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Ein isländischer Frühling E-Book

Eva Seifert

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Beschreibung

Eine Mutter. Eine Tochter. Eine Insel. Und eine ganz besondere Reise in die Vergangenheit …

1949: Voller Vorfreude blickt Ulrike der sich nähernden Küste Islands entgegen. Wie viele junge Frauen entflieht sie dem kriegsgebeutelten Deutschland und wagt einen Neuanfang in der Ferne. Ulrike kommt bei einer isländischen Familie unter, doch das Leben auf deren Bauernhof stellt sie vor Herausforderungen …
2022: Als die letzte Schale ihres Hochzeitsgeschirrs zerbricht, ist Bärbel tieftraurig. Sie hatte das Geschirr einst mit ihrem kürzlich verstorbenen Mann von einer isländischen Handwerkerin erstanden, weshalb es ihr viel bedeutet. Tochter Katharina will Bärbel unbedingt helfen und bucht kurzerhand eine Reise für sich und Bärbel auf die Insel. Sie will die Töpferin von damals ausfindig machen! Auf ihrer Suche lernen Mutter und Tochter das raue Island kennen und stoßen auf die dramatische Geschichte einer jungen deutschen Auswanderin …

Ihnen hat »Ein isländischer Frühling« gut gefallen? Dann entdecken Sie noch weitere fesselnde Romane von Eva Seifert:
»Ein schwedischer Sommer«
»Ein Sommer unter Apfelbäumen«

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Buch

1949: Voller Vorfreude blickt Ulrike der sich nähernden Küste Islands entgegen. Wie viele junge Frauen entflieht sie dem kriegsgebeutelten Deutschland und wagt einen Neuanfang in der Ferne. Ulrike kommt bei einer isländischen Familie unter, doch das Leben auf deren Bauernhof stellt sie vor Herausforderungen …

2022: Als die letzte Schale ihres Hochzeitsgeschirrs zerbricht, ist Bärbel tieftraurig. Sie hatte das Geschirr einst mit ihrem kürzlich verstorbenen Mann von einer isländischen Handwerkerin erstanden, weshalb es ihr viel bedeutet. Tochter Katharina will Bärbel unbedingt helfen und bucht kurzerhand eine Reise für sich und Bärbel auf die Insel. Sie will die Töpferin von damals ausfindig machen! Auf ihrer Suche lernen Mutter und Tochter das raue Island kennen und stoßen auf die dramatische Geschichte einer jungen deutschen Auswanderin …

Autorin

Eva Seifert ist in Bremen geboren und aufgewachsen. Schon als Kind hat sie gern gelesen und geschrieben. Nach einem Studium der Kulturwissenschaft, Germanistik und Geschichte arbeitete sie als Lektorin in München und bekam dort all die Bücher zu lesen, die sie selbst gern schreiben wollte. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in der Nähe von Braunschweig, wo sie als freie Lektorin arbeitet und endlich auch schreibt. Sie reist für ihr Leben gern und liebt es, die Eindrücke aus den besuchten Orten in ihren Romanen zu verarbeiten.

Von Eva Seifert bereits erschienen

Ein schwedischer Sommer · Ein Sommer unter Apfelbäumen

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EVA SEIFERT

Ein isländischer Frühling

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © 2023 by Eva Seifert Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Covergestaltung und -motiv: www.buerosued.de

DK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28342-1V004www.blanvalet.de

Für meinen Mann

Juni 1949

Kalt pfiff Ulrike der Wind an Deck der Esja entgegen, und sie zog ihren dünnen, geflickten Mantel enger um sich. Sie trug einen dicken Pullover darunter, trotzdem fror sie. Doch es war ihr lieber, an der frischen Luft zu stehen, als unten in der stickigen Kabine zu hocken. Dort stand ihr alter, abgestoßener Koffer, der beinahe ihren ganzen Besitz enthielt. Dieser verfluchte Krieg hatte ihnen alles genommen. Das Haus, fast all ihr Hab und Gut, den Gemischtwarenladen ihres Vaters. Ihren Vater. Und ihre Zukunft.

Das war doch kein Leben mehr in diesem zerstörten Land! Überall Trümmer und Asche – noch immer. Dann die neue Währung, die langsam, aber sicher ihre letzten Ersparnisse auffraß. Ihre Mutter, die verzweifelt dafür kämpfte, ihre Kinder durchzubringen. Sie selbst, die jeden Tag stundenlang in der Schlange gestanden hatte, um Lebensmittelmarken zu ergattern oder ein Brot. Gut, dass sie wenigstens noch ihren kleinen Garten hatten, der ein paar Kartoffeln abwarf, Kohl, Johannisbeeren, Rhabarber und Bohnen.

Unwillkürlich schüttelte Ulrike den Kopf. Nein, das wollte sie alles nicht mehr. Diese triste, bedrückende Atmosphäre, die Menschen, die nur noch mit hängenden Schultern und gebeugten Köpfen umherliefen. Die Leere in den Blicken der heimkehrenden Männer. Dieser Hunger. Ihre Träume, die zerplatzt waren. Sie hatte studieren wollen. Ihr Vater hatte immer gesagt, dass sie klug war und es weit bringen könnte. Das alles war nun vorbei.

Als sie einige Monate zuvor die Anzeige des Isländischen Bauernverbands in den Lübecker Nachrichten gesehen hatte, hatte sie sofort gewusst, dass sie diese einmalige Chance ergreifen wollte. Arbeitskräfte in Island für die Landwirtschaft gesucht – befristet auf ein Jahr. Kost und Logis frei, hatte sie gelesen und sofort reagiert. Ganz egal, wohin, nur raus, nur weg hatte sie gewollt.

Und nun stand sie hier, an Bord des knarzenden und von den Wellen des Nordatlantiks hin- und hergeworfenen Dampfers. Sie lächelte in sich hinein. Dafür, dass Sommer war, war es zwar eiskalt, aber es konnte einfach nur besser werden als zu Hause.

»Hier bist du«, hörte sie da eine zarte Stimme neben sich.

Es war Lore, die sich ebenfalls auf die Anzeige beworben hatte, so wie alle weiteren Menschen an Bord, von denen die überwiegende Mehrheit Frauen waren.

Sie alle wollen nur fort aus Deutschland, genau wie ich.

Ulrike und Lore teilten sich mit zwei weiteren Frauen eine Kabine. Lore, mit vollem Namen Eleonore von Schwanitz, hatte einen weiteren Weg hinter sich als Ulrike. Sie kam irgendwo aus Ostpreußen, von einem großen Gutshof, aber viel mehr hatte sie ihr noch nicht von ihrer Heimat erzählt. Nur noch, dass sie ganz allein war. Sie sprach ohnehin sehr wenig und war so dünn, dass ihr Mantel um sie herumflatterte wie der einer Vogelscheuche.

Ulrike hatte Lore zum ersten Mal gesehen, als sie das Schiff in Hamburg betreten hatten. Die junge Frau mit den langen braunen Haaren, die jetzt vom Wind zerzaust wurden, trug ein zartrosa Kleid unter ihrem Mantel, das ihre schmächtige Statur noch zerbrechlicher wirken ließ. Sie war ein paar Meter vor ihr die Gangway hochgelaufen, als sich eine robuste Matrone mit einem vollgepackten Seesack an ihr vorbeigedrängelt hatte, vermutlich in der Hoffnung, eine der besseren Unterkünfte zu ergattern. Lore war gestrauchelt und hätte fast ihren Koffer verloren. In dem Moment war Ulrikes Beschützerinstinkt geweckt worden, und sie hatte Lore unter ihre Fittiche genommen, so wie sie es zu Hause mit ihren kleinen Geschwistern zu tun gepflegt hatte. In den Tagen der Überfahrt hatten sie beide sich, obwohl sehr unterschiedlich vom Wesen, miteinander angefreundet.

»Wie geht es dir?«, fragte Ulrike sanft und hielt ihren Arm so, dass Lore sich unterhaken konnte.

»Etwas besser.«

Ulrike betrachtete Lore prüfend. Sie war noch immer bleich, aber nicht mehr aschfahl wie noch ein paar Stunden zuvor, als sie selbst die Kabine verlassen hatte. Wie die meisten anderen Passagiere an Bord, war auch Lore seekrank geworden. Und zwar derart heftig, dass sie völlig außer Gefecht gesetzt worden war und alles, was an Essbarem in den vergangenen Tagen den Weg in ihren Körper gefunden hatte, wieder erbrochen hatte. Ulrike hatte Lore die ganze Zeit beigestanden. Als die neue Freundin eingeschlafen war, hatte sie die enge und von Schweiß und anderen Ausdünstungen müffelnde Unterkunft verlassen und war an Deck geeilt. Stundenlang war sie auf und ab gegangen, hatte die frische Luft genossen, tief den salzigen Duft des Meeres in sich aufgesogen und über die Wellenberge hinweg auf den Horizont geschaut, um die drohende Übelkeit, die auch bei ihr immer wieder aufkommen wollte, zu unterdrücken. Sie hatte kaum geschlafen, seit sie an Bord waren, war vollkommen erschöpft und doch freudiger Erwartung. Ein seltsames Gefühl.

»Eben hat ein Matrose angekündigt, dass Island bald in Sicht kommen müsste«, erwähnte Lore. Ulrike kniff die Augen zusammen, um vielleicht einen ersten Blick auf die Insel zu erhaschen, die für das nächste Jahr ihr Zuhause sein würde, doch sie konnte nichts entdecken. Kein Wunder eigentlich, schließlich hatte sie schon die ganze Zeit übers Meer geschaut und außer dunkelblauem Wasser, weißen Schaumkronen und grauem Himmel nichts gesehen. Jetzt fiel ihr nur auf, dass die See ruhiger war als noch wenige Stunden zuvor. »Er sagte was von steuerbord, glaube ich.«

»Wir müssen auf die andere Seite!«, rief Ulrike gegen den Wind. Sie kannte sich ein wenig mit der Seemannssprache aus, schließlich war sie an der Küste aufgewachsen. Jetzt zog sie ihre noch etwas unsicher gehende Freundin mit sich, vorbei an vielen anderen Passagieren, die sich ebenfalls nicht unter Deck aufhalten mochten, in Richtung Brücke. Auf der Steuerbordseite der Esja standen noch mehr Menschen an der Reling, doch sie fanden ein Plätzchen. »Da, da ist die Insel!« Ulrike spürte Aufregung in sich aufwallen, als sie etwas am Horizont entdeckte, das aus der Distanz wie ein kleiner graublauer Felsen im dunklen Meer wirkte. »Das muss sie sein.« Einen Moment schwiegen sie ehrfürchtig, jede in ihre Gedanken versunken. »Was uns wohl dort erwartet?«, fragte Ulrike dann.

Denn außer dass dieses Island eine Insel im Atlantik war, bis vor ein paar Jahren zu Dänemark gehört hatte und schon seit Ewigkeiten Handel mit Lübecker Kaufleuten trieb, wusste sie nichts über Land und Leute.

Lore zuckte mit den Schultern. »Das ist mir ganz gleich. Ich will nur endlich irgendwo ankommen.« Sie atmete tief durch. »Und in Ruhe gelassen werden.«

Irritiert sah Ulrike zu der Freundin hinüber, deren Blick starr auf das felsenartige Gebilde in der Ferne geheftet blieb. Lore sagte nicht viel, aber wenn, waren manchmal Aussprüche dabei, die schwierig zu deuten waren. Sie muss viel Schlimmes erlebt haben, dachte Ulrike zum wiederholten Mal und betrachtete das blasse Geschöpf neben sich genauer. Lore war sicherlich einmal eine schöne junge Frau gewesen, vor alledem. Ihre feinen Züge waren noch zu erkennen trotz der eingefallenen Wangen, trotz der grauen Schatten unter den großen braunen Augen, trotz der vernachlässigten Haare. Die schmale kleine Nase reckte sich scheinbar stolz in die Welt, Lores aufrechte Haltung stammte sicherlich von vielen Jahren preußischer Erziehung, die ihr nicht einmal Flucht und Heimatlosigkeit, Hunger und Angst, Armut und Verlust ihrer Liebsten hatten austreiben können. Und dennoch wirkte es, als könnte sie sich jeden Moment in Luft auflösen. Sie schien so hoffnungslos, hilflos, beinahe kindlich. Kaum zu glauben, dass Lore mit ihren einundzwanzig Lenzen drei Jahre älter war als sie selbst.

Gegensätze ziehen sich an, sagt man ja, das trifft auf mich und Lore in jedem Fall zu, überlegte Ulrike. Sie dunkel, ich blond – na ja, halbwegs – und blauäugig. Sie von adliger Herkunft, ich eine klassische Bürgerliche und Spross einer Kaufmannsfamilie. Sie zurückhaltend, ja beinahe schüchtern und gelegentlich ein wenig spöttisch, ich offen und fröhlich …

»Wir könnten uns langsam bereit machen, meinte der Matrose«, unterbrach Lore Ulrikes Gedanken. »Ein paar Stunden noch, dann legen wir an.«

»Bald sind wir in unserer neuen Heimat«, freute sich Ulrike und umarmte die Freundin überschwänglich.

»Ruhig, ruhig, sonst wird mir gleich wieder übel.«

Ulrike ließ Lore los. »Hat dein Matrose noch was gesagt?«

»Er ist nicht mein Matrose«, gab Lore zurück. »Aber er hat mir einen Zwieback und eine Tasse Kaffee gebracht.«

»Wie bitte? Das ist aber nett von ihm.«

»Ja, schon.« Lore zuckte mit den Schultern. »Gehört wahrscheinlich zu seinen Aufgaben.«

»Das glaube ich kaum«, widersprach Ulrike.

»Er sagte, es heißt brauð und kaffi auf Isländisch, Brot und Kaffee.«

Ulrike war verblüfft. »Ihr habt euch ja richtig unterhalten!« Unglaublich, ihre zurückhaltende Freundin schien einen Verehrer zu haben. »Habt ihr Deutsch gesprochen oder Englisch?«

»Er kann ein bisschen Deutsch.«

»Wie praktisch«, meinte Ulrike grinsend, was ihr einen strafenden Blick von Lore einbrachte. »Wie heißt er denn eigentlich?«, fragte sie schnell.

»Keine Ahnung.«

»Wie, ihr habt euch nicht einander vorgestellt?«

»Nein. Warum sollten wir?«

Ulrike schüttelte fassungslos den Kopf. »Na, weil ihr euch unterhalten habt.« Sie musste Lore unbedingt unter Menschen bringen, wenn sie erst mal in ihrem neuen Zuhause angekommen waren. Sie wusste ja überhaupt nicht mehr, wie man sich in Gegenwart anderer Menschen benahm! Hoffentlich waren sie nahe beieinander untergebracht. »Gut, Fräulein von Schwanitz, wie dem auch sei. Folgen wir dem Rat des netten namenlosen Matrosen und packen unsere Siebensachen. Und dann machen wir uns ein bisschen hübsch, bevor wir von Bord gehen. Die Isländer sollen doch schließlich einen guten ersten Eindruck von uns bekommen. Und der Matrose dich nicht so schnell vergessen!«

Sie lachte, als Lore ihr spielerisch einen Knuff versetzte, hakte sich bei ihrer Freundin ein und zog sie mit sich unter Deck.

1. Teil

1

»Meine Güte, Matteo, stehst du jetzt endlich auf? Es ist schon zwanzig nach sieben!«, rief Katharina durch die einen Spaltbreit geöffnete Badezimmertür in Richtung Kinderzimmer.

Sie war gerade aus der Dusche gestiegen und rubbelte sich eilig mit dem Handtuch ab, während ihre schulterlangen Haare tropften und feine Rinnsale auf ihrer Haut hinterließen. Musste es denn jeden Morgen so hektisch sein? Nie hatte sie genug Zeit, um mal in Ruhe zu duschen oder gar vernünftig zu frühstücken. Ihr eiliger Blick fiel durch das Fenster nach draußen, wo es noch finster war. Der Februar war nicht gerade ihr Lieblingsmonat: bis weit in den Morgen dunkel, am Spätnachmittag schon wieder und dazwischen die meiste Zeit grau.

»Ja, ja«, kam es genervt aus Matteos Zimmer zurück.

Oh, wie sie dieses »Ja, ja« hasste! Es bedeutete alles Mögliche: von »mache ich demnächst« über »mache ich vielleicht« bis zu »hab ich gerade keine Lust zu, mache ich wahrscheinlich gar nicht«.

»Du willst doch wohl auch noch frühstücken und dann nicht den ganzen Weg zur Schule rennen müssen!«, brüllte sie über den Lärm, der nun aus der Küche kam, hinweg, während sie versuchte, ihren BH zu schließen. Doch ihre Finger waren zu fahrig und die Haut zu feucht, sodass sie wieder ein paar wertvolle Sekunden verlor. »Hannes, frühstückst du schon?«, fragte sie nun in Richtung Küche und schlüpfte, auf einem wackligen Bein stehend, in ihre weiße Hose.

»Hm«, kam es zurück.

Ihr älterer Sohn war morgens schon immer muffelig gewesen, aber in letzter Zeit war er noch wortkarger geworden. Ganz im Gegensatz zu seinem Bruder, der gerne redete wie ein Wasserfall.

»Deckst du bitte noch eine Müslischüssel für Matteo? Er schafft es sonst nicht.«

»Soll er halt früher aufstehen«, hörte sie Hannes murren, registrierte dann aber erleichtert, dass er ihrer Bitte nachkam, was das Öffnen und – zu geräuschvolle – Schließen der Schranktür verriet.

Irgendwann fällt bestimmt mal das Glas aus der Vitrine, dachte sie, sagte aber nichts. Es brachte nichts, sich aufzuregen, erst recht nicht in solch hektischen Momenten. Wahrscheinlich würde es bei ihr selbst mal wieder nur für einen schnellen Kaffee reichen, und sie musste ohne einen einzigen Bissen im Magen bis zur Mittagspause durchhalten. Oder zwischen zwei Patientinnen mal schnell einen Keks oder Schokoriegel naschen, wenn sie es gar nicht mehr aushielt.

Wenn die Jungs morgens endlich fertig und aus dem Haus waren, war es auch für sie höchste Zeit loszufahren. Sie war Gynäkologin in einer Gemeinschaftspraxis, und die ersten Patientinnen standen um acht Uhr auf der Matte. Wie sehr sich Katharina doch schon wieder auf das Wochenende freute, wenn sie einigermaßen ausschlafen und entspannt in den Tag gleiten konnte. Zum Glück war schon Freitag. Da konnte sie nachmittags früher Feierabend machen und mit ein bisschen mehr Ruhe all das erledigen, was eben so zu tun war: einkaufen und Wäsche waschen und die Jungs dazu bewegen, ihre Zimmer aufzuräumen, für die Schule zu lernen oder im Haushalt mitzuhelfen.

Katharina seufzte und fuhr sich mit der Bürste durchs Haar, das nach dem Waschen mal wieder furchtbar verknotet war. Am Abend feierte ihre Mutter ihren fünfundsechzigsten Geburtstag, für einen Friseurbesuch vorher würde die Zeit nicht reichen. Zu den freitagnachmittags zu erledigenden Dingen gehörte zu ihrem Bedauern nämlich auch die Kutschiererei zum Fußballtraining. Ihre Söhne spielten im Verein – wegen ihres Alters aber natürlich nicht in derselben Mannschaft –, und sie musste sie hinfahren und später wieder abholen.

Erneut entfuhr ihr ein Stoßseufzer. Wie sehr sehnte sie sich danach, dass die zwei alt genug wurden, um selbst zum Sport, zu ihren Verabredungen oder wohin auch immer fahren zu können und sie endlich mal wieder ein wenig mehr Zeit für sich selbst hatte. Andererseits kam schon jetzt manchmal eine gewisse Wehmut in ihr auf, wenn sie daran dachte, dass es schon bald so weit sein würde, dass ihre Jungs eigene Wege gingen. Etwas Zeit war es aber noch bis dahin, sie waren erst sechs und acht Jahre alt.

Sie warf einen schnellen Blick in den Spiegel und band ihre dunkelblonden Haare zu einem lockeren Dutt zusammen. Im Aussehen kam sie nach ihrem Vater, hatte dessen braune Augen und die spitze Nase geerbt, auch sein rationales Wesen. Jede Entscheidung wurde sorgsam abgewogen, nur nie die Kontrolle verlieren. Ach, Papa. Obwohl er sehr unternehmungslustig und gesellig gewesen war, hatte er doch klammheimlich stets Angst davor gehabt, die Zügel mal locker zu lassen.

Und ich bin genauso. Warum eigentlich?

In dem Moment schob sich ein Kopf durch die Badezimmertür, und Tobias schaute herein. Er hatte kurzes braunes Haar und braune Augen wie sie, die immer eine gewisse Wärme ausstrahlten, ein Ausdruck, den sie gleich hinreißend gefunden hatte, als sie sich bei einem seiner Auftritte vor dreizehn Jahren kennengelernt hatten. Es war der Geburtstag einer Mitstudentin gewesen, deren damaliger Freund ein Kollege von Tobias war. Er hatte sie einander vorgestellt. Nach dem Gig hatten sie sich unterhalten – für den Rest des Abends. Katharina hatte erstaunt festgestellt, dass sie noch nie derart gut mit einem Mann hatte reden können. Mehr war nicht passiert, aber sie hatten Handynummern ausgetauscht. Sie hätte damals im Leben nicht für möglich gehalten, dass diese Begegnung in einer Beziehung münden würde. Schließlich musste man dafür madly in love sein, oder etwa nicht? So war das doch immer in Romanen und Filmen …

Ein Irrtum, wie Katharina inzwischen begriffen hatte. Tobias hatte nicht lockergelassen. Und bei jeder Verabredung hatten sie sich immer noch viel zu erzählen gehabt. Irgendwann waren auch bei ihr Gefühle aufgekommen, und aus der Freundschaft war Liebe geworden. Diese gemeinsame Basis des Miteinander-reden-Könnens hatte sie beide in den vergangenen Jahren schon über manch schwierige Situation gerettet.

Er ist noch immer ein hübscher Mann, registrierte sie voller Zuneigung, besonders, wenn er so frisch rasiert ist und dieses hellblau karierte Hemd trägt.

»Kati, mein Schatz«, sagte Tobias und kam ganz herein. »Ich muss los.« Er strich ihr eine vorwitzige Haarsträhne aus dem Gesicht. »Gut siehst du heute wieder aus.« Liebevoll blickte er sie an, ihre Laune besserte sich sofort.

Sie gab ihrem Mann einen Kuss und ließ ihre Wange sanft an seinem herrlich glatten Kiefer entlanggleiten. »Mmh, du riechst gut«, sagte sie genießerisch. Tobias stellte seine Tasche ab, nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich. Er fuhr mit der Hand sanft über ihren nackten Rücken und verharrte dann auf ihrem Po. »Ich wünschte, wir könnten jetzt und hier weitermachen«, murmelte er und liebkoste ihre Halsbeuge.

»Das wäre schön«, gab sie zurück.

Doch sie war nicht ganz bei der Sache, zu viele Dinge schossen ihr durch den Kopf, die Hektik des Tages hatte sie längst wieder erfasst. Eine Weile standen sie noch aneinandergeschmiegt im Bad, bemüht, für ein paar Sekunden die Geräusche um sich herum zu ignorieren, das Klappern in der Küche, Matteos Schimpfen, weil er einen Socken nicht anbekam.

Dann löste sich Tobias von ihr. »Ich muss …« Bedauernd zuckte er mit den Schultern.

Katharina nickte. »Vielleicht haben wir am Wochenende mal ein bisschen Zeit für uns. Wir sollten meine Mutter herbitten und ins Kino oder essen gehen. Nur wir beide.«

»Ja, das wäre schön«, murmelte Tobias zustimmend, doch höchstwahrscheinlich würde daraus mal wieder nichts werden, schließlich stand ein Fußballturnier an und am Samstagabend außerdem noch ein Auftritt von Tobias’ Band.

Er spielte seit seiner Jugend Kontrabass, seine Jazz-Combo Seven Sons war für die Feier eines fünfzigsten Geburtstags engagiert. Wie so oft würden sie und Tobias sich die Klinke in die Hand geben, sie sah sich selbst schon den gesamten Nachmittag in irgendeiner muffigen Sporthalle des Umlands verbringen. Tobias gab ihr noch einen Kuss und griff nach seiner Tasche.

Er war schon fast aus der Badezimmertür, als ihr noch etwas einfiel. »Vergiss nicht, dass wir heute Abend pünktlich bei meiner Mutter sein müssen!«

Tobias nickte. »Ich sehe zu, dass ich nicht zu spät zu Hause bin.«

Katharina kam spontan eine Idee. »Vielleicht könntest du dann mit Hannes zum Training fahren …« Das wäre fantastisch, dachte sie und überlegte schon, was sie in der so gewonnenen Zeit alles schaffen könnte, obwohl sie ahnte, dass es nicht dazu kommen würde.

Tobias wiegte den Kopf. »Das wäre dann um vier? Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Und dann muss ich ja auch noch für den Auftritt morgen proben …«

Es war so klar gewesen … Ohne dass sie es beeinflussen konnte, zog sich Katharinas Magen zusammen. Immer blieb alles an ihr hängen.

»Ist gut«, brachte sie müde heraus.

»Dann bis später.«

Tobias verließ eilig das Bad. Wahrscheinlich vor Angst, dass ich mit weiteren Aufgaben kommen könnte, wenn er nicht rechtzeitig den Absprung schafft, kam es Katharina in den Sinn. Enttäuscht ließ sie sich auf den Badewannenrand gleiten.

»Der verdammte Alltag bringt uns noch um«, murmelte sie und fühlte sich mit einem Mal fürchterlich erschöpft.

Doch das Tief hielt nicht lange an, denn plötzlich erscholl ein Klirren aus der Küche, gefolgt von lautem Gebrüll ihrer beiden Söhne. Irgendetwas war wieder mal zu Bruch gegangen. Die Jungs konnten einfach nicht friedlich zusammen frühstücken, sie mussten immerzu miteinander kabbeln. Hastig schlüpfte sie in ein weißes Shirt und eilte in die Küche, um für Frieden zu sorgen. Sie würde wieder mal in letzter Minute in der Praxis sein, so viel war sicher.

Bärbel stand im Bad vor dem Waschbecken, als es an der Haustür klingelte. Vor Schreck ließ sie das Seifenstück fallen, mit dem sie sich gerade einschäumen wollte. Sie bevorzugte feste Seife immer noch gegenüber diesen Flüssiglotionen aus den Spendern. Und sie bevorzugte es ebenso, ihre morgendliche Wäsche so zu verrichten, wie sie es als Kind gelernt hatte. Altmodisch eben. Nicht nur schnell unter die Dusche zu springen, wie die jungen Leute es heutzutage taten.

»Mist!«, schimpfte sie, versuchte, das glitschige kleine Ding zu erwischen, entschied sich dann aber anders und griff nach einem Handtuch.

Ganz kurz wollte sie nach ihrem Mann rufen, da fiel ihr ein, dass das nicht mehr ging. Bärbel hielt einen Augenblick inne und sah in den Spiegel, sah ihre grauen Haare, die zu einem akkuraten, schulterlangen Bob geschnitten waren, nun aber wirr in alle Richtungen abstanden. Für einen Moment war es, als spürte sie Werners Hand auf ihrer Schulter, ja, beinahe glaubte sie, sein markantes Gesicht mit der spitzen Nase und dem weißen Henriquatre-Bart im Spiegel zu erblicken. Mit dem nächsten schrillen, nun ungeduldig wirkenden Klingeln verschwand Werner.

Bärbel seufzte, während sie sich notdürftig abtrocknete und nach ihrer Brille griff. Nun sprang auch noch Gustav kläffend an ihr hoch, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass etwas im Haus passierte. Als hätte sie es selbst nicht bemerkt.

»Sei still, ich hab’s schon mitbekommen«, versuchte sie ihren schwarzen Terrier zu beruhigen.

Dies war wieder einer der Momente, in denen sie ihren Mann schmerzlich vermisste. Wie schön wäre es, wenn er jetzt die Handwerker hereinlassen könnte. Wie schön wäre es, wenn er vor einer Woche beim Installateur angerufen hätte, als die Heizung urplötzlich ausgefallen war – und das mitten im Winter. Bärbel war sich sicher, dass Werner einen früheren Termin ergattert hätte. Er hätte es bestimmt durchgesetzt, dass das vermaledeite Ding nicht ausgerechnet am Geburtstag seiner Frau repariert wurde. Wenn er die Heizung nicht sogar selbst wieder in die Gänge gebracht hätte. Schließlich war er nicht nur leidenschaftlicher Meeresbiologe, sondern auch Heimwerker gewesen. Und wie wunderschön wäre es erst, wenn sie und Werner sich gleich zu einem gemütlichen Frühstück in ihre Küche setzen und die Klempner ihre Arbeit machen lassen könnten. Ihren Geburtstag feiern – so, wie sie es am liebsten getan hatten: gemächlich in den Tag starten und anschließend zu einem Ausflug aufbrechen, wandern gehen, mit den E-Bikes die Umgebung erkunden oder vielleicht sogar mit Bertie, ihrem Wohnmobil, für ein paar Tage wegfahren, einfach irgendwohin. Sie waren wohl das gewesen, was man ein glückliches, unternehmungslustiges Paar im besten Alter nannte, und ausgerechnet jetzt, da auch sie die Rente durchhatte, war es damit vorbei.

»Nie wieder«, murmelte Bärbel traurig.

Dies war ihr Geburtstag und der zweite, den sie ohne Werner verbringen musste, und nun zerrten die Handwerker sie in aller Herrgottsfrühe aus ihrer Morgenroutine. Dabei hatte sie noch so viel zu erledigen für die Feier am Abend, wenn ihre Kinder und Enkel zum Geburtstagsessen vorbeikommen würden. Ihr war gar nicht nach Feiern zumute gewesen, doch Benjamin und Katharina hatten darauf bestanden. Sie fürchteten wohl, ihre Mutter könnte vereinsamen. Sie hatte sich breitschlagen lassen und nun verfluchte sie sich innerlich dafür. Warum hatte sie die Familie nicht in ein Restaurant eingeladen oder einen Partyservice beauftragt?

Es klingelte ein drittes Mal, diesmal ausdauernd. Gustav bellte lauter, was Bärbels Nerven nicht gerade beruhigte. Eilig warf sie sich ihren Morgenmantel über und schlüpfte in ihre Schlappen. Während sie durch den Flur hetzte, warf sie einen Blick auf die Wanduhr in der Küche. Kurz vor sieben, du meine Güte! Wollten die Handwerker nicht erst um halb acht kommen? Noch im Gehen versuchte sie mit fahrigen Fingern, den Bademantelgürtel zu schließen. Schnell noch durch die Haare …

»Schönen guten Tag, Firma Mälzer«, begrüßte sie ein Mann mittleren Alters in schwarz-roter Arbeitskleidung geschäftig. »Hermann mein Name, das ist mein Kollege Franzen.« Er schlug seinem Begleiter, einem jungen Mann mit Pickeln im Gesicht, kräftig auf den Rücken. Wahrscheinlich ein Azubi, dachte Bärbel. »Und in Ihrer Wohnung ist es kalt?«, fragte Herr Hermann. »Die Heizkörper werden nicht warm?«

»Hm«, erwiderte sie. »Kommen Sie herein. Sie kommen etwas früher als erwartet.«

»Wir sind halt von der schnellen Truppe.« Herr Hermann lachte dröhnend.

Wenn Sie beim Arbeiten genauso schnell sind, ist ja alles prima, dachte Bärbel.

Mit ihren dicken Stiefeln stapften sie über das Parkett, das Bärbel am Tag zuvor erst gesaugt und anschließend poliert hatte, direkt ins Wohnzimmer.

Herr Hermann betrachtete den ersten Heizkörper mit einem fachmännischen Blick, er drehte am Thermostat, dann am Gewinde dahinter. »Scheint nicht an den Heizkörpern zu liegen. Wär ja auch komisch, wenn alle gleichzeitig defekt wären. Wenn Sie mich mal bitte zu Ihrer Heizungsanlage führen würden?«

Bärbel nickte ergeben und schritt den beiden voran in den Keller. Hoffentlich wurde das hier keine größere Sache.

»Hier ist unser Heizungsraum.«

Bärbel schaltete das Licht an, das immer einen Moment brauchte, bis es seine volle Helligkeit erreichte. Werner hatte hier vor Jahren eine Energiesparlampe eingebaut, die einfach nicht den Dienst quittieren wollte. Na ja, so oft musste sie ja nicht in den Heizungskeller.

»Ist nicht besonders hell hier«, brummte Herr Hermann sogleich. »Junge, hol mal die Arbeitsleuchte aus dem Auto«, brüllte er seinem Kollegen zu, der oben im Flur, dem Klappern nach zu urteilen, mit Werkzeug hantierte.

Es folgte ein Schlurfen und das Öffnen der Haustür. Herr Hermann kniete sich hin, fing an, an den Reglern zu drehen und sich die Muffen anzusehen. Dann klopfte er gegen das Manometer.

»Brauchen Sie noch etwas?«, fragte Bärbel, um ein gutes Verhältnis bemüht. Wer wusste schließlich, wie lange die beiden bleiben mussten. »Einen Kaffee vielleicht?«

»Im Moment nicht, danke. Gerne aber später, wenn wir Pause machen.«

»Gut.« Bärbel nickte. »Sie finden mich oben, wenn etwas sein sollte.«

Auf der Treppe kam ihr der Azubi entgegen, mit hochrotem Gesicht und der Leuchte in der Hand. Er trat höflich zur Seite, um Bärbel vorbeizulassen.

In Erdgeschoss angekommen, schloss sie die Badezimmertür hinter sich und zog sich schnell an, so fühlte sie sich um einiges wohler und eher bereit, den Unwägbarkeiten des Tages entgegenzublicken. Etwas ruhiger ging sie in die Küche, setzte Kaffee auf. Gustav scharwenzelte um ihre Beine herum.

»Jetzt warte noch einen Moment, mein Kleiner, vielleicht bleiben die beiden gar nicht so lange. Dann drehen wir unsere Runde, wenn sie wieder weg sind.«

Ihr Terrier schien sich damit fürs Erste zufriedenzugeben und tappte zurück zu seinem Körbchen im Flur. Schließlich war es selbst für ihn noch ein bisschen früh.

Bärbel stellte einen Teller mit Brot, Butter und Marmelade auf den Esstisch aus Pinienholz in der Küche, den sie und Werner von einer ihrer ersten Wohnmobilreisen in die Toskana mitgebracht hatten. Sie hatte ihn bei einem kleinen Antiquitätenhändler entdeckt und ihn einfach nicht stehen lassen können. Auch wenn sich die anschließende Rückreise im Camper mit der sperrigen Tischplatte im Gang einigermaßen speziell gestaltet hatte. Immerhin hatten sich die Beine abschrauben lassen, und sie hatten ihn gut nach Hause transportieren können. Sie liebte das Möbelstück, das Wärme und Leben ausstrahlte und bestimmt einige Geschichten zu erzählen gehabt hätte, wenn es sprechen könnte. Auch ihr Wohnmobil könnte von einigen Abenteuern berichten, doch es stand nun seit zwei Jahren ungenutzt im Carport. Sie hatte Bertie seit Werners Tod nicht mehr angerührt. Ohnehin war immer Werner gefahren.

Nachdenklich ging sie zur Haustür und zog die Zeitung aus dem Briefkasten, lief dann zurück in die Küche.

Wie lieblos, stellte sie traurig fest. Keine Blume stand auf dem Tisch, keine frischen Brötchen verbreiteten ihren köstlichen Duft wie sonst an solch besonderen Tagen, es gab keinen Kuchen und keine Kerze, die mit ihrem wärmenden Licht das Februardunkel hätte erhellen können. Werner hätte all das besorgt, um mir ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern, dachte sie beklommen.

»Du bist jetzt eine Witwe, Bärbel Beckmann, find dich damit ab«, sagte sie und ließ sich auf einen der vier Stühle fallen. Auf einmal wurde sie von Unruhe ergriffen. »Nein«, sagte sie energisch und erhob sich erneut. »So trübsinnig kann es heute ja wohl nicht weitergehen. Komm, Gustav, wir machen unsere Morgenrunde doch jetzt schon. Und bringen uns leckere Brötchen mit.«

Neugierig hüpfte der Terrier aus seinem Körbchen und ließ sich die Leine anlegen. Bärbel schlüpfte in Winterstiefel und Jacke. Bevor sie das Haus verließen, ging sie noch mal zu den Handwerkern in den Keller.

»Können Sie schon sagen, woran es liegt?«, fragte sie vorsichtig.

»Die Ölbrennerdüse war dicht. Wir haben sie ausgetauscht. Mein Kollege prüft oben noch mal, ob alle Heizkörper warm werden.« Er erhob sich schwerfällig und ließ den Schraubenschlüssel in seine aufgeklappte Werkzeugtasche fallen.

»Aha, das ist ja prima«, entgegnete Bärbel nur.

Was bitte war eine Ölbrennerdüse?

»Wollten Sie weg?«, fragte Herr Hermann.

»Ja«, antwortete sie, »der Hund muss raus. Sie sind dann sicher gleich fertig, richtig?«

Rasch setzte sie ihren strengen Lehrerinnenblick auf, der in ihrer aktiven Zeit in der Schule noch jeden in die Schranken gewiesen hatte.

Herr Hermann nickte. »In fünf Minuten.«

»Solange können wir noch warten«, erwiderte Bärbel, während der Klempner emsig seine Sachen zusammenräumte. Sie stieg die Treppe wieder hoch und ließ sich auf die Bank an der Garderobe sinken. Gustav setzte sich vor sie und sah sein Frauchen erwartungsvoll an. »Gleich, Gustav, gleich.«

Bärbel tätschelte ihm beruhigend den Kopf, was er mit einem aufgeregten Schlecken an ihrer Hand quittierte. Nicht zum ersten Mal fragte sich Bärbel, was sie ohne diesen kleinen Gesellen, der immer freudig mit dem Schwanz wedelte, wenn sie in seiner Nähe war, bloß täte. Er sorgte dafür, dass sie regelmäßig rauskam, sich mit fremden Menschen unterhielt. Dinge, die ihr seit Werners Tod unermesslich schwerfielen.

Als sich die Handwerker kurz darauf verabschiedeten, drehte sie erst mal im ganzen Haus die Heizkörper voll auf. Es sollte schön warm sein, wenn sie und Gustav zurückkamen.

Juni 1949

»Nun komm schon!«

In aller Seelenruhe packte Lore ihr weniges Hab und Gut zusammen, was Ulrike schier in den Wahnsinn trieb. Sie war längst fertig mit allem und stand in ihrem besten Sommerkleid und mit geflochtenem, ordentlich hochgestecktem Zopf neben dem Bett, auf dem ihr gepacktes Köfferchen und der alte Mantel lagen.

Sie hatten sich an der Waschschüssel, die sich in der Kabine befand, so gut es ging, frisch gemacht. Nun wartete sie darauf, sich um Lores Haar zu kümmern, das dieser vollkommen egal zu sein schien. Endlich schloss die Freundin ihren Koffer und setzte sich aufs Bett.

»Es kann losgehen«, sagte sie widerwillig.

Ulrike strich Lore sanft über die braunen Strähnen, wie sie es bei ihren kleinen Schwestern Annelie und Mathilde immer gemacht hatte. Kurz überkam sie Sehnsucht nach den beiden Mädchen und ihrem Bruder. Friedrich war der Jüngste und in diesem Jahr sieben geworden. Als sie an ihre Mutter dachte, schossen ihr Tränen in die Augen, die sie schnell wegblinzelte.

Mama.

Wie sie wohl zurechtkam mit den drei Kleinen? Wann würde sie ihre Familie wiedersehen? Ein Jahr, es ist nur für ein Jahr, rief Ulrike sich innerlich zur Räson. Außerdem sind sie ohne dich besser dran, ein Maul weniger zu stopfen. Und du wolltest doch immer neue Länder kennenlernen!

Energisch begann sie, Lores Haare zu bürsten, trennte die Vorderpartie ab, um sie aufzuzwirbeln und gekonnt festzustecken, sodass man die Haarnadeln nicht sah. Sie nahm die Haare am Hinterkopf zusammen, schlug sie mehrmals um und steckte sie ebenfalls fest. Dann besah sie sich ihr Werk. Ja, das stand ihrer Freundin doch eindeutig besser als die langen Zotteln. Ulrike konnte sich nicht vorstellen, dass Lore früher derart nachlässig mit ihrem Äußeren umgegangen war.

Ulrike bemerkte, wie eine der beiden anderen Frauen sich die Lippen nachzog und die überschüssige Farbe anschließend mit einer Serviette abtupfte, die sie achtlos beiseitewarf. Sie hat einen Lippenstift, dachte Ulrike beeindruckt.

Lore legte die Hand auf die Tolle über ihrer Stirn, dann erhob sie sich und blickte sich im Spiegel an. »Sieht schön aus«, sagte sie anerkennend, »du bist sehr geschickt.« Für einen Moment stellte Ulrike sich vor, wie die schmächtige junge Frau früher gelebt hatte, wie sie schöne Kleider getragen und die Haare nach der neuesten Mode getragen hatte, erkannte die feine Dame von einst. Dann wandte Lore sich ruckartig um. »Aber ich brauche das alles nicht. Du solltest so etwas tragen.«

Wieder einmal war Ulrike irritiert. »Du bist älter als ich«, erwiderte sie lächelnd, woraufhin Lore abwinkte.

»Viel Glück euch«, wünschten die beiden anderen Frauen in dem Augenblick.

Ulrike bemerkte, dass draußen schon ein ziemlicher Trubel herrschte, als sie die Tür öffneten. »Danke, euch auch«, erwiderte sie und huschte, sobald sie die Kabine verlassen hatten, zu dem kleinen Tischchen mit der Leuchte, neben der die Serviette lag.

»Komm, jetzt machen wir uns noch schnell den Mund wie die beiden. Und dann lass uns auch gehen!«

Sie stellte sich vor den Spiegel und versuchte mit mäßigem Erfolg, das Rot von dem Tuch auf ihre Lippen zu drücken.

Lore beobachtete sie kritisch. »Das ist doch ekelig.«

Ulrike zuckte mit den Schultern. »Was will man machen? Ich möchte auch ein bisschen hübsch aussehen, wenn wir gleich von Bord gehen.«

Lore zog eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts weiter.

»Jetzt du.« Sie hielt Lore die Serviette hin, als sie mit dem Ergebnis halbwegs zufrieden war.

Die schüttelte jedoch den Kopf. »Nein, das mache ich nicht. Die Zeiten sind vorbei. Das bin ich nicht mehr.«

Sie nahm ihren Koffer und drängte sich an Ulrike vorbei in den Gang. Ulrike folgte ihr nachdenklich.

An Deck herrschte bereits dichtes Gedränge, doch Ulrike bahnte sich geschickt einen Weg durch die Menge – in der einen Hand fest ihren Koffer haltend, mit der anderen Lore hinter sich herziehend – und ergatterte für sie beide tatsächlich einen Platz an der Reling.

»Du, sag mal, wie viel Uhr ist es eigentlich?« Es musste längst später Abend sein, doch es war helllichter Tag.

»Zehn.« Lore schaute auf ihre feine goldene Armbanduhr, die sie offenbar trotz der Kriegswirren hatte retten können und niemals ablegte.

»Was? Es müsste doch viel dunkler sein um diese Zeit«, rief Ulrike überrascht. Sie blickte in den Himmel, der von weißgrauen Wolken bedeckt war, wodurch weder Sonne noch Mond oder Sterne zu entdecken waren.

»Im Sommer geht in Island die Sonne gar nicht unter, habe ich gehört.«

»Hat dir das auch dein Matrose erzählt?« Mit schelmischem Lächeln sah Ulrike die Freundin an. »Das ist ja verrückt!« Sie war zunehmend gespannt auf dieses seltsame Land, das so hoch im Norden lag.

Schweigend schauten Ulrike und Lore auf die Insel. Ein paar bunte Häuschen waren hinter dem Hafen von Reykjavík, der isländischen Hauptstadt, auszumachen, weiter weg Berge, ein riesiger Vulkan. Sonst gab es nichts.

»Wo sind denn die Bäume?«, fragte Lore.

Ulrike beschaute noch einmal genauer die Landschaft, doch auch sie konnte keine entdecken. »Gibt es hier etwa keine?«, fragte sie ungläubig zurück.

»Hæ!«, rief da jemand unter ihnen. Und immer wieder: »Hæ! Hæ!«

Ulrikes Blick folgte den Rufen, und sie entdeckte mehrere kleine Boote, in denen junge Männer saßen, die den Passagieren zuwinkten. Mit großen Augen sahen Lore und sie sich an.

»Was wollen die von uns?«, fragte Lore hörbar ängstlich.

»Vielleicht sind sie genauso gespannt auf uns wie wir auf sie«, antwortete Ulrike, und im Gegensatz zu ihrer Freundin erfüllte sie diese Aussicht mit unbändiger Freude.

Sie sehen uns nicht als Feinde, als Nazis, dachte sie glücklich. Wenn alle Isländer so freundlich sind, kann es hier ja nur gut werden.

Plötzlich ertönte eine Schiffsdurchsage. Wegen des Knisterns und Knackens im Lautsprecher bekamen sie nicht alles mit. Doch dann ging ein Raunen durch die Menge und sie kam in Bewegung.

»Was ist los?«, fragte Ulrike die Frau neben sich.

»Wir sollen zurück in die Kabinen gehen, wir dürfen erst morgen von Bord«, erwiderte diese schulterzuckend. »Es soll wohl erst noch eine ärztliche Untersuchung geben, bevor man uns ins Land lässt.«

»Ich kann jetzt unmöglich ins Bett gehen und schlafen«, sagte Ulrike, als die Frau weggegangen war. »Ich bin viel zu aufgeregt.«

»Außerdem haben wir bereits gepackt«, ergänzte Lore und blickte auf ihren Koffer hinunter. »Ich bleibe bei dir.«

»Danke.« Ulrike freute sich und legte den Arm um die Freundin. Dann winkte sie den jungen Männern zu, die nun Geldmünzen aufs Schiff warfen. »Warum in aller Welt tun die das?«

»Ist hier vielleicht Sitte, wenn man jemanden begrüßt.«

Sie wussten es nicht, wussten praktisch gar nichts über dieses Land und seine Gepflogenheiten. Aber das macht nichts, dachte Ulrike glücklich. Wir sind endlich da.

Noch lange standen sie und Lore und viele andere Mitreisende an der Reling, sahen auf die Männer in ihren Kähnen hinunter und in die nicht dunkel werden wollende Nacht hinaus.

Früh am nächsten Morgen wurde die Gangway ausgefahren, und nach und nach verließen die ersten Passagiere die Esja. Ulrike trat aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. Doch es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie und Lore an der Reihe waren. Sie wurden von einer Krankenschwester in Empfang genommen, die sie in eine Seitenkabine führte. Die anschließende Untersuchung war kurz und unspektakulär, und dann durften sie endlich von Bord gehen.

Ulrike konnte es gar nicht erwarten, isländischen Boden unter den Füßen zu haben. Unten an der Gangway stand ein Matrose, sie bemerkte, wie er lächelte, als er Lore entdeckte.

Sie stieß ihre Freundin an. »Guck mal, ist das etwa der nette Mann, mit dem du dich gestern unterhalten hast?«

Lore sah nur kurz auf. »Ja.«

»Er scheint sich zu freuen, dich wiederzusehen«, bemerkte sie, doch ihre Freundin zuckte nur mit den Schultern.

Ulrike konnte das nicht deuten: War Lore nur unsicher oder gleichgültig? Sie wirkte ständig, als wäre ihr alles egal. Lag es am Krieg? Hatte Lore Dinge erlebt, die sie derart hatten abstumpfen lassen? Ulrike hatte das bei Nachbarn erlebt und Bekannten, die nach dem Krieg nur noch ein Schatten ihrer selbst waren. Aber wollte man nicht gerade dann leben, wenn man all das überstanden hatte? Lieben, fröhlich sein?

Als sie bei dem Matrosen angekommen waren, hielt er Lore – wie er es bei allen Frauen machte – die Hand hin, um ihr beim Übergang von der Rampe zum Kai zu helfen. Doch den anderen hatte er nur einen guten Aufenthalt gewünscht, bei Lore hielt er inne. Er ließ ihre Hand einfach nicht los, als sie auf dem Kai stand, sodass sie ihn anschauen musste.

»Geht es Ihnen wieder besser?«, hörte Ulrike ihn in gebrochenem Deutsch fragen.

Er war ein stattlicher junger Mann mit einem markanten Gesicht und freundlich dreinblickenden Augen. Und er hatte ganz offensichtlich Gefallen an ihrer Freundin gefunden. Ulrike fand ihre Vermutung bestätigt und lächelte in sich hinein. Man könnte es ganz sicher schlechter treffen.

»Ja.« Lore runzelte die Stirn. »Danke«, schob sie hinterher.

Sie wollte weitergehen, doch der Seemann dachte nicht daran, sie ziehen zu lassen.

»Bitte, wie heißen Sie?«, fragte er, und Ulrike sah ihm an, dass ihn diese Frage viel Überwindung gekostet hatte. »Ich bin Jón«, ergänzte er eilig, »Jón Gunnarsson.«

»Lore«, erwiderte sie nur, dann wurde die Menge hinter ihr ungeduldig, jemand schob sich an ihnen vorbei. Jón gab Lores Hand frei.

»Mit vollem Namen heißt sie Eleonore von Schwanitz«, steckte Ulrike ihm mit einem Augenzwinkern, als er auch ihr die Hand reichte, um ihr auf den Kai zu helfen. »Wir sollen irgendwo im Süden untergebracht werden …«

Und damit fand sie sich schon in dem Gang wieder, der sich zwischen den Reportern und Fotografen, die sicherlich für die isländische Tageszeitung arbeiteten, gebildet hatte.

»Du meine Güte, was für ein Aufgebot«, sagte Lore kopfschüttelnd. Ihr war die Aufmerksamkeit sichtlich unangenehm, denn sie beschleunigte ihre Schritte, genauestens darauf bedacht, niemandem zu nahe zu kommen. »Du hättest es ihm nicht sagen müssen«, schickte sie über die Schulter hinterher. »Ich bin nicht hergekommen, um ein Techtelmechtel anzufangen.«

In einer kleinen Baracke zeigten sie ihre Papiere vor und wurden erneut genauestens gemustert.

»Als wären wir auf einem Heiratsmarkt«, murmelte Lore. Ulrike nickte amüsiert, die Frau neben ihr kicherte.

»Was meint ihr wohl, warum wesentlich mehr Frauen als Männer auf der Esja waren?«, erklärte sie fröhlich. »Sie zeigen schon ein ordentliches Interesse an uns, die isländischen Männer.« Sie zuckte mit den Schultern. »Könnte schlimmer sein«, ergänzte sie augenzwinkernd.

Lore zog die Augenbrauen hoch, und auch Ulrike war verdattert. Sie wollte hier ein Jahr lang arbeiten, mal rauskommen, ein bisschen Geld verdienen, aber sich doch nicht verkuppeln lassen!

Mit ihren Reisedokumenten war alles in Ordnung, und sie verließen die Baracke wieder. Hinter der Hafenanlage war es nicht viel ruhiger, aber die Leute, die hier standen, um einen Blick auf die Neuankömmlinge zu erhaschen, waren zurückhaltender. Hier hielten sich auch viele Frauen und Kinder auf, alle wirkten gut genährt und gekleidet. Ulrike entdeckte kleine bunte Häuschen, die sich wie an Schnüren schmale Straßen entlanghangelten. War das alles? Die Hauptstadt wirkte sehr klein, viel kleiner als Lübeck, die stolze Hansestadt, mit ihren – ehemals – prächtigen Bürger- und Speicherhäusern an der Trave, dem stattlichen Holstentor und den hohen Kirchtürmen. Aber sie hatte ja auch noch nicht allzu viel gesehen. Sie brannte darauf, die Stadt und dieses unbekannte Land genauer zu erkunden.

Bevor sie in die bereitstehenden Busse stiegen, hielt Ulrike einen Moment inne. Sie ließ die anderen Esja-Passagiere an sich vorbeiziehen und sog die klare isländische Luft tief in sich ein. Das war er nun also, der Inselstaat im Nordmeer. Ihre Heimat für die kommenden zwölf Monate. Ihr ganz eigenes Abenteuer.

»Komm endlich!« Nun zerrte Lore sie hinter sich her. »Sonst bekommen wir keinen Platz mehr nebeneinander im Bus.«

Ulrike folgte der Freundin ungewohnt schweigsam. Sie hätte gerne noch mehr Eindrücke in sich aufgesogen, aber das musste warten.

Sie wurden zu verlassenen Baracken der Briten am Hafen gebracht, die zu einem provisorischen Hotel umfunktioniert worden waren. Dort sollten sie die folgende Nacht verbringen. Man hatte eine Art Kleiderkammer eingerichtet, aus der alle Ankömmlinge sich bedienen konnten.

Sie wussten, dass wir bettelarm sind, und haben für uns gesammelt!

Ulrike war gerührt und mochte sie schon jetzt, die Isländer. Sie stockte ihren Vorrat an warmer Kleidung auf, denn sie hatte längst bemerkt, dass die Sommertage in Island nicht annähernd so warm waren wie in Lübeck. Wie mochten da erst die Winter aussehen? Ihre eigenen Sachen würden mit Sicherheit nicht ausreichen!

Anschließend schlenderten sie und Lore durch Reykjavík – tatsächlich ein nur kleiner Ort mit wenigen Lebensmittelgeschäften und einem Café. Auffällig war, dass die Jugendlichen viel selbstbewusster, fröhlicher und auch fortschrittlicher wirkten. Eine andere Welt. Ulrike kam sich altbacken vor mit ihrem hochgesteckten Zopf, noch am Abend nahm sie sich eine Schere und schnitt ihn knapp über den Schultern ab. Sie drehte sich vor dem Spiegel im Schrank des winzigen Zimmers, das sie sich mit Lore teilte, hin und her. Es gefiel ihr, wie sich ihre nun kürzeren Haare aufbauschten. Ihre Locken hatte sie immer als lästig empfunden und durch Flechten zu bändigen versucht, aber nun mochte sie sie. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Ihr Gesicht wirkte viel ausdrucksstärker. Sie schmunzelte. Sagte man nicht, dass, wenn sich im Leben einer Frau etwas veränderte, man dies an ihrem Haarschnitt sah? Genauso ist es, befand Ulrike, ein Neuanfang mit Haut und Haar.

Am nächsten Tag ging es endlich weiter. Ulrike und Lore saßen dicht gedrängt mit zwei weiteren Frauen in einem Auto, ein Fahrer sollte sie auf ihre Höfe bringen. Mehr als dass sie in Suðurland – einer Region im Südteil der Insel – eingeteilt waren, hatte man ihnen bei der Bewerbung nicht gesagt. Sie hatten allerdings ein kleines Handbuch über Island bekommen, das einen Abschnitt mit einem Wörterbuch Isländisch-Deutsch enthielt. Es lag auf Ulrikes Schoß, doch sie konnte jetzt nicht hineinsehen. Ihr Blick war gefesselt von der Landschaft, die an ihnen vorbeizog, sie war an Kargheit nicht zu überbieten. Noch nie hatte sie so eine Gegend gesehen. Rechts und links der holprigen Straße – gerade mal ein besserer Schotterweg – befanden sich nur graubraune Gesteinsfelder, seit sie Reykjavík verlassen hatten, hin und wieder ein niedriger Berg. Wovon leben die Menschen hier?, fragte sie sich. Hier war doch nichts.

Als sich das Auto auf eine Anhöhe gearbeitet hatte, hielt der Fahrer, ein junger Mann, am Straßenrand an. Eine weite Ebene erstreckte sich unter ihnen.

»Hveragerði.« Er zeigte in die Ferne, und sie reckten alle die Hälse. Tatsächlich, unter ihnen lag ein Dorf, mehr eine Ansammlung von Häusern, ein paar Landwirtschaftsbetriebe gab es anscheinend auch. Die Ebene war grün, ganz anders als der Landstrich, den sie zuvor passiert hatten. Und man konnte das Meer sehen! Ulrike konnte ihr Glück kaum fassen. Der Fahrer zeigte nun weiter nach links, wo es dampfte. »Hverir, das sind heiße Quellen«, erklärte er stolz in gebrochenem, aber verständlichem Englisch.

Neugierig wandten sich alle zum linken Fenster, um dieses Phänomen in Augenschein nehmen zu können.

»So was habe ich noch nie gesehen …«

Ulrike staunte ehrfürchtig, sie sprach ebenfalls Englisch, damit auch der Fahrer sie verstand. Sie empfand es als unendlich erleichternd, dass die Isländer, die sie bisher getroffen hatte, Englisch sprachen, und sie die Sprache auch ein bisschen beherrschte. Ihr Vater hatte es immer für wichtig gehalten, dass seine Kinder eine gute Bildung erhielten und Sprachen erlernten. Kein Wunder, er war schließlich ein Geschäftsmann gewesen und Lübeck durch gute Handelskontakte schon zu Hansezeiten eine weltoffene Stadt. Das hatte jedoch ein jähes Ende genommen, als die Nazis die Macht ergriffen hatten.

Ach, Papa … Warum das alles?

Noch in den letzten Kriegstagen, im März 1945, hatte Hans Petersen sein Leben an der Front lassen müssen. Bereits drei Jahre zuvor hatte Lübeck im Bombenhagel gebrannt. Die gesamte Lübecker Altstadtinsel hatten britische Bomber dem Boden gleichgemacht – und somit ihr schönes Haus an der Trave auch. Nur das Ladenlokal im Erdgeschoss war stehen geblieben. Und in diesem einen Raum hatten sie seitdem gehaust. Es war ein Wunder gewesen, dass sie und ihre Familie in der Bombennacht nicht zu Hause gewesen waren. Sie waren zum Bruder ihrer Mutter nach Schönberg, das etwa zwanzig Kilometer östlich von Lübeck lag, aufs Land gefahren. Das hatte ihnen mit großer Sicherheit das Leben gerettet. Sie hatten von dort aus die Explosionen gehört und den Feuerschein über ihrer Heimatstadt gesehen. Ein Anblick, den sie niemals vergessen würde. Ulrike blinzelte eine Träne weg und konzentrierte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Hier und Jetzt.

»Achtung, die Quellen sind wirklich sehr heiß!«, warnte der junge Mann. »Aber man kann ein gutes Bad nehmen, da, wo sich das heiße Wasser mischt mit dem kalten Wasser aus dem Fluss.«

Er lachte, als er in ihre vier ungläubigen Gesichter sah. Ein warmes Bad, direkt aus der Natur? Darauf war Ulrike nun besonders gespannt. Er steuerte das Auto wieder auf die Straße und fuhr weiter.

Direkt am Ortsrand von Hveragerði wurde eine ihrer Mitfahrerinnen, Louise hieß sie, abgesetzt. Sie hatte während der Fahrt erzählt, dass sie gelernte Gärtnerin war, und so war es nicht verwunderlich, dass sie vor einem Betrieb von zwei Männern in Empfang genommen wurde. Ulrike sah lange Felder mit Reihen von Kohlköpfen und anderen Pflanzen, die sie nicht identifizieren konnte. Der Fahrer holte Louises Gepäck aus dem Kofferraum, und die junge Frau ging mit den Männern ins Haupthaus, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Danach kamen sie über eine stattliche Brücke, die einen reißenden breiten Fluss überspannte.

»Ölfusá«, erklärte ihr Fahrer und zeigte auf den Strom.

Er hatte sich ihnen vorgestellt, doch sein Name hatte so fremd geklungen, dass Ulrike ihn nicht richtig verstanden hatte. Überhaupt schien Isländisch ganz anders zu sein als Deutsch. Allein die seltsam aussehenden Extrabuchstaben …

Wenig später hielten sie ein weiteres Mal, diesmal an einem flachen Gebäude, das aussah wie ein kleines Lebensmittelgeschäft. Neben dem Eingang standen ein paar Milchkannen. Es schlossen sich etliche Häuser an. Dieser Ort schien größer zu sein. Vielleicht war er so etwas wie das Zentrum dieser Gegend. Hier konnte man sich bestimmt wohlfühlen.

»Wie heißt der Ort?«, fragte Ulrike.

»Selfoss. Wichtig. Kaupfélag. Hier kann man einkaufen. Auch eine Molkerei ist hier.«

Ulrike nickte versonnen und betrachtete die Siedlung umso genauer. Weit konnte es jetzt nicht mehr zu Lores und ihrem Hof sein, wenn sie hier einkaufen würden. Doch damit irrte sie sich. Sie folgten noch eine ganze Weile der Straße, vorbei an endlos scheinenden Wiesen. Immer weniger menschliches Leben war zu entdecken, nur hin und wieder passierten sie einen Bauernhof oder einen Abzweig, der auf eine Behausung schließen ließ. Dafür wirkte die Landschaft nun etwas sanfter und der Boden fruchtbarer als zu Beginn ihrer Fahrt. Auf einer lang gestreckten Weide, die zu keiner Seite von einem Zaun umfasst war, entdeckte Ulrike eine Pferdeherde. Waren das etwa Wildpferde?

»Schau mal«, rief sie Lore zu, deren Augen sich sehnsüchtig weiteten.

»Ponys«, stellte Lore fest. »Die sehen niedlich aus mit ihrer langen, dichten Mähne und dem flauschigen Fell …«

»Keine Ponys«, kam es vom Fahrer, der vehement den Kopf schüttelte. »Beste Pferde sind das. Sie leben nur hier«, sagte er.

Fragend sahen die Frauen sich an. Das sollten richtige Pferde sein, die es zudem nur hier gab?

Lore zog die Augenbrauen hoch und blickte ein wenig spöttisch drein. Ulrike wurde aus der Freundin nicht recht schlau. Mal war sie schüchtern wie ein kleines Mädchen, dann wieder kehrte sie die Gutsherrin heraus.

»Kannst du reiten?«, fragte Ulrike Lore leise.

»Selbstverständlich. Wir hatten Trakehner. Edle, elegante Pferde. Wir konnten nur zwei Tiere auf der Flucht mitnehmen, haben unseren Wagen gezogen.« Lore senkte die Stimme ebenfalls. »Mit den anderen haben die Russen dasselbe gemacht wie mit den Menschen, die sie noch in den Dörfern erwischt haben.« Mit leerem Blick sah sie aus dem Fenster. »Sie haben sie abgeschlachtet. Oder mitgenommen.«

Ulrike bemerkte, dass der Fahrer im Rückspiegel nach hinten sah. Ob er den Stimmungswechsel im Wagen mitbekommen hatte?

»Ihr reitet?«, fragte er.

Minna, die zweite ihrer Mitfahrerinnen, und sie selbst schüttelten den Kopf, Lore erwiderte nichts, blickte nur stumm aus dem Fenster.

»Sie reitet«, antwortete Ulrike an ihrer statt und zeigte auf ihre Freundin, denn sie wollte nicht unhöflich sein.

»Gut.« Ihr Fahrer nickte zufrieden. »Ihr könnt es alle hier lernen.«

Sie hielten an einer Kreuzung, an der Minna mit ihrem Koffer das Auto verließ, sie wurde von einem wartenden Pferdewagen abgeholt. Lore und Ulrike klammerten sich aneinander.

»Hoffentlich haben sie uns nahe zusammen untergebracht«, flüsterte Lore.

»Bestimmt. Schließlich sind wir die beiden Letzten in diesem Wagen.«

Sie kamen an einen weiteren Fluss, etwas schmaler als die Ölfusá, jedoch führte über diesen nur eine wacklige Brücke aus rostigen Metallpfeilern und nicht sehr vertrauenerweckenden Holzbohlen. Ulrike schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass ihnen niemand entgegenkam. Unter ihnen jagte das Wasser brodelnd und schäumend über Stromschnellen, die Bohlen knarzten bedenklich. Der Fahrer brachte den Wagen jedoch ruhig und sicher ans andere Ufer.

»Þjórsá«, sagte er lachend, als er ihre vor Angst geweiteten Augen im Rückspiegel sah.

»Th-jors-au.« Ulrike versuchte, den Namen des Flusses zu wiederholen, was ihr nur ein Grinsen von vorne einbrachte.

»Euer Fluss ist das. Ihr wohnt in der Nähe.«

»Werden wir dicht beieinanderleben?«, fragte sie den Mann.

»Auf Nachbarhöfen.«

»Wir sind Nachbarn? Das ist ja wunderbar!«

Ulrike fiel Lore in die Arme. Doch ihr begann zu dämmern, dass Nachbarschaft in Island möglicherweise nicht das Gleiche bedeutete wie in Deutschland, wenn sie die Entfernungen zwischen den Höfen so betrachtete. Egal, sie würde ihre Freundin mehr oder weniger bei sich haben.

Unendlich scheinende Wiesen in allen Grüntönen wechselten sich ab mit vereinzelten Ackerflächen. Manchmal entdeckte Ulrike ein paar Schafe oder auch die kleinen Pferde. Auch Bäume sah man inzwischen dann und wann – fast nur Birken. Die meisten dienten als Umfriedung von Gehöften, vermutlich auch als Windschutz. Denn der Wind blies unablässig, man konnte ihn sogar ums Auto heulen hören.

»Kaum Feldfrüchte«, murmelte Lore, »überall nur Gras. Für Heu wahrscheinlich. Hier und da ein paar Kartoffel- und Rübenpflanzen. Fast kein Getreide. Der Boden scheint nicht viel herzugeben.«

Ulrike folgte Lores Blick zu den versprenkelten Feldern. Zum ersten Mal, seit sie in Island angekommen waren, wurde ihr bewusst, dass sie nur sehr wenig von Landwirtschaft verstand. Sie waren ab und zu bei den Großeltern auf dem Hof in Schönberg gewesen, den inzwischen der Onkel mit seiner Familie weiterführte, aber da hatte sie dann mit den kleinen Kälbern gespielt oder Eier eingesammelt und auch mal beim Melken geholfen. Sie konnte wahrlich nicht von sich behaupten, es zu können. Und sie hatte sich vorgenommen, auf einem Bauernhof zu arbeiten … Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Sie wurde von einer Unsicherheit erfasst, die sie von sich gar nicht kannte.

»Hattet ihr Gemüse bei dir zu Hause?«, fragte Ulrike ihre Freundin, um sich abzulenken.

Lore antwortete nicht sofort, blickte nur stumm aus dem Fenster. Als Ulrike sich schon wieder abwenden wollte, sprach sie doch noch, aber ohne aufzusehen.

»Wir hatten große Felder, viel größer als die Ackerflächen hier. Vor allem Getreide: Weizen, Hafer, Gerste … sanfte grüne Hügel, prächtige Gutshäuser mit Säulen vor den Eingängen und Stuck über den Fenstern. Lange Alleen mit knorrigen alten Bäumen, die zu ihnen hinführten …« Lores Kopf sank gegen das Fenster, es schien, als träumte sie. Ruckartig setzte sie sich jedoch wieder auf, strich sich eine Strähne, die sich aus ihrem Haar gelöst hatte, aus dem Gesicht. »Egal«, sagte sie tonlos. »Vergangenheit, vorbei. Sehen wir in unsere Zukunft.«

Doch Lore wirkte nicht, als ob sie ihre Zukunft freudig erwartete, sondern eher, als ob sie sie über sich ergehen lassen würde.

»Hör mal …«, setzte Ulrike an, denn sie hatte das Gefühl, der Freundin unbedingt noch etwas mitgeben zu müssen, bevor sich ihre Wege vorerst trennten. Und tatsächlich bogen sie genau in dem Moment von der Straße auf einen Feldweg ab. Nun schaukelte der kleine Wagen noch mehr hin und her. »Ich weiß, dass du von zu Hause flüchten musstest, ich kann mir vorstellen, dass das entsetzlich war. Sehr vielen Menschen ist im Krieg Schreckliches geschehen. Wir haben auch alles verloren.« Sie hielt inne, strich Lore sanft über den Arm. »Aber jetzt geht es aufwärts, bestimmt. Gib dir und diesem Land eine Chance! Bisher sind alle sehr nett und zuvorkommend zu uns gewesen. Lass nicht die Schatten der Vergangenheit dein Leben bestimmen.«

Eine steile Falte bildete sich auf Lores Stirn, sie schien zu überlegen, nickte, straffte die Schultern. »Wahrscheinlich hast du recht, Fräulein Petersen. Ich werde versuchen, zu vergessen und neu anzufangen.«

Sie lehnte sich an Ulrikes Schulter, und so fuhren sie weiter. Auf den letzten Metern wären sie beinahe noch eingenickt, hätte sie nicht ein Schlagloch ordentlich durcheinandergeschüttelt.

»Helvíti«, fluchte ihr Fahrer und verlangsamte das Tempo.

Das Wort hieß Hölle, das hatte Ulrike schon gehört und sich übersetzen lassen.

Ulrike öffnete die Augen wieder. Zu ihrer Rechten erstreckte sich ein See, und vor ihnen kam auf einer leichten Anhöhe ein Bauernhof in Sicht, der aus drei Gebäuden bestand, die hufeisenförmig angeordnet waren. Sie richtete sich auf, als sie langsam die Auffahrt hinauffuhren. Das linke Gebäude war das größte, es schien das Wohnhaus zu sein. Daran schloss sich im rechten Winkel ein länglicher Flachbau an, vermutlich ein Stall, ganz rechts befand sich anscheinend die Scheune, denn davor stand ein hölzerner Heuwagen. Das Ensemble war mit gelbem Wellblech verkleidet, rote Rahmen zierten die Fenster des Wohnhauses, die ebenfalls roten Dächer leuchteten in der vorsichtig hervorblitzenden Sonne. Es schien sich an die dahinter liegenden Felsenhügel anzuschmiegen. Der Hof wirkte ein wenig in die Jahre gekommen, aber gepflegt.

»Velkomin auf Guðmundarstaðir«, sagte ihr Fahrer. »Das ist dein Zuhause für das kommende Jahr, Ul-ri-ke.«

Er hat Schwierigkeiten, meinen Namen auszusprechen, bemerkte sie belustigt. Wobei sie sich seinen Namen ja überhaupt nicht hatte merken können. Wie unangenehm. Egal, sie würde den Mann ja höchstwahrscheinlich nie mehr wiedersehen.

Dann hielt er an, stieg aus und öffnete die Tür auf Ulrikes Seite. Mit steifen Beinen von der langen Fahrt kletterte sie aus dem Wagen. Sie hatte gehofft, dass dies ihr Hof sein würde, als sie zum ersten Mal einen Blick auf ihn hatte werfen können, und konnte sich nun nicht sattsehen. Zum Glück tat ihr auch der Himmel einen Gefallen, er schob die grauen Wolken immer mehr zur Seite. Von der Anhöhe schien der Blick endlos. Er glitt über flaches grünes Land bis zum Meer, das sich in der Ferne erahnen ließ. Langsam drehte Ulrike sich um sich selbst, die Hand zum Schutz über den Augen vor dem ungewohnt hellen Licht. Die Wolken wurden vom Wind in einer rasend schnellen Geschwindigkeit über sie hergetrieben. Weiter hinten erkannte Ulrike einen Fluss. Ob es der mit dem unaussprechlichen Namen war, den sie zuvor überquert hatten? Irgendwie scheinen auf Isländisch alle Namen schwierig auszusprechen zu sein, überlegte sie. Hoffentlich würde sie es schaffen, diese Sprache zu erlernen! Vom Flussufer zog sich eine Hügelkette hinter dem Hof entlang, die unten am See abflachte. Dahinter schloss sich ein weiterer See an. Und ganz, ganz weit weg erhob sich vor dem nun klaren hellblauen Himmel ein stattlicher dunkler Berg, auf dessen Gipfel es weiß leuchtete.

Schnee. Jetzt im Juni!

»Die Hekla«, erklärte ihr Fahrer. »Ein Vulkan. Er ist 1947 zuletzt ausgebrochen.«

»Ich wohne in der Nähe eines Vulkans?«, wiederholte Ulrike ungläubig. »Eines derart aktiven noch dazu?«

Mit einem Mal wirkte die Gegend gar nicht mehr so idyllisch wie noch einen Moment zuvor. Auch Lore sah sich erschrocken um. Ulrike fürchtete, dass sie am liebsten direkt die Heimreise antreten würde.

Ihr Gegenüber hingegen grinste. »Die Hekla bricht nicht oft aus. 1913 das vorletzte Mal.« Ulrike rechnete schnell nach, während er auf den hinteren Autoreifen stieg, um ihren festgeschnürten Koffer vom Dach zu holen. Er nahm auch Lores herunter und stellte ihn in den inzwischen frei gewordenen Kofferraum. Das war ein Abstand von über dreißig Jahren. Irgendwie beruhigte sie das nicht im Geringsten. »Wir merken, wenn sie unruhig wird, keine Sorge. Komm«, er nahm Ulrikes Koffer und bedeutete ihr, zum Haus zu gehen. »Es ist schön hier.«

Nun war also der Moment des Abschieds von ihrer Freundin gekommen. Den Tränen nahe, umarmten sie sich.

»Wir sehen uns bald wieder, ganz bestimmt«, sagte Ulrike.

Lore nickte. »Alles Gute dir«, flüsterte sie.

Wieder machte Ulrike sich Sorgen um ihre zierliche Gefährtin. Hoffentlich kommt sie zurecht, dachte sie.

»Dir auch«, erwiderte sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Der nette Fahrer begleitete sie zur Haustür, wohl weil sie, im Gegensatz zu Louise und Minna, von niemandem empfangen wurde. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Lore wieder ins Auto stieg. Ganz verloren wirkte sie.

»Warum hat der Vulkan einen Frauennamen?«, fragte Ulrike.

Der Mann verstand kurz nicht, doch dann trat wieder das verschmitzte Lächeln in sein Gesicht, das er im Laufe der Fahrt schon so oft gezeigt hatte.

»In Island sind alle Vulkane weiblich.«

Er zwinkerte ihr zu, und Ulrike konnte nicht verhindern, dass sie von seiner guten Laune angesteckt wurde. Es steckte ein wahrer Schelm in ihm.

Schade eigentlich, dass er gleich mit Lore weiterfahren wird.

Als sie bei der Haustür angekommen waren, die im selben Rot gestrichen war wie das Dach und die Fensterumrahmungen, öffnete er einfach die Tür und trat ins Innere, ohne eine Einladung zum Hineingehen abzuwarten. Unschlüssig blieb Ulrike im Eingang stehen. Ihr Begleiter rief etwas auf Isländisch in den leeren Raum, woraufhin sich eine Tür an der gegenüberliegenden Wand öffnete und eine gebeugt gehende ältere Frau in farbenfroher Tracht – rotes Leibchen über weißer Bluse und rot-blau karierte Schürze über einem schwarzen Rock – hindurchtrat. Hat sie sich für mich so schick gemacht?, überlegte Ulrike und kam sich mit einem Mal schmuddelig vor in ihrem lange nicht gewaschenen, viel zu leichten Sommerkleid und dem geflickten Mantel.

»Das ist Aldís«, stellte der Fahrer Ulrike die Frau vor, deren langes graues Haar zu einem Zopf geflochten war. Er hing über ihrer linken Schulter. Ihre dunkelbraunen Augen betrachteten Ulrike aufmerksam, aber freundlich.