Ein Jahr in Amsterdam - Bettina Baltschev - E-Book

Ein Jahr in Amsterdam E-Book

Bettina Baltschev

4,3

Beschreibung

Vielleicht ist Amsterdam keine klassische Weltstadt und die Sprache nicht wirklich zu gebrauchen, aber warum der reinen Logik folgen? Ein Jahr in Amsterdam - das bedeutet Massenpicknick im Vondelpark, ein Besuch im Coffeeshop, kulinarische Abenteuer mit Poffertjes, Pannekoeken, Matjes, Stropwafels und Snoepm und Hausboote überall. Und spätestens, wenn endlich das Fahrrad geklaut wird, gehört man dazu...

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Bettina Baltschev

Ein Jahr in Amsterdam

Reise in den Alltag

Impressum

Originalausgabe

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2008

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-80256-0

ISBN (Buch): 978-3-451-06002-1

Inhalt

proloog

mei

juni

juli

augustus

september

oktober

november

december

januari

februari

maart

april

epiloog

Als de lente komt, dan stuur ik jou: Tulpen uit Amsterdam

Als de lente komt, pluk ik voor jou: Tulpen uit Amsterdam

Als ik wederkom, dan breng ik jou: Tulpen uit Amsterdam

Duizend gele, duizend rooie, Wensen jou het allermooiste!

Wat mijn mond niet zeggen kan, Zeggen tulpen uit Amsterdam,

Zeggen tulpen uit Amsterdam!

proloog

Ob ich ein Drogenproblem hätte, fragte mich meine Freundin Claudia und versicherte mir, ich könne mit ihr über alles reden, als ich ihr mitteilte, dass ich mich entschieden hätte. Warum gerade Amsterdam, warum nicht London, Paris oder Rom? Gut, Amsterdam ist nicht ganz so groß wie London, es gibt keinen Eiffelturm und kein Kolosseum, und die Bezeichnung Weltstadt ist wohl eher eine Behauptung als eine Tatsache. Außerdem sprechen die Leute dort eine Sprache, die ich im Leben wahrscheinlich nie wieder brauchen werde. Aber man kann die Frage auch anders stellen: Warum der reinen Logik folgen? In meinem Leben waren immer die Momente am besten, in denen ich mich zu Bauchentscheidungen habe hinreißen lassen.

Es konnte kein Zufall sein, dass in der Woche, in der mein Chef mir eröffnete, er komme besser ohne mich zurecht, in der Woche, in der mein Vermieter beschloss, mein Haus müsse grundsaniert werden und ich mir eine neue Bleibe suchen, in der Woche, in der zu guter Letzt mir auch noch der Mann an meiner Seite erklärte, er müsse seine Jugend nachholen und zwar allein, dass mir ausgerechnet in dieser verflixten Woche eine kleine verschlissene Schallplatte in die Hände fiel.

Die erste Schallplatte, die ich mir von meinem eigenen Geld gekauft hatte: Ich war dreizehn, und – bitte nicht lachen, das war vor zwanzig Jahren nun mal mein Musikgeschmack – es handelte sich um die Single „Hé, kleiner Fratz auf dem Kinderrad“ von Herman van Veen. Ich habe die Platte damals in meinem Kinderzimmer rauf- und runtergehört, Herman hat mich regelmäßig in den Schlaf gesungen, und ich glaube, es hat meiner persönlichen Entwicklung nicht geschadet.

Jedenfalls, es war einer jener feuchttrüben Vorfrühlingstage in Berlin. Statt meiner Gedanken sortierte ich lieber meine Plattensammlung und ahnte während dessen bereits, dass etwas passieren musste, dass ich mich dem Job-Wohnung-Mann-weg-Schicksal nicht ergeben durfte, dass ich mein Leben ändern musste, wenigstens vorübergehend, aber dafür so schnell wie möglich.

Tja, und dann hielt ich diese kleine Schallplatte in den Händen und musste grinsen, mein Bauch sagte ja und die Sache war geklärt: Amsterdam, ich komme!

mei

Am Flughafen geht es schon los. Andere Flughäfen dieser Welt heißen nach Präsidenten oder schlicht nach der Stadt, in der sie sich befinden, in Amsterdam dagegen klingt der Name des Flughafens wie das Geräusch der Krähen beim Liebesakt. Bitte sprechen Sie mir nach: Srrripphoool. Als wenn der Holländer gleich bei der Ankunft der Besucher seines ebenso überschaubaren wie feuchten Fleckchens Erde klarstellen will: ‚Probier es erst gar nicht. Niemals wirst du unsere Sprache wirklich beherrschen.‘

Schon gut, ich bleibe erst mal beim Englischen, das versteht hier sowieso jeder. Deutsch eigentlich auch, aber das ist eine andere Geschichte, die wird später erzählt. In den nächsten zwölf Monaten werde ich noch genug Gelegenheit bekommen, mich der niederländischen Sprache wenigstens zu nähern. Zum Beispiel bei Joop und Lots. Die beiden habe ich mir in Berlin aus dem Internet gefischt, wo sie ein Zimmer ‚in a nice neighborhood of Amsterdam‘ angeboten haben. Eine richtige Bleibe werde ich mir später suchen, wenn ich mich etwas besser auskenne. Dass es nicht einfach werden würde, hatte mir die nette Dame von der niederländischen Botschaft in Berlin gesagt, und dass ich nicht zu viel erwarten solle. Was sie damit wohl gemeint hat?

Erst einmal bin ich froh, dass ich das Haus von Joop und Lots gefunden habe. Die ‚nice neighborhood‘ entpuppt sich als üppig begrünte Reihenhaussiedlung im Amsterdamer Stadtteil Slotervaart. Den müsste man außerhalb der Niederlande eigentlich nicht kennen. Aber zufällig habe ich über Slotervaart gerade erst in einer führenden deutschen Wochenzeitung gelesen, dass es sich wegen des hohen Ausländeranteils und der überdurchschnittlichen Kriminalitätsrate um einen Problembezirk handelt und der erste muslimische Bezirksbürgermeister der Niederlande deshalb mit einer Null-Toleranz-Strategie dafür sorgen will, Slotervaart aus den negativen Schlagzeilen zu holen.1 In der Lobo-Braakensiekstraat merkt man jedoch von all dem nichts: Hier stehen keine flats, wie die Hochhäuser in den Niederlanden heißen, in denen sich angeblich schon mal zehn Personen in zwei Zimmern drängen, sondern Reihenhäuser mit zwei Stockwerken. Wer es sich leisten konnte, hat sich noch ein Dachgeschoss oben draufgesetzt. Joop und Lots konnten es sich leisten und haben deshalb zwei Gästezimmer zu vergeben.

Obwohl wir uns bis eben nicht kannten, drücken sie mir zur Begrüßung drei Küsse ins Gesicht, erst Joop, links, rechts, links, dann Lots, links, rechts, links.

„Hoi, Bettina, welkom in Amsterdam, hoe is het met je?“ Wie es mir geht? Na ja, den Umständen entsprechend, mit zwei Koffern in der Hand und flatterndem Herzen. Statt in Berlin meinen Problemen ins Auge zu sehen, stehe ich nun am Anfang eines unbekannten Weges in einer unbekannten Stadt vor zwei mir unbekannten Menschen, die zugegeben alles dafür tun, dass mir die ersten Tage nicht zu schwer werden. Slotervaart ist, abgesehen von seinem schlechten Ruf, nicht unbedingt das, was ich mir unter ‚typisch Amsterdam‘ vorgestellt hatte. Statt Wohnen an der Gracht eine stille Straße gar nicht so weit vom Flughafen. Dass in Amsterdam, verglichen mit Berlin, London oder Paris, alles ‚gar nicht so weit‘ ist, hätte ich mir denken können. Die einzige Sehenswürdigkeit in Slotervaart ist übrigens ein See, der Sloterplas, wo Joop und Lots regelmäßig drum herum joggen, immerhin. Der einzige Lärm kommt von den Flugzeugen, die in Schiphol, nein, in Srrripphoool, abheben und über den Garten ziehen, in dem ich mit Joop und Lots meine erste Tasse Tee von ca. 2500 in den nächsten zwölf Monaten trinke.

Joop trägt ein buntes Oberhemd und Lots eine leichte Bluse, als wenn der Frühling schon längst begonnen hätte. Ich dagegen habe meinen Wollpullover angelassen und mir den Schal zurückgeholt, den ich im ersten Übermut abgelegt hatte. In Berlin habe ich vor kurzem zwar auch schon draußen gesessen, aber irgendwie ist die Luft hier frischer. Bilde ich mir das nur ein oder riecht es wirklich ein bisschen nach Meer?

„Ob ich noch eine Tasse Tee bekommen könnte?“ – „Ja zeker!“, sagt Lots und gießt mir nach.

Als ich am nächsten Morgen in meinem kleinen Dachzimmer aufwache, ist es abwechselnd hell und dunkel. Das kommt von den Wolken, die vom Wind an der Sonne vorbeigetrieben werden. Holländischer Wind, das ist auch so ein Kapitel für sich, aber ich will ja nicht vorgreifen. Joop und Lots sind schon wach, sie sitzen beide auf dem Wohnzimmerteppich und machen eine Art Gymnastik. Ach ja, das hab ich noch gar nicht gesagt, Joop und Lots sind Anfang sechzig, Eltern von drei erwachsenen Kindern, seit vierzig Jahren verheiratet, und zwar glücklich. Außer Gymnastik machen sie viele Dinge gemeinsam, kochen, reisen, reden, auch über Gefühle und so weiter. Sogar ich werde früher oder später darüber sprechen müssen, aber zu diesem Zeitpunkt nehmen sie noch Rücksicht auf meine Verlegenheit.

Lots fragt, ob ich ihre gymnastischen Übungen mitmachen will, ich lehne dankend ab und mache mir stattdessen ein Brot. In Holland geht das so: Ich nehme mir eine der flexiblen gummiartigen rechteckigen Scheiben, die man hier brood nennt und die immer in Plastiktüten verkauft werden wie bei uns Toastbrot, bestreiche sie mit Butter, wobei mein Messer an der glatten Oberfläche abrutscht. Daraufhin wuchte ich ein kiloschweres Stück Käse auf die Käseschneidemaschine (eine Konstruktion auf vier Füßen, bei der ein Messer in den Boden eingelassen ist, über das man den Käse schiebt) und schneide damit ca. einen Zentimeter dicke Scheiben Käse ab. Die lege ich auf das Brot, was ich einmal zusammenklappe, und erhalte so eine Mahlzeit, die, hat man sie gegen acht Uhr morgens eingenommen, aufgrund des Käses bis ca. zwei Uhr nachmittags vorhält. Das Brot spielt beim Sättigungseffekt übrigens eher keine Rolle, da stehen die Holländer den Engländern eindeutig näher als uns deutschen Sauerteigbäckern. Zu meinem boterham, so heißt das Ding in meiner Hand, trinke ich wieder eine Tasse Tee, wobei, auch das ist mir neu, ein Teebeutel ruhig auch zwei bis fünf Mal wiederverwendet werden kann, der Tee wird dann zwar etwas heller, aber geschmacklich ändert sich fast nichts.

„En wat doe jij vandaag?“ Joop und Lots haben ihre Übungen beendet und schauen mich erwartungsvoll an, so, als wenn ich bereits am ersten Tag nach meiner Ankunft ganz Amsterdam in die Tasche stecken müsste. „Tja, ein bisschen spazieren gehen vielleicht?“

„Met de fiets?“ Mit dem Fahrrad? Ja sicher, warum nicht. Wie jeder gute Holländer haben Joop und Lots neben ihren eigenen Fahrrädern noch einige Ersatzräder in der Garage, man weiß ja nie, wer zu Besuch kommt, wann man einen Platten hat oder mal wieder ein Fahrrad geklaut wird. Das Damenfahrrad, das für mich in Frage kommt, hat schon bessere Tage gesehen, aber Joop versichert mir, dass es noch fährt, dass die Bremsen funktionieren, ich in der Stadt sowieso keine Gangschaltung brauche und das Quietschen der Pedalen im Straßenverkehr untergeht. Dann drückt er mir zwei Schlösser in die Hand, die jeweils wahrscheinlich doppelt so teuer waren wie das Fahrrad selbst, und schaut mir tief in die Augen.

„Nooit zonder slot! Niemals ohne Schloss! Du bist in Amsterdam, vergiss das nicht, wenn du hier irgendwo dein Rad ohne Schloss abstellst, dann wirst du es innerhalb von Sekunden los sein.“ Ich nicke etwas eingeschüchtert und fahre los. Immer geradeaus, haben sie gesagt, dann würde ich das Stadtzentrum nicht verfehlen.

Ich fahre vorbei an flats, auf deren Balkons Bettlaken trocknen, vorbei an Supermärkten, vor denen ältere Männer mit riesigen Einkaufstaschen sich auf Bänken ausruhen, an Berufsschulen, vor denen hübsche junge Frauen in Turnschuhen, Jeans und Kopftuch in der Sonne sitzen und coole junge Männer auf Motorrollern ihnen Avancen machen, indem sie um sie herumkurven und ihre Namen rufen.

Nach ca. zehn Minuten Fahrt, in denen ich mich an das Fahrrad und das Fahrrad sich an mich gewöhnt hat, werden die Straßen schmaler, die Häuser kleiner und heimeliger, roter Backstein und große Fenster ohne Gardinen bestimmen das Straßenbild. Langsam nähert sich Amsterdam meinen Vorstellungen an.

Und dann muss ich an einer Brücke anhalten, wo bereits eine Horde Radfahrer vor einer rot-weißen Schranke steht. Die Brücke ist in der Mitte auseinandergeklappt, auf dem Kanal darunter schieben sich langsam zwei Lastkähne vorbei. Nur gut, dass ich nirgendwo pünktlich sein muss. Die Leute um mich herum sind das Warten offensichtlich gewöhnt, sie kauen Nägel, quasseln in Handys oder gucken aufs Wasser. Kaum hat sich die Brücke wieder gesenkt, springen alle auf ihre Räder und sprinten davon.

Hinter der Brücke beginnt der Vondelpark (Vondel wie Fondel und Park wie Park, der Deutsche macht gern ein W aus dem V, dabei sagen wir doch auch Vogel und nicht Wogel). Dieser Park verdient jeglichen Superlativ oder einen einzigen Vergleich: Der Vondelpark ist für Amsterdam das, was für New York der Central Park ist. Auf fünf Quadratkilometern stehen 4400 Bäume und jedes Jahr kommen zehn Millionen Besucher dazu. Diese Besucher lassen sich in fünf Gruppen unterteilen: Radfahrer, Skater, Jogger, Spaziergänger und Hunde. Spaziergänger sind das schwächste Glied in der Kette und in ständiger Gefahr, über den Haufen gefahren oder gerannt zu werden, aber davon lassen sie sich kaum beeindrucken, es sei denn, es sind Touristen. Benannt ist der Vondelpark nach Joost van den Vondel, der im 17. Jahrhundert lebte und neben einem gewissen Gerbrand A. Bredero (nach ihm sind ein Gymnasium und ein Pfannkuchen-Restaurant benannt) und einem gewissen Pieter Corneliszoon Hooft (seinen Namen trägt die teuerste Einkaufsstraße der Stadt) so eine Art Nationaldichter des Goldenen Zeitalters ist, was sich vor allem darin äußert, dass die Schulkinder mit seiner niederdeutschen Dichtkunst gequält werden.2

Hinter dem Vondelpark beginnt de binnenstad, das Zentrum von Amsterdam. Hier wird Radfahren zur Kunst, und nach kurzer Zeit kann man sie unterscheiden, die Künstler und die Dilettanten. Künstler ist jeder, der in Holland geboren ist und in der Regel eher radfahren als laufen konnte. Dilettanten sind alle anderen. Es dauert genau eine Stunde, und ich mache Bekanntschaft mit dem Amsterdamer Pflaster. Mit so einer Straßenbahnschiene ist eben nicht zu spaßen, wer da einmal reinrutscht, ist geliefert.

„Ach schat, heb je pijn?“, fragt mich ein älterer Herr und reicht mir seine Hand, um mir aufzuhelfen. Schmerzen? Ich doch nicht! „Geht schon“, sage ich und bewege vorsichtig mein Knie, das ich mir das letzte Mal aufgestoßen habe, als ich ca. acht Jahre alt war. „Oh, eine deutsche Dame!“ Dame? Na ja.

„Willst du einen koffie mit mir trinken, auf den Schreck?“ Ich betrachte den Mann erst kritisch, dann freundlich, und zusammen schieben wir unsere Räder zu einem kleinen Café an der Keizersgracht. Der Mann schaut mir dabei zu, wie ich die beiden Fahrradschlösser gewissenhaft um ein Verkehrsschild schlinge und drei Mal überprüfe, ob sie auch wirklich zugeschlossen sind.

„Zu Besuch in der Stadt?“, fragt er mich, und ich mache eine Kopfbewegung, die ja und nein zugleich bedeuten könnte. Wir setzen uns an einen kleinen Tisch vor dem Café, und er winkt den Kellner heran.

„Twee koffie verkeerd, alstublieft!“ – „Wie bitte, koffie verkeerd?“ – „Milchkaffee, das heißt hier so, verkehrter Kaffee, mit viel Milch. Magst du das?“ – „Sehr gern.“ – „Ach übrigens, mijn naam is Sommers, Jan Sommers.“ – „Angenehm, Baltschev, Bettina Baltschev.“

Eigentlich sieht dieser Herr Sommers ganz nett aus, etwas rundlich, die Haare schon weiß, so Anfang siebzig wird er wohl sein. Ich frage mich, ob er das öfter macht, ausländische Frauen von der Straße auflesen. Herr Sommers nimmt einen großen Schluck Kaffee und lächelt mich an.

„Interessierst du dich für Kunst?“ – „Ach ja, hin und wieder.“ – „Ich bin Sammler, wenn du Lust hast, besuch mich doch mal.“ Er steht auf und legt ein paar Münzen und eine Visitenkarte auf den Tisch. Bevor er mit dem Rad um die Ecke biegt, dreht er sich noch einmal um und winkt mir zu. Ich betaste mein Knie, das ein bisschen geschwollen ist, und seufze. Das fängt ja gut an.

Ich beschließe, meine erste ausführliche Begegnung mit Amsterdam auf später zu verschieben. Ich mache mich auf den Heimweg und brauche dafür doppelt so lang wie für den Weg in die Stadt. Im Vondelpark muss ich vom Rad absteigen, weil mein Knie sich immer schmerzhafter meldet. Bei einem fliegenden Händler kaufe ich mir ein Eis und setze mich auf eine Bank. Vor mir auf dem Rasen sitzt ein von jungen Hippiefrauen umringter Rastamann und trommelt um sein Leben. Kann man eigentlich schief trommeln? Ja, man kann! Also schiebe ich mein Fahrrad hundert Meter weiter. Hier begatten sich vor mir zwei Hunde, aber wenigstens tun sie das in aller Stille.

Auf einmal fühle ich mich ganz klein und hilflos, weil ich an die letzten Wochen denken muss, in denen die Ereignisse sich überschlagen haben, und daran, dass dieser Tag der erste von 365 ist und ich mir nicht mehr so sicher bin, ob das nicht ungefähr 355 Tage zu viel sind. Mein Sturz erscheint mir wie ein schlechtes Omen. Auf der anderen Seite, Joop und Lots, Jan Sommers, das sind am ersten Tag schon drei Holländer, die offensichtlich nichts dagegen haben, dass ich hier bin, und wenn das so weitergeht, müsste ich in einem Jahr halb Amsterdam kennen. Ich denke an Herman van Veen, dessen Lieder vor lauter Hoffnung und Zuversicht fast platzen (‚Warum bin ich so fröhlich, so fröhlich, so fröhlich‘ heißt es in einem Lied, das man wirklich nur anhören kann, wenn man selber ausgesprochen fröhlich ist), erinnere mich daran, dass ich genau deswegen hier bin, und laufe zurück nach Slotervaart.

Als ich wieder bei Joop und Lots ankomme, riecht es im ganzen Haus nach Kohl. Lots hat boerenkool, Bauernkohl, gekocht, der Joost van den Vondel unter den holländischen Gerichten, Grünkohl und Kartoffelbrei in einer nicht mehr zu trennenden Einheit, dazu Fleischwurst mit Senf. Riecht komisch, sieht komisch aus, schmeckt aber und ist genau das Richtige für junge lädierte Frauen aus Berlin, die nicht genau wissen, was sie eigentlich wollen.

Nach dem Essen bleibe ich noch ein bisschen bei Joop und Lots sitzen. Wir trinken, man ahnt es, Tee, und ich blättere durch die Tageszeitungen, die sich auf einem Sessel stapeln. Ich sollte nicht zu lange warten, mir eine Wohnung oder wenigstens ein Zimmer zu suchen. Denn einen Job brauche ich ja auch noch, und schließlich bin ich nicht hergekommen, um Urlaub zu machen, so viel ist sicher. Ich versuche, in der Volkskrant einige Überschriften zu entziffern, aber es gelingt mir nur mäßig. Hier ein Artikel über Bondskanselier Merkel und da eine Rezension eines Buches von Leon de Winter. Der Rest ist Raten. Joop zeigt mir die Seiten mit den advertenties und verspricht mir, in seiner Praxis, wo er als Allgemeinmediziner arbeitet, einen Zettel aufzuhängen, das ginge vielleicht schneller als die Wohnungssuche per Anzeige. Lots rät mir, im Goethe-Institut in der Herengracht einen Aushang anzubringen, doch da hat sie wohl etwas falsch verstanden. Wenn ich mich schon für ein Jahr in die Fremde begebe, dann will ich meine Zeit nicht zwischen sächsischen und bayerischen Auswanderern verbringen. Aber jetzt verstehe ich auch, was die Frau von der Botschaft in Berlin gemeint hat.

Normalerweise ist es ein ziemlicher Akt, in Amsterdam Wohnraum zu finden. Es gibt woningbouwverenigingen, Wohnungsbaugesellschaften, bei denen man sich einschreiben muss und die dann nach einem komplizierten Punktesystem entscheiden, wann man reif genug ist für die eigenen vier Wände. Und das kann ein paar Jahre dauern, jedenfalls wenn diese vier Wände bezahlbar sein sollen. Es erinnert mich ein bisschen an früher. In der DDR meldete man sich auch schon mit vierzehn für einen Trabi an, damit man mit Mitte zwanzig endlich ein Fahrzeug bekam.

Zurzeit wohnen in Amsterdam ca. 750000 Menschen, d. h., es gibt eine dreiviertel Million Glückliche, die in der Stadt leben dürfen. Ca. 1,75 Millionen Menschen leben dagegen im Großraum Amsterdam. Von dort schaffen es die meisten nicht mehr mit dem Fahrrad in die Innenstadt und verstopfen entsprechend eifrig das enge Straßennetz rund um die Stadt oder die Regionalbahnen. Wer übrigens behauptet, nach Holland zu fahren, wenn er nach Amsterdam reist, hat ausnahmsweise recht und der neunmalkluge Einspruch ‚Es heißt nicht Holland, es heißt Niederlande‘ wird überflüssig. Denn, so steht es in jedem Lexikon, Amsterdam liegt in Noord-Holland, einer von zwölf Provinzen der Niederlande. Amsterdam ist jedoch nicht die Hauptstadt von Noord-Holland, wie man vielleicht annehmen könnte, das ist nämlich Haarlem, eine kleine Stadt westlich von Amsterdam. Es gibt auch noch Zuid-Holland, davon ist die Hauptstadt wiederum Den Haag, Regierungssitz, obwohl doch Amsterdam die eigentliche Hauptstadt der Niederlande ist. Der Holländer setzt offensichtlich auf die komplizierte Lösung. Aber genug der geografischen Details.

Als ich im Arbeitszimmer von Joop, in dem sich medizinische Zeitschriften mit bemerkenswerten anatomischen Fotografien auftürmen, meine E-Mails abrufe, hat mir Claudia die Anleitung zum Bau eines Joints geschickt und findet das offensichtlich sehr komisch. Zur Strafe antworte ich ihr nicht, jedenfalls nicht sofort. Ich bastele mir stattdessen einen kühlenden Knieverband, stelle den Wecker auf eine Uhrzeit zwischen aufstehen müssen und aufstehen wollen und nehme mir vor, mich endlich ernsthaft um meine Zukunft in Amsterdam zu kümmern und nur noch im Notfall an Berlin zu denken.

Am nächsten Morgen hat mein Knie wieder halbwegs seine ursprüngliche Farbe und Form angenommen, und ich bin voller Tatendrang, als ich Lots in der Küche treffe, die gerade dabei ist, sich ein boterham zu machen.

„Ga je mee naar de Herdenking op de Dam?“, fragt sie mich.

Ich vermute, sie verfolgt ein pädagogisches Konzept, das mir die Integration erleichtern soll, schließlich hat sie lange als Lehrerin gearbeitet, aber leider verstehe ich nach drei Tagen in Amsterdam immer noch sehr wenig Niederländisch, und meine Assoziationsfähigkeit hat sich zu dieser frühen Stunde auch noch nicht vollständig entfaltet. Herdenking? Dam? Ist das der Name einer Wohnungsbaugesellschaft?

„Het is 4 mei vandaag.“ Aha, das habe ich verstanden. Heute ist der 4. Mai. Ja, und morgen ist der 5. und dann der 6., so geht das eigentlich jeden Monat. Aber warum guckt Lots denn nur so ernst? „Am 4. Mai 1945 war der Krieg aus in Holland.“

Ach du meine Güte, jetzt hätte ich mich aber fast blamiert. Ich hätte mich ja auch mal ein bisschen informieren können. Am 5. Mai 1945 wurde die Kapitulation Deutschlands in den Niederlanden unterschrieben. Deshalb gilt seitdem der 5. Mai als Bevrijdingsdag, Befreiungstag, und der Vorabend, also der 4. Mai, ist Nationale Herdenking, Tag des nationalen Gedenkens. Der Dam, der größte Platz von Amsterdam, wo auch das Königspalais steht, ist an diesem Tag der Ort einer großen Kundgebung. Und da soll ich also mitgehen? Warum nicht, betrifft mich ja gewissermaßen auch, irgendwie. Ich verabrede mich mit Lots und Joop in einem Café in der Stadt, von wo aus wir dann gemeinsam zum Dam gehen wollen. Bevor ich mich aufs Rad schwinge, um in der Stadt Zettel mit meinem Wohnungsgesuch zu verteilen, hält mich Joop kurz zurück und ich glaube, es ist ihm ein bisschen peinlich, aber er sagt es trotzdem.

„Maybe it is better if we don’t speak German tonight.“ Ich bin etwas erschrocken, aber wahrscheinlich hat er recht.3

Nachdem ich von fünfzig Zetteln zwanzig an Laternenpfählen, zwanzig in Cafés, drei in Bibliotheken, vier in Uni-Gebäuden verteilt habe und mir drei Zettel in die Gracht geweht sind, habe ich mir eine Pause verdient. Für Pausen ist die Innenstadt von Amsterdam der ideale Ort. Innerhalb des grachtengordel, des Grachtengürtels, von Herengracht, Prinsengracht, Keizersgracht und Singel, den großen Hauptadern, die sich im Halbrund elegant durch die Stadt ziehen, findet jeder sein Café, seine Kneipe, sein Restaurant. Ich entscheide mich für das Café Luxembourg am Spui (es sei davor gewarnt, dieses scheinbar harmlose Wort so auszusprechen, wie es da steht, es ist garantiert falsch), bestelle einen koffie verkeerd und komme mir dabei schon ziemlich professionell vor. Durch die großen Schaufenster kann ich über den ganzen Platz schauen. In der Mitte steht eine kleine Bronzefigur, ein Junge mit Schiebermütze, der seine Hände kess in die Hüften gestemmt hat. Ich frage eine ältere Dame am Nachbartisch, ob sie weiß, wer der Junge ist.

„Oh, das ist unser Lieverdje, unser ‚Liebling‘. Der steht da schon seit sechzig Jahren. Es heißt, er soll einem Amsterdamer Straßenjungen darstellen, einen mit Flausen im Kopf und großem Herzen, wie sie eben sind, unsere Jungs. In den Sechzigerjahren, als die Studenten die Stadt regierten, war die Figur sehr beliebt, sie wurde angezogen, mit Farbe beworfen und einmal sogar entführt. Wenn du dich das erste Mal mit einem Mann verabredest, dann musst du das am Lieverdje tun, das bringt Glück!“

Die Frau lacht und wendet sich wieder ihrer Zeitung zu, während ich weiter die Aussicht genieße. Links ein großer Buchladen, gegenüber der American Book Store, über die Straße die Hauptgebäude der UvA, der Universiteit van Amsterdam, und etwas weiter hinten der Zugang zum Begijnhof, einem mittelalterlichen Hof, in dem früher die Schwestern des Beginenordens wohnten und den man nur zu Fuß erreicht, eine stille Enklave in einer ansonsten wenig stillen Stadt.

Ich überlege, wo ich eigentlich vor zwei Stunden mein Fahrrad abgestellt habe, und suche auf dem Stadtplan den Weg von dem Café, in dem ich mich gerade befinde, zu dem Café, in dem ich mich mit Joop und Lots verabredet habe, und siehe da, es ist gar nicht weit!

Eine Stunde später befinde ich mich mit mehreren Tausend Menschen auf dem Dam. Der weiße Pfeiler des Nationaal Monument, des Nationaldenkmals, ragt in den blauen Himmel hinein, und Joop flüstert mir leise und auf Englisch ins Ohr, dass gerade Ihre Majestät Königin Beatrix gemeinsam mit Thronfolger Willem Alexander einen Kranz an eben jenem Denkmal niederlegt. Dann wird es ganz still, die Menschen um mich herum senken die Köpfe und nehmen ihre Mützen ab. Nach zwei Minuten erklingt das Wilhelmus, die Nationalhymne der Niederlande. Joop flüstert jetzt nicht mehr, sondern singt aus voller Kehle mit. „Wilhelmus van Nassouwe ben ik, van Duitsen bloed …“4

Deutsches Blut? Na, das passt ja.

Auf dem Weg zurück nach Hause, Joop, Lots und ich fahren auf unseren Rädern nebeneinander, das dürfen wir, schließlich sind wir die Könige der Straße, zählt mir Joop dann noch ein paar Vorurteile gegenüber uns deutschen moffen auf (wer dieses Wort an den Kopf geworfen bekommt, kann sicher sein, er ist nicht willkommen, das deutsche Wort ‚müffeln‘ für übel riechend oder stinkend lässt grüßen) – der Katalog reicht von arrogant, laut und humorlos bis schlechte Fußballer und Ordnungsfanatiker, wirklich nichts Neues also –, versichert mir aber im selben Atemzug, dass diese Vorurteile für mich nicht gelten würden. Natürlich nicht, und Gras ist blau, und morgen ist Weihnachten. Aber wer bin ich, ihm an einem Tag wie diesem zu widersprechen? Besser, er klärt mich gleich darüber auf, was der durchschnittliche Holländer vom durchschnittlichen Deutschen hält, vielleicht kann ich mit diesem Wissen ja ein paar Fettnäpfchen umgehen.

Nachdem sich über Tage niemand auf mein Wohnungsgesuch meldet, bekomme ich leichte Panik, dass ich den Rest des Jahres in Slotervaart verbringen muss. Nichts gegen Joop und Lots, die beiden sind ausgesprochen liebenswürdig, und die Sache mit den Vorurteilen habe ich längst vergessen, aber ein bisschen mehr Abenteuer wäre schon drin.

Damit ich nicht ganz ohne Ziel durch Amsterdam laufe, beschließe ich, mir zunächst ein eigenes Fahrrad zu kaufen. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten. Ich kann in einem der zahlreichen fietsenwinkel (fiets ist das Fahrrad, winkel das Geschäft) ein Vermögen für eine neue Gazelle ausgeben, dem Mercedes unter den holländischen Rädern. Oder ich kann durch die Stadt streunen und darauf warten, dass mir ein fadenscheiniger Typ auf einem Rad entgegenkommt, neben mir langsamer wird, mir „Nur 50 Euro“ zuraunt und mir damit sagen möchte, dass dieses Fahrrad höchstwahrscheinlich geklaut und er höchstwahrscheinlich ein Junkie ist. Dabei hat mir Joop erklärt, dass die Chance, dass einem das Fahrrad geklaut wird, nur minimal mit seinem Kaufpreis korreliert. Es gibt Holländer, die schwören darauf, auf rostigen Damenrädern herumzufahren, in der Überzeugung, die werden nie gestohlen, und es gibt Holländer, die kaufen sich teure Teile und behaupten dasselbe. Beklaut werden am Ende beide.

Also begebe ich mich auf den goldenen Mittelweg und besuche einen von Lots empfohlenen Fahrradhändler, der mir natürlich gern einen Mercedes verkaufen würde, aber auch gebrauchte VW Polo im Angebot hat.

„Damesfiets of herenfiets, Mevrouw?“ Ein Herrenrad? Da komme ich doch erst gar nicht über die Stange. Aber robust sollte das Rad schon sein, und nicht mit so viel Schnickschnack.

„Versnelling?“ Gangschaltung? In Holland? Welche Berge habe ich denn übersehen? „Nicht wegen der Berge, wegen des starken Windes und wegen der vielen Brücken in Amsterdam!“ Ach ja! So habe ich das noch gar nicht betrachtet. Also gut, drei Gänge, gute Bremsen, ein bequemer Sattel.

„Ik heb ook dameszadel, Mevrouw.“ Ein Damensattel? Den kenne ich eigentlich nur aus Filmen, wenn Frauen vergangener Epochen mit wallenden Röcken seitlich auf Pferden aufsitzen, um ihren Prinzen entgegenzugaloppieren. Aber seitlich auf einem Fahrrad? „Kann ich mal sehen?“

Der Fahrradhändler verschwindet in der Werkstatt und kommt mit einem Gegenstand zurück, der von unten aussieht wie ein Sattel und von oben wie ein ovales Kissen. Der Mann erzählt mir, dass diese Sattelvariante praktisch ist, wenn man enge Röcke trägt, dass sie vor allem von älteren Damen gewählt wird, aber langsam aus der Mode kommt.

„Ach wissen Sie, so alt fühle ich mich noch gar nicht.“ Er mustert mich von oben bis unten und nickt. Am Ende wird es ein hellblaues Damenrad mit geschwungenem Lenker, großen Rädern und herkömmlichem Sattel. Ich sitze sehr aufrecht, die Gangschaltung funktioniert, und nichts quietscht, das ist doch schon mal ein Fortschritt gegenüber dem historischen Modell, das mir Joop und Lots überlassen haben. Das Rad soll 120 Euro kosten, guter Preis, denke ich, zahle und will gerade los, als mir der Fahrradhändler hinterherruft: „Mevrouw, heb je geen slot nodig?“

Ein Schloss! Um Gottes willen! Natürlich, ohne Schloss würde wahrscheinlich bald ein Junkie mit meinem hellblauen Wunder durch Amsterdam radeln und mir am Ende mein eigenes Rad zum Kauf anbieten. Soll schon vorgekommen sein, habe ich gehört. Ich kehre um, und weil man nicht am falschen Ende sparen soll, kaufe ich zwei unterarmdicke Metallschlösser und – habe ich gerade guter Preis gesagt? – bin noch einmal 120 Euro los. Es wird wirklich Zeit, dass ich einen Job finde.

Auf dem Weg nach Hause klingelt mein Handy. „Hoi, met Mathilde.“ Mathilde? Ich kann mich nicht erinnern, dass ich eine Mathilde kenne. „Spreek ik met Bettina?“ Aber offensichtlich kennt Mathilde mich. „Du suchst ein Zimmer? Wir haben eins übrig.“ Ach, wunderbar, natürlich kenne ich eine Mathilde. „Wie schön, kann ich es mir ansehen?“ – „Wenn du willst, komm morgen Abend vorbei, dann sind die anderen auch da.“ Bevor ich fragen kann, wer ‚die anderen‘ sind, diktiert mir Mathilde eine Adresse und hat schon aufgelegt. Morgen Abend also. Vielleicht klappt’s ja doch noch mit dem Abenteuer.

Die Haare gewaschen und in sauberen Jeans stehe ich relativ pünktlich vor der Prinsengracht 26. Das Haus ist ca. drei Meter breit und vier Stockwerke hoch. Die meisten Grachtenhäuser in der Amsterdamer Innenstadt sind sehr schmal, weil die Grundstückspreise aufgrund von Platzmangel schon immer enorm waren. Durch das Fenster im Erdgeschoss kann ich eine große Küche erkennen, in der neben Herd und Kühlschrank auch ein Fernseher und mehrere halbfertige Fahrräder stehen. Ganz hinten hängt ein hellgrüner Plastikvorhang.

„Ga je mee naar binnen?“ Ich zucke zusammen, als neben mir ein blonder Bär mit einem Schlüssel in der Hand auftaucht. „Hallo, wohnst du hier?“ – „Du musst Bettina sein, hoi, ik ben Willem en ja, ik woon hier.“

Aha, Willem, das muss einer der ‚anderen‘ sein, von denen Mathilde gesprochen hatte. Willem ist ca. zwei Meter groß, hat ausgesprochen breite Schultern, auf die sich eine blonde Mähne ergießt, mit seinen schweren Schuhen, dem karierten Hemd und dem khakifarbenen Parka sieht er aus wie das fleischgewordene Klischee eines schwedischen Holzfällers. Ich gebe ihm lieber nicht die Hand, zum Glück gibt es zur Begrüßung auch keine Küsschen, und folge ihm ins Haus. Der Gang ist zugestellt mit Kartons und Schuhen, in der Küche, die ich schon durchs Fenster besichtigt habe, stehe ich etwas verlegen herum, bis Willem „Ga zitten“ sagt und ich mich auf das Sofa setze. „Mathilde und Johan kommen gleich, dann geht’s los.“

Ich nicke und weiß nicht, was ich sagen soll. ‚Dann geht’s los‘, das kann schließlich alles Mögliche bedeuten, dass wir zusammen essen, dass ich gleich von drei Holländern ins Verhör genommen werde, dass sie mich an einen Stuhl fesseln und mich mit einem Stück Käse knebeln.

Meine Zweifel melden sich zurück. Warum tue ich mir das eigentlich an? Ich hätte doch sicher auch in Berlin wieder Job, Wohnung und Mann gefunden, irgendwann, statt eines sentimentalen Anflugs wegen die Flucht zu ergreifen und mich in Amsterdam um ein WG-Zimmer zu bewerben. Und überhaupt, meine letzten WG-Erfahrungen sind Jahre her. Außerdem: Willem, diesem Riesen, möchte man wirklich nicht im Dunkeln begegnen.

Und wenn ich doch bei Joop und Lots bleibe? Abenteuer hin oder her, so ein bisschen Ruhe und Geborgenheit würden meinem verletzten Seelchen vielleicht auch nicht schaden.

Im Flur tut sich was. Ich höre die Stimmen einer Frau und eines Mannes und im nächsten Moment stehen beide vor mir. „Hoi, ben jij Bettina?“ Das muss Mathilde sein. „Hallo, guten Tag.“ – „Hallo, ik ben Johan.“ – „Hallo, guten Tag.“ Johan hat auch ein kariertes Hemd an, ist aber ungefähr zwei Köpfe kleiner als Willem und auch etwas schmaler. Er hat eine kurze Stoppelfrisur, und wenn Willem ein Bär ist, dann ist Johan, sagen wir, ein Rennpferd. Mathilde gäbe wohl ein gutes Reh, so wie sie durch die Küche schreitet und dabei ihr langes braunes Haar in den Nacken wirft.

„Also, Bettina aus Berlin, willst du Tee?“ Johan setzt einen Kessel Wasser auf. Mathilde ist hinter dem hellgrünen Vorhang verschwunden und taucht gleichzeitig mit Willem wieder auf, der die Treppe herunterpoltert, die in den ersten Stock führt. Alle drei stehen sie nun vor mir und niemand sagt etwas, schließlich fangen wir gleichzeitig an zu grinsen. „Na los, komm rüber an den Tisch, da können wir dich in Ruhe ausfragen.“