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Eine Gruppe Freundinnen, die selbst in schweren Zeiten fest zusammenhält, und eine Spurensuche in Pommern, die eine alles verändernde Wahrheit ans Licht bringt …
Marlene liebt die wohltuenden monatlichen Frühstückstreffen mit ihren Freundinnen, denn die in Scheidung lebende Single-Mutter trägt im Alltag viele Sorgen: Ihre eigene Mutter Editha wird zunehmend senil und verliert sich immer öfter in düsteren Kindheitserinnerungen an ihre Flucht aus Ostpommern im Jahr 1945. Marlene, die von den frühen Erlebnissen Edithas bislang nichts wusste, beschließt auf Spurensuche zu gehen. Unterstützt von ihren Freundinnen, reist sie nach Pommern. Was sie dabei in Erfahrung bringt, wird sie tief berühren und nicht nur ihre Beziehung zu Editha für immer verändern …
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»Ein isländischer Frühling«
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Seitenzahl: 479
Veröffentlichungsjahr: 2024
Marlene liebt die wohltuenden monatlichen Frühstückstreffen mit ihren Freundinnen, denn die frisch getrennte Single-Mutter trägt im Alltag viele Sorgen: Ihre eigene Mutter Editha wird zunehmend senil und verliert sich immer öfter in düsteren Kindheitserinnerungen an ihre Flucht aus Hinterpommern im Jahr 1945. Marlene, die von den frühen Erlebnissen Edithas bislang nichts wusste, beschließt auf Spurensuche zu gehen. Unterstützt von ihren Freundinnen, reist sie nach Pommern. Was sie dabei in Erfahrung bringt, wird sie tief berühren und nicht nur ihre Beziehung zu Editha für immer verändern …
Eva Seifert ist in Bremen geboren und aufgewachsen. Schon als Kind hat sie viel gelesen und geschrieben. Nach einem Studium der Kulturwissenschaft, Germanistik und Geschichte arbeitete sie als Lektorin in München und bekam dort all die Bücher zu lesen, die sie selbst gern schreiben wollte. Heute lebt sie mit ihrem Mann, ihren drei Kindern und dem Familienhund in der Nähe von Braunschweig, wo sie endlich ihren Traum leben und Autorin sein darf.
Sie reist für ihr Leben gern und liebt es, die Eindrücke aus den besuchten Orten in ihren Romanen zu verarbeiten.
Ein schwedischer Sommer · Ein Sommer unter Apfelbäumen ·Ein isländischer Frühling
Eva Seifert
Ein Geheimnis im Pommern
Roman
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Originalausgabe 2024 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Copyright © 2024 by Eva Seifert
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover Redaktion: Angela Kuepper
Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de
DK· Herstellung: sam
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-28343-8V003
www.blanvalet.de
Für alle,die vor etwas auf der Flucht sind,sei es im Inneren oder Äußeren.Für alle,die etwas zurückgelassen haben,im Herzen oder in der Heimat.Für alle,die auf der Suche sindnach dem richtigen Weg.
Undfür Sigrid
Schweißgebadet wachte Editha auf. Wo bin ich? Zu Hause, in Blumenwerder? Ist das Mutter, die in der Küche mit den Töpfen klappert? Was mache ich hier? Aber das ist doch nicht richtig …
Hektisch blickte sie sich um. Erkannte nach und nach die weißen Wände durch den schwachen Lichtspalt, der zwischen den schweren Vorhängen ins Zimmer fiel, den raumhohen Schrank, ihren Lieblingssessel, den kleinen Tisch. Langsam beruhigte sie sich, atmete tief durch.
»Es ist alles gut, du bist in deinem Bett im Seniorenheim«, sagte sie sich, blinzelte und rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. Die dritte Nacht in Folge hatte sie nun schon diesen Traum gehabt. Als junge Frau hatte sie lange mit Albträumen zu kämpfen gehabt, doch irgendwann hatten sie aufgehört. Sollte das Ganze wieder losgehen? Warum jetzt, wo sie alt war?
Doch dieser Traum war ganz anders gewesen als die früheren: Sie wurde von einer Granate verfolgt. Sie rannte und rannte, doch das Geschoss blieb immer hinter ihr – mit gleichbleibendem Abstand. In ihrem Elternhaus versteckte sie sich hinter dem Sofa und wartete auf den Einschlag, die Explosion, aber nichts dergleichen geschah. Alles, was folgte, war ein seltsames Geräusch, irgendetwas zwischen Klingen und Poltern, als der mit todbringender Fracht versehene Hohlkörper zu Boden fiel. Vorsichtig kam sie in ihrem Traum aus dem Versteck heraus und sah die Granate vor sich auf dem Boden liegen. Qualmend und noch leise zischend, aber nicht explodiert.
»Ich verstehe nicht, was das soll.« Kopfschüttelnd versuchte Editha sich aufzusetzen. Es schien, als würden jegliche Bewegungen von Tag zu Tag anstrengender werden. Doch sie biss die Zähne zusammen und sammelte all ihre Kräfte, um die schwachen Muskeln zu aktivieren. Sie war noch nie jemand gewesen, der schnell aufgab. Sie schlüpfte in ihre vor dem Bett stehenden Pantoffeln, wobei der rechte Fuß augenblicklich gehorchte, nur der linke wieder Probleme machte. Sie behalf sich, indem sie mit dem rechten den linken nach vorne schob. »Das reinste Elend«, murmelte sie, zog den Rollator heran und schlurfte darauf gestützt zum Fenster hinüber, schob die Vorhänge im Schneckentempo beiseite, ließ das fahle Licht der Morgensonne herein. Einen Moment sah sie aus dem Fenster in das graue Nichts, weiter unten war mehr Bewegung. Autos brummten vorüber, Menschen mit Regenschirmen hasteten von einem Ort zum anderen.
Ihr Blick wanderte zur Uhr, ah, gleich würde jemand kommen, um ihr beim Ankleiden unter die Arme zu greifen, hoffentlich war es diese nette junge Pflegerin, deren Namen sie immer vergaß. Die anderen waren eher schmallippig und auch ein bisschen ruppig. Diese nahm sich hingegen einige Minuten mehr Zeit, sprach ein paar Worte mit ihr – zwar mit leichtem Akzent, denn sie kam aus Polen, aber das war nicht schlimm –, machte ihr das Haar und summte dabei oft ein Liedchen, das aus unerfindlichen Gründen etwas in Editha anrührte. Sie hatte sie mal gefragt, um welches Lied es sich handele, aber den Titel nicht behalten können. Noch einmal mochte sie nicht fragen. Dann würde sie womöglich als senil dastehen, undenkbar! Die Pflegerin kam aus der Nähe von Bromberg – das heute natürlich ganz anders hieß –, hatte sie irgendwann erzählt. Nicht sehr weit weg von ihrer alten Heimat.
Seit dem Gespräch musste Editha hin und wieder über früher nachdenken. Hatten seitdem auch die Träume angefangen? Sie konnte es nicht sicher beantworten. Aber es war und blieb seltsam, dass sie so plötzlich aufgetaucht waren.
Ächzend ließ Editha sich in den Ohrensessel sinken, versetzte sich zurück in die gute Stube von Blumenwerder. Einen kleinen Moment nur. Der Kachelofen, an dem sie so gerne gesessen und sich den Rücken gewärmt hatte, der große dunkle Schrank, das Sofa, gegenüber die Standuhr. Sie hatte ihr als Kind immer ein bisschen Angst eingeflößt mit ihrem lauten Schlagen. Die Granate aus ihrem Traum war genau zwischen Couch und Uhr liegen geblieben. Wie die Male davor auch. Warum? Aber sie selbst versteckte sich in diesem grässlichen Traum ja auch jedes Mal an derselben Stelle … Doch warum explodierte das Ding nicht?
Unwirsch schüttelte Editha den Kopf. Schluss mit dem Unsinn!
In dem Moment klopfte es. Leider war es nicht die nette Pflegerin.
Es war der erste Kaffee des Tages. Den brauchte Marlene immer dringend. Egal, ob Werktag oder Wochenende, lange bevor alle anderen aufwachten, genoss sie die große Tasse mit der frisch aufgebrühten hellbraunen Flüssigkeit. Nur in dieser genehmigte sie sich einen Schluck Sahne, später musste die fettarme Milch reichen. Vor ihr lag die aufgeschlagene Zeitung, doch die beachtete sie nicht weiter. Ihre Gedanken waren woanders, ihr Blick schweifte durch die Küche nach draußen, über den Balkon mit den Blumenkästen, in denen nach und nach die Frühblüher ihre farbenfrohen Blüten zeigten, und die Dächer der Reihenhäuser, die wie feingezogene Schnüre hübsch parallel von ihrer Straße abgingen. An deren Wendehammer befand sich das Mehrfamilienhaus, in dessen zweiten Stock sie vor Jahren mit Karsten gezogen war und wo sie seit sechs Monaten nun allein mit ihrer Tochter lebte.
Marlene liebte diese Jahreszeit, wenn die Natur wieder ihre schönsten Farben zum Vorschein brachte. Sie selbst trug auch bevorzugt farbenfrohe Kleidung. Apropos Kleidung, ein schneller Blick auf die Wanduhr sagte ihr, dass es langsam Zeit wurde, sich fertig zu machen. Es war der erste Samstag im Monat und damit »Frühstücksfrauen-Samstag« in ihrem Lieblingscafé, dem Violoncello. Irgendwann hatten sie sich so genannt, weil sie sich einmal im Monat zum Frühstücken trafen. Marlene konnte gar nicht mehr sagen, wer die Idee mit dem Namen gehabt hatte. War es Alix gewesen, die wohl Schlagfertigste unter ihnen? Oder Josefin, die handwerklich sehr geschickt war, aber als Halbschwedin, die zudem viele Jahre in verschiedenen Ländern gelebt hatte, manchmal mit dem Deutschen haderte? Oder Romy, die mit ihren drei Kindern eigentlich immer den Kopf voller Dinge hatte? Oder war es am Ende doch sie selbst gewesen? Immerhin arbeitete sie seit Jahren in einer Werbeagentur. Zwar nicht unbedingt im textlichen Bereich, sondern eher im gestalterischen, aber vielleicht hatte ja der tägliche Umgang mit Spots, Plakaten und markigen Sprüchen seine Spuren hinterlassen. Egal.
Unwillkürlich musste sie lächeln. Sie freute sich auf die Freundinnen, und sie freute sich auf ihr gemeinsames Frühstück. Insgeheim musste sie sich eingestehen, dass diese Treffen das Highlight ihres Monats darstellten. Sie hatten sich im Geburtsvorbereitungskurs kennengelernt und sich nach den Entbindungen weiter getroffen. Zunächst unregelmäßig und meistens mit ihren Kindern, später dann allein. Es gab kaum etwas Schöneres, als sich mit Freundinnen auszutauschen, die sich in einer ganz ähnlichen Situation befanden, obwohl sie charakterlich zum Teil recht unterschiedlich waren. Besonders, als die Kinder noch ganz klein gewesen waren, hatte es ihnen allen gutgetan, mal rauszukommen und in den Gesprächen festzustellen, dass die anderen mit den gleichen großen und kleinen Sorgen, Fragen und Nöten zu kämpfen hatten. Seit fünf Jahren trafen sie sich nun und waren sehr stolz darauf, es durchgezogen zu haben. Oft genug hatten sie dabei gegen Widerstände zu kämpfen gehabt. Regelmäßig hatte Karsten gemotzt, wenn sie am Samstagvormittag das Haus verließ, um endlich mal etwas für sich zu tun, nachdem sie sich die ganze Woche mit Windelwechseln, Wäschewaschen und Babybrei herumgeschlagen hatte. Er hatte nie begreifen können, wie sehr sie wenigstens einmal im Monat etwas Luft gebraucht hatte. Natürlich liebte sie Paola über alles und ging vollkommen in ihrem Muttersein auf, aber trotzdem musste man doch auch mal raus, oder etwa nicht?
Im Aufstehen leerte sie ihren Lieblingskaffeebecher mit den großen Rosen darauf und stellte ihn in die Spüle. In einer halben Stunde würde Karsten hier sein, um Paola abzuholen, und da wollte sie nicht im Nachthemd und mit wirren Haaren die Tür öffnen müssen. Obwohl sie nach wie vor schrecklich unter der Trennung litt, wollte sie nicht, dass man es ihr ansah. Dass Karsten ihr ansah, wie schlecht es ihr wirklich ging. Dass Paola bemerkte, wie angeschlagen ihre Mutter war. Für sie musste sie doch stark sein.
Marlene seufzte und straffte gleichzeitig die Schultern, während sie ins Kinderzimmer hinüberhuschte. Im Bett regte sich der kleine Körper ihrer Tochter, als das Sonnenlicht aus dem Flur in den noch dunklen Raum fiel. Sofort überflutete sie eine Woge von Liebe für ihr Kind.
»Guten Morgen, mein Schatz«, sagte sie sanft, ging zum Fenster, um die Jalousie hochzuziehen, was ein Brummen ihrer Tochter zur Folge hatte. Ruckartig wurde die Decke über den Kopf gezogen, sodass nur noch ein paar dunkle Haarsträhnen hervorblitzten, aber nun die Füße frei lagen. Vorsichtig setzte Marlene sich an den Bettrand und kitzelte zärtlich Paolas Fußsohlen, die daraufhin quiekte, die Decke zurückschlug und sie aus ihren wunderschönen braunen Augen verschlafen anblickte.
»Hallo, Mama.«
»Hallo, Liebes.« Sie beugte sich hinunter und gab Paola erst einen Kuss auf die eine Wange, dann auf die andere und zum Schluss noch einen auf die Nasenspitze.
»Ih, das kitzelt.« Energisch rieb sich Paola über die Nase. »Du riechst nach Kaffee.«
»Tue ich das nicht immer?«
Paola verzog das Gesicht. »Wahrscheinlich schon.« Sie schien zu überlegen. »Es ist Wochenende, oder?« Marlene nickte. »Was machen wir heute?«
»Du gehst doch zu Papa.«
»Ach ja, Papa-Wochenende.«
Es klang neutral, und Marlene gelang es nicht zu deuten, wie ihre Tochter das fand. Sie wirkte allerdings nicht übermäßig begeistert. Oder wollte sie ihre Freude, den Papa wiederzusehen, nur nicht zeigen, um sie, ihre Mutter, nicht traurig zu machen? Das Ganze war ein ständiger Balanceakt, und einmal mehr kroch die Wut in Marlene hoch, weil Karsten alles, was sie gehabt hatten, so leichtfertig weggeworfen und unnötig verkompliziert hatte. Und sie in Windeseile durch eine andere, natürlich jüngere Frau ersetzt hatte.
»Bestimmt macht ihr etwas Schönes.« Sie wollte nicht, dass Paola sich um ihre Mutter Sorgen machte. Es reicht schon, wenn ich mich ständig frage, wie sie das alles verkraftet. »Stehst du langsam auf und ziehst dich an?«
»Okay, Mama, gleich«, sagte Paola und drückte Trinchen an sich, ihren Kuschelhund.
Sie hatten bereits am Vorabend alles bereitgelegt und Paolas kleines Köfferchen gepackt. Eigentlich hatte Karsten sie – wie an jedem zweiten Wochenende – bereits am Freitagnachmittag abholen sollen, aber da er wieder einmal auf Dienstreise gewesen war, war es ihm erst heute möglich zu kommen. Logischerweise war damit auch der Mittwochnachmittag flachgefallen – wie so oft –, der eigentlich »sein« Nachmittag pro Woche mit seiner Tochter sein sollte. Das war während der »Verhandlungen« direkt nach der Trennung ein Zankapfel gewesen. Wie sie sich denn bitte schön vorstellte, dass er jede Woche einen Nachmittag freinehmen solle? Immerhin sei er schließlich derjenige, der Vollzeit arbeite! »Ja, danke, reib mir nur unter die Nase, dass ich für die Familie kürzergetreten bin und auf Fortbildungen und Aufstiegsmöglichkeiten verzichtet habe«, hatte sie ärgerlich geantwortet. Als Paola alt genug gewesen war, um in den Kindergarten zu gehen, hatte Marlene feststellen müssen, dass sie zu lange aus ihrem Beruf raus gewesen war und sich in der Zwischenzeit enorm viel verändert hatte. Ein neuer Chef hatte das Ruder der Werbeagentur übernommen, in der sie vor einigen Jahren als Grafikerin angefangen hatte, Kollegen waren gekommen und gegangen, auch das EDV-System war generalüberholt worden. Bei ihren paar Arbeitsstunden in der Woche hatte es niemand für nötig gehalten, weiter in sie zu investieren. Sie war halt eine Mutter, würde wahrscheinlich eh bald wieder schwanger werden und danach womöglich ganz wegbleiben. Überhaupt, Mütter zu beschäftigen war ein arbeitspolitisches Risiko – schließlich fielen sie ständig aus, weil irgendwas mit dem Nachwuchs war. Der alte Chef, der sie noch ausgebildet hatte, hätte Marlene vielleicht weiter unterstützt, weil er ihre fachlichen Kompetenzen und ihre Arbeitsmoral kannte, aber der neue hatte keinerlei Verbindung zu ihr. Sie wurde wie ein lästiges Anhängsel behandelt und war längst abgehängt, bekam nur noch die langweiligen Aufträge, die jeder Hinz und Kunz machen konnte und auf die sonst keiner Lust hatte. Immer öfter wurden ihr einfache Bürotätigkeiten zugeschoben, hin und wieder durfte sie mal ein neues Plakat oder eine Anzeige für einen ihrer wenigen verbliebenen Stammkunden gestalten, aber das war’s dann auch. Sie machte weiter, was blieb ihr anderes übrig? Zum Glück hatte Karsten dann doch eingewilligt, anscheinend überrascht darüber, wie vehement sie in der Sache für sich eingetreten war. Wenn sie jemals wieder auf die Füße kommen wollte, musste sie ihrem Arbeitgeber zumindest einen Nachmittag in der Woche anbieten können. Hatte sie gedacht. Aber niemand war auf sie zugekommen. Man brauchte sie nicht, hatte sie sich ein weiteres Mal eingestehen müssen.
Nun ja, Marlene hatte vergangenen Mittwoch also nichts Besseres vorgehabt, und so hatte sie kurzerhand Paola nach dem Kindergarten abgeholt und war mit ihr Eis essen gegangen. Das erste Eis des Jahres. Paola hatte einen Biene-Maja-Eisbecher verspeist und sie den mit Amaretto und viel Sahne. Eine echte Sünde, aber unwiderstehlich. Manchmal musste man sich einfach etwas gönnen, fand sie.
Ihr Blick fiel auf das hübsche dunkelblaue Kleidchen, auf dessen Brust ein Herz aus rosa-silberfarbenen Wendepailletten prangte und dessen Rockteil aus einem fließenden Tüllstoff bestand, der beim Drehen hochwehte. Paola liebte dieses Kleid, wollte es unbedingt tragen, wenn ihr Vater sie abholte.
»Ich ziehe mich jetzt auch an.« Sie wuschelte Paola durchs Haar, wobei sie ihr – wie sie hoffte – aufmunternd zulächelte, und gab ihr einen weiteren Kuss, diesmal auf die Stirn, bevor sie sich erhob.
In ihrem Schlafzimmer angekommen, schien sie gleich wieder alle Kraft zu verlassen, und sie musste sich aufs Bett sinken lassen. Warum nur ist Karsten gegangen? Warum hat er uns das angetan? »Es nützt nichts, reiß dich zusammen, Marlene«, widersprach sie ihren trüben Gedanken und schlüpfte in die bereitliegende schwarze Hose mit dem weiten Bein sowie das schwarz-petrol geringelte Oberteil, zu dem ein petrolfarbener Jerseyblazer gehörte, der noch am Schrank hing. Die Kombination betonte ihre Kurven vorteilhaft, hatte sie festgestellt, außerdem liebte sie diesen Blauton. Sie stellte sich vor den großen Spiegel am Kleiderschrank und nickte zufrieden. Fehlte nur noch die Kette mit dem großen Anhänger, dann wäre sie fertig. Sie warf einen Blick auf die Armbanduhr, zehn vor neun. Sie musste spätestens um neun los, wenn sie pünktlich sein wollte – und sie kam nicht gern zu spät. Das hatten ihre Eltern ihr von klein auf eingebläut. Gerne mit den Sprüchen bedeutender Persönlichkeiten, zum Beispiel einem angeblichen Zitat von Lessing: »Bester Beweis einer guten Erziehung ist die Pünktlichkeit.« Und als das brave Mädchen, das sie gewesen war, hatte sie ihren Eltern keine Schande machen wollen und war niemals irgendwo zu spät gekommen. Das hatte sie bis heute verinnerlicht.
Im nächsten Moment klingelte das Telefon. Sie hastete in den Flur, bemerkte dabei erleichtert, dass Paola sich bereits anzog.
Als sie die Nummer auf dem Display erkannte, zog sich ihr Magen in düsterer Vorahnung zusammen. Das Seniorenstift. Die rufen nie einfach so an.Schon gar nicht an einem Samstagmorgen.
»Fröhlich«, meldete sie sich und bemerkte selbst, wie gepresst ihre Stimme klang.
»Guten Morgen, Frau Fröhlich, hier Schmidt.« Es war die Leiterin des Senioren- und Pflegeheims höchstpersönlich. »Hätten Sie einen Augenblick?«
»Selbstverständlich.« Marlene lief hinüber in die Küche und schloss vorsorglich die Tür hinter sich, damit Paola das Gespräch nicht mitbekam.
»Leider geht es Ihrer Mutter nicht besonders gut.«
»Was hat sie denn?« Marlene ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken.
»Es scheint nichts Körperliches zu sein«, versuchte Frau Schmidt sie offenbar zu beruhigen, »doch Ihre Mutter wirkt sehr aufgebracht. Eigentlich beobachten wir schon seit ein paar Tagen, dass sie morgens verwirrt ist, sich manchmal noch hektisch im Schlaf hin- und herwirft, etwas vor sich hinredet, wenn die Kollegin zu ihr kommt. Heute Morgen war es aber noch etwas anders. Die betreuende Pflegekraft hat berichtet, dass Frau Krause kaum ansprechbar gewesen sei, als sie das Zimmer betrat. Sie habe bereits in ihrem Lieblingssessel gesessen und zunächst gar nicht reagiert, sondern nur aus dem Fenster gestarrt. Als meine Mitarbeiterin sie dann berührte, um ihr beim Waschen und Anziehen behilflich zu sein, sei Frau Krause regelrecht ungehalten geworden, habe sogar um sich geschlagen und geschrien. Dabei ist das Tablett mit dem Frühstück auf den Boden gekracht.«
»Oh«, entfuhr es Marlene. Wie unangenehm. »Das tut mir leid.«
»Ist schon in Ordnung. Solch ein Verhalten ist uns ja nicht unbekannt. Alte Menschen können schon mal recht kratzbürstig sein, auch ohne es zu wollen. Wir konnten Ihre Mutter schließlich beruhigen. Erst mal.« Frau Schmidt machte eine Pause. »Wir haben das Gefühl, dass sie etwas beschäftigt. Ich weiß, dass Sie heute ohnehin vorbeigekommen wären, aber vielleicht könnten Sie es gleich einrichten? Da ist nämlich noch etwas.« Marlene horchte auf. »Ihre Mutter hat explizit nach Ihnen gefragt. Sie hat darum gebeten, dass Sie herkommen.«
Das war in der Tat ungewöhnlich. »Ich mache mich gleich auf den Weg.«
Marlene saß wie auf heißen Kohlen, stand vor dem Küchenfenster und sah nach draußen, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Hoffentlich kam Karsten bald, sie machte sich Sorgen um ihre Mutter. Was war bloß los mit ihr?
»Paola, Schatz, bist du fertig?«, rief sie in den Flur.
»Natürlich, Mama«, hörte sie ihre Tochter von der Wohnungstür in einem derart erwachsenen Tonfall sagen, dass sie unwillkürlich aufhorchte. Sie warf einen Blick um die Ecke. Da stand ihre Kleine mit gepacktem Köfferchen vor sich, die Jacke sowie Trinchen, der überallhin mitmusste, unter den Arm geklemmt, und wartete. Sogar ihre Lieblingsstiefel mit den Pferden drauf hatte sie schon angezogen. In einem Anflug von überbordender Liebe wurde Marlenes Herz schwer. Sie lächelte Paola, die genau in diesem Moment aufsah, zärtlich an. Meine Güte, ist sie groß geworden, dachte Marlene. Und seit der Trennung ihrer Eltern auch so vernünftig! Sie bekam ein schlechtes Gewissen, wie so oft. Sie und Karsten hätten sich niemals trennen dürfen! Wenn er seine Tochter so sah, müsste er es doch auch begreifen! Es war schließlich nicht alles schlecht zwischen ihnen gewesen. Was denn überhaupt? Mit etwas Abstand betrachtet, erschienen ihre Probleme ganz klein, und erneut packte sie die Wut auf ihren Ex-Mann, der einfach aufgegeben hatte. Der sich immer mehr zurückgezogen hatte und irgendwann mit der Nachricht vor ihr gestanden hatte, dass es mit ihnen nicht mehr funktioniere, dass er keine Kraft mehr habe. Dass er mehr Freiheiten brauche, mehr Aufregung in seinem Leben. Mehr Aufregung! Es war klar, was das bedeutete: Sie war ihm zu langweilig. Zwei Wochen später war er ausgezogen. Das war jetzt genau sechs Monate und siebzehn Tage her. Und es hatte keine zwei Monate gedauert, bis er erzählt hatte, dass er eine Neue habe. Nicht nur hatte Karsten all die gemeinsamen Jahre einfach weggeworfen, nein, er hatte Marlene auch noch in kürzester Zeit ersetzt! War denn alles nichts wert gewesen? Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf, versuchte die grässlichen Gedanken loszuwerden und sich auf die letzten Momente mit ihrer Tochter zu konzentrieren, bevor sie sie zweieinhalb Tage nicht sehen würde. Sie ging zu Paola hinüber. Die Art, wie ihre Tochter den Kopf hängen ließ, zeigte ihr, dass irgendetwas sie bedrückte. Sie ging vor ihr in die Hocke. Sanft fasste sie unter Paolas Kinn, hob es leicht, sodass sich ihre Blicke trafen.
»Was ist los, mein Schätzchen?« Erneut ließ Paola die Schultern hängen. »Na los, sag schon«, meinte Marlene aufmunternd.
»Kann Papa nicht wieder hier einziehen? Ich will nicht immer hin- und herfahren müssen«, platzte es nun aus ihrer Kleinen heraus.
Marlene seufzte leise und bereute es sofort, denn es sollte für ihre Tochter nicht so wirken, dass sie das Thema nervte. Es war nur so schwer auszuhalten – für sie selbst schließlich genauso wie für ihre Tochter. Aber wie sollte sie das Paola erklären?
»Mein Schatz …«, sie rang nach Worten, »ich weiß, dass es hart für dich ist, und das ist es für mich auch, das musst du mir glauben.«
»Aber warum tust du dann nichts?«
Marlene schluckte schwer. »Ich würde ja gerne …«, flüsterte sie, den Tränen nahe, denn sie verstand es doch selbst nicht. »Aber es geht nicht. Papa wollte … Papa und ich sind nicht mehr gut miteinander zurechtgekommen.«
»Und wenn ihr euch einfach entschuldigt? Das kann man doch bestimmt besprechen. Ihr sagt doch immer, dass man sich nur entschuldigen muss, und dann ist alles wieder gut.«
»Ach, Schätzchen … Bei Erwachsenen ist das manchmal nicht so einfach …« In dem Augenblick klingelte es an der Tür, was Marlene gleichermaßen erleichtert wie unwillig registrierte. Dass Karsten sie andauernd in diese Situationen bringen musste, in denen sie den ganzen Mist erklären musste, den er verzapft hatte! Wie konnte sie das, wenn sie es selbst lieber anders hätte? Sie wollte die Trennung schließlich nicht.
Marlene erhob sich, um den Summer zu betätigen und gleichzeitig die Wohnungstür zu öffnen. Schweigend lauschte sie den heraufstapfenden Schritten auf der Treppe.
»Ich hab dich ganz doll lieb, mein Schatz«, sagte sie, ging erneut in die Hocke und nahm ihre Tochter fest in den Arm.
»Ich dich auch, Mama«, hauchte Paola und drückte ihre Wange an Marlenes. »Wer hat denn da eigentlich gerade angerufen?«
»Das war das Altenheim.«
»In dem Oma ist?« Paolas Augen wurden groß. »Was wollten sie denn?«
»Oma Editha geht es nicht so gut«, antwortete Marlene wahrheitsgemäß. »Sie ist wegen irgendwas ganz schrecklich aufgeregt. Ich soll gleich hinkommen.«
»Oh.« Ihre Tochter kaute auf der Lippe. »Deswegen bist du so nervös.« Meine Güte. Wie konnte es sein, dass ein kleines Kind dermaßen sensibel war?, fragte Marlene sich, hatte aber keine Gelegenheit, weiter darüber zu staunen. »Kann ich mitkommen?«
»Zu Oma? Du bist doch jetzt mit Papa verabredet.«
»Trotzdem.« Marlene beobachtete beinahe amüsiert, wie sich Paolas kleines Kinn vorschob. Sie wusste, was das bedeutete: Ihre Tochter würde versuchen, jeden Widerspruch im Keim zu ersticken. Wie aufs Stichwort erschien Karsten im Türrahmen.
»Na, Prinzessin, alles bereit?« Er hob Paola hoch und wirbelte sie durch die Luft.
»Nicht so ganz«, erwiderte sie, als sie wieder auf dem Fußboden stand. Marlene war sich nicht sicher, ob Karsten das mitbekommen hatte.
»Hallo, Lenchen«, begrüßte Karsten nun sie.
Lenchen. Nur er nannte sie so. Ihre Mutter hingegen benutzte ausschließlich ihren vollständigen Namen. Aber das war eine andere Geschichte. Ihre Freundinnen und Kollegen sagten Marlene, Lene oder auch Mary zu ihr, je nach Gusto. Sie selbst mochte Lene, alles war ihr letztlich lieber als Lenchen. Seit dem Tag, an dem Karsten ihr eröffnet hatte, dass er sich von ihr trennen und eine eigene Wohnung nehmen würde, konnte sie es nicht mehr ertragen. Ebenso wenig wie seine obligatorischen Küsschen auf ihre Wangen. Sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Eigentlich mochte sie das nicht, andererseits wollte sie vor Paola aber auch keine Szene machen. Das Kind wünschte sich schließlich, dass seine Eltern wieder zusammenkämen. Und irgendwie hoffte sie selbst das ja auch.
»Ich kann noch nicht mit«, beharrte Paola da und klammerte sich an Marlenes Bein. »Oma Editha geht es nicht gut.«
»Wie bitte?« Irritiert blickte Karsten von seiner Tochter zu Marlene und zurück. Es war ihm anzusehen, dass er dachte, sie hätte etwas damit zu tun, dass Paola nicht mitkommen wollte. »Was soll das denn jetzt?«
»Das Heim hat eben angerufen, und Mama soll sofort hin. Und ich will mit.« Paola verschränkte die Arme. Wie stolz Marlene in diesem Moment auf ihre Tochter war! Schon mit ihren fünf Jahren war sie in der Lage, ihre Interessen gut zu vertreten.
»Wirklich?« Karsten zog die Stirn in Falten. »Was ist mit Editha?«
Marlene zuckte hilflos mit den Schultern. »Genaueres weiß ich auch nicht. Nur dass sie irgendetwas zu beschäftigen scheint. Sie will unbedingt mit mir sprechen.«
Karsten dachte nach. »Was hältst du davon, wenn wir Mama eben mitnehmen und beim Seniorenstift absetzen?«, fragte er nun wieder an Paola gewandt.
»Das ist gut. Aber ich will auch mit zu Oma.«
»Schatz«, versuchte Marlene sie zu besänftigen, »das ist doch ein guter Kompromiss. Papa hat bestimmt etwas Schönes mit dir vor, das nicht warten kann.« Sie wusste schließlich, wie durchorganisiert Karsten war. Was Pläne und Pünktlichkeit anging, war er noch schlimmer als sie. »Ich verspreche dir, dich nachher gleich anzurufen, wenn ich bei Oma war.«
»Bitte, Mama …« Der flehende Blick in Paolas Augen ließ Marlenes Widerstand in Windeseile bröckeln.
»Was meinst du?« Entschuldigend sah sie Karsten an. »Ich verspreche, mich kurz zu halten. Hab ja dann auch noch mein Frühstück …« Sie ließ den Satz in der Luft hängen. Ob sie es heute noch zu ihrem Treffen schaffen würde? Eigentlich hatte sie ihre Mutter am Nachmittag besuchen wollen. Gleich im Auto würde sie den Freundinnen eine Nachricht schicken, dass sie sich verspätete. Mindestens.
»Na schön.« Er war nicht begeistert, das war offensichtlich. Aber es ging um seine Schwiegermutter, und die mochte er. Auch wenn es zwischen ihr selbst und ihrer Mutter oft genug schwierig gewesen war, hatten sich Karsten und Editha immer gut verstanden.
Wie so oft war vor dem Seniorenpflegestift, das sich mitten in der Stadt befand, kein Parkplatz zu finden. Während Karsten mittlerweile fluchend eine weitere Schleife über den Vorplatz und durch die umliegenden Seitenstraßen drehte, dachte Marlene dankbar, dass sie zumindest dieses Problem nie hatte. Da Karsten das gemeinsame Auto mitgenommen hatte, war sie seit ihrer Trennung ausschließlich mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem Fahrrad unterwegs – was ihr guttat, wie sie festgestellt hatte. Sie bekam Bewegung und frische Luft und musste sich nicht mit anderen Autofahrern oder eben den überall fehlenden Parkplätzen herumärgern.
Entnervt fuhr Karsten auf den Taxistreifen. »Mir reicht’s jetzt. Ich warte hier und fahre notfalls weg, wenn jemand kommt. Geht ihr doch schon mal hoch.«
Das war Marlene eigentlich ganz recht. Die Besuche bei ihrer Mutter waren nie einfach für sie. Ihr Verhältnis war seit jeher nicht das Beste, und da brauchte sie nicht auch noch Karsten neben sich, der ihr gleich noch mal ein schlechtes Gefühl gab. »Ist gut.« Sie schwang sich aus dem Auto und befreite Paola anschließend aus dem Kindersitz. Hand in Hand liefen sie die Stufen zu dem großen, klobigen weißen Gebäude hinauf.
Marlene bemerkte, wie Paola an der Fassade emporsah. »Wo ist Omas Zimmer noch?«
Sie blieben stehen, und gemeinsam zählten sie erst die Fensterreihen und dann die Fenster ab. »Da oben, das da müsste es sein.« Marlene zeigte auf ein Fenster im dritten Stock, in dem die Vorhänge zugezogen waren. Schlief ihre Mutter?
Paola nickte. »Ich freue mich auf Omi.« Sie löste sich aus ihrer Hand und hüpfte die letzten Stufen bis zur Drehtür hinauf.
»Ich auch«, sagte Marlene, doch im Gegensatz zu der Stimme ihrer Tochter war ihre nur ein Hauchen.
Ihr schlug der typische Geruch entgegen, als sie den Eingangsbereich des Marienstifts betrat. Die Mischung aus Linoleum, Desinfektionsmitteln und Essen ließ ihr wie jedes Mal einen Schauer über den Rücken laufen. Oder war es nicht der Geruch, der ihr Unbehagen verursachte, sondern verband sie ihn einfach nur unbewusst mit dem, was ihr hier bevorstand? Immer, wenn sie ihre Mutter besuchte – und das tat sie etwa jeden zweiten Tag, am Wochenende meist täglich –, fühlte sie sich gemustert, kritisch beäugt. Als wäre sie nie gut genug.
Im Aufzug fiel ihr ein, ihren Freundinnen noch gar nicht Bescheid gesagt zu haben, dass sie sich verspäten würde. Oder es vielleicht auch gar nicht mehr schaffte. Je nachdem, was als Nächstes passiert. Schnell schrieb sie eine Nachricht in die WhatsApp-Gruppe. Alix antwortete wie immer sofort. Alles Gute dir! und ein Kuss-mit-Herz-Smiley. Romy und Josefin würden die Nachricht sicher erst lesen, wenn sie im Violoncello angekommen waren. Bei Romy ging es morgens immer hektisch zu, und Josefin hatte den weitesten Weg und fuhr mit dem Auto. Dann blickte Marlene an sich hinunter. Sie war zu auffällig gekleidet. Editha würde ihr Outfit gar nicht gutheißen. Schnell nahm sie ihre Kette mit dem großen Anhänger ab. Ihre Mutter hatte für solcherlei »Firlefanz« wenig übrig. Mehr konnte sie nicht ändern. Sie war schließlich auf einen netten Vormittag mit ihren Freundinnen eingestellt gewesen und nicht auf einen Besuch bei ihrer strengen Mutter. Traurig. Es war einfach traurig, dass sie solch ein angespanntes Verhältnis hatten. Sie und Editha sollten sich doch bedingungslos lieben, aneinander freuen, füreinander da sein. Schließlich waren sie eine Familie, Mutter und Tochter. »Familie ist das Einzige, was zählt«, war einer von Edithas Lieblingssprüchen. Kein Wunder, dass sie überhaupt nicht damit klarkam, dass Karsten und Marlene sich getrennt hatten. Nur warum gab sie in erster Linie ihr die Schuld daran?, fragte sich Marlene immer wieder. Editha sah einfach nicht, dass es Karsten gewesen war, der die Ehe nicht mehr gewollt und sich baldmöglichst eine Neue gesucht hatte. Oder wollte es nicht sehen. In ihren Augen blieb man bei seinem Mann, was auch geschah. Und wenn er sich eine andere suchen musste, hatte sie, Marlene, sich wohl nicht genug um ihn gekümmert und musste sich mehr anstrengen. Eine Frau hatte ihren Mann zu versorgen, basta. Sie brauche sich gar nicht bei ihr auszuheulen, genau das hatte ihre Mutter ihr ins Gesicht gesagt, als sie direkt, nachdem Karsten weg gewesen war, zu ihr gegangen war. Sie war am Boden zerstört gewesen und hatte sich Trost erhofft – und das Gegenteil bekommen. Wie hartherzig konnte man eigentlich sein? Auch wenn sie bestimmt nicht perfekt war und in ihrer Ehe sicherlich Fehler gemacht hatte, war sie immer noch Edithas Tochter. Und die sollte eine Mutter doch wohl aufbauen, auch wenn sie unterschiedlicher Meinung waren, oder etwa nicht? Sie würde es mit Paola jedenfalls so machen. Sie würde ihre Tochter immer unterstützen, auch wenn diese etwas falsch gemacht hätte.
Langsam ging Marlene über den grauen Fußboden, jeder Schritt quietschte auf dem Linoleum und fühlte sich schwer an. So seltsam es auch klang, ihr half es ungemein, Paola an ihrer Seite zu haben. Das Mädchen würde die Situation auflockern. Seltsamerweise war das Verhältnis zwischen Editha und ihrer Enkelin nämlich viel besser als zwischen Editha und ihr.
Marlene atmete tief durch, bevor sie an die Zimmertür ihrer Mutter klopfte und kurz darauf die Türklinke zur Höhle der Löwin herunterdrückte. Was sie wohl heute erwartete? Wie ging es ihrer Mutter? Was wollte sie von ihr?
Es war stickig im Zimmer und dunkel. Zu den düsteren Möbeln, die Editha aus ihrem Reihenhaus mitgenommen hatte, waren auch noch die dunkelroten Vorhänge zugezogen. Schlief ihre Mutter? Verstohlen warf Marlene einen Blick auf das Bett. Es war leer. Dafür rauschte etwas in dem kleinen Bad, das dem Raum angeschlossen war. Vorsichtig trat sie an dem erhöhten Bett vorbei, umkurvte den schweren alten Sessel und die Stehlampe, die Editha bei dem Umzug hierher ebenso hatte mitnehmen können wie die massive Kommode mit drei Schubladen sowie einen kleinen Tisch und zwei Stühle aus dem Esszimmer. Lene schauderte es unwillkürlich, so sehr fühlte sie sich jedes Mal, wenn sie dieses Zimmer betrat, zurückversetzt in das stickige, enge, gutbürgerliche Reihenhaus, in dem es bis zum Schluss genauso ausgesehen hatte. Es war von vornherein klar gewesen, dass Editha so viel aus ihrer vertrauten Umgebung ins Altenheim mitnehmen würde wie irgend möglich. Schließlich hatte sie in diesen Möbeln gelebt, seit Vater und sie sich ihr Häuschen in der Reihenhaussiedlung zugelegt hatten. Eiche rustikal, braun bezogenes Sofa und passende Sessel aus dem Quelle-Katalog, dazu eine ebenfalls dunkle Küchenzeile. Neu gekauft wurde später nichts mehr, nur das Nötigste ersetzt. Stattdessen gespart, wo es nur ging, man gönnte sich nichts, hortete aber lebenslang, was man irgendwoher bekam. Jeder verdiente Pfennig ging ins Haus oder auf die hohe Kante, man wusste ja nicht, wofür man es mal brauchte. Urlaube galten als nahezu unanständiger Luxus. Während die Klassenkameraden bereits mit ihren Familien Flugreisen nach Mallorca oder Kreta unternommen hatten, hatte Marlene sich mit einem engen Ferienapartment im Harz oder einem Besuch bei den Verwandten an der Nordsee begnügen müssen. Sei froh über das, was du hast, hieß es von den Eltern immer nur, wenn sie sich danach sehnte, etwas Neues auszuprobieren. Es musste ja gar nichts Kostspieliges sein, Busreisen nach Spanien gab es damals schon für wenig Geld. Aber von den Eltern erntete sie nur Kopfschütteln. Sie wollten nicht ins Ausland. Lene hatte es noch nicht übers Herz gebracht, das Haus ihrer Mutter ganz leer zu räumen. Obwohl es nicht sehr wahrscheinlich war, dass diese jemals dorthin zurückkehren würde. Und sie selbst sich nicht vorstellen konnte, das Haus zu übernehmen. Schon der Gedanke daran schauderte sie. Vielleicht würde sie das Geld aus einem Verkauf irgendwann noch brauchen, um Edithas Pflege zu finanzieren. Die Unterbringung in dem vornehmen Stift verschlang Unsummen, die nur zum Teil von der Pflegeversicherung getragen wurden. Der Rest kam zwar aus Edithas eigener mickriger Rente sowie aus der Witwenrente des Vaters, aber das reichte nur gerade so. Und wer wusste schon, was noch kam? Marlene hatte keine Ahnung vom sonstigen Vermögen der Eltern, um die Finanzen hatte sich immer Karsten gekümmert.
Ich muss mir dringend mal einen Überblick verschaffen, dachte sie seufzend. Aber jetzt war garantiert nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Sie spürte, dass ihr Gehirn sich nur etwas suchte, womit es sich ablenken konnte. Nicht zum ersten Mal wünschte sie sich einen Bruder oder eine Schwester, um ihre Sorgen und Gedanken teilen zu können. Aber sie war ein Einzelkind geblieben. Genau wie ihre eigene Tochter, schoss es ihr durch den Kopf. Nur, dass ihre Mutter kein zweites Kind mehr hatte haben wollen. Sie sei ohnehin zu alt gewesen, als sie Marlene bekommen habe, hatte Editha mal gesagt. Und es sei ihr schon mit einem Kind zu anstrengend gewesen.
»Ich bin da, Mama«, rief Marlene betont heiter, damit sich ihre Mutter nicht erschreckte, wenn sie aus dem Bad kam, und zog die Vorhänge zur Seite. Hier muss dringend frische Luft rein, dachte sie und stellte beide Fensterflügel auf Kipp.
Hinter ihr öffnete sich die Badezimmertür, und ihre Mutter schlurfte, auf den Rollator gestützt, heraus. Sie trug ein Nachthemd, darüber lose ihren fadenscheinigen hellblauen Morgenmantel, von dem sie sich nicht trennen mochte, der schmale gebeugte Körper schimmerte hindurch. Es hatte wohl seit dem Vorfall heute früh noch niemand wieder Zeit gefunden, ihr beim Ankleiden zu helfen. Sie tat Marlene leid, denn sie wusste, wie sehr ihre Mutter es hasste, in einem derartigen »Aufzug« Besuch empfangen zu müssen oder sich überhaupt in irgendeiner Form gehen zu lassen. Das war ein Makel an ihrer tadellosen Fassade, den es unbedingt zu vermeiden galt. So war es schon immer gewesen. Bloß den Garten gepflegt halten, jederzeit akkurat gekleidet sein, nur nicht auffallen oder gar jemandem Grund zur Beanstandung liefern. Lene hatte ihre Mutter nur selten mit wirren Haaren und nachlässig gekleidet gesehen. Eigentlich nur, wenn sie mal krank gewesen war. Was selten genug vorgekommen war. Egal, wie schlecht es ihr gegangen war, sie hatte sich immer aufgerafft, um die dauergewellten Haare auf Lockenwickler zu drehen, den Haushalt in Ordnung zu halten und sich zu Terminen zu schleppen. Absagen war nicht infrage gekommen, schmutziges Geschirr in der Spüle oder Krümel auf dem Esstisch erst recht nicht. Doch nun ging es nicht anders, dieser Zustand hatte sich zuletzt immer mehr angekündigt, seit Editha vor zwei Jahren einen Schlaganfall gehabt hatte, bei dem die linke Gesichtshälfte wie auch das linke Bein taub und gelähmt zurückgeblieben waren. Sie hatten seitdem versucht, Editha zu Hause zu versorgen, mit »Essen auf Rädern« und einer Pflegekraft, die morgens und abends gekommen war und beim Aufstehen, Waschen und Anziehen geholfen hatte, doch dann war Editha vor Kurzem unglücklich gestürzt und hatte sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen. Seitdem fiel ihr das Laufen schwer – sie hatte eine Weile im Rollstuhl sitzen müssen –, und zu allem Übel hatte sie ein Stück weit die Lebenslust verloren. Sie hatte kaum noch gegessen, war unleidlich und übellaunig geworden, hatte der Pflegerin vorgeworfen, sie zu bestehlen, und gar mit Essen nach Marlene geworfen. Zudem zeigten sich Zeichen einer beginnenden Demenz.
Der Zustand war für alle Beteiligten unerträglich und irgendwann das Pflegeheim die einzige Lösung gewesen. Editha hatte erwartungsgemäß getobt und ihre Tochter als nichtsnutziges, undankbares Gör, Erbschleicherin, Todesengel und Schlimmeres beschimpft, sich aber schließlich gefügt, nachdem Karsten sich – endlich – eingeschaltet und beruhigend auf Editha eingewirkt hatte. Zum Glück!
So sehr Marlene den Putzfimmel ihrer Mutter verachtete, musste sie doch zugeben, dass sie etwas von deren Ordnungswahn geerbt hatte. Auch sie mochte es nicht, wenn der Tisch nicht sofort nach der Mahlzeit abgeräumt wurde oder etwas im Flur herumstand, was da nicht hingehörte. Sie reagierte hektisch und überfordert, wenn unangekündigter Besuch vor der Tür stand und sie keine Gelegenheit gehabt hatte, vorher noch einmal das Bad zu putzen. Karsten hatte das genervt, andererseits war er erpicht darauf gewesen, eine schicke, tadellose Wohnung vorweisen zu können. Der schöne Schein war auch ihm enorm wichtig gewesen. Sie hatte versucht, in der Hinsicht entspannter zu werden, und es fühlte sich gar nicht mal schlecht an, hier und dort Abstriche zu machen und dafür mehr Zeit für die schönen Dinge des Lebens zu haben, aber ganz gelang es ihr nicht, sich von der Philosophie zu lösen, die ihr derart vehement vorgelebt worden war. Das Haus in Ordnung halten, die Familie in Ordnung halten, das war auch für sie das Wichtigste. Gewesen. Lange Zeit. Jetzt war alles anders, ihr Leben auf den Kopf gestellt. Wen kümmerte es noch, wie es bei ihr zu Hause aussah, nun, wo ihre Ehe zerbrochen und somit ohnehin der Worst Case eingetreten war?
»Is kalt hier«, nuschelte Editha, während sie sich demonstrativ die Arme rieb und mürrisch zum Fenster sah. Das brachte Marlene sofort ins Hier und Jetzt zurück.
»Hallo, Mama«, sagte sie, fest entschlossen, sich von der Miesepetrigkeit ihrer Mutter nicht runterziehen zu lassen. Heute nicht.
»Hallo, Oma!«, rief Paola und fiel ihrer Großmutter stürmisch in die Arme.
»Nu mal ruhig mit den jungen Pferden«, brummte diese. »Du wirfst mich ja um.« Doch sie ließ zu, dass die Kleine sie umarmte. Marlene staunte nicht zum ersten Mal darüber, dass ihre Tochter sich von Edithas mürrischer Art nicht abschrecken ließ und es schaffte, diese derart zu erweichen. Das kannte sie aus ihrer eigenen Kindheit nicht. Die paar Male, die sie in den Arm genommen worden war – richtig in den Arm genommen, nicht nur an der Schulter oder sonst wo getätschelt –, konnte sie an zwei Händen abzählen.
»Wie geht es dir, Mama?«, fragte sie, lehnte sich, unschlüssig, was sie tun sollte, gegen das Bett, einem der wenigen modernen Gegenstände in diesem Raum. Es war einfach praktischer als Edithas altes Bett und für die Pflegekräfte wesentlich angenehmer, wenn sie die Bewohner aus einem erhöhten Bett heben oder waschen mussten. Editha hatte sich inzwischen einigermaßen damit angefreundet. Das Aufstehen fiel ihr dadurch leichter.
Nachdem Paola von ihr abgelassen hatte, ließ sich Editha schwerfällig in ihren geliebten Sessel sinken, dessen vordere Kante und Armlehnen längst abgestoßen waren. »Du warst erst gestern hier.« Sie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, der seit dem Schlaganfall etwas schief war und nicht mehr ganz schloss, sodass Editha beim Sprechen oder Essen Speichel aus dem Mundwinkel lief. Sie blickte ihre Tochter nicht an, sondern schaute unverwandt aus dem Fenster.
»Ja, Frau Schmidt hat mich angerufen.«
Editha quittierte diese Information mit einem Geräusch, das deutliches Missfallen ausdrückte. Zögernd zog Lene sich einen Stuhl heran, der unter einem Tisch am Fenster gestanden hatte, und ließ sich ganz vorne nieder. Noch mehr fühlte sie sich nun in das Wohnzimmer ihrer Kindheit und Jugend zurückversetzt. Wie so oft. Unbehaglich rutschte sie auf dem ehemaligen Esszimmerstuhl hin und her, spürte die Maserung des Bezugs, die einzelnen Fäden des Stoffes unter ihren Handflächen. Paola setzte sich auf die Armlehne des Sessels und legte den Arm um ihre Oma. Eine Geste, die Marlene die Tränen in die Augen schießen ließ. Gar nicht gut. Bloß keine Schwäche zeigen vor ihrer Mutter.
»Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt, Omi.«
»Ach, die sind hier immer so empfindlich«, winkte Editha ab. »Müssen euch doch nicht gleich anrufen. So ein Unsinn.«
»Aber was war denn los? Frau Schmidt meinte, dich würde etwas beschäftigen. Du würdest mit mir vielleicht über etwas reden wollen.«
Editha zog die Augenbrauen hoch, dann wanderte ihr Blick wieder zum Fenster, ihre Kiefer mahlten. Tatsächlich, etwas schien in ihr zu arbeiten. Etwas, worüber es ihr anscheinend nicht leichtfiel zu sprechen. Das gab Marlene einen Moment, um ihre Mutter genauer zu betrachten. Heute wirkte Editha eigentlich etwas fitter, auch klarer im Kopf als in den vergangenen Tagen, doch ihre Wangen waren immer noch eingefallen, tiefe Ringe lagen um ihre trüben Augen, die einst die Welt scharf und auch scharfsinnig beurteilt hatten. Sie war nur noch ein halbes Persönchen, kein Vergleich mehr zu der zähen, patenten Frau, die jede Aufgabe, die das Leben für sie bereithielt, energisch anpackte. Trotz allem, was zwischen ihnen stand, tat es Lene leid, ihre Mutter so zu sehen.
Paola hielt das Schweigen wohl nicht gut aus. »Papa hat gesagt, dass er dieses Wochenende mit mir in den Zoo nach Hannover fahren will. Ist das nicht toll?«
Irritiert schaute Editha von einem zum anderen. Marlene hielt den Atem an. Das passte definitiv nicht ins Weltbild ihrer Mutter. »Wieso nur Papa? Bist du nicht mit dabei, Marlene?«
»Es ist doch Papa-Wochenende«, erwiderte Paola unbekümmert. »Chelsea kommt wahrscheinlich mit, denke ich. Weiß nicht.« Nun war die Kleine doch verunsichert. Marlene fasste nach ihrer Hand und warf ihr ein aufmunterndes Lächeln zu, das so viel bedeuten sollte wie »Alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen«. Doch Marlene wusste, was jetzt kommen würde.
Editha wandte sich ihrer Tochter zu, ihr Blick war kalt. »Er ist also noch bei dieser anderen Frau. Und nimmt deine Tochter zu ihr mit.« Das »deine« betonte Editha derart bissig, dass Marlene zusammenzuckte. Sofort geriet sie in die Verteidigungshaltung, die sie früher oder später immer einnahm, wenn sie bei ihrer Mutter war. Diesmal hatte es keine fünf Minuten gedauert. Was ein gutes Zeichen für Edithas Geisteszustand war. Wenigstens das.
»Was soll ich denn machen?« Hilflos zuckte Marlene mit den Schultern.
»Deinen Mann zurückholen, was sonst?« Ärgerlich wischte Editha mit einer Handbewegung jeden Einwand weg. Sie wollte sie gar nicht hören, die bittere Wahrheit, dass die Ehe ihrer Tochter zerbrochen war. Und dass diese nichts dafür konnte und auch nichts daran zu ändern vermochte.
»Er will nicht«, versuchte Marlene leisen Widerspruch. Wieder einmal hatte sie die Mutter enttäuscht. Wieder einmal war sie nicht gut genug. Wie oft hatte sie das als junges Mädchen zu spüren bekommen … diese unerklärliche Ablehnung. Ob es um ihre Schulnoten gegangen war, um ihre Freunde, um ihr Aussehen, an allem hatten ihre Eltern, besonders ihre Mutter, etwas auszusetzen gehabt. Sie hatte das damals nicht verstanden, doch ihr erster Freund Hajo – eigentlich Hans-Jochen, aber das passte ganz und gar nicht zu ihm – hatte das System durchschaut und gemeint, das Problem liege bei ihren Eltern und nicht bei ihr. Sie seien unzufrieden, verbohrt, zudem unsicher und ließen ihre eigenen Unzulänglichkeiten an ihr aus. Er hatte ihr gutgetan, zumindest in der Hinsicht. Leider war er bei ihren Eltern durchgefallen – zu unordentlich, zu einfaches Elternhaus, keine Manieren und so weiter –, und ihr übles Gerede hatte ihn auch für Lene nach und nach in einem schlechten Licht dastehen lassen, bis sie sich von ihm getrennt hatte. Vielleicht war das ein Fehler gewesen. Danach war irgendwann Karsten gekommen, und ihn hatte sie festgehalten. Er war der Schwiegersohn gewesen, den sich ihre Mutter erträumt hatte – und war dadurch auch Lene perfekt erschienen. Kein Wunder, war er doch aus ähnlichem Holz geschnitzt wie Editha, sparsam, ehrgeizig, gut erzogen, mit konservativen Ansichten, Editha und Karsten verstanden sich von Anfang an blendend. Zudem sprudelte er förmlich über vor Selbstbewusstsein und Zuversicht. Dass ein Mann, der ihrer Mutter gut gefiel, nicht unbedingt der Richtige für sie sein musste und dass er sein Selbstwertgefühl daraus zog, sich über andere zu erheben – auch das hatte Lene erst sehr viel später erkannt. Und da war es schon zu spät gewesen, denn da hatte sie gerade Paola geboren, und um nichts in der Welt hätte sie freiwillig diese neue kleine Familie auseinandergerissen und als alleinerziehende Mutter weitergemacht. Wie hätte das auch gehen sollen? Im Grunde hatte sie ja nichts vorzuweisen gehabt außer einem halbwegs gut bezahlten Bürojob. Ob sie Unterstützung von zu Hause bekommen hätte, wäre mehr als fraglich gewesen. Sie hatte also versucht, Karsten alles recht zu machen, um ihm die perfekte Frau zu sein, und sie hatte ihn ja auch geliebt. Doch ironischerweise hatte sie das in seinen Augen immer langweiliger und uninteressanter gemacht, das begriff sie inzwischen.
Wie gemein das ist, dachte Lene nicht zum ersten Mal. Alix hätte das niemals mit sich machen lassen. Und ich wäre sogar bereit, so weiterzumachen. Um des lieben Friedens willen, für meine Familie. Um nicht allein zu sein. Um es, in den Augen meiner Mutter und im Hinblick auf das Weltbild, wie ich es vermittelt bekommen habe, richtig zu machen.
»Ich verstehe nicht, wie du dir alles derart aus der Hand nehmen lassen kannst«, setzte Editha unvermittelt an. »So haben wir dich nicht erzogen.«
»Aber Mama, was soll ich denn machen? Karsten ist ausgezogen. Er war es, der nicht bei seiner Familie bleiben wollte …«
»Ein Mann geht nur, wenn sich seine Frau nicht genug um ihn kümmert. Du hättest dich mehr bemühen müssen.« Mit einem verächtlichen Schnauben wandte Editha sich erneut zum Fenster, und Lene erkannte einmal mehr, dass sie ihrer Mutter gegenüber hilflos ausgeliefert war. Editha vermochte es, sie mit einem einzigen Satz aus der Fassung zu bringen und sich wie ein kleines Kind zu fühlen. Von keinem Menschen hätte sie sich eine solche Ungerechtigkeit gefallen lassen, doch vor Editha blieb sie sprachlos. Niemand sonst war in der Lage, sie derart ins Mark zu treffen. Außer vielleicht Karsten.
»Aber Mama, ich habe doch alles getan. Manchmal ist es einfach so, dass Paare nicht mehr miteinander auskommen und sich trennen. Da trägt nie nur einer die Schuld.« Sie spürte die Ablehnung förmlich, die ihr von Editha entgegenschlug, noch ehe diese antwortete.
»Das ist doch diese ganze … Emanzipation.« Sie spie das Wort förmlich aus, ihre Stimme troff vor Verachtung. »Ich weiß nicht, was ihr jungen Dinger immer habt, dass ihr berufstätig sein wollt, von Selbstverwirklichung, von Karriere redet … Das größte Glück einer Frau ist ihre Familie. Und für die hat sie Sorge zu tragen. Ums Geldverdienen kümmert sich der Mann.«
Nun konnte Marlene doch nicht mehr an sich halten. Wut und Enttäuschung überfluteten sie, ihr Blick fiel auf Paola, die zusammengekauert auf der Armlehne hockte. Nein, schoss es ihr durch den Kopf. Sie würde sich nicht von ihrer Mutter vor den Augen ihrer Tochter runtermachen lassen. Sie würde ihrer Tochter nicht vorleben, dass das einzige Glück einer Frau darin bestand, für ihren Mann zu sorgen, dass sie selbst nicht zählte! Sie sprang von ihrer ohnehin angespannten Position am Rand des Stuhls hoch. »Und genau das ist es, Mutter, was ich gemacht habe. Genau so habe ich gelebt und alles für meinen Mann und meine Tochter getan. Und es ist mir trotzdem um die Ohren geflogen. Das, was du da sagst, ist längst kein Allheilmittel.« Marlene spürte, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten. Jetzt bloß nicht weinen, rief sie sich zur Ordnung. Nicht vor Editha. Doch der Schmerz, der in diesem Augenblick durch ihr Innerstes fuhr, war so stark, so fundamental, dass sie sich am liebsten zusammengekrümmt hätte. »Ich habe Karsten geliebt«, platzte sie schniefend hervor, »und habe alles für ihn getan. Ich wollte nicht, dass er geht, das kannst du mir glauben. Er hat unsere Ehe einfach aufgegeben, nicht ich. Vielleicht, weil ich genau so gelebt habe, wie du es mir eingetrichtert hast. Vielleicht, weil ich ihm dadurch zu langweilig geworden bin. Ich weiß es nicht. Aber ich bin auch wichtig. Und ich bin es auch wert, geliebt zu werden. So wie ich bin.« Sie konnte die Tränen nicht mehr aufhalten, sie flossen nun ungehindert über ihre Wangen. Es tat einfach zu weh, die Trennung an sich und noch dazu die Vorwürfe ihrer Mutter. Die Enttäuschung über Edithas Härte ihr gegenüber war kaum zu ertragen. Marlene versuchte hastig, die feuchten Spuren auf ihren Wangen mit dem Handballen wegzuwischen, doch es kamen immer neue Tränen nach. »Warum willst du das nicht hören, Mama? Warum suchst du die Schuld immer nur bei mir? Du bist doch meine Mutter, du solltest dich auf meine Seite stellen und mich trösten, selbst, wenn du anderer Meinung bist. So was macht eine Mutter. Sie ist für ihre Kinder da, fängt sie auf, wenn sie unglücklich sind, egal, ob sie Mist gebaut haben oder unschuldig in etwas hineingestolpert sind. Völlig egal.« Sie sah zu Boden, schüttelte den Kopf. »Aber du bist eigentlich nie für mich da gewesen.« Resigniert zuckte sie mit den Schultern, griff nach ihrer Handtasche und machte sich daran, das Zimmer zu verlassen. Sie hielt Paola die Hand hin, die diese dankbar ergriff.
Als sie schon an der Tür stand, hörte sie die Mutter hinter sich zischen: »Jetzt heul nicht auch noch. Stell dich nicht so an.«
Marlene sah noch einmal auf, nickte schweigend. Was hatte sie auch erwartet? Sie wandte sich um, war schon fast im Flur, als sie Editha hinter sich noch etwas murmeln hörte. »Du hast nie etwas wirklich Schlimmes erlebt. Dir ging es doch immer gut.«
Es folgte noch etwas, aber den Rest wollte Marlene gar nicht mehr hören. Sie zog die Tür hinter sich und Paola zu und wollte nur weg.
Erst im Treppenhaus fing sie sich etwas, zwang sich, stehen zu bleiben, ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen, schnäuzte sich.
»Mama«, sagte Paola, und sie nahmen sich in den Arm. Marlene drückte ihre wundervolle kleine Tochter ganz fest an sich. Und so hielten sie sich, bis Marlene sich wieder ein wenig beruhigt hatte.
»Tut mir furchtbar leid, Schatz, dass du das miterleben musstest.«
Paola schaute sie mit großen Augen an. »Warum war Oma so gemein zu dir? So kenne ich sie gar nicht.«
Ich schon, dachte Marlene bei sich. Stattdessen zuckte sie mit den Schultern. »Wir sind in einigen Dingen einfach unterschiedlicher Meinung. So ist das manchmal. Sie ist ganz anders aufgewachsen als ich, als du. Die Zeiten ändern sich und die Ansichten auch.« Sie stiegen in den Fahrstuhl.
»Wie ist sie denn eigentlich aufgewachsen?«
Marlene seufzte. »Wenn ich ehrlich bin, weiß ich gar nicht viel über Omas Kindheit.« Noch so ein wunder Punkt. Höchst selten hatte Editha mal über die Zeit gesprochen, bevor sie nach Braunschweig gekommen war. Über ihre Kindheit, ihre Jugend. Lene hatte immer mal wieder versucht, mit ihren Eltern über deren Vergangenheit zu reden, aber nie Antworten bekommen. Irgendwann hatte sie dann aufgehört zu fragen. »Sie stammt aus einer Region, die früher Pommern hieß und heute in Polen liegt.« Viel mehr konnte sie nicht dazu sagen.
»Spannend. Ich würde gerne mal dahin fahren.«
»Wenn wir nur wüssten, wo genau wir da hinmüssten.«
Die Fahrstuhltüren öffneten sich wieder, und sie liefen durch die Eingangshalle. Als sie die Drehtür hinter sich gelassen hatten, atmete Marlene tief durch. Die frische Luft tat ihr gut. Sie suchten nach dem Auto, entdeckten Karsten schließlich, der lässig daran gelehnt zwei Reihen weiter stand und ihnen zuwinkte. Er hatte offensichtlich einen Parkplatz gefunden.
»Du, Mama«, Paola zupfte an ihrem Ärmel, während sie auf das Auto zugingen, »wir haben gar nicht herausgefunden, was Oma eigentlich von dir wollte.«
»Stimmt.« Richtig, es hatte ja einen Grund gegeben, warum sie diesen Abstecher gemacht hatten. Wann sie nun wohl davon erfahren würden?
Sie wusste nicht, was mit ihr los war. Normalerweise hatte sie ihr Leben im Griff, hatte alles unter Kontrolle, doch in letzter Zeit spürte sie den Verfall, körperlich und geistig. Schon nach dem Schlaganfall war nichts mehr wie vorher gewesen. Sie hatte sich umgewöhnen müssen, war zunehmend auf Hilfe angewiesen. Etwas, das ihr gar nicht gefiel. Die Krönung war gewesen, dass Marlene sie ins Altenheim gesteckt hatte. Undankbares Ding! Ihr Leben lang hatte sie sich um das Kind gekümmert, und dann das. Inzwischen sah sie ja ein, dass es so hatte kommen müssen. Kaum etwas konnte sie noch alleine tun. Sie war ein menschliches Wrack geworden. Man kümmerte sich um sie, so gut es ging, aber sie merkte es ja selbst: Ihre Zeit lief ab. Und das war in Ordnung, schließlich ging sie auf die neunzig zu. Letztlich hatte sie es gut gehabt, oder etwa nicht? Hatte einen treu sorgenden Ehemann gefunden, hatte ein Haus ihr Eigen genannt, war Mutter geworden … Wenn sie nur nicht immer wieder von diesen Träumen geplagt werden würde … Jahrelang hatten sie sie in Ruhe gelassen, die in Fetzen gerissenen Bilder der vom Feuerschein überzogenen Heimat, von unzähligen Menschen im Treck, von marschierenden Soldaten, von dröhnenden Flugzeugen über ihnen … begleitet von Gefühlen des Ausgeliefertseins, von Verlust und markerschütternder Angst. Dieses Entsetzen, diese grenzenlose Furcht, all das hatte sie als junger Mensch noch lange geplagt und war früher scheinbar zusammenhanglos immer wieder über sie hereingebrochen. Nein, sie hatte sich damals geschworen, nie wieder hilflos zu sein, nie wieder hatte sie über das Vergangene nachdenken oder gar reden wollen. Es hatte nur das Neue gezählt, zunächst das Überleben, später das Leben. Schließlich gehörten sie zu den Glücklichen, die es geschafft hatten, nicht wahr? Sie wollten nicht klagen, sie wollten nach vorne sehen. Ohnehin hätte ihnen niemand zugehört. Kriegsgeschichten gab es genug, Heimatlose auch. Das war nichts Besonderes gewesen Ende der Vierziger-, Anfang der Fünfzigerjahre. Und nun saß sie hier auf diesem Sessel und wurde zu alldem, was sie nie wieder hatte sein wollen.
Editha versuchte durchzuatmen. Selbst das war mühselig. Sie wollte aufstehen, doch um was zu tun? Dann war da noch dieser vermaledeite Schwindel, der sie seit dem Schlaganfall plagte. Ein Schmerz jagte durch ihre Brust. Der Streit mit ihrer Tochter nahm sie mehr mit, als sie sich eingestehen mochte. Was war das immer mit ihr und Marlene? Warum bekam sie ihr Leben nicht in den Griff? Nun ließ sie auch noch ihren Mann ziehen, sich ihre Tochter wegnehmen. Paola. Das Mädchen war zauberhaft, ein wahrer Sonnenschein. Warum hatte Marlene nie so sein können? Sie war ein anstrengendes Kind gewesen, von Anfang an. Schon die Geburt! Als ob sie die warme Höhle nicht hatte verlassen wollen. Sie hatte es ihr schwer gemacht, stundenlang hatte Editha ihretwegen in den Wehen gelegen. Und als sie einmal da gewesen war, hatte sie versucht, ihr jegliche Kraft auszusaugen. Hatte aus Leibeskräften gebrüllt. Den ganzen Tag. Sie hatte sie schreien lassen, sie sollte schließlich stark werden.
Marlene gab ihr Kind weg zu einer anderen Frau? Was stimmte eigentlich nicht mit ihr? Nicht mal ihr Mann wollte bei ihr bleiben, aber das eigene Kind zu verraten? Das tat man doch nicht. Die Aufgabe einer Frau war es, die Familie zusammenzuhalten, koste es, was es wolle. Sie hatte es schließlich auch überstanden.
Irgendetwas hatte sie zu ihrer Tochter gesagt, was sie aufgebracht hatte. Sie wusste gar nicht mehr, was das gewesen war. Marlenes Stimme hatte daraufhin einen hysterischen Klang angenommen, war lauter geworden. Sie hält aber auch gar nichts aus, hatte Editha gedacht. Wir haben sie doch nicht zu einem Schwächling erzogen. Dann hatte sie auch noch angefangen zu weinen. Meine Güte.
Eigentlich hatte sie ihrer Tochter etwas mitteilen wollen, das war dann natürlich nicht gegangen. Inzwischen konnte sie sich nicht mehr erinnern, was das gewesen sein könnte. Marlene war aufgesprungen. Sie hatte wie ein aufgeplusterter Papagei gewirkt, so, wie sie da gestanden hatte und wie sie angezogen war. Warum musste sie bloß immer diese bunten, auffälligen Sachen tragen?
Sie sollte sich nicht so anstellen. Das half doch schließlich nichts. Worüber beklagte sich das Kind eigentlich? »Du hast nie etwas wirklich Schlimmes erlebt. Dir ging es doch immer gut«, hatte sie gesagt, und das entsprach den Tatsachen. So rückgratlos, wie Marlene war, hätte sie niemals überlebt, was sie, Editha, hatte ertragen müssen. Sie musste sich eingestehen, dass sie bei Marlenes Erziehung versagt hatte, sie hatte sie viel zu sehr verweichlicht. Kein Wunder, dass ihr der Mann weggelaufen war.
Der Schmerz in Edithas Brust schoss in den Arm. Kurz krümmte sie sich, doch dann ergriffen wieder Mechanismen die Oberhand, die sie sich ihr Leben lang eingebläut und verinnerlicht hatte: Haltung bewahren. Funktionieren. Auf keinen Fall hilflos sein!