Ein Hund kam in die Küche - Sepp Mall - E-Book
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Ein Hund kam in die Küche E-Book

Sepp Mall

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Beschreibung

»Kindsein in Zeiten des Krieges« Krieg und NS-Zeit aus der Sicht eines Kindes. Ein Roman über die Südtiroler Auswanderung und die NS-Verbrechen an Menschen mit Behinderung Eine Familie aus Südtirol entscheidet sich 1942 im Zuge der »Option» für die Auswanderung ins Deutsche Reich. Der 11-jährige Ludi erzählt von den letzten Tagen im Dorf und der ersten Station im Deutschen Reich: Innsbruck. Auf Anweisung der Ärzte muss sein behinderter Bruder Hanno in eine Anstalt bei Hall gebracht werden. Die restliche Familie zieht weiter nach Oberösterreich. Der Vater wird in die Wehrmacht eingezogen und auch Hanno kehrt nicht mehr zurück. Ein Brief aus einer »Heil- und Pflegeanstalt« des Reiches ist alles, was der Familie von ihm bleibt. Sepp Mall gilt als einer der wichtigsten Schriftsteller Südtirols, der sich in seinem Werk mit komplexen Themen der jüngsten Zeitgeschichte auseinandersetzt. Wie lässt sich das Unbegreifliche verstehen und wie überlebt man ein kollektives Trauma? Ein bewegender Roman, der in bilddichter Sprache der Trauer eines Kindes um seinen Bruder nachgeht.

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Über das Buch

Ein Hund kam in die Küche

Eine Familie aus Südtirol entscheidet sich 1942 im Zuge der »Option« für die Auswanderung ins Deutsche Reich. Der 11-jährige Ludi erzählt von den letzten Tagen im Dorf und der ersten Station im Deutschen Reich: Innsbruck. Auf Anweisung der Ärzte muss sein behinderter Bruder Hanno in eine Anstalt bei Hall gebracht werden. Die restliche Familie zieht weiter nach Oberösterreich. Der Vater wird in die Wehrmacht eingezogen und auch Hanno kehrt nicht mehr zurück. Ein Brief aus einer »Heil- und Pflegeanstalt« des Reiches ist alles, was der Familie von ihm bleibt.

Ein bewegender Roman, der vom Auswandern und Heimkehren erzählt, und in bilddichter Sprache der Trauer eines Kindes um seinen Bruder nachgeht.

Über Sepp Mall

Sepp Mall, 1955 in Graun (Südtirol) geboren, Studium in Innsbruck, lebt als Schriftsteller in Meran. Diverse Preise und Stipendien, u. a. Meraner Lyrikpreis, Staatsstipendium des österreichischen Bundesministeriums und Großes Literaturstipendium des Landes Tirol. Sein Roman »Wundränder« wurde 2005 zum »Innsbruck-liest«-Buch gewählt und ist heute Schullektüre. Zuletzt erschienen sein Roman »Hoch über allem« (Haymon 2017) und der Gedichtband »Holz und Haut« (Haymon 2020).

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Sepp Mall

EIN HUND KAM IN DIE KÜCHE

Roman

Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause.

Novalis

INHALT

KAPITEL I

KAPITEL II

KAPITEL III

KAPITEL IV

KAPITEL V

KAPITEL VI

KAPITEL VII

KAPITEL VIII

KAPITEL IX

NACHWORT

GLOSSAR

I

In unserer Familie gab es keine Wörter für den Abschied. Mein Vater hatte keine und meine Mutter auch nicht. Als wären sie ihnen mit der Zeit verloren gegangen, aus dem Sprachsack gefallen, Buchstabe für Buchstabe, und irgendwo liegen geblieben, wo sie niemand mehr fand. Oder sie schluckten sie einfach hinunter, jedes Mal, wenn sie ihnen in den Mund kamen.

Als wir im Frühling ein Büschel blassroter Nelken auf Mutters Familiengrab setzten, musste es so sein wie immer. Mama kniete sich auf das festgetretene Kiesbett und verzog keine Miene, als ich sie fragte, wie lange die Pflanzen wohl hielten und in wie vielen Wochen es wieder neue bräuchte. Sie beugte sich über die hölzerne Grabumrandung und drückte den Wurzelballen in das schwarze Loch, das sie mit den Händen vertieft hatte. Ich wiederholte meine Frage, Mama hielt in ihrer Bewegung inne, dann schüttelte sie nur leicht den Kopf und fuhr fort, die krümelige Erde rund um die Blumen festzudrücken.

Die Großeltern lagen hier begraben und auch sie sagten nichts. Es waren Mamas Vater und Mutter, auf dem Grabkreuz standen ihre Namen und Zahlen und dass sie in Frieden ruhen sollten. Das Todesjahr war bei beiden dasselbe, es war das Jahr, in dem ich auf die Welt gekommen war. Wenn meine Mutter davon erzählte, sagte sie, dass zuerst der Großvater gestorben war, davongegangen, nannte sie es, und eine knappe Woche später sei sie schon im Kindbett gelegen und die Hebamme habe mich mit einer Zange aus ihrem Bauch herausgeholt. Die Großmutter, die uns mit ihrem breiten Lächeln vom Grabmedaillon aus zuschaute, sei da noch dabei gewesen, aber einen Monat später, auf den Tag genau, habe auch sie sich davongemacht. Aus Kummer, sagte Mama, weil so alt sei sie noch nicht gewesen. Gerade einmal achtundsechzig. Von ihrem Mann geholt worden, hätten einige im Dorf gesagt. Nicht zu ihr direkt, nicht zu jemandem aus ihrer Familie, aber es sei ihr doch zu Ohren gekommen.

Stell dir vor, sagte sie von unten herauf, so eine abgrundtiefe Dummheit. Sie beugte sich vor und strich mit den Händen die Erde glatt. Von drüben kannst du niemanden mehr holen, blödes Altweibergeschwätz. Und zwei Todesfälle und eine Geburt innerhalb von vierzig Tagen, da hätten sie ruhig ihr Maul halten können –

Länger als vierzig Tage halten diese Nelken hier bestimmt nicht, fiel ich ihr ins Wort, dann muss jemand neue setzen.

Mutter richtete sich auf und sah mich überrascht an. Sie wischte die schmutzigen Finger an ihrer Schürze ab und ließ meine Behauptung über den Grabsteinen verhallen. Die Worte flogen mit dem Wind davon, über die Friedhofsmauer mit der hölzernen Abdeckung, über die Wipfel der nahen Kastanien und Birken hinauf in die Mailuft über dem Kirchturm. Ich blickte ihnen nach, bis sie im weiß gesprenkelten Himmel verschwammen.

Wörter, die etwas mit Lebewohl oder Wiedersehen zu tun hatten, gab es bei uns seit ein paar Monaten nicht mehr. Und bei allem, was wir taten, war es verboten zu sagen, dass wir dies oder jenes hier bei uns in Mariendorf vielleicht nie mehr tun würden – meine leichtfüßige Mutter nicht, Vater mit seinem viereckigen Schnauzbart nicht, mein kleiner Bruder Hanno und ich nicht. Auch das Wort Zukunft hörten meine Eltern nicht gerne. Wir schwebten alle in der Gegenwart, ausschließlich, und überall, wo wir uns befanden, war es gerade jetzt. Jetzt, jetzt, jetzt. Die Fragen, in denen es um etwas anderes ging als um die Gegenwart, endeten in Schweigen oder Schulterzucken.

Hanno musste etwas aufgeschnappt haben, was ihn beunruhigte, aber was genau in seinem Kopf los war, verstand ich nicht. Seit einer Woche überfiel er mich jeden Abend im Bett mit seinem Gestammel. Meistens war ich gerade eingeschlummert, wenn er sich zu mir drehte und mit dem Finger gegen meine Schulter stupste.

Was willst du schon wieder?, fragte ich.

Er riss die Augen auf, als würde ihm das beim Sprechen helfen. Dann wiederholte er die abgebrochenen Sätze, die er mir schon an den Abenden zuvor ins Ohr geflüstert hatte, jedes Mal im selben Wortlaut.

Du, sagte er, und ich hörte, wie er tief Luft holte, weißt du?

Ja?

Er setzte noch einmal an, die Silben und Wörter sträubten sich, so wie immer.

Ich warte, sagte ich.

Er drehte seinen Kopf hin und her und irgendwann gelang es ihm doch, die drei, vier Laute über seine Zunge zu drücken und zwischen den Zähnen herauszupressen.

Mama weg, sagte er, Mama weg, Mama fahren. Er hielt den Atem an, sein ganzes Gesicht eine Frage.

Was meinst du?

Fahren, wiederholte er, Mama wegfahren.

Und ich antwortete ihm so, wie ich es jeden Abend machte. Wir fahren alle weg, Hanno, sagte ich und wischte ihm den Speichel vom Kinn. Wir fahren alle zusammen. Mama und du und Vater und ich. Die ganze Familie. Du brauchst keine Angst zu haben. Hanno, Mama, Tata, Ludi, alle zusammen, du wirst schon sehen.

Dann war es still, bis ich nach einer Weile hörte, wie er erleichtert aufatmete. Er drückte die Knie gegen meine Flanke, rollte sich zusammen, wie es junge Hunde machen, und ich spürte, wie die Anspannung allmählich aus seinem kleinen Körper wich. Als ich schon dachte, dass er eingeschlafen wäre, vernahm ich, wie er meine letzten Worte flüsterte, alle zusammen, alle zusammen.

Es ist noch ein bisschen Zeit, sagte ich leise in sein Ohr und in der beginnenden Dämmerung sah ich, wie er lächelte. Dann drehte er sich weg von mir, als wollte er mit seinen Gedanken allein sein, und bald drehte auch ich mich zur Seite, um leichter in den Schlaf zu trudeln.

Zurückgeblieben, hieß es. Das sagte die Nachbarin aus dem Haus über der Straße, das sagte Onkel Rudi, auch die Frau vom Metzger sagte es, dann tätschelten sie den schmalen Kopf meines Bruders und sprachen mit Mama über den Wind und das Wetter. Es werde bald schlimmer werden, sagten sie, man sehe das doch kommen.

Wir müssen alle Opfer bringen, sagte die Metzgerin, kniff Hanno in die Wange, und als dieser zu weinen begann, holte sie ein Bonbon aus ihrer Kittelschürze. Die Nachbarin zog ihr Kopftuch zurecht, der Frühling war immer noch kalt, und dann deutete sie hinauf zu den Bergen, wo der Nordwind die Schneefahnen über die Gipfel flattern ließ. Der ganze Wirbel, sagte sie, der kommt über den Kamm von draußen herein. Der Wirbel und dieses ganze Geschrei. Man muss gut aufpassen, woher der Wind bläst, sagte die Metzgerin, steckte Hanno das Bonbon in den Mund.

Wenn ich durch das Dorf ging, die Hauptstraße hinunter, um im Laden einzukaufen, was Mutter mir aufgetragen hatte, oder um das Paar Schuhe abzuholen, das neu besohlt worden war, versuchte ich mit aller Kraft nicht daran zu denken, dass dies vielleicht das letzte Mal war. Das letzte Mal, dass ich quer über den Kirchplatz ging. Das letzte Mal am Dorfbrunnen vorbei. Oder dass ich das letzte Mal den Schusterladen betrat mit seinem Geruch nach Leder, Beize und Zigarettenrauch, der stundenlang an einem hängen blieb. Ich lenkte mich ab, indem ich die Menschen zählte, die die Straße überquerten, wobei ich weiblich und männlich gegeneinander aufrechnete. Aber als der Schuster, der mir die Schuhe über den Arbeitstisch hinschob, fragte, wie lange wir überhaupt noch da seien, hier in Mariendorf, war alles dahin. Vielleicht fahren wir auch nie, sagte ich.

Der Meister war ein mürrisch dreinblickender Mensch, vor dem ich mich fürchtete, seit ich das erste Mal in seinem Laden gewesen war. Er sah aus wie das Walross auf den Tierbildern, die im Gang unserer Schule hingen, und wenn er seine Pfeife aus dem Mund nahm, zeigte er unten seine langen gelben Zähne. Schon schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich dieses Gesicht nie mehr sehen würde, denn da, wo wir hingingen, gäbe es vielleicht keinen Schuster oder auf alle Fälle einen anderen. Ohne Schnauzbart, ohne Fragen, auf die ich keine Antwort wusste, und mit einem Gebiss, das einem keinen Schrecken einjagte. Und für einen Augenblick war ich froh, dass es so sein könnte.

Es bestand kein eigentliches Verbot, von morgen zu reden oder davon, dass wir weggehen würden und Abschied nehmen mussten. Nicht so, wie es verboten war, jemandem einen Stein an den Kopf zu werfen oder in der Schule auf den Boden zu spucken. Es war auch nirgendwo aufgeschrieben wie die Zehn Gebote, die wir im Katechismusunterricht auswendig lernen mussten, oder wie das Gebet für den Duce. Vater aber wurde gleich ungeduldig, wenn ich am Mittagstisch laut überlegte, ob ich Kathrina in der Schule wiederfinden würde, da, wo wir hingingen. Er blickte erstaunt von seinem Teller auf, wurde laut und sagte, ich solle mich um meine Sachen kümmern, nicht um das, was mich nichts angehe. Meine einzigen Aufgaben seien die Schule und den Eltern zu helfen und zu gehorchen. Und wenn ich es wagte weiterzusprechen, hatte ich sofort eine kleben. Im Grunde konnte ich nur mit Kathrina über diese Sachen reden.

Wenn wir zusammen von der Schule nach Hause gingen, erzählte sie bereitwillig, worüber sie bei ihr redeten oder was sie alles hinten in der Metzgerei ihrer Eltern aufschnappte. Sie hätten alles schon verkauft, sagte sie, den Laden, ihre Wohnung im Parterre mit all den Möbeln und auch die Schlachträume im Hof, wo man den Schweinen und Kälbern die Kehle durchschnitt und die schweren Leiber zerteilte.

Im Juni wandern wir, sagte sie.

Wandern?, fragte ich.

So nennt man das, sagte sie, wenn man wegfährt in ein anderes Land.

Auswandern, sagte ich.

Nein, wandern, wiederholte sie und ließ ihre dünnen Zöpfe um die Nase fliegen. Sie hüpfte auf einem Bein über das Himmel-und-Hölle-Feld, das Kinder auf die Pflastersteine gezeichnet hatten.

Ich solle doch zum Bahnhof gehen, rief sie mir zu, und mich selbst überzeugen. Beinahe jeden Tag würden dort Wanderer auf den Zug warten, mit ihren Kindern, Koffern und Kisten. Sie würden auf den Bahnsteigen herumstehen und bei jedem Zug, der einfahre, glauben, dass es ihrer wäre. Wenn sie dann einstiegen, würden die Bahnbediensteten und Träger die schweren Kisten durch die Abteilfenster heben. Sie habe dies mit eigenen Augen gesehen, rief sie noch und hüpfte wieder in meine Richtung zurück.

Irgendwann wandern wir auch, sagte ich, ganz bestimmt.

Dann berichtete Kathrina, dass sie erst vor einigen Tagen mit ihrer Tante Frieda auf dem Bahnhof vorbeigeschaut hatte, um zu beobachten, wer an diesem Tag das Dorf verlasse. Sie hätten den Wanderern in den Waggons mit dem Taschentuch zugewinkt, als der Zug anfuhr.

Ein anderes Mal erzählte sie, dass ihre Wanderung in eine Stadt gehen würde, die sei hundertmal so groß wie unser Dorf. Böhmen, das sei der Name der Stadt, und dort warte man schon auf sie, auf sie und ihre Familie.

Und ein paar Tage später wusste sie es wieder anders. Ihre Mutter, meinte sie, als wir über die Stufen hinunter zum Ausgang der Schule sprangen, habe darauf bestanden, nach Vor-Adelberg zu gehen, weil so viele von hier dort hinwandern würden. Vor-Adelberg, so heiße das Ziel ihrer Wanderung. Dort gebe es einen See und große Läden und hohe Berge, genauso wie hier. Bestimmt würden sie ein neues Haus bekommen, mit einem Garten und einem Geschäft, wo sie Fleisch und Würste verkauften. Und einen Hund würden sie auch haben, einen Wachhund, einen Schäfer, der sie alle beschützte. Und wir würden wieder Nachbarn werden, wenn wir dann nachkämen. Vor-Adelberg, sagte sie, oder so ähnlich.

Oder Hinter-Adelberg, sagte ich, während wir um die Ecke beim Gemeindehaus bogen. Wir mussten beide lachen, und als Kathrina noch Unter-Adelberg einfiel, mussten wir stehen bleiben, weil wir uns vor Lachen fast in die Hose machten. Wir konnten nicht mehr aufhören, bis wir uns vor dem Metzgerladen ihrer Eltern trennten. Zu Hause fiel mir ein, dass ich keine Ahnung hatte, wo dieses Adelberg lag, vor uns oder hinter uns, im Osten oder im Westen, und meine Mutter wusste es sicher auch nicht. Vater fragte ich besser gar nicht.

Bald würde Hanno sechs werden, aber seine Beine waren immer noch zu dünn, um damit richtig zu gehen. Stehen konnte er gut, wenn er sich irgendwo festhielt, aber kaum ließ er los, um von der Ofenbank zum Tisch zu kommen, begann das Wackeln. Er machte drei, vier Schritte, dann knickte er ein, ließ sich zu Boden gleiten und hopste glucksend weiter. Er stieß sich mit den Händen ab, rutschte auf dem Hinterteil über die Dielen und gelangte so von der Stube in die Küche und von der Schlafkammer in die Stube. Dann krabbelte er auf einen Stuhl und strahlte von einem Ohr zum anderen, weil er glaubte, viel schneller gewesen zu sein als ich.

Außerhalb des Hauses trug ihn Vater manchmal auf den Schultern. Im Winter, bevor wir weggingen, zimmerte er nach der Arbeit im Keller einen kleinen Wagen aus Fichtenholz, mit vier Seitenwänden und einer beweglichen Deichsel. Ich durfte dabei zusehen und half mit, die Gummiräder unseres alten Kinderwagens abzumontieren und am Holzgefährt zu befestigen. An Heiligabend stand es als Geschenk unter dem Christbaum. Es sah aus wie eine Pferdekutsche, für ein Schaukelpferd gemacht, und Hanno kapierte gleich, dass sie für ihn war. Im Hof draußen half ich meinem Bruder, das Gefährt zu besteigen, und er machte es sich auf dem Boden bequem. Er streckte die Beine von sich und legte die Hände auf die Seitenwände, um sich festzuhalten. Hü, rief er, und wir fuhren eine Runde um die Bäume, dann im Schneematsch hinüber zur Metzgerei und wieder zurück vor unsere Haustür.

Jedes Mal, wenn man mich zum Einkaufen schickte, durfte er nun mit. An meiner Hand schaffte er es die Stiegen hinunter, dann nahm er Platz im Wagen, ich klemmte mir die Deichsel unter die Achsel und wartete auf seinen Befehl. Hü und hott, das verwechselte er kein einziges Mal.

Der Holzsteg, der über den Bach in den schwarzen Wald führte, schwankte ein bisschen, als wir Hanno in seiner Kutsche darüber zogen. Kathrina lenkte und ich achtete darauf, dass die Räder auf den zwei nebeneinandergelegten Brettern blieben.

Es waren nur noch ein paar Tage, bis ihre Familie wandern wollte. Der schwere Frühlingsschnee hatte einige der Fichten umgerissen, jetzt lagen sie quer über dem schmalen Pfad, der am Ende der Brücke weiterlief. Der Schnee war längst geschmolzen, aber niemand hatte die Bäume zur Seite geräumt. Viele Äste waren abgebrochen und die aus den Stämmen ragenden Stümpfe steckten wie Lanzen in der schlammigen Erde. Sie hinderten uns am Weiterkommen, wir hatten Mühe, Hannos Wagen zwischen all dem zersplitterten Holz durchzuziehen.

Kurz hinter der Brücke hatten wir bereits den Geruch wahrgenommen. Stinken, hatte Hanno behauptet, seinen Hals gereckt und in die Luft geschnuppert, aber Kathrina und ich fanden, dass das, was aus dem Wald herauswehte, zwar ein übler Geruch war, aber kein Gestank. Es roch nach etwas Verdorbenem, Fauligem, was um uns herumwirbelte, sich plötzlich verzog und einige Schritte weiter vorne wieder da war. Altes Fleisch, sagte Kathrina, es riecht nach altem, verdorbenem Fleisch. Hanno hielt sich den Ärmel seines Pullovers über die Nase und drückte die Augen zu.

Kathrina hatte mir auf dem Weg das Neueste vom Weggehen und Wandern erzählt, alles, was sie wusste. Dass sie zu Hause auf gepackten Koffern und Kisten saßen, weil die Stühle schon alle verladen oder verschickt worden seien. Und dass sie ein einziges ihrer Betten nicht zerlegt hatten, weil sie in den kommenden Nächten noch darin schlafen müssten, alle zusammen. Ich lege mich in die Mitte, sagte Kathrina, damit mich niemand rausschubsen kann.

Kurz vor der Lichtung begann Hanno zu winseln, ähnlich wie der Hund der Nachbarn, wenn die große Kirchenglocke läutete. Es waren stockende, abgehackte Laute, ich ahnte, dass er gleich losplärren würde, und er zeigte zwischen den Bäumen hindurch Richtung Hang.

Der Gestank musste von dort kommen, das meinte auch Kathrina. Sie nickte mir zu, wir ließen Hanno auf dem Weg zurück und kletterten über den rutschigen Waldboden nach oben. Wir hielten uns an herunterhängenden Ästen fest und hangelten uns an Sträuchern und dünnen Baumstämmen weiter. Ein moosbewachsener Findling versperrte uns fast den Weg, und noch bevor wir die Kuppe erreichten, hörten wir das Surren.

Dann standen wir vor dem riesigen Tier, das in der kleinen Senke hinter dem Findling lag, mitten in einer schwarzen Wolke von Fliegen. Sein Rücken drückte gegen den Stamm einer Fichte, die ausgestreckten Hinterläufe verschwanden unter den bis auf den Boden hängenden Ästen. Kathrina starrte mit aufgerissenen Augen auf den Kadaver und hielt sich Mund und Nase zu. Schnell suchte sie nach meiner Hand, als hätte sie Angst, dass sie plötzlich ausrutschen und in dieses Gemisch aus Schmutz und Fell und verwesendem Fleisch hineinstürzen könnte. Unten auf dem Pfad hörten wir Hanno nach uns schreien.

Was zum Teufel –, flüsterte Kathrina.

Ein Hirsch, sagte ich, ein alter Hirsch.

Man erkannte das am Geweih, am knorpeligen Horn mit den vielen Verzweigungen und Enden. Vor unseren Füßen lag der nach hinten gebogene Hals samt dem langen Schädel, die Zacken des Geweihs in den moosigen Untergrund gebohrt. Aber es gab nur eine Geweihstange, die zweite war nirgendwo zu sehen. Kathrina schüttelte heftig den Kopf und riss sich von mir los. Sie machte einige Schritte zurück und hielt sich an einer hoch aufgeschossenen Akazie fest, ohne die Augen von dem Kadaver zu lassen.

Das Fell des Tieres war an vielen Stellen aufgerissen, rotbraune Haarbüschel lagen weit verstreut, und wenn man darauf trat, blieben sie an den Schuhen kleben. Ich stellte mich zu Kathrina, aber auch dort stank es noch elendiglich. Trotzdem gingen wir um den Baumstamm herum, denn von der anderen Seite konnte man tief in den aufgebrochenen Bauch des Tieres hineinsehen, in die Höhlung mit dem bleichen Rippengerüst. Von dort quollen die Innereien heraus, die man nicht mehr recht unterscheiden konnte, und vermischten sich mit dem Waldboden, der dunklen Erde und dem feuchten Moos.

Kathrina schien Mut gefasst zu haben, sie beugte sich nach vorne, wie um den Schädel genauer zu betrachten. Das eine Auge war offen und sah uns unverwandt an, auch dann, als wir zurücktraten, um seinem Blick auszuweichen. Es war ein blankes, mattes Schwarz, und wenn man genauer hinsah, entdeckte man das Gewimmel der kleinen, weißen Maden, die sich zwischen den Augenrändern und den hervorstechenden Wimpern tummelten. Wir waren zusammen in die Knie gegangen, Kathrina zeigte mit dem Finger darauf. Fleischwürmer, sagte sie. Dann zuckte sie mit den Achseln, richtete sich wieder auf und wandte sich ab, als wäre das alles nichts Neues für sie.

Hanno schrie währenddessen die ganze Zeit nach uns, immer lauter und eindringlicher, und so stiegen wir zurück auf den Waldweg. Mein Bruder musste versucht haben, aus der Kutsche zu klettern, er lag mit verdrehtem Oberkörper auf dem Boden des Wagens, ein Bein halb über der Seitenwand hängend, trotzdem zeigte er stammelnd und fragend den Hang hinauf. Da war nur ein Sack, erklärte ich ihm, ein Sack voller Gerümpel, den jemand weggeworfen hat, sonst nichts.

Kathrina pflichtete mir bei. Altes, stinkendes Gerümpel, sagte sie, bestimmt war das ein Landstreicher. Oder einer von den Schwarzwäldlern. Sie setzte Hanno auf, fuhr mit der Hand in sein dünnes Haar und sagte zu ihm, dass er tapfer war, so lange allein im finsteren Wald zu warten. Er lachte kurz, wackelte mit dem Kopf, und als es endlich weiterging, gluckste er vor Vergnügen. Vor Kathrinas Elternhaus trennten wir uns, Hanno winkte ihr mit beiden Händen nach und hörte nicht mehr auf, auch dann nicht, als sie schon längst im Hinterhof der Metzgerei verschwunden war.

Am Abend im Bett fiel mir der Hirschkadaver wieder ein. Ich hatte kaum die Augen zugemacht, war das tote Tier schon da, in seiner ganzen Größe, mitten in unserem Zimmer, halb auf unserer Bettdecke und halb über Hannos Beine ausgebreitet. Alles so, wie wir es am Nachmittag gesehen hatten: Die Gedärme, die aus dem offenen Bauch hingen, der lange Schädel mit dem dunklen Auge, das mich anstarrte, und die eine Geweihstange, die über den Rand des Bettes bis auf den Teppich ragte. Sie war mehrfach verzweigt und hatte mindestens sieben Enden, das konnte ich trotz der Dunkelheit sehen. Wenn ich meine Hand ausgestreckt hätte, wäre es ein Leichtes gewesen, sie näher heranzuziehen und das knubbelige Horn mit den Fingern zu ertasten.

Der verwesende Körper schien noch übler zu stinken als am Nachmittag im Wald, und plötzlich hatte ich Angst davor, diesen Geruch nicht mehr loszuwerden. Ich kannte das, Gerüche konnten sich an den Innenwänden der Nase festsetzen und tief in die Riechöffnungen eindringen. Ich musste irgendwie unter dem Gestank hindurchtauchen, ihn überdecken, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte. Ich steckte meinen Kopf unter das Federbett und sog den Geruch des verschwitzten Leintuchs tief in meine Nüstern, aber als ich wieder auftauchte, war es kaum besser.

Das Bild des toten Tieres hatte sich zwar verflüchtigt, aber der Verwesungsgestank war noch da und durch nichts zu vertreiben. Er schien genauso hartnäckig zu sein wie meine Gedanken ans Weggehen, und wenn ich nicht aufpasste, konnte es passieren, dass sie zu ein und demselben wurden, der stinkende Hirsch und der Abschied vom Dorf.

Lange konnte es nicht mehr dauern, eine Woche, einen Monat vielleicht. Manche Dinge gingen stets schneller, als man dachte. In ein paar Tagen wäre Kathrina schon nicht mehr hier, und dann hatte ich niemanden mehr, mit dem ich über die wichtigen Sachen reden konnte, über das, was hier passierte, über Abschiede und komische Träume.

Freitag in einer Woche, sagte Vater, als wir beim Abendessen saßen, und legte seinen Löffel zur Seite. Wir haben jetzt lange genug gewartet, und mit dem Transport werden wir es machen wie der Schneider und unsere Nachbarn. Es gehen ja fast alle hier, und unsere Papiere sind auch beisammen. Er strich mit Daumen und Zeigefinger über sein Bärtchen und drehte sich zu mir. Draußen im Reich, sagte er, wirst du endlich eine deutsche Schule besuchen, mit deutschen Lehrern und deutschen Büchern und deutschen Heften. Und deutschen Bänken, antwortete ich in Gedanken und hoffte, dass man dort nicht so eingezwängt saß wie bei uns.

Draußen im Reich, hatte Vater gesagt. Aber das würde dann doch wieder bei uns sein, schoss mir durch den Kopf. Überall, wo wir waren, war bei uns. Hier in unserer Wohnung, in Vor-Adelberg, im Deutschen Reich und sogar in Afrika. Das war eine eigenartige Vorstellung. Wir konnten gehen, wohin wir wollten, immer waren wir bei uns. Und wenn das für unsere Familie galt, für meine Eltern, Hanno und mich, so galt es auch für Kathrina, für die Ihren, für alle.

Aber vielleicht stimmte gar nicht, wie ich es mir dachte, wer weiß, und es war nichts als ein verunglückter Gedanke, der nirgendwohin führte. Gerne hätte ich mit Kathrina darüber geredet, ob es richtig und logisch war, was mir im Kopf herumging, aber sie war ja nicht mehr hier, nicht mehr bei uns.

Ich auch weggehen, hörte ich Hanno stottern, und Schule.