre, ihre Hauptdarstellerin, die gleichzeitig seine Frau war, mit allen Mitteln zu verteidigen.
„Gut“, sagte der Gutachter, „aber was hat die Magen-OP Ihrer Frau mit ihrer Beteiligung an der Prostitution und dem pornografischen Geschäft gemeinsam?“
Der Gutachter wiederum gab jedes Mal vor, jedem Wort zu glauben, und stützte dabei sein Kinn mit der Hand in der Art von Sigmund Freud, um sein Interesse und echte Aufmerksamkeit zu unterstreichen. Er bat den Begutachteten, das gesamte pornografische Wesen seiner Frau detailliert zu beschreiben und zeigte seine Bereitschaft, ihm genau zuzuhören.
Alex’ Vater war empört. Wie hatte sie ihm nur einen so unfähigen Gutachter zugewiesen, der die offensichtlichsten Zusammenhänge einfach nicht begreifen konnte? Es war ja wohl klar wie Kloßbrühe!
Mit einem tiefen Seufzer und einer Spur von Überlegenheit begann er, dem armen Mann die „absolut logischen“ Verbindungen zu erklären, als würde er einer Art das Einmaleins beibringen. „Also, hören Sie mal“, sagte er in einem Ton, der kaum seine Ungeduld verbergen konnte, „die Narbe, die Operation... Alles hängt zusammen!“ Sie denken vielleicht, das hat nichts miteinander zu tun, aber da liegen Sie falsch.
„Am Set, wo sie ihre Filme gedreht hat, schluckte sie zu viel Sperma“, fing er an zu erzählen, mit einem Ausdruck im Gesicht, der seine absolute Überlegenheit, was das Entziffern von logischen Tatsachen angeht, zur Schau stellte. „Durch viel Sperma im Magen hatte sie eine Darmverschlingung und musste operiert werden. Und außerdem“, fuhr er fort, „als wir uns irgendwann einmal versöhnt haben, stand sie vor mir im Badezimmer, während ich geduscht habe, und versuchte mir...“ An dieser Stelle zögerte er und wurde jedes Mal rot, wenn er diese Argumente wiederholen musste, weil es ihm schlicht peinlich war, seine „Beweise“ erneut vorzutragen.
„Also, was hat sie versucht, Ihnen anzutun?“, half der Gutachter nach.
„Nun, sie versuchte, meinen Schwanz in den Mund zu nehmen“, sagte er leise und wurde noch mehr rot im Gesicht.
„Interessant, und Sie haben abgelehnt?“
„Natürlich habe ich mich geweigert, ich bin nicht so einer“, setzte er einen dicken Strich auf die Rechnung seiner Beweislage. „Sind das etwa nicht genug Beweise? Würde eine normale Frau so etwas tun?“
Die Argumente des Gutachters, dass dies im Prinzip eine in der heutigen Welt weit verbreitete sexuelle Praktik ist, führten die beiden Gesprächspartner nicht auf einen gemeinsamen Nenner.
Das Ergebnis des Gutachtens war die Einlieferung des Vaters in die psychiatrische Anstalt. Ich weiß auch nicht, zu welchem Zweck sie ihn dort eingeliefert haben, möglicherweise, um ihn dort über die sexuellen Praktiken des 20. Jahrhunderts aufzuklären ...
Man könnte sagen, er hatte Glück im Unglück: Statt wegen Körperverletzung im Gefängnis zu landen, fand er sich wieder im Krankenhaus. Erstens wäre er zu Ehren seiner ersten Gefängnisstrafe wahrscheinlich nicht zu einer Höchststrafe verurteilt worden, und zweitens wäre er nach lächerlichen drei bis sechs Monaten wieder auf freiem Fuß gewesen. Die psychiatrische Klinik jedoch verlässt man erst, wenn ein Gutachtergremium einstimmig zu dem Schluss kommt, dass der Patient geheilt ist – und die Ereignisse, die ihn dorthin gebracht haben, dürfen sich unter keinen Umständen wiederholen.
Damit die Ärzte zu dieser Überzeugung gelangen, muss sich der Zustand des Patienten nicht nur „deutlich“ verbessern, sondern er muss geradezu mustergültig sein. Schließlich muss er zu den „plausiblen und nachvollziehbaren“ Gedankengängen zurückkehren, die ihn einst verließen. Das ist definitiv schwerer als ein paar Monate im Gefängnis absitzen!
Der Vater von Alex wollte jedoch nicht seine Position aufgeben, und trotz der beruhigenden Medikamente und therapeutischen Bemühungen des beauftragten Psychiaters blieb er hartnäckig und forderte, seiner Frau zu Beweiszwecken Proben aus dem Magen zu entnehmen, um dort, wie er überzeugt war, Spermaspuren nachzuweisen. Die Geschichte verschweigt, wie lange er letztendlich in dieser Anstalt verbracht hat, und Alex weiß es ebenfalls nicht. Er hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sich für das Schicksal seines Vaters zu interessieren.
Alex selbst begann die Karriere in Deutschland bescheiden und erhielt seine erste Strafanzeige für die Beschädigung des Fremdeigentums. Während der Gerichtsverhandlung sagten zwei Polizisten aus, dass sie den jungen Mann dabei erwischt haben, als er die Buchstaben «X» und «Y» auf der Wand eines Hauses aufgemalt hat. (Auf Russisch sind es die ersten Buchstaben des Wortes „Schwanz“. Das volle Wort sieht so aus: “ХУЙ”. Dieses Wort ist nicht nur sehr kurz und schnell auf einer Wand zu malen; in der russischen Sprache ist dieses Wort völlig eindeutig und kann keineswegs als Tierkörperteil, mit dem die Fliegen verjagt werden, missverstanden werden. Es bezieht sich direkt auf das männliche Glied. Solche Schmierereien waren in der Sowjetunion häufig auf Wänden zu sehen. Sie dienten als eine Art stiller Protest gegen die frustrierenden Bedingungen des Alltags, ein ungefilterter Ausdruck des Unmuts über das Leben – in einer Zeit, in der offene Kritik nicht ungefährlich war.)
Was genau er mit dieser Aufschrift erreichen wollte, bleibt im Dunkeln. Vielleicht war es sein Versuch, seine Einstellung zum Leben oder seinen Frust auf besonders unkreative Weise auszudrücken. Mehr hat er mir zu dieser dunklen Episode seiner Vergangenheit jedenfalls nicht verraten. Die Polizisten allerdings mussten wohl gedacht haben, dass er als wohlerzogener junger Mann vermutlich das Wort „Xylophon“ oder vielleicht sogar eine mathematische Formel an die Wand kritzeln wollte.