Ein Sommer unter Apfelbäumen - Eva Seifert - E-Book

Ein Sommer unter Apfelbäumen E-Book

Eva Seifert

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Beschreibung

Ein Roman, so unwiderstehlich wie der Duft blühender Apfelbäume!

Bei Jula läuft es momentan alles andere als rund: Ihr Job macht ihr schon länger keinen Spaß mehr und ihr langjähriger Freund Daniel scheint sich mehr und mehr von ihr zu entfernen. Für eine Auszeit soll der langgeplante Besuch bei ihrer Tante Sarah im malerischen Wales sorgen, die dort mit viel Herzblut ein charmantes Bed & Breakfeast und einen Tearoom führt. Doch auch sie steckt in einer schwierigen Situation: Soll sie wirklich die Ciderfarm ihres verstorbenen Schwagers übernehmen, die schon seit Jahrzehnten im Besitz der Familie ist, und damit ihren eigenen Lebenstraum aufgeben? In Gesprächen mit Sarah erfährt Jula nicht nur nach und nach von der tragischen wie turbulenten Geschichte des Apfelhofs und seiner Besitzer, sondern auch ein unglaubliches Familiengeheimnis – und was wirklich zählt im Leben …

Mit tollen Rezepten für walisische Köstlichkeiten, die garantiert glücklich machen!

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Seitenzahl: 634

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Buch

Bei Jula läuft es momentan alles andere als rund: Neben Ärger im Job scheint sich auch noch ihr langjähriger Freund Daniel mehr und mehr von ihr zu entfernen. Für Ablenkung soll der langgeplante Besuch bei ihrer Tante Sarah im malerischen Wales sorgen, die dort mit viel Herzblut ein charmantes Bed & Breakfast und einen Tearoom führt. Doch auch sie steckt in einer schwierigen Situation: Soll sie wirklich die Ciderfarm ihres verstorbenen Schwagers übernehmen, die schon seit Jahrzehnten im Besitz der Familie ist, und damit ihren eigenen Lebenstraum aufgeben? In Gesprächen mit Sarah erfährt Jula nicht nur nach und nach von der tragischen wie turbulenten Geschichte des Apfelhofs und seiner Besitzer, sondern auch ein unglaubliches Familiengeheimnis – und was wirklich zählt im Leben …

Autorin

Eva Seifert ist in Bremen geboren und aufgewachsen. Schon als Kind hat sie gern gelesen und geschrieben. Nach einem Studium der Kulturwissenschaft, Germanistik und Geschichte, arbeitete sie als Lektorin in München und bekam dort all die Bücher zu lesen, die sie selbst gerne schreiben wollte. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in der Nähe von Braunschweig, wo sie als freie Lektorin arbeitet und endlich auch schreibt.

Von Eva Seifert bereits erschienen

Ein schwedischer Sommer

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EVA SEIFERT

Ein Sommer unter Apfelbäumen

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2020 by Eva Seifert

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Redaktion: Margit von Cossart

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (donatas1205; DiamondGT; Charcompix; J.D.S; prapann; Africa Studio;

mamamia; grafnata; umat34; frantic00; Callahan; hedgehog94; Food Travel Stockforlife)

JF · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-22778-4V001

www.blanvalet.de

Für meine Mutter,

die zum Glück so ganz anders ist

als einige der Mütter in diesem Roman

Prolog

Sarah

Rhossili, Wales, Juli 2019

Dear Sarah,

niemals werde ich wiedergutmachen können, was ich Dir angetan habe. Ich weiß, dass ich Dir entsetz­liches Leid zugefügt habe. Ich wünschte, ich könnte das alles ungeschehen machen, ich wünschte, ich könnte ein anderer Mensch sein. Für Dich. Aber ich bin nur Nigel Gabriel Wyndham, ein einfacher Mann. Ich könnte versuchen, mich zu rechtfertigen, indem ich Dir erkläre, dass ich mich nur noch einmal austoben wollte, bevor ich mich für immer in den Hafen der Ehe begeben werde. Ich weiß allerdings, dass das schwach klingt, und das ist es auch. Ich verstehe selbst nicht, warum das alles geschehen ist. Es ist unverzeihlich. Ich habe einen furchtbaren Fehler gemacht, habe Dir das Herz gebrochen, weil ich mich mit anderen Frauen eingelassen habe. So etwas wird niemals wieder vorkommen, Sarah! Und falls es Dich ein wenig trösten kann, es ist nicht mehr passiert als das, was Du gesehen hast.

Ich werde mich ändern, ich verspreche es! Du bist doch meine große Liebe, mein Ein und Alles!

Nichts wünsche ich mir sehnlicher, als dass Du bei mir bleibst! Wir werden eine wundervolle Zukunft in meiner Heimat haben, denn Du liebst das Anwesen meiner Familie in Rhossili. Wir hatten doch so viel vor, wollten den Hof umbauen, Deinen Traum von einem Bed and Breakfast verwirklichen. Bitte, wirf unsere Pläne nicht über Bord. Bitte, bitte, gib uns nicht auf, gib mich nicht auf! Ich werde Dir die Welt zu Füßen legen, das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist!

Ich möchte mit Dir leben, Sarah, nur mit Dir. Keine andere Frau ist so wie Du! Ich werde alles dafür tun, ein besserer Mann zu werden und Dir ein guter Ehemann zu sein – in allen Belangen. Denn Du kannst Dir ganz sicher sein: Ich liebe nur Dich!

Bitte, lass mich nicht fallen!

Dein Dich über alles liebender Nigel

Müde legte Sarah den Brief zur Seite und rieb sich die Augen. Sie sollte Schluss machen für diesen Tag, es war anstrengend, die alten Unterlagen zu durchsuchen – besonders, wenn ihr dabei Briefe wie dieser in die Hände fielen, die sie in die Zeit viele, viele Jahre zuvor zurückversetzten. Mit einem Mal konnte sie sich wieder genau daran erinnern, wie elend sie sich gefühlt hatte, wie verletzt. Betrogen und belogen von dem Mann, den sie heiraten und für den sie alles hatte aufgeben wollen.

Sie hatte damals bereits alle Vorkehrungen getroffen, um mit Nigel nach Wales zu gehen und den Hof seiner Großeltern in der Nähe des kleinen Örtchens Rhossili zu übernehmen. Hatte im wahrsten Sinne des Wortes ihre Zelte abgebrochen und eine heftige Auseinandersetzung mit ihren Eltern gehabt, die es nicht guthießen, dass sie ihren Beruf aufgab, um blindlings, wie sie meinten, einem Mann in ein fremdes Land zu folgen. Es hatte lange gedauert, bis sie ihre Entscheidung akzeptiert hatten. Doch sie war sich so sicher gewesen, hatte sie sich doch unsterblich in diesen stattlichen britischen Soldaten verliebt. 1980 war das gewesen, und sie war gerade zwanzig geworden. Sie hatte sofort gewusst, dass er der Richtige für sie war.

Nigel hatte dann überraschend zurück nach Wales gemusst. Ohnehin waren die britischen Truppen zu der Zeit nach und nach aus Deutschland abgezogen worden – ­Nigels Stützpunkt, Langenhagen, sollte als letzter Standort in Hannover 1993 geschlossen werden –, aber seine Eltern hatten sich gewünscht, dass er so schnell es ging wieder nach Hause kam, da die Großmutter mütterlicherseits verstorben und der Großvater pflegebedürftig geworden war. Er hatte in ein Altersheim gemusst, was bedeutete, dass der Hof der Großeltern bei Rhossili bald leer stehen und verkommen würde, womöglich verkauft werden müsste, wenn nicht jemand einzog. Und da blieb im Grunde nur Nigel, denn sein Bruder Peter sollte eines Tages die Apfelfarm ihrer Eltern weiter­führen.

Sarah war das recht gewesen, sie hatte sich auf ein gemeinsames Leben mit ihrem Nigel gefreut. Der Plan war gewesen, dass Nigel noch die paar Jahre in der Armee blieb, bis er offiziell seinen Dienst quittieren konnte. ­Sarah sollte sich unter der Woche um alles kümmern, damit der Hof schon mal bewohnt war, er würde an den Wochenenden zu Hause sein. Es war klar, dass das kleine Anwesen unter diesen Umständen nicht so wie zuvor weitergeführt werden konnte, also hatten Nigel und sie sich darüber verständigt, Little Haven nach und nach zu einem Bed and Breakfast umzubauen, von dem Sarah schon lange träumte.

Vollen Mutes und voll glücklicher Vorfreude auf ihr neues Leben war sie gewesen – doch dann das. Er hatte mit ihrer Freundin geknutscht. Auf einer Tanzveranstaltung. Und das war noch nicht alles. Seine Hände waren überall an ihr gewesen. Und ihre an ihm. Es war widerwärtig gewesen. Sarah war übel geworden, kurz hatte sie befürchtet, sich übergeben zu müssen, doch dann hatte Wut die Oberhand gewonnen. Überschäumend vor Zorn und Entsetzen hatte sie sich vor Nigel aufgebaut und ihm eine Ohrfeige gegeben, danach war sie beschämt und mit gebrochenem Herzen nach Hause geflüchtet. Und das Schlimmste war gewesen, dass sie kurz darauf erfahren hatte, dass Nigel nicht nur mit ihrer Freundin angebandelt hatte.

Wenig später hatte er vor ihrer Tür gestanden, doch sie hatte nicht geöffnet. Nicht am nächsten Tag und auch nicht am Tag darauf. Sie hatte das Haus nicht verlassen und war nicht ans Telefon gegangen. Schließlich hatte sie diesen Brief im Briefkasten gefunden. Und schlussendlich war sie doch mit ihm mitgegangen.

Nun denn, es war lange her. Damals war sie jung gewesen, viel zu jung, wie es ihr heute vorkam.

Sarah legte das Papier auf den Stapel zurück. Sie würde am kommenden Morgen weitersuchen. Jetzt würde sie sich erst einmal eine Tasse von ihrem Lieblingstee Lemon & Ginger machen. Und Jula eine WhatsApp schicken. Das hatte sie schon den ganzen Tag vorgehabt und war immer wieder drüber weggekommen.

Sie erhob sich seufzend und nahm ihr steinzeitlich anmutendes Smartphone vom Kaminsims. Es war erschreckend, wie schnell die Dinger veralteten. Olivia, ihre Hilfe aus dem Tearoom, lachte sie immer deswegen aus. Aber es tat noch seine Dienste, also warum sollte sie sich ein neues zulegen? Ihr Blick fiel auf die in silbernen Rahmen steckenden Fotos. Sie und Nigel, Nigel und sein Bruder Peter. Peter mit seiner Frau Lizzy und der Tochter Ava. Lizzy war schon vor mehr als zehn Jahren gestorben. Brustkrebs. Viel zu jung. Ava lebte in den USA und verspürte keinerlei Drang, nach England zurückzukehren. Doch auf der Beerdigung ihres Vaters vor drei Tagen war Sarah ihr wiederbegegnet. Nun lebte auch Pete nicht mehr. Wie schnell das Leben dahinzog! Sarah schüttelte den Kopf, weil sie es nicht fassen konnte. Inzwischen war sie selbst schon fast sechzig!

Sie blickte schnell auf die anderen Fotos. Es gab ein Bild von ihrer Schwester Judith mit Jula, als diese gerade geboren war. Dann noch eines von den beiden, als sie zum ersten und einzigen Mal gemeinsam in Wales gewesen waren – ihre Schwiegermutter Eira hatte Geburtstag gehabt an jenem Tag. Dieser schicksalhafte Tag … Judith war die ganze Zeit über kurz angebunden gewesen, beinahe abweisend. Sarah hatte nicht gewusst, was vorgefallen war, aber seit diesem Tag war Judith nie wieder nach Wales gekommen.

Der Kontakt zwischen ihr und ihrer Schwester war so gut wie eingeschlafen, sie sah Judith und Jula nur, wenn sie mal die Eltern in Hannover besuchte. Diese taten dann alles dafür, dass die Schwestern sich auch trafen. Trotz der schwierigen Bedingungen war irgendwann ein reger Briefwechsel zwischen Sarah und ihrer Nichte entstanden. Wie sich das hatte entwickeln können, wo die Mutter so reserviert war, erstaunte Sarah immer wieder. Doch das Mädchen hatte sie beinahe vom ersten Moment an ins Herz geschlossen – was auf Gegenseitigkeit beruhte – und mit zunehmendem Alter ebenjenes immer mehr bei ihrer so fern lebenden Tante ausgeschüttet. Die intensiven Briefwechsel eines kleinen Mädchens waren nach und nach durch stundenlange Telefonate ersetzt worden, in denen Jula Sarah alles gefragt hatte, was ein Mädchen in der Pubertät so beschäftigte, und erzählt hatte, was sie bedrückte und offenbar mit ihrer Mutter nicht besprechen konnte.

Sarah hatte aus den Gesprächen mit Jula herausgehört, dass Judith zunehmend kühler und distanzierter wurde – nicht nur ihr, Sarah, gegenüber. Sie hatte sich daher damals vorgenommen, sich noch mehr um Jula zu kümmern, egal, ob es Judith in den Kram passte oder nicht. Sie hatte Jula immer wieder in den Sommerferien zu sich nach Rhossili eingeladen, und Judith hatte das glücklicherweise nicht unterbunden. Welche Gründe auch immer dahinterstecken mochten. Vielleicht war sie einfach froh gewesen, mal ihre Ruhe zu haben. Jula hatte sich bei Tante und Onkel wohlgefühlt, und Sarah erinnerte sich gut, wie sehr auch sie selbst aufgeblüht war, wenn sie Jula in London am Flughafen abgeholt hatte. Sie war ihr beinahe wie eine eigene Tochter geworden. Das Kind, das sie nie selbst hatte haben können.

Sarah griff nach dem nächsten Foto. Sie hatte es erst vier Jahre zuvor aufgenommen. Damals hatte sie Jula zum letzten Mal gesehen. Es war zu Nigels Beerdigung gewesen. Ein trauriger Anlass, Jula war ihr jedoch eine große Stütze gewesen, zumal ihre Schwester es nicht mal zu einem solchen Anlass für nötig gehalten hatte, nach Wales zu kommen. Wichtige Termine auf der Arbeit hatte sie vorgeschoben. Wer’s glaubte …

Sarah stellte das Foto ihrer Nichte auf den Kaminsims zurück und entsperrte ihr Handy. Wie sehr sie den Besuch von Jula und deren Freund im August herbeisehnte!

Sie setzte sich wieder in ihren gemütlichen Ohrensessel, zog die bunte gehäkelte Decke über ihre Beine und fing an zu tippen.

Liebe Jula! Bleibt es bei eurem Besuch in zwei Wochen? Ich freue mich schon auf euch! Habe die Beerdigung von Nigels Bruder gut hinter mich gebracht. Aber es war auch aufwühlend. Ist einiges auf den Tisch gekommen, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Dazu mehr, wenn ihr hier seid. Bis bald! Liebe Grüße, Sarah

Die Antwort kam prompt:

Oh, das klingt in der Tat aufregend … Klar bleibt es bei unserem Besuch! Ich freue mich schon riesig. Auch darauf, Daniel endlich mal alles bei dir zeigen zu können! LG, Jula xxx

Sarah tippte zurück:

Ich freue mich auch sehr auf euch!

Sie hielt einen Augenblick inne. Jula war mit ihrem Freund schon viele Jahre zusammen, aber er war noch nie in Wales gewesen. Seltsam eigentlich. Sie war ihm nur ein, zwei Mal in Hannover begegnet, kannte ihn also eigentlich kaum.

Kommt gut her!,

schrieb sie weiter und schickte die Nachricht ab.

Wie gern hätte sie Jula einfach mal eben angerufen und schon jetzt von den neuen Ereignissen berichtet, die sie seit Peters Beerdigung beschäftigten, doch die jungen Leute heutzutage hatten es alle so eilig, da wollte sie nicht stören. Außerdem wollte sie ihre Nichte nicht beunruhigen.

Sarah legte das Handy beiseite, stand erneut auf, um die Papiere, die sie eben durchgesehen hatte, in den kleinen Karton zurückzulegen. Sorgsam wickelte sie die Paket­schnur wieder darum. Wie unsinnig, schoss es ihr durch den Kopf, morgen will ich doch weiterlesen. Sie ging zum Herd und setzte den Wasserkessel auf. Wenn ihre Nichte Mitte August käme, wollte sie alle Unterlagen durchgearbeitet haben. Vielleicht würde Jula ihr bei ihrer Entscheidung helfen können.

Eira

Rhossili, Wales, Februar 1939

»Halt, halt, wartet auf mich!«, rief ich meinen Brüdern keuchend zu, die bereits neben unseren zwei klapprigen Drahteseln standen und Anstalten machten loszufahren.

Es waren die einzigen Räder, die wir in der Familie besaßen. Wenn ich noch mitwollte, musste ich mich sputen und schnell bei Arthur oder bei Thomas auf den Gepäckträger springen. Beide waren sie nicht begeistert davon, ein zusätzliches Gewicht rüber nach Llangennith transportieren zu müssen. Also tat ich gut daran, flink zu sein, bevor sie ohne mich davondüsen konnten.

»Musst du denn immer mitkommen?«, murrte Arthur da auch schon. »Robert ist unser Freund.«

»Er ist ebenso meiner«, widersprach ich, etwas aus der Puste, als ich bei meinen Brüdern angelangt war, und reckte trotzig mein Kinn. »Und die Wyndhams ­mögen mich sehr. Ich helfe schließlich auch auf dem Hof mit …«

Ich musste dies einfach noch spitz hinzufügen. Tatsächlich schienen Roberts Eltern, Mabel und Edwin, mich besonders ins Herz geschlossen zu haben. Aus unerfindlichen Gründen hatten sie keine Kinder außer ­Robert bekommen, obwohl sie sich inständig weitere gewünscht hatten. Und so behandelten sie mich wie eine Tochter. Aber auch meine Brüder waren auf dem Apfelhof der Wyndhams immer willkommen.

Ärgerlich sah Arthur zu Thomas hinüber, der mit den Schultern zuckte. »Lass sie doch«, meinte er.

»Genau«, stimmte ich zu. »Und überhaupt ist Robert ja wohl vor allem Thomas’ bester Freund«, ergänzte ich.

Ich konnte es einfach nicht lassen, wusste ich doch, dass dies ein wunder Punkt für Arthur war, der mit seinen neunzehn Jahren zwei Jahre älter war als Thomas und Robert, und trotzdem, wie man ehrlicherweise zugeben musste, nicht ganz so pfiffig wie die beiden.

Arthurs Gesichtsausdruck veränderte sich, ich konnte sehen, dass meine Bemerkung ihn getroffen hatte. Schon tat es mir wieder leid, dass ich mich nicht hatte zurückhalten können. Doch andererseits hackte er auch oft genug auf mir herum. Thomas war da ganz anders. Er betrachtete mich als gleichwertig und empfand meine Gesellschaft nicht als störend. Meistens jedenfalls. Vielleicht lag es daran, dass er mitfühlender war als Arthur. Genau wie Robert.

Mit dem Wyndham-Jungen aus dem Nachbarort Llangennith hatte ich mich von dem Moment an gut verstanden, seit Thomas ihn das erste Mal nach der Schule mit zu uns nach Hause gebracht hatte. Von da an waren wir vier unzertrennlich gewesen. Also, aus meiner Sicht. Um als einziges Mädchen in dieser Truppe nicht zu sehr aufzufallen, bemühte ich mich, bei allem mitzuhalten, was die Jungs auch taten, sei es angeln, auf Bäume klettern oder raufen. Und manchmal bedeutete es eben, schnell sein zu müssen, so wie jetzt. Und sich nicht unter­buttern zu lassen.

»Dann nimmst du sie aber bei dir mit drauf«, motzte Arthur und trat in die Pedale, bevor Thomas noch etwas erwidern konnte.

»Ich könnte ja auch mal fahren«, rief ich ihm hinterher, während ich mich bei Thomas auf den Gepäckträger schwang, »nur schnappst du dir ja immer gleich das Rad.«

Arthur winkte ab, ohne sich umzusehen, und radelte bereits den Schotterweg hinunter, der vor den Hügeln der Rhossili Down Richtung Norden führte.

»Lass gut sein, Schwesterchen«, meinte Thomas, während er sich in Bewegung setzte.

Er war nur ein Jahr älter als ich und trotzdem einen ganzen Kopf größer, rank und schlank, dabei aber zäh wie ein Ochse. Man wunderte sich bei ihm oft darüber, was er an Kraft aufbringen konnte. Im Gegensatz zu ­Arthur, der nicht nur wie ein Bulle arbeitete, sondern auch wie einer aussah. Da passte es sehr gut, dass er – als der Älteste – einmal den Hof unserer Eltern übernehmen würde. Er gehörte zu Darley’s Farm wie die Schafe, die wir hielten, und der Blick aufs Meer.

Was aus Thomas und mir werden sollte, stand allerdings in den Sternen. Thomas würde sicher seinen Weg gehen, er war so unglaublich klug, belesen und geschickt, er war zu Höherem bestimmt, da war ich mir sicher. Aber ich? Immer wieder hörte ich, wie meine Eltern, wenn sie glaubten, dass wir es nicht mitbekämen, mit sorgenvoller Miene darüber sprachen, dass der Hof nicht genug für die Familien von uns drei Kindern abwerfen würde. Nun, sollten sie mich jemals fragen, ich wüsste da schon was …

Thomas fuhr durch ein Schlagloch, und ich klammerte mich fester an ihn. Es war ein milder Wintertag – auf unserer kleinen Halbinsel Gower im Süden von Wales fielen die Temperaturen ohnehin selten unter null Grad –, der allerdings noch Regen bringen würde. Dicke Wolken hatten sich über den Hügeln hinter unserem Hof aufgetürmt, aber bislang behielten sie ihre Tropfen bei sich. Mein Blick wanderte vom ewigen Grün der Rhossili Down, das zu dieser Jahreszeit gesprenkelt war von braunen Tupfern Heide, in die gegenüberliegende Richtung, wo eine bleiche Sonne versuchte, ein paar Strahlen über das Meer zu uns zu schicken. Es gelang ihr nur mit mäßigem Erfolg.

Ich spürte den vom Wasser kommenden eisigen Wind auf meinen Wangen und meinen Händen, die Thomas’ Bauch fest umklammert hielten, und merkte, wie sie von der Kälte steif wurden. Aber da hatten wir bereits die Dünen erreicht, die unsere Weiden im Norden begrenzten. Hier mussten wir ohnehin absteigen und die Räder schieben. Bei Hillend, einem klitzekleinen Ort mit nur zwei Höfen, bogen wir – wie der Name schon sagte – um das Ende der Hügel und kamen von dort auf die Straße nach Llangennith. Hier fuhr es sich wesentlich leichter, blies einem der Wind doch nicht mehr so sehr entgegen wie auf der Meerseite der Hügel von Rhossili, dem kleinen Dorf, zu dem auch unser Hof gehörte. Obwohl er etwas außerhalb lag. Braune Äcker und sattgrüne Weiden wechselten sich nun ab mit Wiesen und vereinzelten Häusern.

Nach ein paar Kurven kamen die ersten Apfelbäume der Wyndhams in Sicht. Ich streckte meine Nase ein wenig hinter Thomas’ Rücken hervor, denn ich mochte diesen Anblick der in Reih und Glied stehenden Bäume. Besonders gefiel es mir hier zur Apfelblüte im Frühjahr, wenn die Baumkronen voller hellgrüner Blätter und zahlloser weißer bis zartrosafarbener Blüten waren, die ihren betörenden Duft verströmten und von summenden Bienen umflogen wurden. Ich stellte mir gern vor, dass die Apfelbäume extra für mich blühten, wenn ich Ende Mai meinen Geburtstag feierte.

Arthur entdeckte Robert zuerst und rief einen Gruß zu ihm hinüber. Er stand zwischen den Reihen auf einer an einen Baum gelehnten Holzleiter und beschnitt gerade steil nach oben oder ins Kroneninnere wachsende Triebe. Um diese Jahreszeit stand der Erhaltungsschnitt an, wie ich mich erinnerte. Roberts Vater hatte mir das mal erklärt. Dieser Schnitt sollte die Fruchtbarkeit der Apfelbäume fördern. Ich sah, dass Edwin in einer anderen Reihe mit der gleichen Tätigkeit beschäftigt war.

Robert sah von seiner Arbeit auf und winkte uns zu, als wir an ihm vorbeiradelten und in den Hof der Wyndham’s Cider Farm einbogen. Die Reifen knirschten auf dem Kies. Wir lehnten die Räder an das kleine Mäuer­chen, das die vordere Obstwiese vom Hof trennte. Hier standen die ältesten Apfelbäume. Es waren welche der Sorte Dabinett, ein klassischer Cider-Apfel. Ich kannte sie. Die Früchte waren gelblich grün mit roten Sprenkeln und wurden im November geerntet. Sie schmeckten bittersüß. Irgendjemand von Roberts Vorfahren hatte die Kerne mal aus Somerset mitgebracht, und seitdem bildeten die Dabinetts die Basis von Wyndham’s Cider. Zusammen mit einigen anderen Apfel­sorten natürlich. Wyndham’s Cider war in der Gegend sehr beliebt und wurde von Jung und Alt gerne als Alternative zu Bier getrunken.

Wir liefen zu Robert hinüber, der von seiner Leiter herun­terstieg, um uns zu begrüßen.

»Gut, dass ihr da seid, ihr könnt gleich mitmachen«, sagte er lachend und zeigte auf eine Holzkiste, in der Sägen, Astscheren und Messer lagen. »Vater und ich wollen heute noch eine Reihe schaffen, die direkt bei dem Mäuerchen, wo ihr eure Räder abgestellt habt.«

Unsere Blicke folgten seinem ausgestreckten Arm. Im Stillen maßen wir die Arbeit ab. In Roberts Reihe gab es noch zwei Bäume bis zur Straße, Edwin befand sich in seiner Reihe weiter hinten, er hatte bestimmt noch fünf Kronen vor sich. Die letzte Reihe war etwas kürzer als die anderen, aber etwa zehn Bäume befanden sich auch hier. Seufzend griff jeder von uns nach dem Werkzeug. Eigentlich hatten wir gehofft, mit Robert etwas anderes unternehmen zu können. Doch die Arbeit ging eben vor, bei den Wyndhams genauso wie bei uns auf dem Darley-Hof.

Geschwind stellte ich mich an den Baum neben dem von Robert, sodass meine Brüder in der nächsten Reihe beginnen mussten. So konnte ich mich ein wenig »allein« mit ihm unterhalten.

»Schneidet alles weg, was trocken ist oder sich zu sehr mit anderen Zweigen kreuzt, oder das, was nach innen wächst«, rief er uns zu. »Nur wo ihr rankommt, natürlich. Die oberen Teile machen Vater und ich dann gleich mit der Leiter.«

»Ich habe immer Angst, was falsch zu machen«, sagte ich zu Robert.

»Da passiert so schnell nichts. Die Bäume müssen alle ein bisschen ausgedünnt werden. Man braucht nicht zaghaft zu sein. Es ist nur wichtig, dass ihr direkt über dem Astring schneidet, das weißt du doch.« Ich nickte. »Denk an den Spruch: Nach dem Obstbaumschnitt muss man einen Hut durch die Krone werfen können, ohne dass er sich verfängt!«

Aufmunternd lächelte mir Robert zu. Ich schloss die Holzkiste, schob sie unter meinen Baum und stieg darauf, um besser an die Äste heranzureichen. Die Bäume waren nicht sonderlich hoch, und so stand ich mit dem Oberkörper mitten im Geäst. Wenn es schon Frühling wäre und die Baumkronen voller Blätter wären, würde man nur meine Beine sehen können, überlegte ich. Ein lustiges Bild. Beherzt suchte ich mir einen trockenen Zweig und schnitt ihn direkt über dem Astring ab.

Zum Glück war es nicht das erste Mal, dass meine Brüder und ich bei der Pflege der Apfelbäume halfen, aber es fühlte sich für mich jedes Mal wieder neu an. Nach ein paar Schnitten wurde ich wieder sicher und arbeitete, als hätte ich noch nie etwas anderes getan. Allerdings begannen meine Arme bald zu schmerzen. Ich biss die Zähne zusammen und machte weiter, wollte mir auf keinen Fall vor Robert und schon gar nicht vor meinen Brüdern eine Blöße geben.

Ich bemerkte, wie Robert zu mir kam, mit der Leiter unter den Arm geklemmt. Er stellte sie an meinen Baum.

»Gut machst du das, Schneeflocke.«

Er sagte meinen Namen oft auf Englisch – snow flake –, denn das bedeutete Eira auf Walisisch. Warum meine Eltern mir diesen Namen gegeben hatten, obwohl ich doch im Frühling geboren war, würde ich nie verstehen. Vielleicht hatten sie dabei auch die blühenden Apfelbäume oder die wehenden Blüten vor sich gehabt. Aber das war nicht wahrscheinlich, denn auf Gower gab es weit und breit nur bei den Wyndhams Apfelbäume. Und mit den Wyndhams hatten unsere Eltern nichts zu tun. Sie kannten sie nicht mal, kamen überhaupt so gut wie nie aus unserem kleinen Dorf heraus. Mit uns Kindern war das anders. Wir gingen alle zur Schule in Rhossili. Hier kamen die Heranwachsenden aus dem Westen der Halbinsel zusammen, und so kannte jeder jeden. Die Freundschaft zu Robert hatte gehalten, auch als wir mit vierzehn Jahren die Schule verlassen hatten.

»Danke.« Ich stieg von der Holzkiste und betrachtete mein Werk ebenfalls.

»Jetzt noch die andere Seite«, meinte Robert.

Ich nickte. »Jetzt geht die Arbeit wieder los, was?«, fragte ich, obwohl ich wusste, dass es – genau wie bei uns auf dem Hof – eigentlich immer etwas zu tun gab, selbst wenn gerade keine Erntezeit war, in der Obst oder Gemüse verarbeitet werden musste.

»Ja, die faulen Wintermonate sind vorbei.« Robert grinste. »Die Bäume brauchen wieder Zuwendung, nachdem sie im Herbst so schön getragen haben.«

»Die faulen Wintermonate mögen vorbei sein, der Winter ist es nicht.« Ich rieb mir meine kalten Hände.

»Komm, lass uns schnell weitermachen. Dann macht uns Mutter drinnen sicher gleich einen heißen Apfelpunsch oder eine warme Milch.«

»Mmh, darauf freu ich mich schon!«

Mir lief nur beim Gedanken an Mabels Apfelpunsch das Wasser im Mund zusammen. Sie gab noch etliche Gewürze hinein, welche das genau waren, das war ihr Geheimnis.

Robert strich mir mit der freien Hand sacht über die Schulter. Wir sahen uns an, in stillem Einverständnis. Er würde mir einen Kuss geben, wären die anderen nicht in der Nähe. Doch so blieben uns nur diese beinahe zufällige Berührung und der stille, aber dennoch eindringliche Blick. Dann stieg er auf die Leiter, um die oberen Triebe zu stutzen, die ich von unten nicht hatte erreichen können. Schweigsam setzten wir unsere Arbeit fort.

Jula

Hannover, Juli 2019

Dieses Jahr war der Sommer unglaublich. Schon seit ­Tagen brannte die Sonne erbarmungslos, Temperaturen über dreißig Grad waren normal. Mir war das zu heiß. Ich mochte den Sommer, natürlich, wer mochte ihn nicht? Aber solch eine Hitze konnte ich nicht gut vertragen, ich zog mich gern in unsere kühle Wohnung zurück, wenn andere draußen irgendwelchen Aktivitäten nachgingen. So wie mein Freund Daniel, der an den Wochenenden meistens irgendwo im Umland mountainbiken war oder zum Surfen zum Steinhuder Meer fuhr. Wenn er abends von der Arbeit nach Hause kam, setzte er sich hingegen gern draußen auf den Balkon und trank ein eiskaltes Bier. Passte ja auch bei der Hitze.

Ich verspürte weder das Bedürfnis, mit dem Fahrrad am Deister oder im Harz irgendwelche Berge hinunterzubrettern, noch war ich ein besonderer Freund von Bier. Mir war eine kühle Weinschorle am Abend, am liebsten mit einem guten Buch auf dem Schoß, hundertmal lieber.

Gedankenverloren schob ich meinen Einkaufswagen durch den Supermarkt und sah auf meinen Zettel. Bier, Wein, Paniermehl, Brot, Würstchen. Ich kam an den Gefriertruhen vorbei. Mmh, Eis wäre auch nicht schlecht. Erdbeereis, Schokoladeneis, Eis am Stiel in allen Varia­tio­nen … Aber es wäre wohl nicht sehr schlau, zuerst das Eis einzuladen. Also erst mal weiter zum Bier. Daniel trank immer Jever. Friesisch herb war das, genau wie er selbst, meinte er. Mir war das viel zu bitter.

In letzter Zeit traten unsere Gegensätze, die ich zu Beginn unserer Beziehung entweder gar nicht bemerkt oder ganz charmant gefunden hatte, leider deutlicher hervor. Und das nicht nur, wenn es um unseren Geschmack bei Getränken ging. Offenbar waren wir auch in anderen Dingen unterschiedlicher Meinung, und leider auch, was die Erwartungen an unsere Partnerschaft anging, wie sich gerade erst gezeigt hatte. Daniel wollte in unserer Beziehung einfach nicht den nächsten Schritt gehen, ich hingegen träumte immer mehr von Kindern und einem kleinen Häuschen, davon, endlich sesshaft zu werden, unsere Verbindung zu besiegeln – gerne auch mit einem Ring an meinem Finger. Gestern Abend waren wir deswegen furchtbar aneinandergeraten – in dieser Deutlichkeit zum ersten Mal überhaupt.

»Geht es Ihnen gut?«, hörte ich da plötzlich eine warme Stimme hinter mir.

Ich drehte mich, noch ganz in Gedanken, um. »Wie bitte?«, fragte ich verdutzt.

Vor mir stand ein großer schlanker Mann, etwas älter als ich, vielleicht Ende dreißig. Das Alter konnte ich bei anderen Leuten immer ganz schlecht schätzen. Sein gebräuntes Gesicht durchzogen kleine Falten, die ihn aber noch interessanter wirken ließen, sein dunkelbraunes Haar war an den Schläfen von einzelnen grauen Strähnen durchzogen. Er trug einen Vollbart, ordentlich gestutzt, nicht so ein Hipster-Ding, wie man sie zurzeit, für mich völlig unverständlich, überall sah. Daniel würde sich niemals einen Bart stehen lassen. Er meinte, das wäre nur was für alte Männer. Der Typ jetzt erinnerte mich ein klein wenig an Roger Cicero. Es fehlte nur der Hut. Seine braunen Augen schauten mich besorgt an und schienen auf eine Antwort zu warten.

»Sie haben vor dem Regal gestanden und wirkten etwas verloren«, erklärte der Fremde.

Meine Güte, ich musste eine Weile stocksteif ins Leere gestarrt haben. Wie peinlich. »Äh … ja, danke, geht schon«, murmelte ich und musste dabei immer noch ziemlich hilflos ausgesehen haben.

»Ich finde es ja auch schade, dass sie das Gilde Pilsener aus dem Programm genommen haben, etwas Lokalpatriotismus kann man in den Geschäften der Region schon erwarten, finde ich. Da kann man schon verzweifeln …«

Machte er sich lustig über mich? Eigentlich sah er doch sehr nett aus, wie er so vor mir stand, mit einerseits besorgtem, andererseits amüsiertem Gesichtsausdruck.

»Immerhin verkaufen sie Herrenhäuser«, platzte ich heraus.

»Ach, wirklich?« Der Roger-Cicero-Verschnitt musterte die Flaschenreihe im Regal. »Tatsache, da ist es. Na, dann bin ich einigermaßen versöhnt.«

»Ich jetzt auch wieder«, sagte ich seufzend und merkte, wie sich meine trüben Gedanken langsam in Luft auflösten.

»Ich bin froh, das zu hören.« Er blickte mich einen Moment zu lange an. »Ist wirklich alles in Ordnung?«

»Ja, danke, es geht mir gut, wirklich«, versicherte ich erneut. »Es war nur … es ist so … Ach, es ist nichts, wirklich.« Nein, ich konnte diesem Fremden doch nicht hier und jetzt mein Herz ausschütten. Oder?

Er nickte. »Gut, da bin ich beruhigt«, sagte er und wollte sich schon umdrehen, als es doch aus mir herausplatzte.

»Ehrlich gesagt, haben Sie ganz recht. Ich stehe momentan etwas neben mir.« Ich erzählte ihm in kleinen Teilen von meiner Auseinandersetzung mit Daniel gestern Abend. Ich konnte einfach in diesem Moment nicht anders, und Roger wirkte irgendwie vertrauenswürdig. Er sah mich aufmerksam und vielleicht auch ein wenig irritiert an, wobei ich mir nicht sicher war, ob es an meiner Offenheit lag oder daran, dass ihm nun erst bewusst wurde, was er sich mit seinem überaus freund­lichen Hilfsangebot angetan hatte. »Daher war ich gerade wohl etwas … ähm … weggetreten«, schloss ich.

»Verständlich. Das ist schließlich auch eine schwerwiegende Entscheidung. Man sollte niemanden zu etwas drängen, zu dem er nicht bereit ist, andererseits kann man auch nicht ewig in einem Zustand verharren, der einen selbst nicht glücklich macht …« Nun wirkte er etwas verloren und schaute mit leerem Blick zu den Getränken.

»Wie? Sind Sie Psychologe, oder warum kennen Sie sich damit so gut aus?« Ich wollte es lustig klingen lassen, vermutete ich doch, dass hinter dieser Aussage mehr stecken könnte. Und Roger schien es mit Humor zu nehmen.

»Nein, nicht wirklich. Ich habe zwar ein paar Seminare in Wirtschaftspsychologie besucht, aber ich fürchte, das zählt nicht.« Er lächelte und zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Ist mehr so eine Vermutung.«

Ich betrachtete ihn eingehender. Ich mochte sein verständnisvolles Lächeln. Er war vermutlich jemand, mit dem man gut reden konnte, der mehr zu sagen hatte, als man im ersten Moment dachte. Doch nun entstand eine Pause, in der keiner von uns so recht wusste, wie es weitergehen sollte. »Na dann, trotzdem noch einen schönen Tag«, setzte er schließlich fort. »Und grübeln Sie nicht mehr zu sehr.«

Bevor ich überlegen konnte, hörte ich mich sagen: »Sie haben Wirtschaftspsychologie studiert?«

Ich wollte diesen netten Typen nicht gehen lassen. Warum, wusste ich selbst nicht so genau. Vielleicht, weil er mir gerade den Tag gerettet hatte und ich einfach ein bisschen mehr von seiner guten Stimmung haben wollte.

»Eigentlich habe ich Wirtschaftswissenschaft studiert, Psychologie war nur ein kleiner Teil davon. Wieso?«

Er sah verwundert aus. Du liebes bisschen, wahrscheinlich dachte er nun, dass ich ihn abschleppen wollte!

»Ach, wie meine Freundin. Das heißt, sogar zwei meiner Freundinnen, aber die eine hat nach zwei Semestern abgebrochen und ist auf Modedesign umgeschwenkt.« Ich dachte an Carla. Wir hatten lange nicht mehr telefoniert. »Nach dem Studium hat sie ziemlich bald geheiratet und reist seitdem mit ihrem Mann – er ist im Auswärtigen Dienst – durch die Weltgeschichte. Inzwischen leben sie allerdings in Berlin.« Ich stellte verlegen fest, dass ich ins Plappern geriet. Jetzt musste ich schnell wieder die Kurve kriegen. »Die andere ist vor ein paar Jahren nach England gezogen und heiratet übernächste Woche«, schloss ich. Als ob das den armen Mann interessieren würde.

»Tatsächlich?« Er zog die Augenbrauen hoch. Gleich würde er irgendeine spöttische Bemerkung fallen lassen, sich umdrehen und gehen. Und dabei darüber nachdenken, was für eine seltsame Frau er an diesem Nachmittag im Supermarkt getroffen hatte. »Ihre Freundin heißt nicht zufällig Vera?«, fragte er stattdessen. »Und die andere, die abgebrochen hat, ist das … Carla?«

Nun war es an mir, überrascht zu sein. »Ja, das stimmt. Vera Schneider und Carla Körner. Wissmuth hieß sie früher«, ergänzte ich. »Aber …«

»Das ist ja witzig. Wir kennen uns vom Studium. Ich war ein paar Semester weiter als Carla und Vera und war in ihrem ersten Semester ihr Tutor. Mit Vera habe ich sogar eine Zeit lang in einer WG gewohnt.«

»Ach, Quatsch. Das gibt’s doch nicht. In ihrer Vierer-WG in der Kornstraße?«

»Ja, genau. Zusammen mit zwei anderen. Irgendwann gab’s Ärger, und die WG hat sich aufgelöst. Ich war ohnehin fertig mit dem Studium, aber für Vera war es unglücklich damals. Sie musste sich in kürzester Zeit was Neues suchen.«

»Stimmt, ich erinnere mich.« Ich dachte an die Zeit zurück. Vera war ziemlich widerstrebend wieder zu ihren Eltern gezogen. Und ich war gerade mit Daniel zusammengekommen. »Dann sind wir uns bestimmt schon mal auf einer ihrer WG-Partys begegnet.« Ich überlegte. Tatsächlich kam er mir irgendwie bekannt vor. Vielleicht war es gar nicht die Ähnlichkeit mit Roger Cicero gewesen, die mir aufgefallen war, sondern der Hauch einer Erinnerung an jemanden, den ich irgendwo schon mal gesehen hatte …

»Gut möglich. Woher kennen Sie sich denn?«, fragte er nun.

»Ich finde, wir sollten uns duzen«, gab ich mutig zurück, »jetzt, wo wir sozusagen Freunde von Freunden sind.«

»Gern, ich bin Andreas.«

»Jula«, antwortete ich. »Und wir kennen uns aus der Schule. Vera, Carla und ich sind in Kleefeld aufgewachsen und zur Schule gegangen. Von der Grundschule bis zum Gymnasium waren wir immer in einem Jahrgang.«

»Die Welt ist klein«, sinnierte er nun. »Aber du hast nicht Wirtschaftswissenschaften studiert?«

Ich lachte. »Nein, davon habe ich keine Ahnung. Mich hat es mehr zu den Sprachen gezogen, Germanistik und Anglistik. Seit ein paar Jahren bin ich Journalistin beim Leine-Kurier.«

»Tatsächlich? Dann habe ich bestimmt schon mal was von dir gelesen.«

»Kann sein«, antwortete ich verlegen. »Ich schreibe für den Lokalteil, Stadtfeste, Jubiläen et cetera.«

»Oh, da hast du ja einen Job, den viele gerne hätten.«

»Wahrscheinlich schon.« Ich kannte diese weitverbreitete Ansicht, hatte selbst eine Weile gedacht, dass Journalismus genau mein Ding wäre, musste aber zunehmend erkennen, dass dem nicht ganz so war. »Ich habe eigentlich mehr und mehr das Gefühl, dass Kopfarbeit und den ganzen Tag am Schreibtisch zu sitzen nicht so unbedingt meins ist.« Warum erzählte ich Andreas das alles? Er war doch beinahe ein Fremder für mich. Aber es schien ihn nicht zu stören, also sprach ich weiter: »Ich mag es, mit den Händen zu arbeiten, etwas zu gestalten. Deswegen bereitet mir meine Do-it-yourself-Seite, die – zurzeit noch – einmal im Monat erscheint, am meisten Spaß.«

»Die kenne ich, die ist toll!«

»Danke.«

»Machst du privat auch viel selbst?«, fragte Andreas weiter. Es schien ihn wirklich zu interessieren.

»Schon. Ich bastle gern, werkle hier und dort herum«, gab ich zu, »am liebsten hätte ich einen großen Garten, den ich bearbeiten könnte.« Ich seufzte. Das war mein großer Traum. Ein Haus am Meer mit schönem Garten, in dem ich am Wochenende in der Erde graben konnte. »Aber momentan lebe ich in einer Wohnung mitten in der Stadt, die meine Mutter mir vor ein paar Jahren überschrieben hat. Ist auch schön. Und praktisch. Und günstig.«

»Wohl wahr. Ich kann trotzdem verstehen, dass du es magst, im Garten zu arbeiten. Ich bin auf einem Bauernhof etwas außerhalb von Hannover aufgewachsen. Ich habe viel Zeit auf den Feldern und dem Traktor verbracht.« Er wirkte, als würde er gern an die Zeit zurückdenken.

»Wirklich?«, fragte ich erstaunt. Andreas sah wie ein typischer Städter aus, ich hätte ihn nicht gleich mit dem Land in Verbindung gebracht. Andererseits konnte ich ihn mir doch auf einem Trecker vorstellen, er hatte so etwas Geerdetes an sich. Seine Schultern waren breit, ebenso seine Hände, die Oberarme kräftig wie bei jemandem, der zupacken konnte. »Wenn ich auf einem Bauernhof aufgewachsen wäre, wäre ich das glücklichste Kind der Welt gewesen«, sagte ich verträumt, woraufhin Andreas mich mit unergründlicher Miene aufmerksam betrachtete. »Was ist aus dem Bauernhof geworden?«, wollte ich dann wissen. »Wirst du ihn mal übernehmen?«

»Nein. Es ist viel Arbeit. Meine Eltern haben ihn vor ein paar Jahren verkauft, als der Nachbar ihnen ein ziemlich gutes Angebot gemacht hat. Da konnten sie nicht Nein sagen. Jetzt leben sie in einer altersgerecht umgebauten Eigentumswohnung in der Stadt, mit Einkaufsmöglichkeiten, Theater und so weiter gleich um die Ecke.«

»Hättest du es lieber anders gehabt?«

Andreas zuckte mit den Schultern. »Es ist besser so. Meine Eltern sind zufrieden, und ich bin so auch nicht festgelegt.« Wieder schien er in seine Gedanken zu versinken.

»Ich bin ziemlich gespannt auf die Hochzeit«, wechselte ich das Thema. »Wir haben uns eine Weile nicht mehr gesehen, Vera, Carla und ich. Und Veras Mann kenne ich noch gar nicht.«

»Matthew? Ist ein netter Typ, glaube ich. Na, dann sehen wir uns wohl in zwei Wochen in Stockton wieder.«

»Wie bitte?« Wieso sollten wir uns da wiedersehen?

»Ich bin auch zu Veras Hochzeit eingeladen. Jetzt muss ich leider weiter, meinen Sohn aus dem Kindergarten abholen. Ärgere dich nicht mehr zu sehr, es ist so ein schöner Tag heute. Man sieht sich!«

»Ja, danke, stimmt. Bis dann!«

Ich hob die Hand zu einem Winken. Als ich die Geste bemerkte, ließ ich meinen Arm schnell sinken. Und wieso bloß hatte ich »Danke« gesagt? Er hatte einen Sohn. War also bestimmt verheiratet oder zumindest liiert. Damit hatte ich nicht gerechnet. Hätte ich aber eigentlich können, denn alles an Andreas deutete auf einen Familienmenschen hin. Irgendwie kam ich mir dumm vor.

»Oh, prima, da bist du ja. Hast du Bier mitgebracht?«

Daniel sah mich fragend an, als ich die Einkaufstaschen in die Küche gestellt und mich auf einen Stuhl hatte fallen lassen. Ohne auf eine Antwort zu warten, begann er, die Taschen zu durchsuchen.

»Habe ich vergessen, fürchte ich.«

Daniel fuhr hoch. »Mist, ich hatte mich schon so auf mein Feierabendbier gefreut. War echt anstrengend heute in der Firma.«

»Tut mir leid.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich war eben beim Einkaufen ein bisschen durch den Wind.«

»Und die Würstchen? Wo sind die?«

Daniel schien mich gar nicht zu hören, er wühlte weiter in der Tasche. »Wir sind doch nachher bei Anna und Sven zum Grillen eingeladen. Wir hatten gesagt, dass wir die Würstchen mitbringen. Hast du die etwa auch vergessen?«

Vorwurfsvoll schaute er hoch. Sein Gesicht war leicht gerötet, eine blonde Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht. Er strich sie nicht zurück. Eine Woge zärtlicher Gefühle überkam mich.

»Ach, Schatz«, flüsterte ich und setzte mich zu ihm auf die dunklen Fliesen. Ich legte meine Arme um ihn. »Ich war gerade im Supermarkt total durcheinander. Wegen unseres Streits gestern. Es tut mir leid, dass ich dir Vorwürfe gemacht habe. Ich hab einfach immer gedacht, wir würden dasselbe wollen, zumindest irgendwann: heiraten, eine Familie gründen, ein Häuschen bauen, das ganze Programm eben. Und als du dann so ablehnend warst …« Ich ließ den Satz in der Luft hängen, lehnte mich an ihn, sog seinen frischen Duft ein. Es war erstaunlich, Daniel roch immer nach Sonne, Meer, Strand, als würde er gerade vom Surfen kommen. Und er sah auch so aus, mit einer leichten Bräune und den hellen blonden Haaren, die gerne mal frech abstanden. Doch nun merkte ich, wie er sich unter meiner Umarmung versteifte.

»Müssen wir da jetzt wieder mit anfangen? Ich bin einfach noch nicht so weit, mir darüber Gedanken zu machen. Wir sind so jung, es liegt noch ganz viel vor uns. Lass uns doch lieber noch eine Weile die Zeit zu zweit genießen.« So jung waren wir eigentlich gar nicht mehr, fand ich, immerhin schon Mitte dreißig, aber das sagte ich jetzt nicht. »Alles nur wegen der Hochzeit deiner Freundin. Vorher war doch alles gut zwischen uns.« Ja, das hatte ich auch geglaubt, aber stimmte das überhaupt? Daniel hatte schon abweisend reagiert, wenn Bekannte von uns Kinder bekommen hatten, dachte ich jetzt. Bisher war mir das nicht aufgefallen – oder ich hatte es igno­riert.

»Nein, wir müssen da jetzt nicht wieder mit anfangen«, entgegnete ich um des lieben Friedens willen. Ich wollte nicht schon wieder einen Streit vom Zaun brechen, zumal wir gleich verabredet waren. »Ich fürchte nur, dass wir noch mal schnell beim Supermarkt reinspringen müssen, bevor wir zu Sven und Anna fahren«, ergänzte ich betont fröhlich. Aber in meinem Inneren sah es anders aus.

Eira

Rhossili, Wales, Mai 1939

Wir feierten meinen Geburtstag. Es war ein warmer Frühlingstag, die Sonne schien vom hellblauen Himmel herab, wärmte unsere Gesichter, während wir ein verspätetes Frühstück auf der Terrasse hinter unserem Haus einnahmen und aufs Meer hinunterschauten. Mutter hatte zur Feier des Tages einen Rhabarber-Crumble ge­backen. Gedankenverloren schob ich die Streusel im Saft des Rhabarbers hin und her, bis sie von diesem durchtränkt waren. Meiner Mutter gefiel es gar nicht, wenn ich das tat, aber so mochte ich es eben am liebsten.

Wir waren alle schweigsam, hatten zuvor über die Ereignisse auf dem Kontinent gesprochen, die besorgniserregend waren. Im März hatten Frankreich und das Vereinigte Königreich eine Garantieerklärung für ­Polen abgegeben, im April hatte Hitler den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt aufgekündigt, ebenso das Flottenabkommen mit unserem Land. Und erst ein paar Tage zuvor hatten Deutschland und Italien ein Militärbündnis geschlossen. Wir wussten nicht, was das alles zu bedeuten hatte und inwieweit es uns betreffen würde. Aber die Leute wurden nervöser, begannen ihr Hab und Gut zusammenzuraffen, Vorräte anzulegen. Der letzte Krieg war noch nicht lange her, und die, die ihn miterlebt hatten, blickten bange aufs Festland. Wenn Frauen zusammentrafen, sprachen sie mit bedrückter Miene über ihre Männer und darüber, ob sie bald irgendwo würden kämpfen müssen. Manchmal ließ ich mich davon anstecken und dachte ängstlich an Robert.

An diesem Tag jedoch überwog die Sehnsucht nach ihm. Ungeduldig wartete ich darauf, dass mein Vater aufstand und das Frühstück für beendet erklärte. Denn dann wäre ich frei, den Rest des Tages zu tun, was ich wollte. Das war in unserer Familie das größte Geschenk: Die anderen übernahmen die Arbeit des Geburtstagskindes auf dem Hof.

»Na schön«, sagte er nach einer gefühlten Ewigkeit und ließ seine Handflächen auf die Tischplatte sinken. »Gehen wir wieder an die Arbeit.« Ich sah ihn erwartungsvoll und bestimmt auch ein wenig besorgt an. Er würde es sich doch nicht etwa anders überlegen? Dann endlich stellte er die erlösende Frage: »Eira, meine Kleine, was wirst du heute mit dem Tag anstellen?«

Er sagte immer noch meine Kleine, obwohl ich nun bereits sechzehn Jahre alt war. Ich mochte das. Mein Vater war eine gute Seele. Wenn auch ein schwacher Mensch. Ganz eindeutig war es meine Mutter, die bei uns zu Hause die Hosen anhatte. Und sie ließ es ihn spüren, wenn sie unzufrieden war, was oft genug der Fall war – mit uns Kindern, mit ihrem Mann oder ganz allgemein mit ihrem ärmlichen Leben auf einem Bauernhof am westlichsten Rand einer unbedeutenden walisischen Halbinsel. Sie stammte aus einer schottischen Whisky-Dynastie, war mit ihrem weit entfernt lebenden Verwandten verheiratet worden und trauerte ihrem Leben im dreihundertsechzig Meilen entfernten Glencaple nach. Mal mehr, mal weniger. Vermisste wohl ihre Familie, die schottische Landschaft und meinte vermutlich, dass sie es dort besser gehabt hätte. Während unser Vater seine Helen über alles liebte und ihr das Leben erleichterte, so gut er konnte, blieb sie störrisch und eigensinnig und schwierig. Ja, auch sie mochte ihren George, liebte ihn womöglich, nur ließ ihr altes Leben sie nicht los.

Ich bemerkte, wie mich alle aufmerksam ansahen. »Äh … ich denke, ich werde mich mit Madeleine treffen. Wir gehen zum Worm’s Head. Oder vielleicht nur zum Dorfplatz.« Madeleine war die Tochter des Schreiners und eine meiner Freundinnen, sie wohnte ebenfalls in Rhossili. Sie war nett, aber wir trafen uns nicht so häufig, wie meine Familie vermutete. »Ich würde gern das Rad nehmen«, erwähnte ich so beiläufig wie möglich.

Vater sah in die Runde, schien keinen Verdacht zu schöpfen, warum ich für einen Besuch auf der Drachenkopfinsel oder im Dorf ein Rad brauchte, Mutter war ohnehin bereits beim Abräumen des Gartentisches und hörte anscheinend gar nicht mehr zu, Arthur war ebenfalls aufgestanden. Nur Thomas musterte mich mit einem seltsamen Blick. Als ich zurückschaute, schmunzelte er kurz, sah dann schnell weg. Ein Kribbeln lief über meinen Rücken. Wusste mein Bruder von mir und ­Robert? Oder ahnte er zumindest etwas? Ich würde Robert gleich fragen, ob er Thomas etwas verraten hatte.

»Na dann, genieß deinen Tag«, meinte mein Vater und hob damit die Tafel auf. »Ist ja herrlich heute.«

Bevor noch jemand etwas sagen konnte, beeilte ich mich, meine Badesachen und ein Handtuch zu holen und mit dem Drahtesel davonzufahren. Diesmal nahm ich nicht den viel kürzeren Küstenweg, um zum Hof der Wyndhams zu gelangen, sondern, um den Schein zu wahren, die Landstraße von Rhossili aus.

Weil ich so schnell gefahren war, erreichte ich Wynd­ham’s Cider Farm völlig außer Atem. Ich musste erst einmal innehalten und wieder Luft schöpfen, bevor ich mich auf die Suche nach Robert machen konnte. Schmerzhaft stach es in meiner Seite, doch der Anblick der unzähligen weißen und zartrosafarbenen Blüten so weit das Auge reichte, machte alles wieder wett. Plötzlich hörte ich Schritte hinter mir, und bevor ich mich umdrehen konnte, hatte jemand seine Hände auf meine Augen gelegt. Ich erfühlte sie jedoch sofort, sie waren rau von der Arbeit im Freien und an den Bäumen und rochen einzigartig nach Blüten und Seife.

»Robert«, rief ich lachend, woraufhin er die Hände fortnahm und mich sanft zu sich umdrehte.

»Hallo, Schneeflocke«, sagte er leise. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«

Umständlich zog er einen in Zeitungspapier einge­wickelten flachen Gegenstand hervor, der offenbar hinten in seinem Hosenbund gesteckt hatte.

»Was ist das?«, fragte ich erstaunt.

»Mach es auf.«

Vorsichtig wickelte ich das Papier ab. Zum Vorschein kam ein Hufeisen, sorgsam abgeschliffen und poliert. »Wo hast du das her?« Beinahe ehrfürchtig drehte ich es um und betrachtete es von allen Seiten.

»Vom Schmied in Burry Green. Ich hab ihm ein paarmal beim Beschlagen geholfen, als sein Sohn krank war. Da hat er mir das geschenkt.« Robert zeigte stolz auf das Eisen. »Es soll dir immer Glück bringen, Eira.«

Ich war so gerührt, dass ich nichts sagen konnte. Doch Robert verstand, er wusste immer, was in mir vorging. Behutsam nahm er mich in die Arme. Ich drückte mich fest an seine Brust, vergrub mein Gesicht in der Kuhle zwischen Arm und Oberkörper, sog tief seinen ihm eigenen Geruch in mich ein.

»Was möchtest du heute noch machen?«, fragte er leise und hauchte mir einen Kuss auf mein Haar.

»Ganz egal. Hauptsache ich bin bei dir.«

Jula

Hannover, Juli 2019

»Hallo, ihr beiden«, begrüßte uns Anna und umarmte erst mich und dann, etwas weniger überschwänglich, ­Daniel. »Alles gut bei euch?«

»Aber sicher doch«, antwortete Daniel, drückte Anna unser Sixpack Jever in die Hand und eilte mit den Würstchen zu Sven, der vom Balkon mit einer Grillzange in der Hand und einem Bier in der anderen he­rü­ber­winkte.

»Na ja, geht so«, erwiderte ich, als Anna und ich allein waren. Ich folgte ihr in die Küche. »War ein anstrengender Tag.«

»Was war denn los?«, fragte sie, stellte das Jever in den Kühlschrank und holte zwei bereits kalte Flaschen Radler heraus. »Kannst du den Salat mitnehmen? Alles ­andere ist schon draußen.« Sie nickte in meine Richtung.

»Klar. Erzähl ich dir später.«

Anna nickte verständnisvoll, und wir gingen ebenfalls auf den Balkon.

»Habt ihr jetzt eigentlich alles für die Hochzeit organisiert?«, fragte sie und verteilte die Teller.

Daniel lachte auf. »Zum Glück heiraten ja nicht wir.«

Die Bemerkung war wohl als Witz gedacht, traf mich jedoch bis ins Mark. Gerade, wenn ich an gestern Abend und an vorhin dachte.

Anna wirkte verlegen. »Ich meinte natürlich die Hochzeit eurer Freunde in England.«

»Schon klar«, erwiderte ich seufzend. »Und Daniel hat das auch verstanden. Nicht, Schatz?«

Er nickte und wirkte wenigstens ein bisschen betroffen. »Ich mag Hochzeiten halt nicht besonders«, erklärte er. Und dabei hätte er es belassen sollen. Doch das tat er leider nicht, es platzte einfach so aus ihm heraus. »Zu viele Leute. Zu viel Geheule. Überhaupt ist die Ehe doch was völlig Veraltetes.«

Sven und Anna wechselten verlegene Blicke. Ich wollte am liebsten im Boden versinken.

»Man muss ja nicht heiraten, wenn man nicht will«, versuchte Sven, die Situation zu retten, »man kann auch so zusammenleben und Kinder haben. Zum Glück haben sich die Zeiten dahingehend geändert.«

»Genau. Und zum Glück sind wir alle jung und müssen uns darüber noch keine Gedanken machen. Ich will das Leben erst mal genießen!«

Eine betretene Stille trat ein, in der sich die Gedanken in meinem Kopf überschlugen. Er schien sich noch viel sicherer zu sein, als ich nach unserem Streit angenommen hatte. Und wenn das so war, was bedeutete das für uns? Für mich? Wie sollte es mit uns weitergehen?

»Hey, ich habe mir übrigens das neue FIFA-Spiel für die Playstation geholt«, warf Sven da an Daniel gewandt ein, und ich war ihm dankbar für die Ablenkung. »Willst du mal sehen?«

»Na, logo.«

Daniel folgte Sven eilig ins Wohnzimmer. Sie würden jetzt erst mal eine Weile zocken. Was mich sonst genervt hätte, war mir nun gerade recht.

»Puh«, machte ich und ließ mich auf einen der vier Balkonstühle fallen. Auch Anna setzte sich, stieß mit mir an und schabte dann verlegen am Etikett ihrer Flasche.

»Daniel hält wohl nicht sehr viel vom Heiraten?«, fragte sie schließlich.

Ich schnaubte. »Das ist es, weswegen der Tag anstrengend war. Wir hatten gestern deswegen einen schlimmen Streit und vorhin beinahe wieder. Bloß weil ich das Thema mal angeschnitten habe – nur ganz vorsichtig und im Zusammenhang mit Veras Hochzeit in England. Jetzt scheint er regelrecht Panik bekommen zu haben.« Ich zuckte mit den Schultern. »Es ist ja gar nicht so, dass es sofort sein müsste. Ich wollte halt grundsätzlich wissen, wie er zu dem Ganzen steht, Familie … du weißt schon. Wir werden beide sechsunddreißig, meine Güte. Da kann man doch ruhig mal ein wenig weiterdenken.«

Anna nickte verständnisvoll. »Ich verstehe auch nicht, warum so viele Männer davor Angst haben. Klar, manche sind häuslicher als andere, aber selbst die bekommen erst mal einen großen Schreck, wenn das Thema Ehe auf den Tisch kommt. Sie meinen wohl, dass ihre Freundinnen sie irgendwie festnageln wollen. Meiner Erfahrung nach jedenfalls.«

»Hast du mit Sven schon mal darüber gesprochen?«, fragte ich neugierig.

»Nicht so direkt.« Anna stand auf und drehte die Würstchen um. »Aber er hat ja zwei Geschwister und kann unheimlich gut mit seinen Nichten und dem Neffen umgehen. Deswegen gehe ich einfach davon aus, dass er sich das auch für sich vorstellen kann. Na ja … vielleicht ist es dumm, so zu denken …«

Anna geriet ins Grübeln. Es tat mir leid, sie verunsichert zu haben, sie und Sven wirkten immer so glücklich zusammen, so harmonisch und liebevoll. Ich konnte mir kein netteres Ehepaar und auch keine besseren Eltern vorstellen als die beiden.

»Nein, ich glaube nicht.« Beruhigend, wie ich hoffte, legte ich meine Hand auf ihren Oberarm. »Sven ist ein echter Familienmensch und wird ganz bestimmt mal ein toller Vater. Jetzt ist es wahrscheinlich einfach noch ein bisschen früh. Ihr seid ja auch jünger als Daniel und ich, da drängt es nicht so.«

Sven war Daniels Freund von Kindesbeinen an. Ich hatte Sven und Anna erst über Daniel kennengelernt, war mit beiden inzwischen jedoch ebenfalls sehr vertraut.

»Mag sein. Aber wann ist denn der richtige Zeitpunkt? Ich bin seit fünf Jahren Erzieherin, es läuft richtig gut in der Kita. Ich habe etliche Fortbildungen gemacht und könnte sogar die Leitung übernehmen, wenn unsere Chefin in den Ruhestand geht. Und auch Sven ist fest im Sattel bei der Continental. Worauf also warten?«

»Vielleicht, bis du tatsächlich die Leitung in der Kita bekommen hast. Sonst wird es schwieriger, könnte ich mir vorstellen. Ist ja auch abhängig vom Arbeitgeber, wie gut es dann mit Kind und Karriere so klappt. Aber ich weiß es ehrlich nicht.«

»Wie dem auch sei«, schloss Anna das Thema. »Ich glaube, die ersten Würstchen sind fertig.«

»Prima, ich habe einen Bärenhunger.« Wie zur Bestätigung knurrte mein Magen.

»Jungs, Essen ist fertig!«, rief Anna nach hinten ins Wohnzimmer und legte die Würstchen auf einen Teller.

»Wir kommen gleich, noch diese Runde«, antwortete Sven, bevor man Daniel jubeln hörte. Er hatte wohl ein Tor geschossen.

»Mist«, brummte Sven. »Fangt schon mal an.«

Anna riss eine Packung Nackensteaks auf und verteilte das Fleisch auf dem Rost, während ich uns beiden Salat und Würstchen auftat.

»Übrigens, was die Vorbereitungen für die Hochzeit angeht …«, erklärte ich kauend, »… das ist echt schwierig. Ich habe mich mal nach Kleidern umgesehen, aber da ich gar nicht weiß, wie in England Hochzeiten ablaufen und was man da so trägt, hab ich gestern Abend ein bisschen im Internet recherchiert. Hüte für Frauen scheinen da ein Muss zu sein. Hast du eine Ahnung, wo man schöne Hüte herbekommt?«

Anna stand auf. »Bin gleich wieder da.« Mit einer gut gekühlten Flasche Prosecco kehrte sie aus der Küche zurück. »Wollen wir umsteigen?«

»Gern«, sagte ich erfreut, woraufhin sie zwei Gläser zum Vorschein brachte, die sie sogleich gekonnt füllte.

»Und wo man Hüte herbekommt, das weiß ich nicht so genau«, antwortete sie, nachdem wir angestoßen hatten. »Ich würde vielleicht online schauen oder einfach mal durch die Stadt schlendern. Kannst du nicht deine Freundin Carla fragen? Die ist doch auch eingeladen, und du hattest mal erwähnt, dass sie sich so gut mit Mode auskennt.«

»Stimmt.« Wir nahmen unsere Gläser, stießen an, und ich trank einen großen Schluck. Das tat gut nach diesem stressigen Tag. »Ich habe nur schon lange keinen Kontakt mehr zu ihr, weiß bloß von Vera, dass sie auch kommt. Sie ist ja einige Jahre im Ausland gewesen, da haben wir uns etwas aus den Augen verloren. Ihr Mann ist Diplomat.«

»Klingt spannend«, bemerkte Anna. »Aber dann hast du doch einen guten Aufhänger, dich mal bei ihr zu melden. Ist bestimmt angenehm, wenn ihr in England schon jemanden kennt außer der Braut.«

»Da hast du wohl recht.« Ich zögerte. »Es war nur nicht immer ganz einfach mit Carla und mir«, gab ich schließlich zu. »Carla war mir früher oft ein bisschen zu anstrengend. Nett und lustig und hilfsbereit zwar, aber auch unheimlich extrovertiert, laut und aufgedreht. Als wir in der Oberstufe waren, hatten wir eine Phase, in der ich ziemlich genervt von ihr war. Sie musste immer alle Blicke auf sich ziehen, zu jedem Thema etwas sagen, selbst, wenn sie keine Ahnung davon hatte. Somit hat sie die guten Noten und die tollen Jungs abgesahnt, und ich stand daneben wie ein graues Mäuschen, weil ich zu schüchtern war, um den Mund aufzukriegen. Selbst wenn ich mich mit irgendwas besser auskannte als sie.« Ich konnte mich noch heute über die Ungerechtigkeit aufregen, dass die Leute, die auffielen, immer gleich Beachtung fanden, nicht die, die wirklich etwas zu sagen hatten. Aber wahrscheinlich war ich selbst schuld daran. »Mangelndes Selbstbewusstsein, schätze ich.«

Inzwischen war ich zum Glück etwas mutiger geworden und hatte nicht mehr so viel Angst davor, was die Leute über mich dachten, wenn ich meine Meinung ­äußerte.

»Ja, so ist das leider, also mit der Qualität und der Quantität. Das habe ich letztens auch bei einer Dienstbesprechung gemerkt. Es ist nicht so wichtig, was du sagst, sondern wie oft du dich beteiligst. Traurig, wirklich. Es sollte genau andersherum sein.« Sie trank ihr Glas leer. »Noch einen?«, fragte sie dann.

Ich nickte und hielt ihr mein Glas hin. Langsam bekam ich warme Füße, ein erstes Zeichen dafür, dass der Alkohol bereits angekommen war. Auch auf Annas Wangen zeigte sich schon eine leichte Röte. Schnell aßen wir ein paar Bissen und kauten eine Weile schweigend vor uns hin.

»Weißt du eigentlich, dass Vera in den englischen Adel einheiraten wird?«, fragte ich.

Anna schenkte uns nach. »Was? Wie aufregend! Dann musst du dich mit deiner Kleiderfrage natürlich doch noch einmal genauer auseinandersetzen.«

Ich nickte und dachte auf einmal an früher. »An und für sich war es damals ganz lustig mit uns dreien: Vera war die mit den reichen Eltern und tollen Klamotten, Carla hatte das Auftreten und die witzigen Ideen und ich das Köpfchen. Wir haben ziemlich viel zusammen erlebt.«

»Na siehst du, du wirst eine gute Zeit in England haben.«

»Bestimmt. Ach, übrigens, ich habe vorhin im Supermarkt zufällig jemanden getroffen, der Vera kennt und auch zur Hochzeit eingeladen ist. Andreas heißt er. Ist ein bisschen älter als wir. Er hat Wirtschaftswissenschaft studiert wie Carla und Vera, nur ein paar Semester über ihnen. Er war ihr Tutor und hat eine Zeit lang sogar mit Vera in einer WG gewohnt. Verrückt, nicht?«

»Ja, wirklich. Die Welt ist ein Dorf.« Beide hingen wir einen Moment unseren Gedanken nach. Bis Anna von einer Teilnehmerin aus dem Yoga-Kurs, den wir mal besucht hatten, erzählte, die angeblich etwas mit ihrem Chef angefangen hatte.

»Na, dann wissen wir ja, wofür sie die ganzen Verrenkungen gebraucht hat«, meinte ich lachend, und fröhlich stießen wir erneut an.

»Möchte noch jemand ein Steak?«, fragte Sven und sah hoffnungsvoll in die Runde.

Wir schüttelten alle den Kopf. »Tut mir leid, Sven«, sagte ich, »es war unheimlich lecker, aber ich bin satt. Und zwar so richtig pappsatt.«

Ich legte mein Besteck auf den Teller und streckte meine Beine unter dem Tisch aus, wobei ich Daniels Füße berührte. Er sah kurz auf, blickte dann verlegen weg. Vielleicht tat ihm seine Tirade über den Unsinn von Hochzeiten nun doch leid.

»Ich auch.« Anna stöhnte. »Da geht gar nichts mehr.«

»Und du, Daniel? Wir haben noch so viel Fleisch.« Sven wirkte in seiner Hilflosigkeit irgendwie süß, aber auch bei Daniel konnte er nichts mehr loswerden. Er legte seinen Arm um Anna und zog sie zu sich heran, um ihr einen Kuss zu geben. »Wann fahrt ihr eigentlich nach England?«, fragte er dann, wieder an uns gewandt.

»Übernächste Woche«, antwortete ich. »Ich bin schon so aufgeregt, das scheint eine große Hochzeit zu werden.«

Daniel seufzte. In einem Versuch, mich wieder mit ihm zu versöhnen, stupste ich ihn mit dem Zeh an und lächelte ihm zu. »Das wird bestimmt nett, Schatz! Wir sehen das einfach als schöne Party in tollem Ambiente statt als Hochzeit, wenn du darauf nicht so Lust hast.«

Ich war mir sicher, dass er bei Vera in Stockton Spaß haben würde, auch wenn er zu meinem größten Bedauern kein Bedürfnis nach dem Besiegeln unserer Beziehung verspürte. Normalerweise kam er mit beinahe jedem gut klar. Besonders, wenn ihn jemand nach seiner Arbeit fragte, war er vollkommen in seinem Element. Durfte er etwas über Deiche, den Bau von Wasserstraßen und Häfen oder die Entwicklung des Tsunami-Frühwarnsystems erzählen, sprudelte er über vor Enthusiasmus und Ideen, sodass beinahe jeder an seinen Lippen hing. So hatte ich Daniel vor dreizehn Jahren kennen und lieben gelernt. Ich war auf dem Campus herumgestolpert, um für die Uni-Zeitung möglichst viele Studenten aus unterschiedlichen Studiengängen zu interviewen. Wir wollten zu Beginn des nächsten Semesters eine Seite rausbringen, auf der Studierende für die Neuankömmlinge ihr Studium vorstellten. Und weil ich das neueste Mitglied im Redaktionsteam war, musste ich natürlich raus in den Regen und die Leute auf dem Weg vom Seminar zur Mensa oder zurück abfangen. Ein ziemlich undankbarer Job – aber dafür hatte ich Daniel kennengelernt. Mit seinen grün gefärbten Haaren war er nicht zu übersehen gewesen, und er war gleich einverstanden, mir ein paar Fragen zu beantworten – wenn ich mit ihm einen Kaffee trinken gehen würde.