Ein Jahr in der Schweiz - Caroline Rzehak - E-Book

Ein Jahr in der Schweiz E-Book

Caroline Rzehak

4,8

Beschreibung

Wer nichts wagt, der gewinnt nichts. Frisch verheiratet beschließen Cornelia Rzehak und ihr Mann, in die Schweiz zu ziehen. Ihn erwartet ein verlockendes Jobangebot. Und sie, sie wird sicher auch bald etwas finden. Glaubt sie. Was folgt, ist eine Berg- und Talfahrt, nicht nur durch die Schweizer Alpen, sondern auch durch die Gebirgsmassive des Schwiizertüütsch, die Schluchten der Arbeitssuche und die verwirrenden Pfade ungeschriebener Regelwerke. Ein Jahr in der Schweiz – besser als jede Schokolade.

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Seitenzahl: 256

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Caroline Rzehak

Ein Jahrin der Schweiz

Reise in den Alltag

Impressum

Originalausgabe

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption: Agentur R·M·E Roland Eschlbeck

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © F1 online

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-80201-0

ISBN (Buch): 978-3-451-06737-2

Inhalt

Dezember

Januar

Februar

März

April

Mai

Juni

Juli

August

September

Oktober

November

„Es sollte Uhren geben, die nur weitergehen,

wenn die Zeit, die du lebst, sich lohnt.“

Urs Widmer

Dezember

DÜSSELDORF AIRPORT, um 18.55 Uhr soll mein Flug starten, die letzten Sonnenstrahlen des Tages erhellen die Welt, als wollte sie mich zum Abschied aus dem Ruhrpott ganz besonders grüßen. Etwas verloren sehe ich mich um, ein komisches Gefühl, mit einem One-Way-Ticket in der Tasche. Plötzlich piept mein Handy: „Wo steckst du? Wir sind im Flughafen:–)“ – Meine Eltern.

Als ich sie endlich gefunden habe, falle ich ihnen in die Arme und freue mich, dass wir die Stunde vor dem Abflug verplaudern können und ich meine durcheinanderpurzelnden Gefühle erst mal im Zaum halten kann. Sichtlich bemüht sich meine Mutter, nicht traurig zu wirken. „Ach, es ist eine tolle Chance für euch! Es wird bestimmt alles gut werden. Dominik fühlt sich doch schon recht wohl.“ Dominik, seit kurzem mein Ehemann, hatte im Sommer durch einen Headhunter das Angebot für eine Arbeitsstelle in der Nähe von Zürich erhalten. Erst vor gut einem Jahr waren wir wegen seines Jobs nach Bochum gezogen. Und nun also in die Nähe der schönen Berge? Wir hatten unsere Bedenken, im Vorfeld hörte man nicht nur Gutes über die Schweiz. Aber solch eine Chance ergibt sich nicht oft. Frei nach dem Motto „Wer nichts wagt, der nichts gewinnt“ haben wir uns für den Schritt in die Schweiz entschieden.

„Im Ruhrgebiet gefiel es euch doch gar nicht so gut. Zürich ist bestimmt ein viel besserer Ort, um glücklich zu werden!“ Meine Mutter drückt mich fest an sich, die Tränen in unseren Augen ignorieren wir tapfer. „Sag Dominik, er soll auf meine Kleine aufpassen! Los, Birgit, wir fahren jetzt.“ Mit einer letzten festen Umarmung beendet mein Vater die Szene. Schluck. Jetzt geht’s los!

Ein Blick aufs Handy lässt die Augen erneut prickeln: Meine Freundinnen schreiben so rührende Nachrichten. Sie freuen sich für uns und unterstützen mich bei diesem großen Schritt – und ich werde sie sehr vermissen.

One-Way in ein anderes Land, wie oft hatte ich davon geträumt! In meiner Vorstellung waren es ferne Ziele wie Kanada oder Neuseeland, doch nun bin ich froh, dass es nicht zu weit fort geht von Zuhause. So sehr ich mich auch auf die Schweiz freue, mindestens ebenso habe ich die Angst im Herzen, ob und wie die Freundschaften die neue Entfernung überstehen werden und wie es uns vor Ort ergehen wird. Als die Maschine sich in die Lüfte erhebt, schaue ich auf Düsseldorf, nehme dieses Bild in mich auf: Die Lichter der Stadt glitzern, die Autobahn wirkt wie eine hübsche leuchtende Perlenkette …

Flughafen Zürich, Dominik empfängt mich, und wir fallen uns in die Arme. Endlich ist Schluss mit unserer kurzen, aber anstrengenden Zeit der Fernbeziehung. Und romantisch-galant trägt er mich über die Schwelle der neuen Wohnung – wir müssen beide kichern. Er zeigt mir die noch leeren Räume, erst am nächsten Tag soll all unser Hab und Gut mit dem Umzugsunternehmen ankommen.

Ich bin froh, dass uns unser Weg in ein deutschsprachiges Land geführt hat, ich gehe davon aus, dass ich gut zurechtkommen werde. Im Vorfeld habe ich Bücher gelesen, „Gebrauchsanleitung Schweiz“ und Ähnliches, um zu verhindern, in die ganz großen Fettnäpfchen zu treten. Nun bin ich gespannt, welche der Warnungen und Klischees über die Schweiz sich bewahrheiten werden.

Woche eins in der neuen Heimat. Ich tapse zwischen Kisten-Ausräumen, Wohnung-Einrichten und Ankommen herum. Keinen zu kennen, das hatte ich bereits in Bochum erlebt, und es hat sich nicht allzu schön angefühlt. Ich hatte lernen müssen, dass es nicht leicht ist, neue Kontakte zu knüpfen. Meine Blauäugigkeit in dieser Hinsicht hatte ich also schon längst hinter mir gelassen, irgendwo auf der Autobahn zwischen Aachen und Bochum. Nun weiß ich, dass wir hier eine Weile alleine zurechtkommen müssen. Vor allem, da man den Schweizern eine deutliche Zurückhaltung nachsagt, insbesondere gegenüber Deutschen. Es fühlt sich seltsam an, fremd zu sein und die Sprache eben doch nicht zu verstehen, obwohl es Deutsch ist. Deutsch? Das, was ich im Radio oder Supermarkt höre?

An einem sonnigen Mittwoch fahre ich mit dem Rad durch den Ort zur Gemeindeverwaltung. Als ich mein Velo für den Rückweg aufschließe, schüttele ich unwillkürlich den Kopf. Ich kann es immer noch nicht glauben. Krame in meiner Tasche und hole das neue Ausweisdokument noch einmal hervor: ein grauer, aufklappbarer Beleg für meine Aufenthaltsbewilligung – zu groß für jedes Portemonnaie. Es ist in tristem Sandmatschgrau gehalten, innen mit Foto. Außen steht es schwarz auf weiß, in großen Lettern, damit ich es ja nicht vergesse: „Ausländerausweis“. Schon verstanden. Die Bewilligung läuft, dank Dominiks unbefristetem Arbeitsvertrag, genau fünf Jahre. Wenn wir uns in der Zeit benehmen und wir immer noch unser Einkommen haben, dann dürfen wir einen Antrag auf Verlängerung stellen. Vielleicht erhalten wir dann ja den hellgrünen Ausweis C mit der Niederlassungsbewilligung. Wir werden sehen.

Tags darauf schreie ich bei der Fahrt zum Supermarkt plötzlich vor Begeisterung auf: „Die Alpen!“ So weit weg – und doch: „Ich kann sie sehen, auf dem Weg zum Einkaufen. Wie cool ist das denn?! Unfassbar.“ „Ja, sieht toll aus, nicht?“, lächelt Dominik mich an. Sofort durchströmt mich eine Glückswelle, und alle meine Befürchtungen und Ängste sind wie weggeblasen. Dieses wunderschöne Land wird uns für so manche Strapaze entschädigen, ich bin mir sicher!

Mein Plan sieht vor, den Dezember nur mit Ankommen zu verbringen, um den Job kümmere ich mich wieder im neuen Jahr. Die Absagen, die ich bisher erhalten habe, reichen erst mal. Jetzt steht „Neue Heimat erkunden“ auf dem Programm – und verschnaufen. Ich bin so froh, dass das Timing geklappt hat und ich in der Vorweihnachtszeit hier eintreffe. Überall sind die Häuser und Vorgärten mit unzähligen Lichtern geschmückt. Waren in Deutschland auch so oft leuchtende Rentiere, Sterne und glitzernde Balkone zu sehen? Oder fällt es mir nur auf, weil ich hier mit den Augen einer Fremden unterwegs bin?

Bei den frischen Auslagen eines Bäckers lese ich: Grittibänze. Diese Teigmännchen sehen dem geliebten Weggemännchen, Weckmann oder, wie es im Ruhrgebiet heißt, Stutenkerl doch sehr ähnlich. Das will ich genau wissen. Ich bestelle einen, und die Verkäuferin fragt mich freundlich: „Suscht no öppis?“ Und bemerkt sofort, dass ich sie nicht verstanden habe. Überhaupt nicht. „Darf es sonst noch etwas sein?“, ergänzt sie auf Schriftdeutsch, wie es hier auch oft heißt. Sie sieht mich fragend an: „Hettet Sie gern no äs säckli?“ Ich lächle zaghaft. Wissend erwidert die freundliche Dame mein Lächeln und reicht mir meinen Grittibänz in einer Tragetasche. Da wird der kleinste Einkauf zum Abenteuer. Mein Teigmännchen ist, hmm, süß und fluffig, so muss das sein.

Der Samichlaus genießt hier anscheinend einen ähnlichen Stellenwert wie zu meiner Kindheit der Nikolaus. So gibt es rund um diesen Termin eben die feinen Grittibänze ebenso wie andere Leckereien, die einem die Wartezeit bis Weihnachten wahrhaft versüßen.

Im Supermarkt bin ich irritiert: Irgendetwas fehlt hier. Ich schaue mich um, denke nach, und plötzlich komme ich drauf: Es gibt sie, aber nicht in den Massen wie in Deutschland schon im September: die Schokoweihnachtsmänner. Eher verschämt stehen sie neben den anderen Köstlichkeiten, etwa den bunten Schoggikugeln in allen Farben und Sorten. Und was sehen meine Augen? Printen aus Aachen, aus unserer alten Heimat! Das gibt’s ja gar nicht! Wie schön, dass man heutzutage immer ein Telefon mit Kamera dabei hat, so sende ich direkt einen Gruß in die Herkunftsstadt dieser Leckereien. Daneben türmen sich weitere Berge Schoggi aller Art. Besonders beliebt sind offensichtlich vor allem Lindt & Sprüngli, Chocolat Frey und Cailler. Die beiden letzteren waren mir bislang völlig unbekannt – es sind offenbar hiesige Schoggi-Marken.

Der nächste Morgen begrüßt mich mit leise rieselnden Schneeflocken. Ich kann es nicht lassen, ich zücke die Kamera und mache Fotos aus so ziemlich jedem Fenster. Vorweihnachtszeit und Schnee! Ich strahle übers ganze Gesicht, diese Stimmung und das Winterwetter möchte ich auskosten. Gut gelaunt mache ich mich auf den Weg in die Stadt. Mein erstes Ziel: der Zürcher Christkindlimarkt in der Bahnhofshalle. Die 150 Holzbuden stehen weihnachtlich geschmückt mit Tannengrün, bunten Kugeln und Lichterketten da, feierlich aufgereiht, und sie laden ein zum Bummeln und Einkaufen. Hübsch sehen sie aus, in den Auslagen findet man Schmuck, Mützen, Kunsthandwerk bis hin zu Käsespezialitäten. Aber irgendwie will sich die typische Weihnachtsmarktstimmung bei mir noch nicht einstellen, etwas passt nicht. Anstatt nett durcheinander dudelnder Weihnachtslieder höre ich vor allem Bahnhofstrubel.Und mir fehlt das typische Winterwetter, nur echt mit Wölkchen vor dem Mund. Der Duft der heißen Maroni, die es hier an vielen Stellen zu kaufen gibt, die Lichter und festlich geschmückten Büdchen – all das kann mich nicht recht von der Bahnhofshallen-Atmosphäre ablenken. Inmitten der Stände bleibe ich stehen und lege den Kopf in den Nacken, um den riesigen Tannenbaum zu betrachten. Die Stadt gilt als eine der reichsten und teuersten weltweit. Da überrascht mich dieser Baum nicht: Fünfzehn Meter hoch und mit 6000 Swarovski-Ornamenten geschmückt, soll diese glitzernde Nordmanntanne, geschützt von einer hohen Plexiglasscheibe, den Wert von etwa einer Million Schweizer Franken haben, sagt man.

Ich schlendere aus dem Hauptportal des Bahnhofs hinaus, vorbei an einem Brunnen, dessen Wasser in spektakulären Formen gefroren ist, über die Tramgleise auf die berühmte Bahnhofsstraße. An deren Beginn finden sich die üblichen Läden wie H&M und Dosenbach – letztere sehen exakt so aus, wie in Deutschland die Deichmann-Ketten. Je näher ich Richtung See gehe, desto hochwertiger und kostspieliger werden die Angebote. Spätestens, wenn man die Mietpreise der Ladenlokale in dieser besonderen Straße erfährt, wundert man sich nicht mehr, warum hier vor allem Großketten und renommierte Edelmarken vertreten sind. Der Einzelhandel muss die weltweit dritthöchsten Ladenmieten zahlen. In den Nebenstraßen werden die Geschäfte kleiner und das Angebot vielfältiger – natürlich ergänzt durch die üblichen Schmuck-, Uhr- und Designerwaren.

Zauberhaft wirkt die festliche Beleuchtung dieser über einen Kilometer langen Straße. Mit offenem Mund stehe ich da und würde den Anblick gerne mit jemandem teilen. Als hingen unendlich viele glitzernde Sterne zwischen den Gebäuden – wunderschön!

Nahe dem Seeufer finde ich einen weiteren kleinen Weihnachtsmarkt. Das helle Opernhaus ragt etwas entfernt, aber unübersehbar und imposant hinter den niedrigen Ständen auf. Die Büdchen stehen an der frischen Winterluft. Wobei – frisch? Immer wieder steigt mir ein unverkennbarer Geruch in die Nase. In vielen Restaurants wird Käsefondue, also geschmolzener Käse mit einem Schuss Kirschschnaps, in verschiedenen Variationen angeboten. Und das darf, neben Raclette, auf dem Weihnachtsmarkt offenbar nicht fehlen. Man findet diese Stände genauso oft, wie unsereins kürzlich noch die Currywurst-Buden in Bochum.

Bereits nach kurzem Einleben können wir uns auf unseren ersten Besucher freuen. Wir treffen Jens direkt am Bahnhof Zürich und möchten ihm als erstes die schneebedeckten Dächer des abendlich funkelnden Zürichs zeigen. Dies geht besonders gut von der Aussichtsterrasse der Eidgenössischen Technischen Hochschule. Hier meist nur als ETH bezeichnet, liegt das Universitätsgelände an den Ausläufern des Zürichbergs. Schnell ist der Plan gefasst, mit der Polybahn zu fahren, über die wir bisher nur gelesen haben. „Das ist eine kleine Standseilbahn, die bereits 1889 das erste Mal den Platz Central mit der Uni verband. Heute wird sie auch gerne Studenten-Express genannt, weil sie tagsüber ständig hoch und runter fährt. Tja, leider nach 19.15 Uhr nicht mehr“, beendet Dominik seine Ausführung. Wir sind für den bequemen Weg zu spät dran, was Dominik etwas enttäuscht. „Ach, dann spazieren wir noch ein Stück durch das Niederdorf und gehen die Treppen hoch“, erwidere ich frohen Mutes.

Zugegeben, es sind viele Stufen. Mit Schnee und Eis bedeckt. Vor dem altehrwürdigen Gebäude angekommen, freuen wir uns über den außergewöhnlichen Anblick auf zwei Schneemänner. „Die sind ja riesig! Hey, macht mal ein Foto, die Kerle sind noch mehr als einen Kopf größer als ich“, stellt sich Jens zwischen sie und posiert strahlend. Ein weiteres Werk dieser eifrigen Erbauer befindet sich wenige Meter entfernt mitten auf der weitläufigen Terrasse: Ihm hatten sie gar einen Schneezylinder und einen Tannenbart angezogen. Von hier aus genießt man einen erstklassigen Ausblick über die Stadt, den Zürisee und den gegenüberliegenden Uetliberg, den Hausberg der Zürcher. Die Studierenden können sich wirklich glücklich schätzen: Die Aussichtsfläche ist quasi das Dach der Mensa, sodass sie beim Mittagessen den Blick über die Stadt genießen können.

Als wir am nächsten Morgen die Wohnung verlassen, grüßt Jens unsere Nachbarin auf dem Flur mit einem beherzten „Grüezi!“, während ich ein freundliches „Guten Morgen!“ von mir gebe. „Dass du dich das so traust!“ „Was?“ Jens sieht mich irritiert an. „Na ja, ich habe gelesen, die Schweizer mögen es gar nicht, wenn wir Deutschen versuchen, ihre Sprache zu sprechen. Sie würden jeden Dialekt schon am Grüezi erkennen – und uns Deutsche erst recht.“ Jens sieht das anders: „Mag ja sein, aber ist es nicht allgemein eher unhöflich, wenn man sich nicht mal bei einer Begrüßung anpasst? Also, wenn man nicht mal ein Grüezi und so über die Lippen bringt – ich weiß nicht. In jedem Land bemühe ich mich, zumindest ein Guten Tag, Bitte und Danke in Landessprache zu sagen.“ Eigentlich sehe ich das genauso. Vielleicht war es nur meine Lektüre über die Schweiz, die mich etwas eingeschüchtert hat.

Wir fahren zum Bachtel, einem Berg im Zürcher Oberland, der später für uns eine Art Hausberg werden wird. Den Gipfel, der auf 1115 Metern liegt, wollen wir mit Schneeschuhen erreichen. Zuerst hielt ich es für eine völlig verrückte und absurde Idee: Schneeschuhe?! Wozu das denn? Die braucht doch niemand! Aber nach unserem Ausflug war ich geläutert, mehr noch, ich war verliebt in diese Form des Winterwanderns! Es ist traumhaft, der Schnee liegt kniehoch, und ohne die Schneeschuhe wäre das Vorankommen extrem beschwerlich. Selbst mit den Helfern unter den Füßen müssen wir richtig stapfen und geraten ordentlich ins Schwitzen. Für mich als geborene Flachländerin ist es unbeschreiblich schön, den Winter so auszukosten. Die Tannenzweige, vom Schnee schwer geworden, hängen tief, das kalte Weiß zu unseren Füßen ist weich und leicht, die Sonne scheint, und die Landschaft gleicht derart einem Postkartenidyll, dass ich das alles kaum begreifen kann.

Am Gipfel angekommen, sehe ich etwas skeptisch nach oben. „Ihr wollt aber nun nicht über die vereisten Stufen dort auf den sechzig Meter hohen Turm, oder?“ Meine Skepsis siegt. Lieber trinken wir eine heiße Ovomaltine im Restaurant. Dieses süße Malzgetränk, das mich an Kakao erinnert, wird hier fast überall angeboten. Gleiches gilt für Rivella, ein kohlesäurehaltiges Erfrischungsgetränk, das hierzulande hergestellt und eifrig getrunken wird. 1952 begann die Erfolgsgeschichte des „offiziellen Durstlöschers der Nation“, angereichert mit 35 Prozent Milchserum, was deutlich gesünder sein soll als die meisten anderen Softdrinks. Die Schweizer scheinen stolz zu sein auf ihre beiden Nationalgetränke. Eine Ovo verzückt auch mich.

Und dann die Aussicht! Der Blick über den Zürisee und die Alpen ist selbst an diesem etwas diesigen Tag geradezu grandios! Immer wieder, ich kann gar nicht anders, starre ich aus dem Fenster, während Jens und Dominik, Kenner des Anblicks von Winterbergen, sich angeregt unterhalten. Es ist beeindruckend, wie völlig normal hier in der Schweiz der Wintersport ist und zum Alltag gehört. Draußen stehen dutzende Paare Schneeschuhe, Schlitten, Skier. Ich staune, dass die Leute so viel Vertrauen haben. Keiner scheint zu befürchten, jemand könne die teure Ausrüstung stehlen. Und offenbar funktioniert es. So viele Leute genießen gutgelaunt die Bewegung und die Stimmung dieses Wintertraums. Menschen jeden Alters kommen mit dem Schlitten unterm Arm oder hinter sich herziehend oben auf dem Bachtel an, um mit lautem Gejauchze den Berg wieder runter zu schlitteln. Prompt kommt Dominik auf die Idee: „Caro, du musst unbedingt Skifahren lernen, das machen hier einfach alle, und es ist super!“ Na, er hat leicht reden, er hat es als Kind gelernt. Mein Versuch, auf einem Snowboard einen Hügel herunterzukommen, erwies sich als schmerzhaftes Unterfangen,weshalb meine Ambitionen dahingehend ziemlich gering sind.

Meinem Mann wurde einmal gesagt, er sei ein zurückhaltender Deutscher. Und das war durchaus ein Kompliment. Ein Vorurteil, das uns in Deutschland immer wieder entgegenschlug, als wir von unseren Umzugsplänen berichteten, lautete: Die Schweizer mögen die Deutschen nicht. Uns beiden ist klar: Das wollen wir erst mal sehen! In der Hoffnung, einen guten Eindruck zu erwecken, stellen wir uns eines Abends persönlich bei unseren Nachbarn vor und werden sehr freundlich begrüßt. Die Nachbarin aus der Wohnung über uns wird richtig gesprächig, erzählt uns etwas auf Schweizerdeutsch, und sie wirkt dabei richtig nett. Allerdings verstehe ich – gar nichts, kein einziges Wort. Dominik, der schon ein bisschen mehr Training in der Disziplin des Schweizer-Dialekt-Verstehens hat, scheint sich hingegen der Sinn ihrer Worte zu erschließen. Jedenfalls sagt er etwas dazu. Nur ich stehe dümmlich lächelnd herum und hoffe inständig, dass mein Gegrinse nicht völlig unpassend ist. Bisher sind alle, mit denen wir gesprochen haben, stets ins Hochdeutsche gewechselt, wahrscheinlich, weil sie davon ausgehen, dass Deutsche sie nicht verstehen. Ein durchaus feiner Zug, muss ich sagen. Sonst wäre ich nämlich aufgeschmissen in diesem Land. Was ich in diesem Augenblick noch nicht ahne: Auf dieses Entgegenkommen werde ich noch eine ganze Weile angewiesen sein.

Wenige Wochen in der Schweiz machen mir außerdem klar: Nicht nur die Sprache ist schwerer zu verstehen als erhofft. Vieles ist anders hier, und selbst alltägliche Handlungen bergen ungeahnte Herausforderungen. Wie etwa die Mülltrennung und das Waschen von Kleidung. In der Schweiz ist es in sehr vielen Mehrfamilienhäusern üblich, dass sich die Bewohner einen Waschkeller teilen. Auch bei uns im Haus gibt es einen solchen Keller mit genau einer Maschine und einen Tumbler für alle Mieter der zehn Wohnungen. Und es gibt einen Waschplan. Dieser sieht vor, dass sich jede Wohnpartei einmal in der Woche in eine Fünf-Stunden-Waschschicht einteilt, zwei Termine sind in Abstimmung mit den Nachbarn zum Glück kein Problem. Über eine Chip-Karte bezahlt man seine Gerätebenutzung. Dazu gibt es zwei Trockenräume mit einer Art riesigem Föhn. Eine praktische Sache im Winter, wobei es auch verboten ist, die Wäsche in die Wohnung zu hängen. Als ich eine Nachbarin auf dem Flur treffe, nutze ich die Gelegenheit und bitte sie, mir zu zeigen, wie das alles funktioniert. „Da ist die Waschmaschine, die brauch ich dir ja nicht zu erklären.“ Stefanie lächelt mich an. Gott, ist das peinlich! „Na jaa. Die sieht ganz anders aus als die Geräte, die ich kenne. Würdest du mir kurz was dazu sagen?“ Sie lässt es mich netterweise nicht spüren, sollte sie sich in diesem Moment über mich wundern – höflich formuliert. „Und hier hängen noch die Regeln für die Trockenräume, die werden nach jeder Benutzung geputzt“, beendet Stefanie ihre geduldigen Erklärungen. Mein erster Gedanke: Das kann doch gar nicht wahr sein, wie soll ich mich denn daran gewöhnen, immer nur nach Plan zu waschen – und überhaupt, wie umständlich!

Bereits nach dem zweiten Waschen spricht mich eine andere Nachbarin an: „Du hast noch Wäsche unten, nicht wahr? Ich übernehme das Putzen für dich, meine Wäsche ist bereits fertig, und ich möchte sie gerne direkt auf hängen.“ Weder ihr Gesicht noch die Stimme verraten Verärgerung, sie ist absolut freundlich. Und dennoch werde ich das Gefühl nicht los, dass sich ein Appell dahinter verbirgt: Mittwoch waschen, Freitagvormittag abnehmen – das scheint zu lange zu sein.

Wieder treffe ich eine Nachbarin auf dem Flur. Sie fragt: „Wie macht man das denn, einfach so Familie und Freunde zurücklassen? So was kann ich mir für mich gar nicht vorstellen.“ Wie erkläre ich das auf die Schnelle? Ich versuche, ihr grob unsere Beweggründe zu erläutern und schließe an: „Und natürlich vermissen wir unsere Freunde und Familien. Wir werden die Festtage aber hier bleiben, um etwas zur Ruhe zu kommen.“ Verblüfft hakt sie nach: „Ihr bleibt Weihnachten hier? Alleine?! Ach so …“

Ich kann mir nicht helfen, in mir wächst der Verdacht, dass unsere Nachbarn uns etwas merkwürdig finden. Junges verheiratetes Paar, ohne Kinder, in einer Wohnsiedlung mit vielen Familien, Weihnachten ganz alleine, weit weg von Zuhause …

Allerdings erleben wir unsere Nachbarschaft von den ersten Tagen an als sehr kontaktfreudig. Dass wir damit das große Los gezogen haben, ist uns in diesem Moment gar nicht klar. Derart nette und offene Nachbarn würden manch anderen Schweizern ein Staunen abverlangen. Regelmäßig werden wir gefragt, wie es uns geht, wie wir uns einleben, und auch umgekehrt erzählen unsere Nachbarn aus ihrem Leben.

Unser erstes Silvester in der neuen Heimat starten wir zu Hause, richtig schweizerisch, mit einem köstlichen Käsefondue. Wir haben uns extra einen Caquelon gekauft. In unserem roten Keramiktopf schmelzen wir die bereits fertig im Supermarkt gekaufte Käsemischung aus Vacherin und Greyerzer, noch Weißwein, Knoblauch und ein Schnäpschen dazu – fertig. Während wir unsere Brotstückchen und Kartoffeln in den Schmelz tunken, sinnieren wir ein wenig über das vergangene Jahr. Dass unsere Reise in der Region des Gardasees erst dieses Jahr war? „Der Urlaub erscheint mir Lichtjahre entfernt, es ist so unfassbar viel geschehen seitdem.“ „Ich hätte einen Vorschlag für einen Neujahrsvorsatz.“ „Ach, an die hält man sich doch eh nicht“, erwidere ich, während Dominik auf seinem Brot kaut. „Das wäre aber schön! Was hältst du davon, dass wir uns vornehmen, so viel von der Schweiz zu sehen wie möglich? Was meinst du?“ Dominik sieht mich mit leuchtenden Augen an. „Okay, das ist wirklich ein super Plan. Nutzen wir die Zeit hier, so gut wir können – wer weiß, wie lang sie sein wird.“

Später am Abend steigen wir warm angezogen, einen Sekt in der Tasche, in die S-Bahn nach Zürich. Knapp zwanzig Minuten dauert die Fahrt, und so, wie es aussieht, sind wir nicht die Einzigen, die auf diese Idee gekommen sind. In der Stadt erwartet uns ein Meer von Menschen. Angeblich sollen um die 200 000 Besucher kommen. Und der nicht abreißende Strom von Menschen, die vom Bahnhof Stadelhofen zielsicher in Richtung Seeufer steuern, lassen mir diese Zahl mehr als realistisch erscheinen. Ein wenig mulmig wird mir schon zumute. So viele Menschen, etliche bereits arg angetrunken, und nicht wenige mit Böllern und Raketen ausgerüstet. Wobei das Abfeuern von eigenem Feuerwerk aus Sicherheitsgründen eigentlich strikt verboten ist.

Wir marschieren über den großen Schotterplatz vor der Oper, der gerade modernisiert wird, und bahnen uns einen Weg zum Zürisee. „Wow, wie halten die Mädels das aus?“ „Was meinst du? Die Miniröcke und High Heels?“, grinst Dominik, während er drei jungen Frauen nachschaut. Ich freue mich jedenfalls über meine warmen, flachen Lammfellstiefel. Gut, die sind nur halb so stylish, dafür aber die deutlich bequemere und wärmere Variante.

„Sag mal, ist das für so kleine Kinder nicht viel zu laut?“ Dominik deutet auf Familien, die mit Kinderwagen oder Bauchbeutel ihre Säuglinge durch die Masse bugsierten. Zürich erscheint mir an diesem Silvesterabend vor allem ein Schmelztiegel der Nationalitäten. Es herrscht ein fröhliches Durcheinander von Sprachen, angefangen bei Englisch über Französisch bis zu Italienisch und einem für meine Ohren osteuropäisch als auch arabisch klingendem Stimmengewirr. Es verlockt uns, nach der passenden Person zu der Sprache Ausschau zu halten und zu überlegen, wo diese wohl ursprünglich ihre Wurzeln hatte. Offen bleibt die Frage: Tourist oder Wohnbürger?

„Hast du eigentlich schon Schweizerdeutsch gehört?“, entfährt es mir. „Mich beschleicht etwas das Gefühl, dass sich kein Einheimischer dieses Geschiebe und Gedrängel am Seeufer antut.“

„Doch, doch, die Gruppe dahinten auf jeden Fall.“ Dominik lehnt den Kopf leicht nach links. Im Verlauf des Abends nehme ich dann auch immer wieder die Stimmen der Einheimischen wahr. Vor allem viele ausgesprochen junge Schweizer feiern ausgelassen dem neuen Jahr entgegen. Es ist eine schöne Mischung aller Altersgruppen, sozialer Stellungen und Nationalitäten, die erstaunlich friedlich miteinander das neue Jahr begrüßen möchten.

Wir ergattern einen der begehrten Plätze mitten auf der Quaibrücke, die sich über den Zürisee erstreckt, dort, wo er sich in die Limmat verengt. Sonst herrscht hier reger Auto- und Tramverkehr, doch nun dient die Brücke den Feiernden als Tummelplatz. Im Internet hatte ich gelesen, dass beim „Silvesterzauber“ in Zürich die Kirchenglocken den Jahreswechsel beläuten würden. Viele Menschen machen aber leider auch viel Lärm.

„Hörst du was? Es müsste doch schon zwölf Uhr sein.“ Um uns herum erklingen ähnliche Fragen. Peu à peu merken alle Umherstehenden, dass das neue Jahr wohl bereits gestartet hat. Es wird mit Sekt und anderen Alkoholika angestoßen, manchmal auch mit warmem Tee. Dominik und ich können es kaum fassen. Wir sind gerade in Zürich! Wir wohnen hier! Klirrend stoßen wir an: Auf in ein spannendes neues Jahr!

Plötzlich verlöschen alle Lichter um uns herum. Von einem Raunen der Menge begleitet wird es auf der Brücke völlig dunkel. Rund um das Seeufer beobachten wir, wie die Lichter ausgehen und Dunkelheit sich ausbreitet. Das Feuerwerk beginnt. Mit offenen Mund stehe ich dort und falle mit ein in die stimmliche Untermalung dieser lauten Knallerei. Welch ein Spektakel! Ein allgemeines „Ahhh“, „Ohhh“ und „Wow“ begleitet jede neue Rakete in die Lüfte. Riesige bunte Gebilde erhellen den Nachthimmel. Von zwei Booten, die im See vor Anker liegen, werden die Raketen abgefeuert. Zwanzig Minuten lang können wir Goldregen, Palmen, bunten Glitzer, sogar leuchtende Würfel und Smileys bestaunen. Mit lautem Knall, riesig groß und faszinierend, begrüßt das Feuerwerk das Jahr 2013. Was für ein Erlebnis!

Wir sind uns einig: Diese Silvesterfeier hat sich gelohnt! Das möchten wir gerne noch einmal genießen – dann vielleicht gemeinsam mit Freunden. „Und dann fahren wir schon früher in die Stadt, um noch die Stände am Ufer zu erkunden.“ Ich stimme in Dominiks Idee ein: „O ja, es gibt so viele Köstlichkeiten zum Essen und auch Cocktails. Und in einer der Open-Air-Discos könnten wir uns unter freiem Himmel wieder warm tanzen.“ Aus dem Bummern der verschiedenen Musikangebote lässt hier auf der Brücke kaum ein Lied heraushören.

„Schau mal! Die stehen dort und pinkeln die Brücke runter!“ Die Massen haben sich etwas gelichtet und geben den Blick frei auf dieses ungewöhnliche Bild. „Das sind ja bestimmt zwanzig Männer! Schau mal, die Leute, die mit ihren eigenen Booten das Feuerwerk vom See aus anschauen, wollen nun unter der Brücke durch! Die finden das wohl nicht sehr witzig“, kichert Dominik. „Nein, guck! Manche geben richtig Tempo, statt einfach zu warten.“ „Wer weiß, die Herren wechseln ja auch immer wieder, dauert vielleicht länger.“

Lachend und kopfschüttelnd hake ich mich bei Dominik unter, und wir machen uns auf den Heimweg.

Januar

DAS NEUE JAHR BEGINNT RUHIG und gemütlich. Dominik hat noch ein paar Tage frei, und für das nächste Wochenende haben sich meine Eltern angekündigt. Endlich können wir ihnen unser neues Zuhause und Zürich zeigen. So ein paar Ecken kennen wir ja schon, die es anzusehen lohnt, selbst im tristen Januar.

Wir kommen gerade vom Einkaufen, als wir schwer bepackt im Hausflur fast in unsere Nachbarin laufen. „Ah, hoi Caroline und Dominik! Ihr sind wahrschindli au am poste gsi. Wir gahts eu dänn so?“ Martina lacht uns fröhlich an. Sie ist Anfang dreißig, mit einem Secondo aus Italien verheiratet, und hat zwei süße Kinder. Secondo ist eine geläufige Bezeichnung für den Nachwuchs von Einwanderern. Auch bereits eingebürgerte Migrantenkinder werden mit diesem Ausdruck benannt, sie selber nutzen ihn positiv, es ist fast cool ein Secondo zu sein. Diesen wohlwollenden Anstrich verleiht aber nicht jeder Schweizer dieser Bezeichnung, im Gegenteil.

Martina war von Anfang an sehr freundlich und hilfsbereit zu uns. Es fällt mir nur etwas schwer, mit ihr zu plaudern, weil sie recht konsequent im Dialekt bleibt und auf Hochdeutsch nur dann wechselt, wenn ich mir nicht einmal mehr grob den Zusammenhang erschließen kann. Was noch sehr oft der Fall ist. Sie sagte mal, sie erwarte von Ausländern, dass sie sich anpassen, und dazu gehöre selbstverständlich auch die Sprache. Schon ihre Begrüßung gerade habe ich nicht ganz verstanden und frage nach. „Ich sagte sowas wie: Ihr seid wohl auch einkaufen gewesen! Wie geht’s euch denn so? Go poschte, das bedeutet: einkaufen gehen. Es hat nichts mit der Post zu tun, was viele am Anfang denken.“

„Ah, okay. Ja, wir waren gerade im Migros. Blöderweise haben wir nicht daran gedacht, dass es dort keinen Alkohol zu kaufen gibt. Nun werde ich gleich noch mal in den Coop gehen, um einen Wein zu besorgen.“ „Darf ich dir noch einen Tipp geben?“ „Na klar – immer!“ „Es heißt die Migros, weil es eine Genossenschaft ist. Ihr habt aber ja schon den Dreh raus, dass das ‚s‘ der ‚Migroh‘ nicht gesprochen wird. Ach, noch ein kleiner Tipp, wir sagen nicht ‚Co-op‘“, Martina grinst. „Sprecht es lieber ‚Cohp‘ aus, dann fallt ihr weniger auf.“ Dominik und ich schauen uns mit großen Augen an. „Ihr Deutschen enttarnt euch immer als Touristen oder Neuzuzügler, wenn ihr das falsch aussprecht, und uns klingeln dann die Ohren.“ „Vielen Dank, Martina! Das werden wir in Zukunft beherzigen.“

Dass die Migros eine Genossenschaft ist, war mir zwar bekannt, allerdings vergesse ich es leider im Alltag noch häufig. Es ist die größte Detailhandelskette der Schweiz und wurde 1925 von Gottlieb Duttweiler in Zürich gegründet. Er hatte unter anderem das Prinzip der „Volksgesundheit“ festgelegt, wonach in den Migros-Märkten bis heute weder Alkohol noch Tabak verkauft wird. Die Migros ist inzwischen eine weitreichende Firmenkette mit diversen Tochterfirmen. „Wenn du Wein holen möchtest, kannst du auch gut zum Denner gehen. Da hat es oft tolle Angebote“, erklärt Martina weiter. Zur Migros-Familie gehören neben jenem Denner auch eine Buchkette, Sportläden, Elektrofachmärkte, Tankstellen etc.

Was mir bei den ersten Einkäufen im Supermarkt besonders auffält, ist die üppige Auswahl an Käse. Zwar hat man es schwer, wenn man holländischen Gouda bevorzugt, den muss man suchen. Doch dafür gibt es Bergkäse in allen erdenklichen Variationen einfach so im Supermarktregal. Vor allem regionale Produkte, vom Luzerner Rahmkäse über Heidi Bergblüten-Käse bis hin zum klassischen Greyerzer.

Dieses Bewusstsein für Regionales oder zumindest Nationales springt mir bei den vielen Produkten ins Auge. Das Fleisch kommt zum Großteil aus der Schweiz, entsprechend teurer ist es als von Deutschland gewohnt. Und auch sonst – überall wo Schweiz drin ist, steht es auch werbewirksam drauf. Das ist schließlich ein schlagendes Verkaufsargument – vom Obst bis zu den Kartoffelchips.

Am Abend geht’s mit der S-Bahn zum Flughafen in Zürich-Kloten, meine Eltern abholen. Der größte Flughafen der Schweiz liegt nur etwa dreizehn Kilometer nördlich der Stadt. Was durchaus praktisch ist, aber regelmäßig für heiße Diskussionen über Flugrouten und Lärmschutz sorgt.

Bereits der Weg zurück zu unserer Wohnung bietet Gesprächsstoff genug. „Wirkt ein bisschen wie ein Hotel, nur vielleicht nicht so luxuriös“, mustert meine Mutter die großen Häuser in Bahnhofnähe. Wir wohnen in einer der Agglomerationen, die sich um Zürich ausgeweitet haben. Und ich muss gestehen: Viele dieser Ansammlungen von Wohnhäusern üben auch auf mich den Charme einer Feriensiedlung aus, nur wirken sie leider manches Mal trister als ihre Geschwister aus dem Urlaubskatalog. Große Gebäude mit vielen Wohnungen, zu jeder gehört in der Regel ein Balkon. Hielt ich früher solche Quartiere