Liebeswahn - Ian McEwan - E-Book

Liebeswahn E-Book

Ian McEwan

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Beschreibung

Ein Roman darüber, was mit dem Leben und mit der Liebe passiert, wenn sie der Obsession eines Eindringlings ausgesetzt werden. Ein aufwühlender Roman, der zwischen den hellen und den dunklen Seiten der Liebe oszilliert, bis die Nerven reißen.

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Seitenzahl: 389

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Ian McEwan

Liebeswahn

Roman Aus dem Englischen

Titel der 1997 bei

Jonathan Cape, London,

erschienenen Originalausgabe:

›Enduring Love‹

Copyright © 1997 by Ian McEwan

Die deutsche Erstausgabe

erschien 1998 im Diogenes Verlag

Werke und Briefe von John Keats

zitiert nach der Übersetzung

von Mirko Bonné und Christa Schuenke,

Reclam Verlag, Stuttgart 1995

Das verlorene Paradies von John Milton

zitiert nach der Übersetzung

von Hans Heinrich Meier,

Reclam Verlag, Stuttgart 1968

Umschlagillustration: Francisco Goya,

›Heißluftballon‹, 1813–1815

(Ausschnitt)

Für Annalena

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2011

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23162 5 (14. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60027 8

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Eins

Es läßt sich leicht sagen, wann alles begann. Wir saßen im Sonnenschein unter einer Zerr-Eiche, die uns notdürftig gegen den starken, böigen Wind abschirmte. Ich kniete im Gras, einen Korkenzieher in der Hand, und Clarissa reichte mir die Flasche – einen 1987er Daumas Gassac. Dies war der Augenblick, der Nullpunkt auf der Zeitachse: Ich streckte die Hand aus, und als der kühle, mit schwarzem Stanniol eingefaßte Flaschenhals meinen Handteller berührte, hörten wir einen Mann aufschreien. Wir drehten uns um und sahen die Gefahr am anderen Ende der Wiese. Und schon rannte ich ihr entgegen. Es war wie ein Schnitt: Ich erinnere mich nicht, daß ich den Korkenzieher fallen gelassen hätte, aufgesprungen wäre, eine Entscheidung getroffen oder Clarissas Warnung gehört hätte, die sie mir nachrief. Warum mußte ich auch so kopflos in das Labyrinth dieser Geschichte hineinhetzen – fort von unserem Glück unter der Eiche im frischen Frühlingsgras! Wieder ertönte der Schrei und, trotz des Windes, der in den hohen Bäumen entlang den Hecken toste, das schwache Rufen eines Kindes. Ich rannte schneller. Und plötzlich strebten von verschiedenen Punkten auf der Wiese, wie ich in schnellem Lauf, vier weitere Männer zum Schauplatz des Geschehens.

Ich sehe uns aus hundert Metern Höhe, mit den Augen [6] des Bussards, den wir eben noch beobachtet hatten, wie er im Strudel der Luftströmungen aufstieg, kreiste und herabstieß: fünf Männer, die lautlos auf den Mittelpunkt einer etwa einen halben Quadratkilometer großen Wiese zurennen. Ich kam von Südosten und hatte Rückenwind. Etwa zweihundert Meter links von mir liefen zwei Männer Seite an Seite. Es waren Landarbeiter, die den Zaun entlang der Straße am Südrand der Wiese geflickt hatten. Wieder zweihundert Meter weiter rannte John Logan herbei, dessen Auto mit weitgeöffneter Tür oder -geöffneten Türen auf dem grasigen Randstreifen geparkt war.

Am mir gegenüberliegenden Ende der Wiese, etwa einen halben Kilometer von mir entfernt, löste sich, gegen den Wind ankämpfend, aus einer Buchengruppe die Gestalt von Jed Parry, der – und das zu schildern ist nach allem, was ich mittlerweile weiß, ein sonderbares Gefühl – geradewegs in meine Richtung lief. Für den Bussard waren Parry und ich winzige Umrisse, deren leuchtendweiße Hemden sich gegen das Gras abhoben und die wie Liebende aufeinander zueilten, schuldlos an dem Leid, das aus dieser Verstrickung hervorgehen sollte. Das Zusammentreffen, das unser Leben aus der Bahn werfen sollte, stand unmittelbar bevor, doch noch verbarg sich seine Ungeheuerlichkeit nicht nur hinter der Zeitschranke, sondern auch hinter dem Koloß in der Mitte der Wiese, der uns kraft seiner gigantischen Größe und der armseligen Not der Menschen unter ihm mit unwiderstehlicher Logik anzog.

Was tat Clarissa unterdessen? Hinterher sagte sie, sie sei zügig zur Mitte der Wiese gegangen. Ich weiß nicht, wie sie dem Drang zu rennen widerstand. Als es geschah, das [7] Ereignis, von dem ich erzählen will – der Absturz –, hatte sie uns beinahe eingeholt und befand sich, außerhalb der schlecht koordinierten Hilfsaktion, jenseits von Seilen und Geschrei, in einer ausgezeichneten Beobachterposition. Meine Schilderung ist auch von dem bestimmt, was Clarissa sah, von dem, was wir einander erzählten in der Zeit geradezu zwanghafter Nachprüfungen, der Nachwirkungen und Nachwehen. Vielleicht ist ja »Nachmahd« das passende Wort für das, was dem Geschehen auf der Wiese, die auf ihre frühsommerliche Mahd wartete, nachfolgte. Die Nachmahd oder das Grummet, das, was nachwächst, nach dem ersten Schnitt im Mai.

Ich halte an mich, zögere die Informationen hinaus. Ich verweile bei dem Augenblick davor, denn zu diesem Zeitpunkt wäre noch ein anderer Ausgang möglich gewesen; aus der Sicht des Bussards besitzt das Zusammentreffen von sechs Gestalten auf dem Grün eine tröstliche Geometrie, die klar definierte Fläche des Billardtisches. Ausgangsanordnung, aufgewendete Kraft und deren Richtung sind entscheidend für den weiteren Verlauf, sämtliche Winkel von Auf- und Rückprall, und das Licht von oben taucht die Wiese, den Grünteppich, und alle sich bewegenden Körper in eine beruhigende Klarheit. Ich glaube, daß wir, während wir noch aufeinander zuliefen, ehe wir noch miteinander in Berührung kamen, uns mathematisch im Stand der Gnade befanden. Ich verweile bei unserer Aufstellung, den relativen Entfernungen und den Himmelsrichtungen, aus denen wir kamen – denn dies war, im Gegensatz zu dem, was folgte, das letzte, was ich noch klar begriff.

Worauf rannten wir zu? Ich glaube nicht, daß irgendeiner [8] von uns es jemals voll und ganz herausfinden wird. Oberflächlich betrachtet lautet die Antwort: auf einen Ballon. Nicht auf einen Luftballon und auch nicht auf einen einfachen Heißluftballon. Dieser riesige Ballon war mit Helium gefüllt, jenem ursprünglichen Gas, das im atomaren Schmelzofen der Sterne aus Wasserstoff gewonnen wird, der erste Schritt auf dem Weg zur Erzeugung der vielfältigen Erscheinungsformen von Materie im All, einschließlich unser selbst und all unserer Gedanken.

Wir rannten auf eine Katastrophe zu. Diese war selbst eine Art Schmelzofen, in dessen Hitze Identitäten und Schicksale sich verformten. Unter dem Ballon hing ein Korb mit einem Jungen darin, und neben dem Korb hing, an ein Tau geklammert, ein Mann, der unserer Hilfe bedurfte.

Selbst ohne diesen Ballon hätte der Tag sich mir eingeprägt, wenn auch auf allerangenehmste Weise, denn nach sechs Wochen sahen wir uns endlich wieder. So lange waren Clarissa und ich in unseren sieben Jahren noch nie getrennt gewesen. Auf dem Weg nach Heathrow hatte ich einen Abstecher nach Covent Garden gemacht und genau vor Carluccio’s einen nicht ganz offiziellen Parkplatz gefunden. Ich ging hinein und stellte ein Picknick zusammen, rund um ein Prachtstück von einem Mozzarella, den der Verkäufer mit einer hölzernen Schöpfkelle aus einem Steingutkübel fischte. Dazu kaufte ich schwarze Oliven, gemischten Salat und Focaccia. Dann eilte ich den Long Acre hinauf zu Bertram Rota’s, um Clarissas Geburtstagsgeschenk abzuholen. Abgesehen von unserer Wohnung und unserem Wagen war es die teuerste Anschaffung, die ich je gemacht hatte. Das [9] kleine rare Büchlein schien eine solche Hitze auszustrahlen, daß es mir, noch durch das dicke braune Packpapier hindurch, förmlich in der Hand brannte, als ich wieder die Straße hinaufging.

Vierzig Minuten später suchte ich die Anzeigetafeln nach der Ankunftszeit ab. Das Flugzeug aus Boston war soeben gelandet, und ich machte mich auf eine halbe Stunde Wartezeit gefaßt. Wer nach Beweisen für Darwins Behauptung sucht, daß die diversen Ausdrucksmöglichkeiten menschlichen Empfindens überall auf der Welt gleich sind und genetisch kodiert, dem seien einige Minuten in Heathrow, Terminal 4, empfohlen. Ich sah dieselbe Freude, dasselbe unbezähmbare Lächeln im Gesicht einer nigerianischen Urmutter, einer dünnlippigen schottischen Oma und eines bleichen, korrekten japanischen Geschäftsmannes, als sie ihre Kofferkulis herausschoben und in der erwartungsvollen Menge ein bekanntes Gesicht erspähten. Menschliche Vielfalt kann ein schöner Anblick sein, doch Gemeinsamkeit nicht minder. Immer wieder, wenn sich zwei Menschen vordrängten, um einander in die Arme zu fallen, hörte ich denselben im Ton abfallenden Seufzer, oft gleichzeitig mit dem Namen gehaucht. War es eine große Sekunde, eine kleine Terz, oder lag es irgendwo dazwischen? Pa-pa! Yolan-ta! Ho-bi! Nz-e! Es gab auch eine aufsteigende Tonfolge, von Vätern oder Großeltern nach langer Abwesenheit in die feierlich-skeptischen Gesichter von Kleinkindern gegurrt, mit der sie eine sofortige Erwiderung ihrer Liebe erschmeichelten, erflehten. Hann-ah? Tom-mii? Laß dich drücken!

Vielfältig wiederum waren die privaten Dramen: Ein Vater und sein halbwüchsiger Sohn, vielleicht Türken, [10] standen in langer, stummer Umklammerung, verziehen einander oder beklagten einen Verlust, ohne auf die Gepäckwägelchen zu achten, die sich um sie her verkeilten; eineiige Zwillinge, Frauen um die Fünfzig, begrüßten sich mit offensichtlichem Widerwillen, berührten sich an den Händen und küßten sich, ohne wirklich miteinander in Kontakt zu kommen; ein kleiner amerikanischer Junge, auf die Schultern eines Vaters gehoben, den er nicht wiedererkannte, verlangte schreiend, wieder hinuntergelassen zu werden, womit er bei seiner erschöpften Mutter einen Wutanfall auslöste.

Aber meistens waren es lächelnde Umarmungen, und in fünfunddreißig Minuten wohnte ich mehr als fünfzig theatralischen Happy-Ends bei, von denen jedes wirkte, als sei es ein bißchen weniger gut gemimt als das zuvor, bis ich mich emotional ermattet fühlte und argwöhnte, daß selbst die Kinder unaufrichtig seien. Gerade überlegte ich, wie überzeugend ich wirken würde, wenn ich Clarissa begrüßte, als sie mir auf die Schulter klopfte. Sie war in der Menschenmenge umhergeirrt und hatte mich zunächst übersehen. Meine innere Distanz war auf der Stelle verflogen, und ich rief ihren Namen, so wie alle anderen auch.

Nicht einmal eine Stunde später parkten wir an einem Waldweg, der in der Nähe von Christmas Common durch einen Buchenwald in den Chiltern Hills führt. Während sich Clarissa andere Schuhe anzog, stopfte ich unser Picknick in einen Rucksack. Von unserem Wiedersehen noch immer in Hochstimmung versetzt, machten wir uns Arm in Arm auf den Weg. Was an Clarissa vertraut war – die Größe ihrer Hand und wie sie sich anfühlte, die ruhige Wärme in ihrer Stimme, die blasse Haut und die grünen Augen der [11] Keltin –, war zugleich neu, erstrahlte in einem fremden Licht, erinnerte mich an unsere allerersten Rendezvous und an die Monate, in denen wir uns ineinander verliebten. Oder ich stellte mir vor, ich sei ein anderer Mann, mein eigener sexueller Rivale, gekommen, sie mir abzujagen. Als ich es ihr sagte, lachte sie und meinte, ich sei der komplizierteste Einfaltspinsel der Welt, und während wir stehenblieben, um uns zu küssen, und laut überlegten, ob wir nicht direkt nach Hause hätten fahren sollen, um miteinander ins Bett zu gehen, erspähten wir durch das frische Blätterwerk den Heliumballon, der träumerisch über das bewaldete Tal westlich von uns schwebte. Wir konnten weder den Mann noch den Jungen erkennen. Ich erinnere mich noch, wie ich, ohne es auszusprechen, dachte, was für ein heikles Transportmittel es doch sei, bei dem statt des Piloten der Wind den Kurs bestimmt. Dann dachte ich, daß wohl genau dies seinen Reiz ausmacht. Und im Nu hatte ich den Gedanken wieder vergessen.

Wir liefen durch College Wood in Richtung Pishill und blieben stehen, um das frische Grün der Buchen zu bewundern. Jedes Blatt erglühte wie von innen heraus. Wir erfreuten uns an der reinen Farbe der jungen Buchenblätter und meinten, wie wunderbar bei diesem Anblick der Geist durchgelüftet werde. Während wir den Wald durchquerten, kam ein Wind auf, und die Zweige ächzten wie verrostete Maschinen. Wir kannten die Strecke gut. Innerhalb einer Autostunde von der Londoner Stadtmitte war dies ohne Zweifel die schönste Landschaft. Mir gefielen das sanfte Auf und Ab der mit Kreide- und Flintbrocken übersäten Felder und die Pfade, die sich im Dunkel des Buchenbestands [12] verloren und in verlassene, sumpfige Täler hinabführten, wo dichtes, schillerndes Moos die vermodernden Baumstämme bedeckte und wo man zuweilen einen Muntjakhirsch durch das Unterholz brechen sah.

Während wir in westlicher Richtung wanderten, unterhielten wir uns hauptsächlich über Clarissas Forschungsgebiet – John Keats, der in einem Haus am Fuße der Spanischen Treppe, wo er mit seinem Freund Joseph Severn logierte, im Sterben lag. War es möglich, daß sich aus dieser Zeit drei oder vier noch unveröffentlichte Briefe von Keats erhalten hatten? Ob einer von ihnen wohl an Fanny Brawne gerichtet war? Clarissa vermutete dies mit Bestimmtheit, war beinahe ihr ganzes Freisemester hindurch in Spanien und Portugal herumgereist und hatte Häuser aufgesucht, die Fanny Brawne und Keats’ Schwester Fanny bekannt gewesen waren. Gerade war sie aus Boston zurückgekehrt, wo sie in der Houghton Library von Harvard geforscht hatte. Sie hatte versucht, Briefschaften von Severns entfernten Familienangehörigen aufzuspüren. Den letzten bisher bekannten Brief hatte Keats beinahe drei Monate vor seinem Tod an seinen langjährigen Freund Charles Brown geschrieben. Abgefaßt in einem ziemlich gravitätischen Ton, ist das Charakteristische an ihm, daß er fast beiläufig eine glänzende Beschreibung des künstlerischen Schöpfungsakts enthält: »Das Wissen um den Gegensatz, das Gefühl von Licht und Schatten, all die Kenntnis (Ur-Ahnung), die nötig sind für ein Gedicht, sind der Genesung meines Magens höchst feindlich.« Es ist jener Brief mit dem berühmten Abschiedsgruß, der in seiner Zurückhaltung und Höflichkeit so eindringlich ist: »Ich vermag selbst in einem Brief kaum, Ihnen [13] Lebewohl zu sagen. Ich war schon immer ungeschickt im Verbeugen. Gott segne Sie! John Keats.«

Immerhin stimmen sämtliche Biographien darin überein, daß sich Keats, als er diesen Brief schrieb, von seiner Tuberkulose vorübergehend erholt hatte und es ihm zehn Tage lang besserging. Er besuchte die Villa Borghese und flanierte den Corso entlang. Voller Genuß lauschte er, wie Severn Haydn spielte, und schüttete aus Protest gegen mangelnde Kochkünste mutwillig sein Essen aus dem Fenster, ja er dachte sogar daran, ein neues Gedicht in Angriff zu nehmen. Doch falls es aus dieser Zeit tatsächlich Briefe gab, welches Interesse hätte Severn oder wohl eher Brown daran gehabt, sie zurückzuhalten? Clarissa war der Ansicht, die Antwort finde sich in zwei, drei Hinweisen in einem Briefwechsel zwischen entfernten Anverwandten Browns nach 1840, doch benötigte sie weitere Beweise, andere Quellen.

»Er wußte, daß er Fanny nie wiedersehen würde«, sagte Clarissa. »Er vertraute Brown an, der bloße Anblick ihres Namens gehe über seine Kräfte. Aber er hörte nie auf, an sie zu denken. In diesen Tagen im Dezember ging es ihm gar nicht so schlecht, und er liebte sie so inbrünstig. Es ist leicht vorstellbar, daß er einen Brief an sie schrieb, auch wenn er ihn nicht abschicken wollte.«

Ich drückte ihre Hand und sagte nichts. Ich wußte wenig über Keats oder seine Lyrik, aber ich hielt es für denkbar, daß er ihr, gerade weil er sie so sehr liebte, in seiner hoffnungslosen Lage nicht schreiben wollte. Seit einiger Zeit hatte ich das Gefühl, Clarissas Interesse an diesen mutmaßlichen Briefen könnte etwas mit unserer eigenen Situation [14] zu tun haben, mit ihrer Überzeugung, daß Liebe, die nicht in Briefen Ausdruck finde, unvollkommen sei. In den Monaten nach unserer ersten Begegnung, bevor wir das Apartment gekauft hatten, hatte sie mir einige wunderbare Briefe geschrieben, leidenschaftlich abstrakt in ihrer Untersuchung der Frage, inwiefern unsere Liebe anders sei als jede andere, die es je gegeben hatte, und ihr überlegen. Vielleicht ist dies das Wesen des Liebesbriefes: die Lobpreisung des Einzigartigen. Ich hatte versucht, es ihr nachzutun, aber meine Aufrichtigkeit gestattete mir nichts als bloße Tatsachen – und die erschienen mir wundersam genug: daß eine schöne Frau einen großen, unbeholfenen, zur Glatze neigenden Kerl liebte, der sein Glück kaum fassen konnte, und von diesem wiedergeliebt sein wollte.

Als wir uns Maidensgrove näherten, blieben wir stehen, um den Bussard zu beobachten. Der Freiballon mochte über uns hinweggeschwebt sein, während wir durch die Wälder gingen, von denen die Täler um das Naturschutzgebiet bedeckt sind. Am frühen Nachmittag erreichten wir den Ridgeway Path und wanderten am Steilabbruch entlang Richtung Norden. Dann schritten wir aus, längs einem der breiten Ausläufer, die sich von den Chilterns nach Westen erstrecken, in das fette Weideland darunter. Jenseits der Oxforder Senke konnten wir die Umrisse der Cotswolds erkennen und dahinter gerade noch die Brecon Beacons, die sich undeutlich als eine blaue Masse abzeichneten. Wir hatten vorgehabt, unser Picknick erst am Ende der Strecke einzunehmen, wo man die beste Aussicht hat, doch mittlerweile war der Wind zu stark geworden. Wir gingen über die Wiese [15] und suchten Schutz unter den Eichen am nördlichen Rand. Und wegen dieser Bäume sahen wir nicht, wie der Ballon zur Landung ansetzte. Später fragte ich mich, weshalb er nicht kilometerweit abgetrieben war. Noch später entdeckte ich, daß der Wind in hundertfünfzig Metern Höhe an diesem Tag ein anderer war als der Wind in Bodennähe.

Das Gespräch über Keats verstummte, als wir unser Mittagessen auspackten. Clarissa holte die Flasche aus dem Rucksack, faßte sie unten an und hielt sie mir entgegen. Wie gesagt, berührte der Flaschenhals meinen Handteller, als wir den Schrei hörten. Es war ein Bariton, in einem ansteigenden Ton der Furcht. Er bezeichnete den Anfang und, natürlich, ein Ende. In diesem Augenblick war ein Kapitel, nein, eine ganze Epoche meines Lebens abgeschlossen. Hätte ich es gewußt und hätte ich auch nur einen Augenblick Zeit gehabt, so hätte ich mir vielleicht ein wenig Wehmut gegönnt. Wir befanden uns im siebten Jahr einer kinderlosen Liebesehe. Clarissa Mellon hatte sich außerdem in einen anderen Mann verliebt, aber mit dem gab es kaum Ärger, stand doch sein zweihundertster Geburtstag bevor. Tatsächlich trug er zu dem angeregten Gedankenaustausch bei, der Teil unseres seelischen Gleichgewichts war, unserer Art, von der Arbeit zu sprechen. Wir wohnten in einem Nord-Londoner Art-deco-Apartment mit einer unterdurchschnittlichen Menge Sorgen – etwa ein Jahr lang Geldmangel, ein sich als unbegründet erweisender Krebsverdacht, die Scheidungen und Krankheiten von Freunden, Clarissas Ärger über die manischen Anfälle von Unzufriedenheit mit meiner Arbeit, die ich gelegentlich hatte – aber es gab nichts, was unsere Freiheit und unser Intimleben gefährdet hätte.

[16] Als wir uns von unserem Picknick erhoben, sahen wir folgendes: Ein riesiger grauer Freiballon, von der Größe eines Hauses und in der Form eines Tränentropfens, war auf der Wiese gelandet. Als er auf dem Boden aufsetzte, mußte der Pilot bereits über den Rand der Gondel geklettert sein, die die Fahrgäste aufnimmt. Sein Bein hatte sich in einem Tau verfangen, an dem ein Anker befestigt war. Als der Wind nun stürmischer blies und den Ballon zum Steilabbruch hob und schob, wurde der Mann über die Wiese halb gezerrt, halb getragen. In dem Korb befand sich ein Kind, ein Junge von etwa zehn Jahren. Plötzlich legte sich der Wind, der Mann bekam Boden unter den Füßen und klammerte sich an den Korb oder den Jungen. Dann ein neuerlicher Windstoß, und der Pilot fiel auf den Rücken und wurde über den unebenen Boden geschleift. Er versuchte, seine Füße dagegen zu stemmen oder nach dem Anker hinter sich zu greifen, um ihn in den Erdboden zu rammen. Doch selbst wenn er dazu imstande gewesen wäre, hätte er es nicht gewagt, sich von dem Ankertau zu befreien. Er benötigte sein ganzes Körpergewicht, um den Ballon am Boden zu halten, und der Wind hätte ihm das Tau womöglich aus den Händen gerissen.

Im Rennen hörte ich, daß er den Jungen anschrie und ihn drängte, aus der Gondel zu springen. Da der Ballon jedoch über die Wiese schlingerte, wurde der Junge von einer Seite auf die andere geschleudert. Er fand sein Gleichgewicht und hob ein Bein über die Brüstung der Gondel. Der Ballon stieg und sank, stieß gegen einen Erdhöcker, und der Junge taumelte zurück, außer Sicht. Dann rappelte er sich wieder auf, streckte dem Mann die Arme entgegen und schrie seinerseits [17] etwas, ob Worte oder bloße Angstlaute, konnte ich nicht sagen.

Ich muß hundert Meter entfernt gewesen sein, als die Lage unter Kontrolle geriet. Der Wind hatte sich gelegt, der Mann hatte Bodenkontakt und beugte sich über den Anker, den er in die Erde trieb. Er hatte seinen Fuß von dem Tau befreit. Aus irgendeinem Grund, sei es Willensschwäche, Erschöpfung oder daß er einfach tat, wie geheißen, blieb der Junge, wo er war. Der turmhohe Ballon schwankte und kippte und ruckte, doch die Bestie war gezähmt. Ich verlangsamte meine Schritte, blieb aber nicht stehen. Als der Mann sich aufrichtete, sah er uns – oder zumindest die Landarbeiter und mich – und winkte uns herbei. Er brauchte immer noch Hilfe, aber ich war froh, in einen zügigen Laufschritt verfallen zu können. Auch die Landarbeiter gingen jetzt langsamer. Einer von ihnen hustete laut. Doch der Mann mit dem Auto, John Logan, wußte etwas, was wir anderen nicht wußten, und rannte weiter. Was Jed Parry anging, so versperrte mir der Ballon, der zwischen uns lag, die Sicht.

Der Wind steigerte sich in den Baumwipfeln in neuerliche Wut hinein, bevor er mich vorwärtspeitschte. Dann erfaßte er den Ballon, der sein unschuldiges, lustiges Wackeln einstellte und plötzlich innehielt. Einzig ein leichtes Kräuseln, das schimmernd über seine zum Reißen gespannte Hülle lief, verriet, daß er alle seine Kräfte zusammennahm. Er riß sich los, der Anker flog in einem Sprühregen aus Dreck nach oben, und Ballon und Gondel stiegen drei Meter hoch in die Luft. Der Junge wurde zurückgeworfen und war wieder außer Sicht. Der Pilot hatte das Seil in den Händen und wurde fast einen Meter über den Erdboden gerissen. Hätte Logan ihn [18] nicht erreicht und eine der vielen herabbaumelnden Halteleinen gepackt, so hätte der Ballon den Jungen davongetragen. Statt dessen wurden jetzt zwei Männer über die Wiese geschleift, und die Landarbeiter und ich rannten von neuem los.

Ich war vor ihnen da. Als ich ein Seil zu fassen bekam, befand sich die Gondel in Kopfhöhe. Der Junge darin schrie gellend. Trotz des Windes roch ich Urin. Jed Parry hängte sich Sekunden nach mir an ein Seil und die beiden Landarbeiter, Joseph Lacey und Toby Greene, gleich nach ihm. Greene hatte einen Hustenanfall, lockerte aber nicht seinen Griff. Der Pilot schrie uns so hysterische Anweisungen zu, daß keiner auf ihn hörte. Er hatte sich schon zu lange abgekämpft, mittlerweile war er erschöpft und konnte seine Gefühle nicht mehr im Zaum halten. Jetzt, da wir die Seile zu fünft hielten, war der Ballon gesichert. Wir brauchten lediglich fest auf den Beinen zu stehen und die Leinen Hand über Hand einzuholen, damit die Gondel auf dem Boden aufsetzte, und genau das taten wir auch, ganz gleich, was der Pilot da brüllte.

Inzwischen standen wir unmittelbar am Steilabbruch. Das Gelände wies eine starke Neigung von etwa fünfundzwanzig Prozent auf und lief dann in einem sanften Hang zur Sohle hin aus. Im Winter fahren die Kinder der Umgebung mit Vorliebe hier Schlitten. Wir sprachen alle gleichzeitig. Zwei von uns, ich und der Autofahrer, wollten den Ballon vom Rand wegführen. Jemand anders meinte, es sei wichtiger, den Jungen herauszuholen. Wieder ein anderer plädierte dafür, den Ballon herabzubringen, damit wir ihn sicher verankern könnten. Ich sah darin keinen Widerspruch, denn wir konnten den Ballon herabbringen, während wir wieder auf die Wiese zurückliefen. Aber der zweite [19] Vorschlag setzte sich durch. Der Pilot hatte eine vierte Idee, doch niemand wußte oder kümmerte sich auch nur darum, worin sie bestand.

Ich sollte etwas klarstellen. Vielleicht gab es eine vage gemeinsame Entschlossenheit, aber ein Team waren wir nicht. Dazu hatten wir keine Gelegenheit, keine Zeit. Zur selben Zeit am selben Ort, hatten wir zufällig aus spontaner Hilfsbereitschaft unter dem Ballon zusammengefunden. Niemand übernahm das Kommando – oder aber alle, und wir schrien um die Wette. Den brüllenden und schwitzenden Piloten übergingen wir. Er strahlte, rotgesichtig und erhitzt,  nichts als Inkompetenz aus. Aber auch unsere eigenen Anweisungen begannen wir hinauszubrüllen. Ich weiß, daß sich die Tragödie nicht zugetragen hätte, wenn ich der unangefochtene Anführer gewesen wäre. Hinterher hörte ich einige von den anderen das gleiche von sich behaupten. Aber es gab keine Zeit, keine Gelegenheit, Charakterstärke zu beweisen. Jeder Anführer, jeder klare Plan wäre wünschenswerter gewesen als keiner. Den Anthropologen ist, von den Jägern und Sammlern bis hin zur postindustriellen Gesellschaft, keine Form menschlichen Zusammenlebens bekannt, die nicht ihre Führer und ihre Geführten gehabt hätte; demokratische Meinungsbildung hat in Notlagen noch nie viel genützt.

Es war nicht weiter schwierig, die Gondel so weit herunterzubringen, daß wir hineinspähen konnten. Wir sahen uns einem neuen Problem gegenüber. Der Knabe lag zusammengekauert auf dem Boden. Er hielt das Gesicht mit den Armen bedeckt und hatte seinen Schopf gepackt. »Wie heißt er?« fragten wir den Mann mit dem roten Gesicht.

[20] »Harry.«

»Harry!« riefen wir. »Komm, Harry. Harry! Nimm meine Hand, Harry! Steig aus, Harry!«

Aber Harry igelte sich nur noch mehr ein. Jedesmal wenn wir seinen Namen nannten, zuckte er zusammen. Unsere Worte trafen seinen Körper wie Steine. Er befand sich in einem Zustand der Willenslähmung, der als »erlernte Hilflosigkeit« bezeichnet und häufig an Versuchstieren beobachtet wird, die einer ungewöhnlichen Belastung ausgesetzt sind; sämtliche Impulse zur Problemlösung verschwinden, sämtliche Überlebensinstinkte versiegen. Wir zogen den Korb auf den Boden herab, vermochten ihn dort zu halten und lehnten uns eben hinein, um den Jungen herauszuheben, als uns der Pilot mit den Schultern beiseite drängte und hineinzuklettern versuchte. Später gab er an, er habe uns gesagt, was er damit erreichen wollte. Wir hörten nichts, weil wir selbst schrien und fluchten. Was er da tat, erschien uns lächerlich, doch wie sich später herausstellte, waren seine Absichten vollkommen vernünftig. Er wollte das Gas ablassen, indem er an einem Ventil drehte, an das man am besten vom Korb aus herankam.

»Sie Schwachkopf«, schrie Lacey. »Helfen Sie uns lieber, den Jungen herauszuheben.«

Doch da hörte ich es auch schon auf uns zurasen, und zwei Sekunden später hatte es uns erfaßt. Es war, als überquere ein Eilzug die Baumwipfel und komme geradewegs auf uns zugebraust. Ein säuselndes, zischendes, fauchendes Geräusch entwickelte sich innerhalb einer halben Sekunde zu voller Lautstärke. Vor Gericht wurden zur Beweisaufnahme die Daten des Wetteramts über die [21] Windgeschwindigkeiten an diesem Tag herangezogen, und es hieß, es habe einige Böen von hundertzehn Stundenkilometern gegeben. Dies muß eine davon gewesen sein, doch bevor ich sie an uns heranlasse, möchte ich das Bild anhalten – in der Ruhe liegt Sicherheit –, um unsere Runde zu beschreiben.

Zu meiner Rechten fiel das Gelände ab. Gleich zu meiner Linken befand sich John Logan, ein Hausarzt aus Oxford, zweiundvierzig Jahre alt, verheiratet mit einer Historikerin, zwei Kinder – nicht der Jüngste in unserer Gruppe, dafür aber der Kräftigste. Er spielte Tennis auf Grafschaftsebene und war Mitglied eines Bergsteigervereins. Er war bei einer Mannschaft der Bergwacht in den Western Highlands aktiv gewesen. Offensichtlich war Logan ein sanfter, zurückhaltender Mann, sonst hätte er sich nutzbringend zu unserem Anführer aufschwingen können. Links von ihm war Joseph Lacey, dreiundsechzig, Gelegenheitsarbeiter auf dem Land, Kapitän der örtlichen Bowls-Mannschaft. Er lebte mit seiner Frau in Watlington, einer Kleinstadt am Fuß des Steilabbruchs. Weiter links befand sich sein Kumpel Toby Greene, achtundfünfzig, gleichfalls Landarbeiter, unverheiratet, der mit seiner Mutter in Russell’s Water wohnte. Beide arbeiteten auf dem Gut Stonor. Greene war derjenige mit dem Raucherhusten. Der nächste in der Runde war der Pilot, der in den Korb zu klettern versucht hatte, James Gadd, fünfundfünfzig, leitender Angestellter in einer kleinen Werbeagentur, der mit seiner Frau und einem ihrer erwachsenen Kinder, das geistig behindert war, in Reading wohnte. Bei der Untersuchung wurde festgestellt, daß Gadd gegen ein halbes Dutzend grundlegender Sicherheitsvorschriften verstoßen hatte, die der Untersuchungsrichter mit tonloser [22] Stimme aufzählte. Gadd wurde daraufhin die Ballonfahrerlizenz entzogen. Der Junge im Korb war Harry Gadd, sein Enkel, zehn Jahre, aus Camberwell, London. Mir gegenüber – links von ihm wurde es abschüssig – stand Jed Parry. Er war achtundzwanzig, arbeitslos und lebte in Hampstead von einem Erbteil.

Das also war die Mannschaft. In unseren Augen hatte der Pilot seine Befehlsgewalt abgetreten. Wir waren außer Atem, aufgeregt, fest entschlossen zu unseren jeweiligen Plänen, während der Junge an seinem eigenen Überleben keinen Anteil mehr nahm. Ein Häufchen Unglück, lag er da und schlug die Unterarme vors Gesicht. Lacey, Greene und ich versuchten, ihn herauszufischen, und gleichzeitig wollte Gadd über uns hinwegklettern. Logan und Parry riefen eigene Vorschläge. Gadd hatte einen Fuß neben den Kopf seines Enkels gesetzt, und Greene fluchte über ihn, als es auch schon geschah. Eine mächtige Faust erfaßte den Ballon mit zwei raschen Schlägen, eins – zwei, der zweite noch brutaler als der erste. Und der erste war auch schon brutal. Er schleuderte Gadd aus dem Korb heraus auf den Erdboden und riß den Ballon fast zwei Meter weit steil in die Luft empor. Gadds nicht unbeträchtliches Körpergewicht war in der Gleichung keine Größe mehr. Die Halteleine glitt durch meine Fäuste und versengte meine Handflächen, doch gelang es mir, sie festzuhalten. Auch die anderen hielten fest. Die Gondel befand sich jetzt genau über uns, und wie sonntägliche Glöckner standen wir mit hocherhobenen Armen da. In unser erstauntes Schweigen hinein platzte, noch bevor unser Geschrei wieder anheben konnte, der zweite Schlag und stieß den Ballon weiter nach oben und [23] westwärts. Plötzlich traten wir ins Leere, und unser ganzes Gewicht hing im Griff unserer Fäuste.

Im Gedächtnis nehmen diese ein oder zwei bodenlosen Sekunden ebensoviel Raum ein wie eine lange Fahrt auf einem unerforschten Fluß. Mein erster Impuls war, mich an das Seil zu hängen, um den Ballon zu beschweren. Das Kind war hilflos und im Begriff, davongetragen zu werden. Drei Kilometer weiter westlich verliefen Hochspannungsleitungen. Ein Kind, allein und hilfsbedürftig. Es war meine Pflicht festzuhalten, und ich dachte, alle anderen würden dasselbe tun.

Fast gleichzeitig mit dem Verlangen, das Seil festzuhalten und den Jungen zu retten, kaum einen Pulsschlag später, kamen mir andere Gedanken, in denen Furcht und unverzügliche Berechnungen von logarithmischer Komplexität miteinander verschmolzen. Wir stiegen auf, und der Boden wich zurück, je weiter der Ballon nach Westen getrieben wurde. Ich wußte, daß ich Beine und Füße um das Seil wickeln mußte. Aber das Ende der Halteleine reichte mir kaum bis zur Taille, und mein Griff lockerte sich. Meine Beine strampelten haltlos in der Luft. Mit jedem Bruchteil einer Sekunde vergrößerte sich der Abstand zum Boden, und es mußte der Zeitpunkt kommen, da es unmöglich wäre oder tödliche Folgen haben würde loszulassen. Im Vergleich zu mir war der in seiner Gondel zusammengerollte Harry in Sicherheit. Am Fuß des Hügels mochte der Ballon durchaus gefahrlos landen. Vielleicht war mein Impuls festzuhalten eine bloße Fortsetzung meiner vorausgegangenen Anstrengungen, aus schlichtem Unvermögen, sich rasch anzupassen.

[24] Und wiederum weniger als einen adrenalinbeschleunigten Herzschlag später wurde der Gleichung eine weitere Variable hinzugefügt: Jemand ließ los, und der Ballon und seine Anhängsel ruckten wieder ein gutes Stück höher.

Ich wußte nicht und habe auch nie herausgefunden, wer zuerst losgelassen hat. Ich bin nicht bereit zu akzeptieren, daß ich es war. Aber jeder behauptet, nicht der erste gewesen zu sein. Eines steht fest: Wenn nicht einer von uns aus der Reihe getanzt wäre, hätte unser kollektives Gewicht den Ballon ein Viertel des Wegs den Hang hinab zur Erde gebracht, da sich die Bö wenige Sekunden später legte. Aber wie schon gesagt, es gab kein Team, es gab keinen Plan, keine Abmachung, gegen die man verstoßen konnte. Kein Versagen. Können wir demnach annehmen, daß es in Ordnung war, jeder für sich? Waren wir hinterher alle überzeugt, daß wir vernünftig gehandelt hatten? Diesen Trost erfuhren wir nie, denn es gab einen tiefergehenden Vertrag, der unserer Natur eingeschrieben ist, urwüchsig und unwillkürlich. Kooperation – die Grundlage unserer frühesten Jagderfolge, die Antriebskraft hinter unserer sich entwickelnden Sprachbegabung, der Kitt unseres sozialen Zusammenhalts. Unser Elend danach, in der »Nachmahd«, war Beweis genug, daß wir uns untreu geworden waren. Aber auch Loslassen lag in unserer Natur. Selbstsucht bestimmt ebenfalls unsere Herzen. Das ist der ewige Konflikt des Säugetiers – was wir anderen abtreten und was wir für uns behalten. Diese Trennlinie richtig zu ziehen, die anderen in Schach zu halten und von ihnen in Schach gehalten zu werden, ist das, was wir Moral nennen. Während wir ein, zwei Meter über dem Steilabbruch der Chilterns hingen, agierte unsere Mannschaft [25] jenes uralte, unlösbare moralische Dilemma aus – wir oder ich.

Jemand sagte ich, und dann war nichts mehr damit gewonnen, wir zu sagen. Meistens sind wir gut, wenn es sinnvoll ist. Eine gute Gesellschaft ist eine, in der sich das Gute als nützlich und sinnvoll erweist. Wie wir so unter der Gondel hingen, waren wir mit einemmal eine schlechte, den Zusammenhalt aufkündigende Gesellschaft. Plötzlich bestand die sinnvolle Entscheidung darin, uns um uns selbst zu kümmern. Das Kind war nicht mein Kind, um seinetwillen wollte ich nicht sterben. Sobald ich sah, wie sich ein Körper – aber welcher? – fallen ließ, und spürte, wie der Ballon nach oben ruckte, war die Sache entschieden, für Altruismus war kein Platz. Gutsein ergab keinen Sinn. Ich ließ los und fiel, schätze ich, etwa vier Meter tief. Ich landete unsanft auf der Seite und kam mit einer Schenkelprellung davon. Um mich her – ich bin nicht sicher, ob vorher oder hinterher – plumpsten Körper zu Boden. Jed Parry blieb unverletzt. Toby Greene brach sich den Knöchel. Dem Ältesten unter uns, Joseph Lacey, der seinen Wehrdienst in einem Fallschirmjägerregiment abgeleistet hatte, benahm der Sturz lediglich den Atem.

Als ich mich wieder aufgerappelt hatte, war der Ballon bereits fünfzig Meter entfernt, aber ein Mann baumelte noch immer an seinem Seil. In John Logan, Ehemann, Vater, Arzt und Mitglied der Bergwacht, mußte die Flamme des Altruismus ein wenig stärker gebrannt haben. Es brauchte nicht viel. Als vier von uns losgelassen hatten, mußte der Ballon, um dreihundert Kilogramm erleichtert, in die Höhe geschossen sein. Nur eine Sekunde, und Logan wäre jeder [26] Ausweg verbaut. Als ich aufstand und ihn sah, befand er sich ausgerechnet dort, wo zusätzlich auch noch der Boden abfiel, in einer Höhe von dreißig Metern und stieg weiter auf. Er kämpfte nicht, er strampelte nicht und versuchte auch nicht, sich hochzuhangeln. Vollkommen reglos hing er am Seil, alle seine Kräfte auf seinen schwächer werdenden Griff konzentriert. Er war schon jetzt nur noch eine winzige Gestalt, hob sich fast schwarz gegen den Himmel ab. Von dem Jungen war nichts zu sehen. Der Ballon und seine Gondel trieben in westlicher Richtung davon, und je kleiner Logan wurde, desto entsetzlicher war es, so entsetzlich, daß es schon wieder komisch anmutete, ein Stunt, ein Witz, ein Cartoon, und meiner Brust entrang sich ein geängstigtes Lachen. Denn dies war grotesk, so etwas passierte bestenfalls Bugs Bunny oder Tom und Jerry, und einen Augenblick glaubte ich, es sei nicht wahr und daß nur ich den Witz durchschaute und daß meine völlige Ungläubigkeit die Wirklichkeit schon wieder ins rechte Lot bringen und Dr. Logan sicher zur Erde zurückgeleiten würde.

Ich weiß nicht, wo die anderen standen oder lagen. Toby Greene krümmte sich bestimmt vor Schmerzen wegen seines Knöchels. Aber ich erinnere mich an die Stille, in die mein Lachen hineinplatzte. Keine Ausrufe, keine gebrüllten Anweisungen wie zuvor. Stumme Ratlosigkeit. Inzwischen war Logan zweihundert Meter entfernt und an die hundert Meter über dem Erdboden. Unser Schweigen war eine Art Zustimmung, ein Todesurteil. Oder es war grauenerfüllte Scham, weil der Wind sich gelegt hatte und kaum noch unseren Rücken umfächelte. Logan hatte so lange an dem Seil gehangen, daß ich schon dachte, er könnte durchhalten, bis [27] der Ballon nach unten schwebte oder der Junge zur Besinnung kam und das Ventil fand, um das Gas abzulassen, oder bis irgendein Strahl herniederkäme, ein Gott oder irgendeine andere Cartoon-Figur, um ihn in die Arme zu schließen. Noch während ich diese Hoffnung hatte, sahen wir Logan bis ans äußerste Ende des Seils rutschen. Aber er hielt sich immer noch fest. Zwei Sekunden, drei, vier. Und dann ließ er los. Selbst dann noch war da ein winziger Moment, in dem er kaum fiel, und ich glaubte nach wie vor an eine Chance: daß ein außergewöhnliches physikalisches Gesetz, ein starker Warmluftauftrieb, irgendein Phänomen, das auch nicht erstaunlicher wäre als jenes, dem wir beiwohnten, eingreifen und ihn wieder hinauftragen würde. Wir sahen ihn fallen. Man sah förmlich die Fallbeschleunigung. Keine göttliche Gnade, keine Dispensierung für einen Menschenleib, für Tapferkeit oder Güte. Nichts als erbarmungslose Schwerkraft. Und von irgendwoher, vielleicht von ihm herrührend, vielleicht von irgendeiner gleichmütigen Krähe, durchschnitt ein dünner Schrei die stille Luft. Er fiel so, wie er dagehangen hatte, als ein starrer, schmaler, schwarzer Strich. Noch nie habe ich etwas so Furchtbares gesehen wie diesen fallenden Mann.

[28] Zwei

Lieber langsamer machen. Sich die halbe Minute nach John Logans Sturz genauestens vergegenwärtigen. Was gleichzeitig oder in rascher Folge geschah, was gesagt wurde, wie wir uns bewegten oder nicht bewegten, was ich dachte – diese Bestandteile müssen sorgsam voneinander geschieden werden. Aus dem Vorfall ergab sich so vieles, in jenen ersten Augenblicken gabelte und trennte sich so viel, aus dieser Ausgangssituation heraus brach soviel Liebe und soviel Haß sich Bahn, daß mir ein wenig Reflexion, ja selbst Pedanterie nicht schaden kann. Eine gute Schilderung braucht nicht so schnell vor sich zu gehen wie das geschilderte Ereignis selbst. Ganze Bücher, ganze Forschungsabteilungen sind der ersten halben Minute in der Geschichte des Universums gewidmet. Schwindelerregende Chaos- und Turbulenztheorien beruhen auf einer eingehenden Beschreibung der alles entscheidenden Ausgangsbedingungen.

Wann für mich alles anfing, jene Lawine von Konsequenzen, habe ich bereits gesagt: mit der Berührung einer Weinflasche und einem Notschrei. Doch ist dieser Nullpunkt ebenso theoretisch definiert wie ein Punkt in der euklidischen Geometrie, und so angemessen er erscheint, so hätte ich doch ebensogut auch den Augenblick wählen können, als Clarissa und ich unser Picknick planten, nachdem ich sie am [29] Flughafen abgeholt hatte, oder den Moment, als wir die Route festlegten, die Wiese für unser Picknick und den Zeitpunkt, zu dem wir essen wollten. Für alles gibt es vorgängige Ursachen. Jeder Ausgangspunkt ist künstlich gesetzt, und was den einen überzeugender als den anderen erscheinen läßt, ist, daß er von entscheidender Bedeutung für die darauffolgenden Ereignisse gewesen ist. Die kühle Berührung von Glas auf Haut und James Gadds Schrei – diese gleichzeitigen Ereignisse bezeichnen den Einschnitt, nach dem nichts mehr so blieb, wie es vorgesehen war: der Wein, den wir nicht mehr kosteten (wir tranken ihn am Abend, um uns zu betäuben), die Vorladung vor Gericht, das herrliche Leben, das wir geteilt hatten und mit dessen Fortdauer wir rechneten, die Zerreißprobe, der wir in der Zeit danach unterzogen werden sollten.

Als ich die Flasche fallen ließ, um über die Wiese auf den Ballon und seinen hüpfenden Korb, auf Jed Parry und die anderen zuzurennen, schlug ich einen Weg ein, der den Abschied von einer gewissen Art des Wohllebens bedeutete. Der Kampf mit den Seilen, das Aus-der-Reihe-Tanzen und das Entschwinden von Logan – dies waren die augenfälligen, die großen Ereignisse, die den Fortgang unserer Geschichte bestimmten. Inzwischen aber verstehe ich, daß es in den unmittelbar auf seinen Absturz folgenden Augenblicken subtilere Faktoren gab, die einen ungeheuren Einfluß auf die Zukunft ausüben sollten. Der Augenblick, da Logan auf dem Boden aufprallte, hätte das Ende dieser Geschichte sein sollen, statt einen weiteren möglichen Anfang abzugeben. Der Nachmittag hätte mit einer bloßen Tragödie enden können.

[30] In den ein, zwei Sekunden, die verstrichen, bevor Logan aufschlug, hatte ich ein Déjà-vu-Erlebnis, und ich wußte sofort, woher. Mir fiel wieder ein Alptraum ein, den ich gelegentlich als Zwanzig- oder Dreißigjähriger hatte und aus dem ich mich immer mit einem Schrei aufweckte. Der Schauplatz wechselte, die Voraussetzungen hingegen nie. Stets befand ich mich an einem erhöhten Punkt und beobachtete von weit oben, wie sich vor meinen Augen eine Katastrophe abspielte – ein Beben, ein Brand in einem Wolkenkratzer, ein Schiffsuntergang, ein Vulkanausbruch. Hilflose Menschen, durch die Entfernung zu einem undeutlichen Gewimmel reduziert, konnte ich in panischer Angst umherhasten sehen, in der sicheren Gewißheit zu sterben. Der Horror lag in dem Gegensatz zwischen ihrer scheinbaren Kleinheit und der Ungeheuerlichkeit ihres Leidens. Das Leben hatte nur noch einen geringen Preis; Tausende schreiender Individuen, nicht größer als Ameisen, standen kurz vor der Vernichtung, und ich konnte nichts tun, um ihnen beizustehen. Damals dachte ich über den Traum nicht nach – Entsetzen, Schuldgefühle und Hilflosigkeit entwickelten vielmehr einen emotionalen Sog, und ich verspürte den Ekel einer sich erfüllenden Vorahnung.

Tief unter uns, an den Ausläufern des Steilhangs, befand sich ein grasbewachsenes, von einer Reihe gekappter Weiden eingefaßtes Feld, das als Weideland diente. Dahinter lag eine größere Weide, auf der Schafe und ein paar Lämmer grasten. Logan landete mitten auf diesem zweiten Feld, direkt vor unseren Augen. Ich hatte den Eindruck, daß sich das kleine Strichmännchen im Augenblick des Aufpralls über den Boden ergießen mußte, zerfließen würde wie ein Tropfen [31] klebriger Flüssigkeit. Doch was wir in der Stille sahen, war der feste Punkt seiner zusammengekauerten Gestalt. Das Schaf, das ihm, sieben Meter entfernt, am nächsten war, schaute kaum auf von seinem Wiederkäuen.

Joseph Lacey kümmerte sich um seinen Freund Toby Greene, der nicht stehen konnte. Gleich neben mir war Jed Parry. Etwas weiter hinter uns befand sich James Gadd. Er war an Logan nicht so interessiert wie wir. Er schrie etwas über seinen Enkel, der in dem Ballon über die Oxforder Senke hinweggetragen werde, auf die Hochspannungsmasten zu. Gadd drängte sich an uns vorbei und tat ein paar Schritte den Hang hinab, als habe er vor, die Verfolgung aufzunehmen. Ich erinnere mich, wie ich dümmlich dachte: In diese Gene hat er eben investiert. Clarissa hatte mich eingeholt, schlang die Arme um meine Taille und drückte ihr Gesicht gegen meinen Rücken. Mich überraschte, daß sie bereits weinte (ich spürte die Nässe an meinem Hemd), während für mich Leid noch längst nicht angesagt war.

Wie ein Ich in einem Traum war ich erste und dritte Person zugleich. Ich handelte, und ich sah mich handeln. Ich hatte meine Gedanken, und ich sah sie über einen Bildschirm flimmern. Wie in einem Traum waren meine emotionalen Reaktionen entweder nicht vorhanden oder unzureichend. Clarissas Tränen waren nichts weiter als ein Tatbestand, aber ich war froh darüber, mit gespreizten Beinen fest auf dem Boden zu stehen, die Arme vor der Brust verschränkt. Ich sah über die Felder, und über meinen Bildschirm lief der Gedanke: Der Mann ist tot. Ich spürte, wie sich eine Wärme in mir ausbreitete, eine Art Selbstliebe, und meine verschränkten Arme umklammerten mich fest. Die [32] logische Folgerung schien zu sein: Und ich lebe noch. Es war Zufall, wer in jedem beliebigen Augenblick am Leben war und wer tot. Zufällig war ich am Leben. In diesem Augenblick merkte ich, daß Jed Parry mich beobachtete. Sein längliches, knochiges Gesicht blickte schmerzlich fragend. Er sah elend aus, wie ein Hund, der bestraft werden will. In den ein oder zwei Sekunden, in denen die klaren, graublauen Augen dieses Fremden meinen Blick auffingen, hatte ich das Gefühl, ihn in die Wärme, mit der ich mich zu meinem Überleben beglückwünschte, miteinschließen zu können. Es kam mir sogar in den Sinn, tröstend seine Schulter zu berühren. Meine Gedanken erschienen auf dem Bildschirm: Dieser Mann steht unter Schock. Er will, daß ich ihm helfe.

Hätte ich gewußt, was dieser Blick damals bewirkte, wie er ihn später deuten und welche Ideengebäude er darauf aufbauen sollte, hätte ich diese Wärme bestimmt nicht ausgestrahlt. In seinem gequälten, fragenden Blick war jener erste Schmelz, der mir völlig entging. Die euphorische Ruhe, die ich empfand, war nichts weiter als ein Symptom meines Schockzustands. Ich bedachte Parry mit einem freundlichen Nicken, und ohne Clarissa an meinem Rücken zu beachten – ich war ein vielbeschäftigter Mann, ich würde mir einen nach dem anderen vornehmen –, sagte ich zu ihm mit, wie ich fand, tiefer und beruhigender Stimme: »Es wird schon werden.«

Diese offensichtliche Unwahrheit hallte so angenehm zwischen meinen Rippen wider, daß ich sie beinahe noch einmal ausgesprochen hätte. Vielleicht tat ich es ja sogar. Ich war der erste, der sprach, seit Logan auf dem Boden aufgeschlagen war. Ich langte in meine Hosentasche und holte [33] mein Handy hervor, das ich ausgerechnet heute hierher mitgenommen hatte. Daß sich die Augen des jungen Mannes leicht weiteten, deutete ich als Respekt. Genau das empfand ich jedenfalls vor mir, als ich das kompakte, flache Gerät in der Hand hielt und mit dem Daumen derselben Hand dreimal die Neun drückte. Ich war Teil der Welt, ausgerüstet, tüchtig, angeschlossen. Als sich, wie bei allen Notrufen in England, die Vermittlung meldete, verlangte ich nach Polizei und Rettungswagen und erstattete mit klaren, knappen Worten Bericht über das Unglück und den mit dem Knaben davontreibenden Ballon, unsere Position und die nächste Zufahrtsstraße. Das war alles, was ich tun konnte, um meine Erregung zu bezähmen. Ich wollte etwas brüllen – Befehle, Ermunterungen, unverständliche Laute. Ich war reizbar, prompt, vielleicht wirkte ich glücklich.

Als ich das Telefon ausschaltete, sagte Joseph Lacey: »Der braucht keinen Krankenwagen nicht.«

Greene sah von seinem Knöchel auf. »Doch, den brauchen sie, um ihn fortzuschaffen.«

Da fiel es mir ein. Natürlich. Genau das brauchte ich – etwas zu tun. Inzwischen war ich ungestüm, bereit zu kämpfen, zu rennen, zu tanzen, was immer. »Vielleicht ist er nicht tot«, sagte ich. »Es gibt immer eine Chance. Gehen wir hinunter und schauen ihn uns an.«

Während ich das sagte, bemerkte ich ein Zittern in den Beinen. Ich wollte gemessenen Schrittes den Hang hinuntergehen, traute indes meinem Gleichgewichtssinn nicht. Hügelan wäre besser gewesen. Ich sagte zu Parry: »Sie kommen mit.« Es war als Vorschlag gedacht, aber es rutschte mir heraus wie eine Bitte, etwas, das ich von ihm benötigte. Er [34] sah mich an, unfähig zu sprechen. Alles, jede Geste, jedes Wort, das ich sagte, wurde von ihm in seinem Gedächtnis bewahrt, gehortet und geschichtet, Brennstoff für den langen Winter seiner Obsession.

Ich löste Clarissas Arme von meiner Taille und drehte mich um. Ich kam nicht darauf, daß sie mich hatte festhalten wollen. »Laß uns hinuntergehen«, sagte ich ruhig. »Vielleicht können wir etwas tun.« Ich hörte, wie ich den Tonfall milderte, geschickt die Lautstärke dämpfte. Ich war in einer Seifenoper. Jetzt redet er mit der Frau seines Herzens. Es war eine intime Szene, eine enge Zweieraufnahme.

Clarissa legte mir die Hand auf die Schulter. Hinterher sagte sie mir, es sei ihr durch den Sinn geschossen, mir eine Ohrfeige zu geben. »Joe«, flüsterte sie. »Du mußt langsamer machen.«

»Was ist los?« fragte ich mit lauterer Stimme. Ein Mann lag sterbend auf einem Feld, und keiner regte sich. Clarissa schaute mich an, und obwohl ihr Mund so aussah, als sei er drauf und dran, die Worte zu formen, wollte sie mir nicht verraten, weshalb ich langsamer machen sollte. Ich wandte mich ab und rief zu den anderen, die im Gras herumstanden und, wie ich meinte, darauf warteten, daß ich ihnen sagte, was sie zu tun hätten: »Ich gehe zu ihm hin. Kommt jemand mit?« Ich wartete die Antwort nicht ab, sondern machte mich auf den Weg den Hang hinab. Eingedenk der wäßrigen Schwäche in meinen Beinen machte ich kurze Schritte. Zwanzig Sekunden später blickte ich zurück. Keiner hatte sich vom Fleck gerührt.

Als ich weiter hinabging, ließ meine Besessenheit nach, und ich fühlte mich in meiner Entscheidung gefangen, [35] einsam. Außerdem war da die Angst, nicht so sehr in mir als vielmehr dort draußen auf dem Feld. Sie breitete sich aus wie ein Nebeldunst und war im Zentrum dichter. Jetzt schritt ich in sie hinein, mir blieb keine andere Wahl, weil sie mich beobachteten und eine Umkehr bedeutet hätte, wieder den Hang zu erklimmen, eine doppelte Erniedrigung. In dem Maße, wie die Euphorie von mir wich, beschlich mich Furcht. Der Tote, dem ich nicht begegnen wollte, wartete in der Mitte des Feldes auf mich. Noch schlimmer wäre es, wenn er am Leben wäre, im Sterben läge. Dann müßte ich ihm mit Erste-Hilfe-Kniffen gegenübertreten, als würde ich alberne Kabinettstückchen vorführen. Er würde nicht darauf hereinfallen. Er würde einfach voranmachen und trotzdem sterben, und ich hätte seinen Tod zu verantworten. Ich wollte mich umdrehen und nach Clarissa rufen, aber ich wußte, daß sie mir nachsahen, und dort oben hatte ich mich so aufgeblasen, daß ich mich schämte. Der lange Abstieg war meine Strafe.

Ich gelangte zu der Reihe gekappter Weidenbäume am Fuß des Hügels, überquerte einen ausgetrockneten Graben und kletterte über einen Stacheldraht. Inzwischen war ich außer Sicht und wollte mich übergeben. Statt dessen urinierte ich gegen einen Baumstamm. Meine Hand zitterte heftig. Danach blieb ich reglos stehen und zögerte den Augenblick hinaus, da ich über das Feld laufen mußte. Daß ich außer Sicht war, empfand ich als körperliche Erleichterung, so wie wenn Schatten einen gegen die Wüstensonne abschirmt. Mir war bewußt, wo Logan lag, aber selbst aus dieser Entfernung wagte ich nicht hinzuschauen.

Die Schafe, die bei seinem Aufprall kaum reagiert hatten, [36] starrten mich an und wichen in zögerlichem Trab vor mir zurück, als ich mitten unter sie trat. Ich fühlte mich etwas besser. Obwohl ich Logan nur am Rand meines Gesichtsfeldes behielt, wußte ich, daß er nicht flach auf dem Boden lag. Etwas ragte mitten aus dem Feld empor, ein stumpfartiger Fühler seines gegenwärtigen oder früheren Ichs. Erst als ich nur noch zwanzig Meter entfernt war, gestattete ich mir hinzuschauen. Er saß aufrecht, mit dem Rücken zu mir, als meditiere er oder blicke in die Richtung, in die Harry und der Ballon geschwebt waren. Seine Haltung strahlte Ruhe aus. Ich trat näher heran, instinktiv beunruhigt, daß ich mich ihm ungesehen von hinten näherte, aber froh darüber, daß ich sein Gesicht noch nicht sehen konnte. Ich klammerte mich noch immer an die Möglichkeit, daß es eine mir unbekannte Technik, ein physikalisches Gesetz oder einen Prozeß gebe, die es ihm erlauben würden zu überleben. Daß er so ruhig dort auf dem Feld saß, als müsse er sich nach seinem schrecklichen Erlebnis erst einmal sammeln, flößte mir Hoffnung ein. Ich räusperte mich töricht, und in dem Bewußtsein, daß mich niemand hören konnte, fragte ich: »Brauchen Sie Hilfe?« Zu dem Zeitpunkt nahm sich die Frage nicht ganz so lächerlich aus. Ich konnte die Haare sehen, die sich über seinem Hemdkragen kräuselten, und die sonnenverbrannte Haut seiner Ohrleisten. Sein Tweedjackett war unbefleckt, aber irgendwie baumelte es sonderbar herab, denn seine Schultern waren schmaler, als sie hätten sein dürfen. Sie waren schmaler, als die eines Erwachsenen sein konnten. Von seinem Nackenansatz aus gab es keine seitliche Ausdehnung. Das Knochengerüst war in sich zusammengesunken und hatte einen Kopf auf einem [37] verdickten Strich hervorgebracht. Bei dem Anblick wurde mir deutlich, daß das, was ich als Ruhe aufgefaßt hatte, Abwesenheit war. Da war niemand. Die Stille war die der Leblosigkeit, und da ich früher schon Leichen gesehen hatte, verstand ich wieder einmal, weshalb ein vorwissenschaftliches Zeitalter die Seele erfinden mußte. Es war genauso klar wie die Illusion der Abendsonne, die am Horizont versinkt. Die Beendigung zahlloser in Wechselbeziehung stehender neuraler und biochemischer Austauschprozesse suggerierten dem bloßen Auge die Illusion eines erloschenen Funkens oder das schlichte Entweichen eines einzigen notwendigen Elements. Wie wissenschaftlich unterrichtet wir uns auch wähnen, in der Gegenwart von Toten werden wir noch immer von Furcht und Ehrfurcht überwältigt. Vielleicht ist es recht eigentlich das Leben, über das wir uns verwundern.

Dies waren die Gedanken, mit denen ich mich zu schützen suchte, als ich den Leichnam zu umkreisen begann. Er saß da und hatte im Boden eine leichte Delle hinterlassen. Erst als ich Logans Gesicht sah – und selbst das war nur ein flüchtiger Eindruck –, wußte ich, daß er tot sein mußte. Obwohl die Haut unversehrt war, handelte es sich schwerlich um ein Gesicht, denn die Knochen waren zersplittert, und bevor ich den Blick abwandte, hatte ich den Eindruck einer radikalen Verzerrung der Perspektive à la Picasso. Vielleicht bildete ich mir die senkrechte Anordnung seiner Augen auch nur ein. Als ich mich umdrehte, sah ich Parry querfeldein auf mich zulaufen. Er mußte mir auf dem Fuße gefolgt sein, denn er befand sich bereits in Hörweite. Er mußte mich gesehen haben, als ich im Schutz der Bäume stehengeblieben war.

[38] Über Logans Kopf hinweg sah ich, wie er seine Schritte verlangsamte und mir zurief: »Rühren Sie ihn nicht an, bitte rühren Sie ihn nicht an.«