Ein Kind zur Zeit - Ian McEwan - E-Book

Ein Kind zur Zeit E-Book

Ian McEwan

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Beschreibung

Eines Tages wird für Stephen und Julie der schlimmste Alptraum aller Eltern Wirklichkeit: ihre dreijährige Tochter verschwindet spurlos. Ein Roman über eine Welt, in der Bettler Lizenzen haben und Eltern darüber aufgeklärt werden, daß Kindsein eine Krankheit ist. Aber auch eine subtile Ergründung von Zeit, Zeitlosigkeit, Veränderung und Alter.

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Seitenzahl: 406

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Ian McEwan

Ein Kindzur Zeit

Roman

Aus dem Englischen vonOtto Bayer

Titel der 1987 bei Jonathan Cape Ltd., London,

erschienenen Originalausgabe:

›The Child in Time‹

Copyright ©1987 by Ian McEwan

Die deutsche Erstausgabe erschien 1988

im Diogenes Verlag

Covermotiv: Foto von Elisabeth Ansley (Ausschnitt)

Copyright ©Elisabeth Ansley

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright ©2016

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 21929 6 (8.Auflage)

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5]Den folgenden Autoren und Büchern fühle ich mich zu Dank verpflichtet: Christina Hardyment, Dream Babies, Jonathan Cape Ltd., 1983; David Bohm, Wholeness and the Implicate Order, Routledge & Kegan Paul, 1980 (Deutsch: Die implizite Ordnung, Goldmann, 1987); Joseph Chilton Pearce, Magical Child, E. P. Dutton and Co., 1977 (Deutsch: Die magische Welt des Kindes, Diederichs, 1978).

[7]Eins

»…und jenen Eltern, die allzu lange durch den blassen Relativismus selbsternannter Kindererziehungsexperten irregeleitet wurden…«

Autorisierter Leitfaden zur Kindererziehung Her Majesty’s Stationary Office (HMSO)

Förderung öffentlichen Nahverkehrs wurde von der Regierung und der Mehrheit der von ihr Regierten seit langem als Beschneidung der persönlichen Freiheit angesehen. Zweimal täglich brachen zur Stoßzeit die verschiedenen Netze zusammen, und Stephen fand, er kam zu Fuß schneller von seiner Wohnung nach Whitehall, als wenn er ein Taxi nahm. Es war Ende Mai, und die Temperatur ging kurz vor halb zehn schon auf fünfundzwanzig Grad. Er näherte sich der Vauxhall Bridge, vorbei an den Zweier- und Dreierreihen im Stau bebender Autos, jedes nur mit seinem Fahrer besetzt. Das persönliche Freiheitsstreben hörte sich eher resigniert als passioniert an. Beringte Finger trommelten geduldig auf den Rinnen heißer Blechdächer, weißärmelige Ellbogen ragten aus offenen Fenstern. Zeitungen waren auf Lenkrädern ausgebreitet. Stephen schritt schnell durch die Menge, durch Lärmschichten plärrender Autoradios – Dudelmusik, dynamische Frühstücksmoderationen, Nachrichtenfetzen, Verkehrs-»Warnungen«. Soweit die Fahrer nicht lasen, hörten sie teilnahmslos zu. Das stetige Vorwärtsdrängen des Fußvolks mußte ihnen ein Gefühl [8]relativer Bewegung vermitteln: eines langsamen Rückwärtsgleitens.

Während Stephen im Zickzack überholte, hielt er wie immer, wenn auch kaum noch bewußt, Ausschau nach Kindern, einem fünfjährigen Mädchen. Es war mehr als eine Gewohnheit, denn Gewohnheiten kann man ablegen. Es war eine tiefe Neigung, seinem Wesen durch Erfahrung aufgeprägt. Es war nicht in erster Linie ein Suchen, wie es das früher einmal gewesen war, zwanghaft und lange Zeit. Zwei Jahre später waren davon nur noch Rudimente übrig; es war jetzt ein Sehnen, ein trockener Hunger. Eine biologische Uhr, leidenschaftslos in ihrer Unaufhaltsamkeit, ließ seine Tochter wachsen, erweiterte und komplizierte ihren einfachen Wortschatz, machte sie kräftiger, ihre Bewegungen sicherer. Die Uhr, unermüdlich wie ein Herz, hielt Wort mit einem immerwährenden Konjunktiv: Sie würde malen, zu lesen anfangen, einen Milchzahn verlieren. Sie wäre ein vertrauter Anblick, eine Selbstverständlichkeit. Es schien, als könne die Vielzahl der Anlässe diesen Konjunktiv verschleißen, die dünne, halbdurchsichtige Wand, deren feines Gespinst aus Zeit und Möglichkeit zwischen ihm und ihr stand: Sie ist aus der Schule gekommen und müde, ihr Zahn liegt unterm Kissen, sie sucht ihren Daddy.

Jedes fünfjährige Mädchen – Jungen aber auch – nährte den Fortbestand ihrer Existenz. In Läden, auf Spielplätzen, bei Freunden suchte er unfehlbar Kate in anderen Kindern, übersah er nicht die allmählichen Veränderungen, die zuwachsenden Fähigkeiten, fühlte er stets die ungenutzte Energie der Wochen und Monate, der Zeit, die eigentlich die ihre war. Kates Wachsen war zum Wesen der Zeit selbst [9]geworden. Ihr Scheinwachstum, Produkt obsessiven Leides, war nicht nur unausweichlich – nichts vermochte die unermüdliche Uhr anzuhalten–, es war auch notwendig. Ohne den Traum von ihrer fortbestehenden Existenz wäre er verloren gewesen, die Zeit stehengeblieben. Er war Vater eines unsichtbaren Kindes.

Aber hier auf der Millbank gab es nur Exkinder, die sich zur Arbeit schleppten. Weiter vorn, knapp vor dem Parliament Square, sah er eine Gruppe konzessionierter Bettler. Im Parlaments- und Regierungsviertel oder auch nur in Sichtweite des Platzes waren sie nicht zugelassen. Ein paar wenige aber nutzten den Zusammenfluß der Pendlerströme. Er sah ihre blitzenden Abzeichen aus einigen hundert Meter Entfernung. Dies war ihr Wetter, und sie trugen ihre Freiheit keck zu Schau. Die Brotverdiener mußten ausweichen. Ein Dutzend Bettler graste beide Straßenseiten ab, näherte sich ihm stetig gegen den Strom. Jetzt beobachtete Stephen ein Kind, kein fünfjähriges, sondern ein spindeldürres, etwa zehnjähriges Mädchen. Sie hatte ihn schon auf einige Entfernung erspäht. Sie ging mit schlafwandlerischer Langsamkeit, die amtliche schwarze Schale vor sich ausgestreckt. Vor ihr teilte sich der Strom der Büroangestellten und floß hinter ihr wieder zusammen. Im Näherkommen blieb ihr Blick auf Stephen geheftet. Er fühlte sich wie immer im Dilemma. Gab er Geld, verhalf er dem Programm der Regierung zum Erfolg. Nichts zu geben bedurfte entschlossener Abwendung von privater Not. Einen Ausweg gab es nicht. Es ist die Kunst schlechter Regierung, das Seil zwischen offizieller Politik und persönlichem Empfinden, dem Gefühl für das Richtige, zu kappen. [10]Neuerdings überließ er die Entscheidung dem Zufall. Hatte er Kleingeld in der Tasche, so gab er es. Hatte er keins, gab er nichts. Scheine gab er nie.

Die Kleine war gebräunt von sonnigen Tagen auf der Straße. Sie trug eine schmuddelige gelbe Baumwollbluse und das Haar ganz kurz. Vielleicht war sie entlaust worden. Als der Abstand kleiner wurde, sah er, daß sie hübsch war, sommersprossig und keck, mit spitzem Kinn. Sie war kaum noch fünf Meter entfernt, als sie plötzlich nach vorn schoß und einen noch feucht glänzenden Kaugummi vom Pflaster aufhob. Sie steckte ihn in den Mund und begann zu kauen. Trotzig warf sie den kleinen Kopf zurück, als sie wieder in seine Richtung blickte.

Jetzt stand sie vor ihm, die amtliche Bettelschale in der ausgestreckten Hand. Sie hatte ihn schon vor Minuten erwählt, solche Tricks beherrschten sie. Bestürzt fischte er in seiner Tasche nach einer Fünfpfundnote. Sie sah mit unbewegtem Gesicht zu, wie er sie auf den Münzen ablegte.

Kaum war seine Hand wieder weg, schnappte sie sich den Schein, knüllte ihn fest in ihrer Faust zusammen und sagte: »Alter Wichser.« Schon versuchte sie sich an ihm vorbeizudrücken.

Stephen packte die harte, schmale Schulter. »Was hast du da gesagt?«

Das Mädchen riß sich im Umdrehen los. Ihre Augen waren klein geworden, ihre Stimme kratzig. »Danke, Mister, hab ich gesagt.« Erst als sie außer Reichweite war, rief sie ihm nach: »Reicher Stinker!«

Stephen zeigte ihr vorwurfsvoll seine leeren Hände. Er lächelte mit geschlossenen Lippen, um zu zeigen, daß er [11]gegen die Kränkung immun war. Doch das Mädchen schlafwandelte schon weiter die Straße hinunter. Eine volle Minute lang schaute er ihr nach, bis er sie in der Menge aus den Augen verlor. Sie sah sich nicht um.

Die Offizielle Kommission für Kindererziehung, bekannt als des Premierministers Lieblingskind, hatte vierzehn Unterausschüsse gezeugt, deren Aufgabe es war, dem Muttergremium Empfehlungen zu unterbreiten. Ihre eigentliche Funktion, so hieß es zynisch, war die Befriedigung der unvereinbaren Wunschvorstellungen ungezählter Interessengruppen – Zucker- und Fast-food-Lobbys, Bekleidungs-, Spielwaren-, Babynahrungs- und Feuerwerksindustrie, Wohlfahrtsverbände, Frauenorganisationen, Bürgerinitiativen für fußgängerkontrollierte Überwege–, die von allen Seiten Druck ausübten. Wenige aus den meinungsbildenden Schichten verweigerten ihre Dienste. Nach allgemeiner Übereinkunft war das Land von lauter falschen Leuten bevölkert. Man hatte seine festen Vorstellungen von einer wünschenswerten Gesellschaft und was mit Kindern anzustellen sei, um eine solche für die Zukunft zu bewerkstelligen. Jedermann saß in irgendeinem Unterausschuß. Sogar Stephen Lewis, seines Zeichens Kinderbuchautor, saß in einem und verdankte dies allein dem Einfluß seines Freundes Charles Darke, der, nachdem die Ausschüsse ihre Arbeit aufgenommen hatten, sogleich zurücktrat. Stephen saß im Unterausschuß für Lesen und Schreiben, der unter dem tückischen Lord Parmenter tagte. Während der ganzen dürren Monate dieses Sommers, der sich als der letzte richtige Sommer dieses Jahrhunderts [12]erweisen sollte, erschien Stephen allwöchentlich zu den Sitzungen in einem düsteren Zimmer in Whitehall, wo dem Vernehmen nach 1944 die nächtlichen Bombenangriffe auf Deutschland geplant worden waren. Zu anderen Zeiten in seinem Leben hätte er viel zum Thema Lesen und Schreiben zu sagen gehabt, aber in diesen Sitzungen legte er am liebsten die Arme auf den großen polierten Tisch, neigte zum Zeichen respektvoller Aufmerksamkeit den Kopf und sagte nichts. Er war in diesen Tagen sehr viel allein. Ein Zimmer voller Leute hemmte indessen seine Selbstbetrachtungen nicht, wie er gehofft hatte, sondern förderte sie eher und gab ihnen ein Gerüst.

Meist dachte er an Frau und Tochter und was er mit sich anfangen sollte. Oder er rätselte über Darkes plötzlichen Abschied aus dem politischen Leben. Ihm gegenüber befand sich ein großes Fenster, durch das selbst im Hochsommer nie ein Sonnenstrahl hereindrang. Davor umrahmte ein kurzgeschorenes Rasenrechteck einen Hof, Platz für ein halbes Dutzend ministerieller Limousinen. Dienstfreie Chauffeure lungerten rauchend dort herum und schauten desinteressiert zu dem Ausschuß herein. Stephen hing seinen Erinnerungen und Tagträumen nach, was war und was hätte sein können. Oder hingen sie ihm nach? Manchmal hielt er zwanghafte imaginäre Reden, Anklagen voll Bitterkeit und Trauer, jedesmal in einer sorgsam redigierten Neufassung. Derweil hörte er mit einem halben Ohr dem Fortgang der Sitzung zu. Der Ausschuß teilte sich in die Theoretiker einerseits, die alles Denken schon lange vorher besorgt hatten oder besorgen ließen, und die Pragmatiker andererseits, die erst beim Reden zu entdecken hofften, was sie [13]eigentlich dachten. Die Grenzen der Höflichkeit wurden strapaziert, aber nie überschritten.

Lord Parmenter präsidierte würdevoll und mit gekonnter Banalität, erteilte mit einer zuckenden Drehung seiner überwölbten, wimpernlosen Augen das Wort, unterdrückte Leidenschaften mit federleichter Geste und ließ, einem Plumplori ähnlich, mit trockener, fleckiger Zunge seine seltenen Kommentare zuschlagen. Nur sein dunkler Zweireiher bezeugte humanoide Abkunft. Er handhabte Gemeinplätze in aristokratischer Manier. So beendete er eine lange, zänkische Diskussion um Theorien zur Kindesentwicklung mit dem gewichtigen Einwurf: »Jungen sind Jungen.« Daß Kinder gegen Wasser und Seife allergisch seien, schnell lernten und allzuschnell groß würden, kam ebenfalls in einem Ton heraus, als handle es sich um schwer erfaßbare Axiome. Parmenters wegwerfend vorgetragene Banalitäten kündeten furchtlos den Mann, der viel zu bedeutend, viel zu intakt war, als daß es ihn gekümmert hätte, wie dumm sie klangen. Er brauchte niemanden zu beeindrucken. Er ließ sich nicht herab, auch nur interessant sein zu wollen. Stephen zweifelte nicht, daß er ein sehr gescheiter Mann war.

Die Ausschußmitglieder hielten es nicht für nötig, einander näher kennenzulernen. Wenn die langen Sitzungen vorbei waren und Papiere und Bücher wieder in Aktentaschen verstaut wurden, begannen höfliche Unterhaltungen, die auf den zweifarbigen Korridoren weitergingen und auf den Betonstufen der Wendeltreppe verhallten, während die Teilnehmer sich auf die vielen unterirdischen Parkebenen des Ministeriums verteilten.

[14]Den ganzen drückenden Sommer lang, und danach, machte Stephen diesen wöchentlichen Gang nach Whitehall, der sein einziges Engagement in einem von sonstigen Verpflichtungen freien Leben war. Viel von dieser Freiheit verbrachte er in Unterwäsche auf dem Sofa liegend, schwermütig an einem Scotch pur nippend, Zeitschriften von hinten nach vorn lesend oder im Fernsehen die Olympischen Spiele beobachtend. Abends stieg der Whiskykonsum. Er aß allein in einem nahen Restaurant. Er unternahm nichts, um mit Freunden Verbindung zu halten. Nie beantwortete er die Anrufe, die sein automatischer Anrufbeantworter aufzeichnete. Der Dreck in seiner Wohnung und die dicken Fliegen auf ihrer gemächlichen Patrouille ließen ihn meist gleichgültig. Wenn er außer Haus war, fürchtete er die Rückkehr in die tödliche Ordnung vertrauter Gegenstände, die geduckte Haltung der leeren Sessel mit den schmutzigen Tellern und alten Zeitungen zu ihren Füßen. Alle Dinge – Toilettenbrille, Bettwäsche, Fußbodenschmutz – hatten sich verschworen, genauso zu bleiben, wie er sie zurückgelassen hatte. Auch zu Hause waren ihm seine Themen nie fern: Tochter, Frau, was tun. Nur mangelte es ihm hier an der Konzentration zu anhaltendem Denken. Er tagträumte in Bruchstücken, unkontrolliert, fast unbewußt.

Die Ausschußmitglieder ließen sich Pünktlichkeit angelegen sein. Lord Parmenter kam stets als letzter. Während er sich auf seinem Platz niederließ, rief er die Versammelten mit einem leisen Gurgeln zur Ordnung, das geschickt in seine Begrüßungsworte überleitete. Zu seiner Rechten saß [15]Peter Canham, der Schriftführer, den Stuhl zum Zeichen seiner Unparteilichkeit ein wenig vom Tisch abgerückt. Man verlangte hier von Stephen nichts weiter, als daß er zweieinhalb Stunden lang halbwegs aufmerksam tat. Der hilfreiche Rahmen war ihm aus Schulzeiten vertraut, aus Hunderten oder Tausenden Unterrichtsstunden, die dem Phantasieren gewidmet waren. Der Raum selbst war vertraut. Er kannte die Lichtschalter aus braunem Bakelit, die Leitungen in verstaubten, plump an die Wand gedübelten Rohren. In seiner Schule hatte der Geschichtssaal so ähnlich ausgesehen: der gleiche abgenutzte, großzügige Komfort, der gleiche zerkratzte lange Tisch, den sogar immer noch einer polierte, die verkümmerte Erhabenheit und dösige Bürokratie, die sich schlaffördernd vermengten. Wenn Parmenter mit tückischer Leutseligkeit das jeweilige Morgenpensum umriß, hörte Stephen den besänftigenden walisischen Singsang seines Lehrers den Glanz am Hofe Karls des Großen oder die Zyklen von Entartung und Reform des mittelalterlichen Papsttums daherleiern. Vor dem Fenster sah er keinen umfriedeten Parkplatz voll schmorender Limousinen, sondern wie aus zwei Stockwerk hoch einen Rosengarten, Spielplätze, eine fleckige graue Balustrade, dann unkultiviertes rauhes Land, absinkend zu den Eichen und Buchen, hinter denen sich weit das Küstenvorland mit dem blauen Tidenstrom erstreckte, anderthalb Kilometer breit von Ufer zu Ufer. Es war eine verlorene Zeit, eine verlorene Landschaft – einmal war er zurückgekehrt und hatte die Bäume restlos gefällt, das Land gepflügt und die Flußmündung von einer Autobahn überbrückt gefunden. Und da Verlust sein Thema war, führte ein kleiner Schritt weiter zu [16]einem frostigen Sonnentag vor einem Supermarkt im Süden Londons. Er führte seine Tochter an der Hand. Sie trug einen roten Wollschal, den seine Mutter gestrickt hatte, und hielt einen zerfransten Esel an die Brust gedrückt. Sie näherten sich dem Eingang. Es war Samstag, es herrschte Gedränge. Er hielt sie ganz fest bei der Hand.

Parmenter war fertig, und einer der Akademiker plädierte nun zögerlich für die Vorzüge eines neu entwickelten phonetischen Alphabets. Damit sollten Kinder bereits in jüngerem Alter und mit mehr Freude lesen und schreiben lernen, und der Übergang zum herkömmlichen Alphabet sei mühelos. Stephen hielt einen Bleistift in der Hand, wie zum Mitschreiben bereit. Er hatte die Stirn gerunzelt und wiegte leicht den Kopf, ob aber zustimmend oder ungläubig, war schwer zu sagen.

Kate war in einem Alter, in dem ihre erblühende Sprechfähigkeit und das Denken, das sie ihr erschloß, ihr Alpträume bescherten. Sie konnte sie ihren Eltern noch nicht erzählen, aber eindeutig enthielten sie Elemente, die sie aus ihren Märchenbüchern kannte – einen sprechenden Fisch, einen großen Felsen mit einer Stadt darin, ein einsames Ungeheuer, das sich danach sehnte, geliebt zu werden. Die ganze letzte Nacht hatte sie Alpträume gehabt. Julie war ein paarmal aufgestanden, um sie zu beruhigen, und hatte danach bis in den frühen Morgen wachgelegen. Jetzt holte sie den Schlaf nach. Stephen machte Frühstück und zog Kate an. Trotz der schlimmen Nacht war sie voll Tatendrang und konnte es kaum erwarten, einkaufen zu gehen und im Supermarkt im Einkaufswagen zu sitzen. Daß an einem frostkalten Tag die Sonne schien, fand sie merkwürdig und [17]faszinierend. Beim Anziehen machte sie sogar ausnahmsweise mit. Sie stand zwischen seinen Knien, während er ihre Glieder in die Winterunterwäsche praktizierte. Ihr Körper war so kompakt, so makellos. Er hob sie hoch und drückte sein Gesicht an ihren Bauch, tat, als wollte er sie beißen. Der kleine Körper roch nach Bettwärme und Milch. Sie quiekte und zappelte, und als er sie absetzte, bettelte sie, er solle es noch einmal tun.

Er knöpfte ihr Wollhemd zu, half ihr in einen dicken Pullover und zog die Träger ihrer Latzhose fest. Sie stimmte einen undefinierbaren Gesang an, eine Zusammensetzung aus Eigenkomposition, Kinder- und Weihnachtsliedern. Er setzte sie in seinen Sessel, zog ihr die Socken an und schnürte ihre Schuhe. Als er sich vor sie hinkniete, strich sie ihm übers Haar. Wie so viele kleine Mädchen zeigte sie im Umgang mit ihrem Vater eine drollige Fürsorglichkeit. Ehe sie die Wohnung verließen, würde sie sich noch vergewissern, daß er nur ja seinen Mantel bis oben zuknöpfte.

Er brachte Julie eine Tasse Tee. Sie schlief noch halb, die Knie an die Brust gezogen. Was sie sagte, verlor sich im Kissen. Er schob die Hand unter die Bettdecke und massierte ihr das Kreuz. Sie drehte sich herum und zog sein Gesicht auf ihre Brüste. Als sie sich küßten, war in ihrem Mund der dumpfe, metallische Geschmack tiefen Schlafs. Von außerhalb des schummrigen Schlafzimmers tönte immer noch Kates Potpourri. Stephen war einen Augenblick versucht, das Einkaufen bleibenzulassen und Kate mit ein paar Büchern vor den Fernseher zu setzen. Er könnte zu seiner Frau zwischen die schweren Decken schlüpfen. Sie hatten sich noch in der Morgendämmerung geliebt, aber [18]verschlafen, nicht recht überzeugend. Sie streichelte ihn jetzt, hatte ihren Spaß an seinem Dilemma. Er küßte sie wieder.

Sie waren sechs Jahre verheiratet, eine Zeit der langsamen Feinabstimmung konkurrierender Prinzipien der körperlichen Freuden, häuslichen Pflichten und der Notwendigkeit des Alleinseins. Kam das eine zu kurz, drohte bei den anderen Verfall oder Chaos. Noch während er Julies Brustwarze sanft zwischen Zeigefinger und Daumen drückte, kalkulierte er weiter. Nach der unruhigen Nacht und dem Einkauf würde Kate gegen Mittag wieder Schlaf brauchen. Dann wäre ihnen eine störungsfreie Zeit sicher. Später, in den Monaten und Jahren der Trauer, würde Stephen alle Anstrengungen machen, wiedereinzutreten in diesen Augenblick, sich durch die Falten der Ereignisse einen Rückweg zu graben, zwischen die Decken zu kriechen und seine Entscheidung umzukehren. Doch die Zeit – nicht unbedingt wie sie ist, denn wer weiß das schon, sondern wie das Denken sie darstellt – gewährt in ihrer Monomanie keine zweite Chance. Wie seine Freundin Thelma ihm bei Gelegenheiten gesagt hatte, gab es keine absolute Zeit, keine unabhängige Wesenheit. Nur unsere persönliche blasse Vorstellung von ihr. Er vertagte das Vergnügen und ergab sich der Pflicht. Er drückte Julies Hand und stand auf. Auf dem Flur kam ihm laut plappernd Kate entgegen und hielt den zerfransten Spielzeugesel hoch. Er bückte sich, um ihr den roten Schal zweimal um den Hals zu schlingen. Sie stand auf Zehenspitzen und kontrollierte seine Mantelknöpfe. Sie gingen schon Hand in Hand, noch ehe sie zur Wohnungstür hinaus waren.

Sie kamen nach draußen wie in ein Gewitter. Die [19]Hauptstraße war eine Durchgangsader nach Süden, durch die der Verkehr mit adrenalem Hochdruck rauschte. Der kalte, wolkenlose Tag sollte ein zwanghaftes Gedächtnis bestens bedienen mit einem Licht von strahlender Bestimmtheit, einem zynischen Auge für Details. Neben der Treppe lag in der Sonne eine plattgetretene Cola-Dose, noch mit dem Strohhalm, der dreidimensional geblieben war. Kate war dafür, den Halm zu bergen; Stephen verbot es. Neben einem Baum hockte, wie von innen erleuchtet, ein Hund und kackte mit bebenden Flanken und einem Ausdruck verträumter Erbauung. Der Baum war eine müde Eiche, deren Rinde wie frisch geschnitzt aussah, die Erhebungen scharf und glänzend, die Rinnen in schwärzestem Schatten.

Zum Supermarkt waren es zwei Minuten, mit Fußgängerüberweg über die vierspurige Straße. Nicht weit von dem Überweg, an dem sie warten mußten, war ein Motorradgeschäft, internationaler Treffpunkt für Zweiradfahrer. Melonenbäuchige Männer in abgetragenem Leder saßen rittlings auf ihren stehenden Maschinen oder lehnten sich daran. Kate zeigte hin, und die tiefstehende Sonne beleuchtete einen dampfenden Finger, an dem sie eben noch gelutscht hatte. Sie fand jedoch kein Wort, um auszudrücken, was sie sah. Endlich überquerten sie die Straße vor einem ungeduldigen Rudel Autos, die grollend vorwärtsschossen, kaum daß sie die Insel in der Mitte erreicht hatten. Kate hielt nach der Lollipop-Lady Ausschau, von der sie sonst immer erkannt wurde. Stephen erklärte ihr, heute sei Samstag. Das Gedränge war groß, und er hielt sie fest bei der Hand, als sie sich dem Eingang näherten. Im Gewirr von Stimmen und Rufen und dem elektromechanischen [20]Rattern der Kassen fanden sie einen Einkaufswagen. Kate machte es sich mit hochzufriedenem Lächeln auf dem Kindersitz bequem.

Die Kundschaft des Supermarkts teilte sich in zwei Gruppen, unterscheidbar wie Stämme oder Völker. Die einen wohnten in umliegenden renovierten viktorianischen Reihenhäusern, die ihnen gehörten. Die andern wohnten in umliegenden Hochhäusern und Sozialbauten. Die aus der ersten Gruppe kauften vorzugsweise frisches Obst und Gemüse, braunes Brot, Kaffeebohnen, frischen Fisch von einer Sondertheke, Wein und Spirituosen, während die aus der zweiten Gruppe Dosen- oder Tiefkühlgemüse, gebackene Bohnen, Tütensuppen, weißen Zucker, Napfkuchen, Bier, Spirituosen und Zigaretten kauften. Zur zweiten Gruppe gehörten Rentner, die Fleisch für ihre Katzen und Zwieback für sich selbst kauften. Und junge Mütter, abgemagert vor Erschöpfung, die Lippen um Zigaretten gepreßt, verloren an der Kasse manchmal die Nerven und verdroschen ihre Kinder. Zur ersten Gruppe gehörten kinderlose junge Paare, auffallend gekleidet, die höchstens etwas in Eile waren. Und Mütter, die mit ihren Au-pairs zum Einkaufen kamen, und Väter wie Stephen, die frischen Lachs kauften und ihren Beitrag leisteten.

Was kaufte er noch? Zahnpasta, Papiertücher, Spülmittel, feinsten Speck, eine Lammkeule, Steaks, grünen und roten Paprika, Endiviensalat, Kartoffeln, Alufolie, eine Literflasche Scotch. Und wer war immer da, wenn seine Hand nach diesen Dingen griff? Jemand, der ihm folgte, während er Kate an den Regalen entlangschob, der ein paar Schritte abseits stehenblieb, wenn er stehenblieb, interessiert ein [21]Etikett studierte und weiterging, wenn er weiterging? Tausendmal war er wieder dagewesen, hatte seine Hand gesehen, ein Regal, die sich stapelnden Waren, hatte Kate plappern gehört und versucht, die Augen zu bewegen, den Blick zu heben gegen das Gewicht der Zeit, um jene nebelhafte Gestalt am Rande seines Gesichtsfelds zu finden, die immer schräg hinter ihm blieb, erfüllt von abwegigen Gelüsten, Chancen abwägend oder einfach nur wartend. Doch die Zeit hielt seinen Blick für immer gefangen auf seinen irdischen Besorgungen, und rings um ihn her kamen und gingen konturlose Gestalten, die sich nicht einordnen ließen.

Fünfzehn Minuten später waren sie an den Kassen. Es waren acht in einer Reihe. Er stellte sich in eine kurze Schlange, der Tür am nächsten, weil er wußte, daß diese Kassiererin flink war. Drei Leute waren vor ihm, als er seinen Einkaufswagen anhielt, und niemand hinter ihm, als er sich umdrehte, um Kate aus dem Sitz zu heben. Sie freute sich ihres Lebens und wollte sich den Spaß nicht verderben lassen. Sie quengelte und hakte einen Fuß in den Sitz. Er mußte sie ganz hochheben, um sie herauszubekommen. Er sah ihre Quengeligkeit mit geistesabwesender Befriedigung – ein sicheres Zeichen, daß sie müde war. Als der kleine Kampf vorbei war, standen nur noch zwei Kunden vor ihm, und der eine ging soeben. Stephen ging um den Wagen herum, um die Waren aufs Band zu legen. Am anderen Ende hatte Kate die Hände an der breiten Stange und tat, als wollte sie schieben. Niemand war hinter ihr. Der Kunde vor Stephen, ein Mann mit gekrümmtem Rücken, bezahlte soeben ein paar Dosen Hundefutter. Stephen lud die ersten Sachen aufs Band. Im Aufrichten gewahrte er vielleicht eine [22]Gestalt im dunklen Mantel hinter Kate. Aber im Grunde war es kaum eine Wahrnehmung, eher der Hauch eines Verdachts, von einem verzweifelten Gedächtnis ins Leben gerufen. Der Mantel hätte auch ein Kleid sein können, eine Einkaufstasche oder seine eigene Erfindung. Er war ganz auf seine Aufgabe konzentriert, wollte fertig werden. Er war sich eines Denkens kaum bewußt.

Der Mann mit dem Hundefutter ging. Die Kassiererin war schon bei der Arbeit, die Finger ihrer einen Hand huschten über die Tasten, während sie mit der andern Stephens Einkäufe zu sich heranzog. Als er den Lachs aus dem Wagen nahm, sah er kurz zu Kate und zwinkerte ihr zu. Sie ahmte ihn nach, aber ungeschickt, die Nase gekräuselt und beide Augen geschlossen. Er legte den Fisch aufs Band und bat die Kassiererin um eine Tragetasche. Sie griff in ein Fach und holte eine hervor. Er nahm sie und drehte sich um. Kate war weg. Es stand niemand hinter ihm in der Schlange. Ohne Eile schob er den Wagen beiseite, weil er dachte, sie habe sich wohl hinter der Kasse versteckt. Dann machte er ein paar Schritte und sah den einzigen Gang hinunter, den sie in der Zeit hätte erreichen können. Er kam wieder zurück und schaute nach links und rechts. Auf der einen Seite standen Kundenschlangen, auf der andern war freier Raum, dann das verchromte Drehkreuz, dann die automatische Tür zur Straße. Möglich, daß da eine Gestalt im Mantel weglief, aber im Moment hielt Stephen Ausschau nach einem dreijährigen Kind, und seine unmittelbare Sorge galt dem Straßenverkehr.

Seine Besorgnis war theoretisch, vorbeugend. Schon während er sich an Kunden vorbeidrängte und auf den [23]breiten Gehweg trat, wußte er, daß er sie dort nicht sehen würde. Kate war nicht abenteuerlustig auf diese Art. Sie war keine Ausreißerin. Sie war zu gesellig, blieb lieber in der Nähe dessen, mit dem sie gerade zusammen war. Und vor der Straße fürchtete sie sich. Er kehrte um und beruhigte sich erst einmal. Sie mußte noch im Laden sein, und da konnte ihr nichts wirklich Schlimmes passieren. Er erwartete, sie hinter einer Kundenschlange an den Kassen hervorkommen zu sehen. Allzu leicht konnte man in der ersten aufflackernden Sorge ein Kind übersehen, zu angestrengt suchen, zu schnell. Dennoch spürte er im Zurückgehen eine leichte Übelkeit, eine Enge in der Kehle, eine unangenehme Leichtigkeit in den Füßen. Nachdem er an allen Kassen vorbei war, ohne die unwirschen Versuche seiner Kassiererin, ihn auf sich aufmerksam zu machen, zur Kenntnis zu nehmen, stieg ihm ein kalter Schauer im Magen hoch. In verhaltenem Laufschritt – es war ihm noch nicht egal, wie albern er wirkte – eilte er durch alle Gänge, vorbei an Gebirgen von Orangen, Toilettenpapier und Dosensuppen. Erst an den Ausgangspunkt zurückgekehrt, ließ er alle Würde fahren, blies die eingeschnürten Lungen auf und schrie Kates Namen.

Mit langen Schritten rannte er jetzt, ihren Namen brüllend, einen Gang hinunter und wieder zum Ausgang. Gesichter drehten sich nach ihm um. Nein, man konnte ihn nicht mit einem dieser Betrunkenen verwechseln, die hier hereinwankten, um Apfelwein zu kaufen. Seine Angst war zu deutlich, zu eindringlich, sie füllte den unpersönlichen, neonbeleuchteten Raum mit einer menschlichen Wärme, die nicht zu ignorieren war. Schlagartig wurde nicht mehr [24]eingekauft. Körbe und Wagen wurden beiseite gestellt, Leute liefen zusammen und sagten Kates Namen, und irgendwie wußten augenblicklich alle, daß sie drei Jahre alt und zuletzt an der Kasse gesehen worden war, daß sie eine grüne Latzhose trug und einen Spielzeugesel bei sich hatte. Mütter machten bestürzte, gespannte Gesichter. Mehrere Leute hatten die Kleine im Einkaufswagen sitzen sehen. Irgendwer kannte die Farbe ihres Pullovers. Die Anonymität des Großstadt-Supermarkts erwies sich als zerbrechlich, eine dünne Kruste, unter der die Menschen beobachteten, urteilten, sich erinnerten. Eine Gruppe um Stephen herum begab sich zur Tür. Neben ihm ging die Kassiererin, das Gesicht starr vor Entschlossenheit. Andere aus der Supermarkthierarchie waren da, Leute in braunen und weißen Kitteln und blauen Anzügen. Sie waren plötzlich keine Lageristen, Abteilungsleiter oder Firmenvertreter mehr, sondern Väter, potentielle oder wirkliche. Alle waren jetzt draußen auf dem Gehsteig, einige drängten sich um Stephen, fragend und tröstend, während andere, sinnvoller, in verschiedene Richtungen aufbrachen und in die Eingänge der umliegenden Geschäfte sahen.

Das vermißte Kind war jedermanns Eigentum. Aber Stephen war allein. Er sah durch die freundlichen, ihn bedrängenden Gesichter hindurch. Sie waren unerheblich. Ihre Stimmen erreichten ihn nicht, und sie nahmen ihm nur die Sicht. Sie behinderten seine Suche nach Kate. Er mußte durch sie hindurchrudern, sie wegstoßen, um zu ihr zu kommen. Er bekam keine Luft, konnte nicht denken. Er hörte aus seinem eigenen Mund das Wort geraubt, und es wurde aufgegriffen und breitete sich aus bis an die [25]Peripherie, zu den von der Unruhe angelockten Passanten. Die Kassiererin mit den flinken Fingern weinte, dabei hatte sie so stark gewirkt. Stephen fand Zeit, einen Augenblick von ihr enttäuscht zu sein. Wie von dem Wort herbeigerufen, das er ausgesprochen hatte, lenkte ein dreckbespritztes weißes Polizeiauto an den Straßenrand und hielt. Die amtliche Bestätigung des Unglücks machte ihm übel. Etwas stieg ihm in die Kehle, und er klappte vornüber. Vielleicht übergab er sich, aber er hatte keine Erinnerung daran. Das nächste war wieder der Supermarkt, und diesmal hatten die Regeln der Schicklichkeit und Rangordnung die Auswahl der Menschen an seiner Seite getroffen – einen Geschäftsführer, eine junge Frau, die seine Assistentin sein mochte, einen Abteilungsleiter und zwei Polizisten. Es war plötzlich still.

Sie begaben sich schnell zur Rückseite des riesigen Verkaufsraums. Erst nach einigen Augenblicken wurde Stephen bewußt, daß man ihn eher führte als ihm folgte. Die Kunden waren alle hinausgeschickt worden. Rechts sah er draußen vor dem Schaufenster einen weiteren Polizisten, von Kunden umringt und in sein Notizbuch schreibend. Der Geschäftsführer sprach schnell in das Schweigen hinein, halb spekulierend, halb jammernd. Das Kind – er kennt ihren Namen, dachte Stephen, aber sein Status erlaubt ihm nicht, ihn zu benutzen – das Kind könne sich in den Wareneingang verirrt haben. Daran hätten sie zuerst denken sollen. Die Kühlraumtür bleibe manchmal offen, sooft er seinen Leuten auch deswegen Vorhaltungen mache.

Sie gingen schneller. Eine unverständliche Stimme sprach abgehackt aus dem Funkgerät eines Polizisten. Neben der Käsetheke gingen sie durch eine Tür in einen [26]Bereich, wo aller schöne Schein ein Ende hatte, wo der Kunststoffboden blankem Beton mit kalt blitzenden Glimmersteinchen Platz machte und das Licht von nackten Glühbirnen an einer hohen, unsichtbaren Decke kam. Ein Gabelstapler stand neben einem Berg plattgedrückter Kartons. Der Geschäftsführer stieg über eine schmutzige Milchpfütze und eilte zur Kühlraumtür, die weit offen stand.

Sie folgten ihm in einen niedrigen, vollgepfropften Raum, in dem zwei Gänge ins Halbdunkel führten. An den Seiten waren Regale mit unordentlich hineingeräumten Dosen und Schachteln, in der Mitte hingen riesige Tierleiber an Fleischerhaken. Die Gruppe verteilte sich auf die beiden Gänge. Stephen ging mit den Polizisten. Die kalte Luft, die ihm trocken bis in den hinteren Nasenraum drang, roch nach gekühltem Blech. Sie gingen langsam an den Regalen vorbei und spähten in alle Leerräume hinter den Kartons. Einer der Polizisten wollte wissen, wie lange ein Mensch hier überleben könne. Stephen sah durch die Lücken in dem trennenden Fleischvorhang den Geschäftsführer seinen Untergebenen anschauen. Der räusperte sich und antwortete taktvoll, solange man sich bewege, habe man nichts zu fürchten. Der Dampf quoll ihm aus dem Mund. Stephen wußte, wenn sie Kate hier fänden, wäre sie tot. Doch die Erleichterung, die er empfand, als die beiden Gruppen sich am anderen Ende wieder trafen, war abstrakt. Er war auf eine nachdrückliche, berechnende Weise auf Abstand gegangen. Wenn sie gefunden werden sollte, würde man sie finden, denn er gedachte nichts anderes mehr zu tun, als sie zu suchen; wenn sie nicht gefunden [27]werden sollte, dann erst nach einer Zeit, der man sich auf verständige, rationale Weise stellen mußte. Aber nicht jetzt.

Sie traten in eine illusorische tropische Wärme hinaus und gingen ins Büro des Geschäftsführers. Die Polizisten zückten ihre Notizbücher, und Stephen erzählte seine Geschichte, dynamisch im Aufbau und exakt im Detail. Er hatte genügend Abstand von seinen Gefühlen, um sich am treffsicheren Ausdruck und der geschickten Darstellung relevanter Fakten zu freuen. Er beobachtete sich dabei und sah einen Mann unter Streß mit bewundernswerter Selbstbeherrschung agieren. Er konnte Kate über der peniblen Aufzählung ihrer Kleidungsstücke, der genauen Beschreibung ihres Gesichts vergessen. Er bewunderte auch die beharrlichen, routinierten Fragen der Polizisten, den Öl- und Ledergeruch ihrer glänzenden Pistolentaschen. Sie und er standen geeint vor der unsäglichen Schwierigkeit. Einer der Polizisten gab Kates Beschreibung über Funk weiter, und von einem Streifenwagen in der Umgebung kam eine verzerrte Antwort. Das war alles sehr beruhigend. Stephen geriet fast in Hochstimmung. Die Assistentin des Geschäftsführers redete mit einer Besorgnis auf ihn ein, die er als gänzlich unangebracht empfand. Sie legte ihm die Hand auf den Arm und nötigte ihn, den Tee zu trinken, den sie ihm gebracht hatte. Der Geschäftsführer stand vor seiner Bürotür und klagte einem Untergebenen sein Leid, daß Supermärkte ein bevorzugtes Betätigungsfeld für Kindesentführer seien. Die Assistentin stieß mit dem Fuß energisch die Tür zu. Die unvermittelte Bewegung ließ den Falten ihrer strengen Kleidung Parfümduft entsteigen, der Stephen an [28]Julie denken ließ. Er stand vor einer Schwärze, die hinter seiner Stirn entsprang. Er klammerte sich an die Armlehne seines Stuhls und wartete, leerte sein Gehirn, und als er sich dann wieder in der Gewalt zu haben glaubte, stand er auf. Die Vernehmung war beendet. Die Polizisten steckten ihre Notizbücher ein und standen ebenfalls auf. Die Assistentin bot ihm an, ihn nach Hause zu begleiten, aber Stephen schüttelte heftig den Kopf.

Dann war er ohne erkennbaren Übergang, ohne ein verbindendes Ereignis, draußen vor dem Supermarkt und wartete mit einem halben Dutzend anderer Leute am Fußgängerüberweg. In der Hand hielt er eine volle Tragetasche. Er erinnerte sich, daß er nicht bezahlt hatte. Lachs und Alufolie waren Geschenke, eine Art Entschädigung. Der Verkehr wurde widerstrebend langsamer und stockte. Er überquerte mit den anderen Einkäufern die Straße und versuchte, mit der kränkenden Normalität der Welt zurechtzukommen. Er sah, wie unerbittlich einfach alles war – er war mit seiner Tochter einkaufen gegangen, hatte sie verloren und kehrte nun ohne sie zurück, um es seiner Frau zu sagen. Die Motorradfahrer waren noch da, ein Stück weiter auch die Cola-Dose mit dem Strohhalm. Sogar der Hund war noch unter demselben Baum. Auf dem Weg nach oben machte er vor einer losen Treppenstufe kurz halt. Laute Musik hämmerte in seinem Kopf, ein Ohrensausen für großes Orchester, dessen Dissonanz verklang, solange er dastand und sich am Geländer festhielt, aber sogleich wieder einsetzte, als er weiterging.

Er öffnete die Wohnungstür und lauschte. Luft und Licht in der Wohnung sagten ihm, daß Julie noch schlief. Er [29]zog seinen Mantel aus. Als er ihn aufhängen wollte, krampfte sich sein Magen zusammen, und ein Strahl Morgenkaffee – er stellte ihn sich als einen schwarzen Donnerkeil vor – schoß ihm in den Mund. Er spie ihn in die hohle Hand und ging in die Küche, um sich zu waschen. Dabei mußte er über Kates abgelegten Schlafanzug steigen. Das schien relativ einfach. Er ging ins Schlafzimmer, ohne sich zu überlegen, was er dort tun oder sagen würde. Er setzte sich auf die Bettkante. Julie drehte sich zu ihm um, öffnete aber die Augen nicht. Sie fand seine Hand. Die ihre war heiß, unerträglich heiß. Sie sagte schläfrig etwas über die Kälte der seinen und zog sie an sich, drückte sie unter ihr Kinn. Noch immer machte sie die Augen nicht auf. Sie aalte sich in der Sicherheit seiner Gegenwart.

Stephen starrte auf seine Frau hinunter, und die abgedroschenen Phrasen – »aufopfernde Mutter«, »mit Leib und Seele für ihr Kind da«, »liebendes Herz« – blähten sich mit neuem Sinn; nützliche, schickliche Phrasen, dachte er; über die Zeiten bewährt. Auf ihrer Wange, dicht unter dem Auge, lag eine hübsche schwarze Locke. Sie war eine ruhige und aufmerksame Frau, sie hatte ein hübsches Lächeln, sie liebte ihn stürmisch und sagte es ihm gern. Er hatte sein Leben um ihrer beider Vertrautheit aufgebaut und verließ sich ganz darauf. Sie war Geigerin und unterrichtete in der Guildhall. Mit drei Freunden hatte sie ein Streichquartett gegründet. Sie bekamen Engagements und waren einmal kurz in einer überregionalen Zeitung lobend erwähnt worden. Ihre Zukunft war glänzend – gewesen. Mit den harten Fingerkuppen ihrer linken Hand streichelte sie ihm über den Arm. Er sah jetzt aus großer Höhe auf sie hinab, [30]hundert Meter oder mehr. Er sah das Schlafzimmer, den um die Jahrhundertwende gebauten Wohnblock, die Teerdächer der Anbauten mit ihren schiefen, verkrusteten Regentonnen, das Gewimmel des Londoner Südens, die dunstige Erdkrümmung. Julie war kaum noch ein Stäubchen im zerwühlten Bettzeug. Immer höher stieg er, immer schneller. Von hier oben, wo die Luft dünn war und die Stadt dort unten geometrische Formen bekam, sähe man ihm wenigstens seine Gefühle nicht an, dachte er, glaubte er, ein wenig Haltung bewahren zu können.

Eben jetzt schlug sie die Augen auf und fand sein Gesicht. Sie brauchte ein paar Sekunden, um zu lesen, was darin stand, bevor sie sich im Bett aufrichtete und einen ungläubigen Ton ausstieß, mehr ein erschrockenes Bellen nach scharfem Atemholen. Erklärungen waren im Augenblick nicht möglich und nicht nötig.

Im großen und ganzen war der Ausschuß einem phonetischen Alphabet nicht wohlgesinnt. Colonel Jack Tackle von der Initiative ›Gegen Gewalt in der Familie‹ hatte gesagt, er finde das vollkommen blödsinnig. Eine junge Frau namens Rachael Murray hatte eine scharfe Erwiderung vorgetragen, deren streng sprachwissenschaftliche Terminologie nicht über ihre zornbebende Verachtung hinwegtäuschen konnte. Jetzt strahlte Tessa Spankey in die Runde. Sie war Kinderbuchverlegerin, eine stattliche Frau mit Grübchen an allen Fingerwurzeln. Ihr Gesicht über dem Doppelkinn war freundlich und voller Sommersprossen und Krähenfüße. Sie achtete darauf, daß ihr gütiger Rundblick jeden einschloß. Sie sprach langsam und beruhigend [31]wie zu einer Gruppe zappeliger Kleinkinder. Es gebe auf der ganzen Welt nicht eine Sprache, sagte sie, in der das Lesen- und Schreibenlernen nicht mühsam sei. Wenn das Lernen Spaß mache, schön und gut. Aber der Spaß sei nebensächlich. Lehrer und Eltern sollten sich damit abfinden, daß Sprachenlernen stets vor allem schwierig sei. Über Schwierigkeiten zu triumphieren, gebe Kindern ihre Würde und ein Gefühl für geistige Disziplin. Unsere Sprachen seien wahre Minenfelder an Unregelmäßigkeiten, sagte sie, mit mehr Ausnahmen als Regeln. Aber diese gelte es zu überwinden, und das Überwinden sei nun einmal mit Arbeit verbunden. Die Lehrer hätten zuviel Angst, sich unbeliebt zu machen, hielten zuviel von Zuckerglasur. Sie sollten Schwierigkeiten akzeptieren, zelebrieren, und ihre Schüler ebenfalls dazu anhalten. Rechtschreibung lerne man nur durch Erfahrung, durch Eintauchen in das geschriebene Wort. Wie solle man denn sonst die richtige Schreibweise von Wörtern wie – und sie ratterte eine wohleinstudierte Liste herunter – Lied oder Lid, Leib oder Laib, Lehre oder Leere kennenlernen? Mrs.Spankeys mütterlicher Blick sah forschend in die aufmerksamen Gesichter. Durch Gewissenhaftigkeit, sagte sie, Fleiß, Disziplin und harte Arbeit.

Beifälliges Gemurmel. Der Akademiker, der das phonetische Alphabet propagiert hatte, sprach von Dyslexie, dem Verkauf staatlicher Schulen, der Wohnungsknappheit. Spontanes Stöhnen war die Antwort. Der sanftmütige Mann ließ sich nicht beirren. Zwei Drittel aller Elfjährigen an innerstädtischen Schulen seien Analphabeten, sagte er. Parmenter griff mit eidechsengleicher Behendigkeit ein. Die Bedürfnisse einzelner Gruppen gingen über die [32]Aufgabenstellung des Ausschusses hinaus. Canham an seiner Seite nickte. Mittel und Zwecke, nicht Krankheitsbilder seien die Anliegen des Ausschusses. Die Diskussion verzettelte sich. Aus unerfindlichem Grund wurde eine Abstimmung beantragt.

Stephen hob die Hand für ein Alphabet, von dessen Sinnlosigkeit er überzeugt war. Es war kaum von Belang, denn er überquerte soeben einen breiten, rissigen Asphaltstreifen voller Schlaglöcher, der zwei Wohnsilos voneinander trennte. Bei sich trug er eine Mappe mit Fotos und Adressenlisten, alle säuberlich getippt und alphabetisch geordnet. Die Fotos – vergrößerte Urlaubsschnappschüsse – zeigte er jedem, den er dafür interessieren konnte. Die Listen, in der Bibliothek aus alten Lokalzeitungen zusammengestellt, enthielten die Namen von Eltern, denen im letzten halben Jahr ein Kind gestorben war. Nach seiner Theorie, einer von vielen, war Kate als Ersatz für ein verlorenes Kind geraubt worden. Er klopfte an Türen und sprach mit Müttern, die zuerst verdutzt, dann feindselig reagierten. Er besuchte Babysitter. Er ging, die Fotos offen herumzeigend, die Einkaufsstraßen auf und ab. Er trieb sich vor dem Supermarkt und dem benachbarten Drugstore herum. Er weitete sein Suchgebiet aus, bis es einen Durchmesser von fünf Kilometern hatte. Er betäubte sich mit Rührigkeit.

Er ging überallhin allein, machte sich jeden Morgen kurz nach der späten winterlichen Dämmerung auf den Weg. Die Polizei hatte nach einer Woche das Interesse an dem Fall verloren. Krawalle in einem nördlichen Stadtbezirk bänden ihre Kräfte, sagte sie. Und Julie blieb zu Hause. Sie hatte vom College Sonderurlaub bekommen. Wenn er [33]morgens fortging, saß sie im Schlafzimmer in einem Sessel, das Gesicht zum kalten Kamin. Dort fand er sie auch abends, wenn er nach Hause kam und das Licht anknipste.

Am Anfang hatte ödeste Betriebsamkeit gestanden: Gespräche mit Polizeioffizieren, Suchtrupps, Spürhunde, ein gewisses Interesse der Zeitungen, weitere Erklärungen, panisches Leid. In dieser Zeit hatten sich Stephen und Julie aneinandergeklammert, einander verstört die immer gleichen rhetorischen Fragen gestellt, die ganze Nacht wachgelegen, hoffnungsvoll spekulierend und im nächsten Augenblick verzweifelnd. Das war jedoch, bevor die Zeit, diese herzlose Anhäufung von Tagen, die absolute und bittere Wahrheit klärte. Schweigen zog herein und verdichtete sich. Kates Kleider und Spielsachen lagen noch in der Wohnung verstreut, ihr Bett war noch ungemacht. Und eines Nachmittags war dann aufgeräumt. Stephen fand das Bett abgezogen und drei zum Bersten volle Plastiksäcke hinter ihrer Zimmertür. Er war wütend auf Julie, fühlte sich abgestoßen von diesem aus seiner Sicht weiblichen Selbstzerstörungstrieb, ihrem mutwilligen Defätismus. Aber er konnte nicht mit ihr darüber reden. Für Zorn war kein Platz, kein Anlaß. Sie schleppten sich wie durch einen Sumpf und hatten keine Kraft zur Konfrontation. Plötzlich hatte jeder sein eigenes Leid, isoliert und nicht mehr mitteilbar. Sie gingen getrennte Wege, er mit seinen Listen und der täglichen Lauferei, sie in ihrem Sessel, tief versunken in ihre private Trauer. Es gab kein gegenseitiges Trösten mehr, keine Zärtlichkeit, keine Liebe. Die alte Vertrautheit, die selbstverständliche Annahme beider, daß sie auf derselben Seite stünden, war tot. Sie kauerten jedes [34]über dem eigenen Verlust, und unausgesprochener Groll begann zu wachsen.

Wenn Stephen am Ende eines auf den Straßen zugebrachten Tages den Heimweg antrat, schmerzte ihn nichts so sehr wie das Wissen, daß seine Frau dort im Dunkeln saß und seine Heimkehr mit kaum einer Geste zur Kenntnis nehmen würde, und daß er weder den guten Willen noch die Geschicklichkeit besaß, dieses Schweigen zu durchbrechen. Er argwöhnte – und wie sich später zeigte, hatte er recht damit–, daß sie seine Bemühungen als typisch männliches Ausweichen ansah, als Versuch, Gefühle hinter einer Entfaltung von Kompetenz, Übersicht und körperlichem Einsatz zu verstecken. Der Verlust hatte sie in die Extreme ihrer Persönlichkeiten getrieben. Sie hatten ein Ausmaß wechselseitiger Intoleranz entdeckt, das Trauer und Erschütterung unüberwindbar machte. Sie ertrugen es nicht mehr, gemeinsam zu essen. Er aß stehend in Imbißstuben, um nur ja keine Zeit zu verlieren, vermied es, sich hinzusetzen und seinen Gedanken zu lauschen. Sie aß seines Wissens überhaupt nichts. Anfangs brachte er ihr noch Brot und Käse mit nach Hause, die dann im Laufe der Tage in der nie aufgesuchten Küche vor sich hinschimmelten. Gemeinsame Mahlzeiten wären gleichbedeutend mit Anerkennung und Hinnahme ihrer verkleinerten Familie gewesen.

Es kam soweit, daß Stephen es nicht mehr über sich brachte, Julie anzusehen. Nicht nur, daß er abgehärmte Züge von Kate oder ihm selbst in ihrem Gesicht gespiegelt sah. Es war die Passivität, der Zusammenbruch ihres Willens, ihr fast ekstatisches Leiden, das ihn abstieß und seine Bemühungen zu untergraben drohte. Er würde seine [35]Tochter finden und ihren Entführer ermorden. Er mußte nur weiter herumlaufen, Augen und Ohren offenhalten, dann würde er gewiß einmal in das Kraftfeld eintreten, das ihm ihre Nähe anzeigte. Er mußte nur dem richtigen Impuls folgen und ihr Foto der richtigen Person zeigen, und man würde ihn zu ihr führen. Wenn der Tag doch nur mehr Stunden hätte, wenn er der allmorgendlich größeren Versuchung widerstehen könnte, den Kopf unter der Decke zu lassen, wenn er schneller gehen und sich länger konzentrieren könnte, daran denken, sich hin und wieder umzusehen, weniger Zeit mit Sandwichessen vertun, seiner Intuition vertrauen, in Seitenstraßen hineingehen, sich schneller bewegen, größere Bezirke absuchen, rennen, ja, rennen…

Parmenter stand; er zögerte noch, während er seinen silbernen Füller in die Innentasche seines Jacketts steckte. Auf dem Weg zur Tür, die Canham ihm aufhielt, lächelte der alte Herr ein generelles Lebwohl. Die Ausschußmitglieder rafften ihre Papiere zusammen und begannen die üblichen verhaltenen Gespräche, unter denen sie das Haus verlassen würden. Stephen ging mit dem Akademiker, der so überzeugend niedergestimmt worden war, den heißen Flur hinunter. Der Mann hieß Morley. In seiner kultivierten, zögerlichen Art erklärte er, wie die diskreditierten alphabetischen Systeme der Vergangenheit ihm die Arbeit nur noch schwerer machten. Stephen wußte, daß er bald wieder allein sein würde. Dennoch kam er auch jetzt nicht gegen das Abschweifen an, konnte nicht umhin, darüber nachzudenken, wie die Situation sich immer weiter verschlechtert hatte, bis er nicht einmal mehr etwas Besonderes empfand, als er an einem späten Februarnachmittag von seiner Suche nach [36]Hause kam und Julies Sessel leer fand. Ein Zettel auf dem Boden nannte ihm Adresse und Telefonnummer eines Heims in den Chilterns. Sonst keine Mitteilung. Er ging durch die Wohnung, knipste Lichter an, sah in verwahrloste Zimmer, kleine Bühnenkulissen kurz vor dem Abriß.

[37]Zwei

»Machen Sie ihm klar, daß die Uhr nicht mit sich handeln läßt, und wenn es Zeit für die Schule wird, für Vati zur Arbeit zu gehen, für Mutti ihre Pflichten zu erledigen, so sind diese Wechsel unanfechtbar wie die Gezeiten.«

Autorisierter Leitfaden zur Kindererziehung, HMSO

Daß Stephen Lewis viel Geld hatte und bei Schulkindern in hohem Ansehen stand, war die Folge eines Schnitzers, einer momentanen Unaufmerksamkeit bei der Postverteilung im Verlagshaus Gott, die eine Manuskripteinsendung auf dem falschen Schreibtisch landen ließ. Daß Stephen von diesem Irrtum – er lag viele Jahre zurück – nicht mehr sprach, lag einerseits an den Tantiemen und Vorschüssen, die seitdem aus dem Verlagshaus Gott und vielen ausländischen Verlagshäusern an ihn geflossen waren, andererseits an jener Schicksalsergebenheit, die sich mit den ersten Alterserscheinungen einzustellen pflegt. In seinen Mittzwanzigern war es ihm als eine merkwürdige Schicksalslaune erschienen, daß er ein erfolgreicher Kinderbuchautor sein sollte, denn da gab es noch soviel anderes, was er immer noch hätte werden können. Heutzutage konnte er sich nicht mehr vorstellen, etwas anderes zu sein.

Was könnte er anderes sein? Die alten Freunde aus Studententagen, die ästhetischen und politischen Experimentierer, die visionären Drogenschlucker, hatten sich alle mit noch weniger begnügen müssen. Ein paar seiner [38]Bekannten, einstmals wahrhaft freie Menschen, durften für den Rest ihres Lebens Ausländern Englisch beibringen. Einige sahen sich in reiferen Jahren widerwilligen Jugendlichen in weit verstreuten höheren Schulen bis zum Umfallen Nachhilfeunterricht in Englisch oder »Lebenskunde« erteilen. Das waren die Glücklichen, die eine Stelle gefunden hatten. Andere durften in Krankenhäusern Fußböden putzen oder Taxis fahren. Eine hatte sich für ein Bettlerabzeichen qualifiziert. Stephen fürchtete den Augenblick, da er ihr einmal auf der Straße begegnen würde. Alle diese vielversprechenden Geister, gehegt und zu angeregtem Leben erweckt durch das Studium der englischen Literatur, dem sie ihre flinken Sprüche verdankten – Energie ist ewiges Entzücken; verdamme Riemen, segne Lockerungen – waren Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre von den Bibliotheken ausgespien worden, erpicht auf die Reise nach innen – oder in buntbemalten Bussen nach Osten. Sie waren heimgekehrt, als die Welt kleiner und ernster wurde, um in die Dienste der Bildung zu treten, inzwischen ein anrüchiges Schrumpfgewerbe; Schulen standen zum Verkauf an private Investoren, und die Schulpflicht sollte demnächst verkürzt werden.

Der Glaube, je gebildeter ein Volk sei, desto leichter werde es mit seinen Problemen fertig, hatte sich in aller Stille verabschiedet. Das ging Hand in Hand mit der Verabschiedung des allgemeineren Grundsatzes, daß insgesamt das Leben für immer mehr Menschen immer besser werde und es Aufgabe der Regierungen sei, dieses Drama verwirklichter Potentiale und stets sich erweiternder Möglichkeiten in Szene zu setzen. Einst war das Rollenangebot für [39]Weltverbesserer immens gewesen, und Leute wie Stephen und seine Freunde hatten immer Arbeit gefunden. Lehrer, Museumskuratoren, Maskenbildner und Schauspieler, reisende Geschichtenerzähler – ein Riesenensemble, und alle im Sold des Staates. Jetzt waren die Regierungsaufgaben in schlichteren, klareren Begriffen neu definiert: Ordnung zu halten und den Staat gegen seine Feinde zu verteidigen. Eine Zeitlang hatte Stephen noch verschwommen davon geträumt, Lehrer an einer staatlichen Schule zu werden. Er sah sich, groß und unerschütterlich, an der Tafel stehen, vor ihm eine respektvoll schweigende Klasse, eingeschüchtert durch seinen Hang zu plötzlichem Sarkasmus, angespannt lauschend, um jedes seiner Worte mitzubekommen. Jetzt wußte er, welches Glück er gehabt hatte. Lieber wollte er Kinderbuchautor bleiben und halb vergessen, daß alles nur ein Irrtum gewesen war.