Ein kleines Wunder würde reichen - Penny Joelson - E-Book

Ein kleines Wunder würde reichen E-Book

Penny Joelson

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Beschreibung

»Ich kann mich nicht bewegen, und ich kann nicht sprechen. So ist es schon mein Leben lang. Manche Leute reden über mich, als sei ich gar nicht da. Das hasse ich. Andere weihen mich in ihre Geheimnisse ein…« Jemma kennt ein schreckliches Geheimnis: In ihrer Nachbarschaft ist ein Mord passiert, und sie weiß, wer es getan hat. Denn die Leute erzählen ihr Dinge, weil Jemma nichts weitersagen kann. Sie ist vollständig gelähmt und kann sich weder bewegen noch sprechen. Aber Jemma entgeht nichts. Als sie mit dem furchtbaren Geheimnis konfrontiert wird, ist sie völlig hilflos. Jemma weiß, dass ihr nur ein kleines Wunder helfen kann. Und sie ist fest entschlossen, alles für dieses Wunder zu tun.

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Seitenzahl: 302

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Penny Joelson

Ein kleines Wunder würde reichen

Roman

Aus dem Englischen von Andrea Fischer

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243444546474849505152535455Anmerkung der AutorinDanksagung

Für Michael und Zoe

1

Es klingelt an der Tür. Ich erstarre. Das muss Dan sein, ich weiß es genau. Sarah ist noch oben und macht sich fertig, hoffentlich kommt sie schnell herunter. Ich will nicht, dass Dan im Haus wartet.

Mum ruft Sarah, und sie ruft zurück, sie sei sofort so weit. »Wir haben sie so in Beschlag genommen«, erklärt Mum Dan, »dass sie gar keine Zeit hatte, sich umzuziehen.«

»Ach, aber es macht ihr ja Spaß«, sagt Dan. »Sarah ist ein Schatz – und Sie auch. Was Sie für diese Kinder tun …«

Ich verfolge, wie die beiden miteinander plaudern und Mum über Dans Bemerkungen lacht. Alle mögen Dan. Mum sagt, sie müsse zurück in die Küche, sie habe etwas auf dem Herd stehen, aber Sarah lasse bestimmt nicht mehr lange auf sich warten.

Einen Augenblick ist es still. In der Küche höre ich Töpfe klappern. Dann vernehme ich Dans Stimme. Er kommt näher.

»Was guckst du denn da? Ah – Null gewinnt …«

Ich kann ihn atmen hören. Er flüstert: »Mit der Null könntest du gemeint sein, Jemma, was?«

Er steht hinter mir, ich kann ihn jedoch nicht sehen, weil mein Rollstuhl zum Fernseher gedreht ist. Ich versuche, mich auf die Fragen der Quizsendung zu konzentrieren und zu vergessen, dass Dan da ist, aber er seufzt laut und dramatisch.

»Keine Ahnung, wie du das aushältst.« Er spricht leise, damit ihn außer mir niemand hört. »Fernsehen ist wahrscheinlich das Aufregendste, was für dich drin ist.« So etwas sagt er nur, wenn kein Dritter dabei ist. Anfangs hat er mich völlig ignoriert, aber das hat sich geändert.

Dann kommt er herum, stellt sich vor mich und versperrt mir die Sicht auf den Bildschirm. Er verzieht den Mund und beugt sich vor. Mein Hals schnürt sich zu, ich habe das Gefühl, schlucken zu müssen.

»Wenn ich du wäre, würde ich mir’n Strick nehmen«, flüstert er.

Mein Herz pocht laut, Dan reibt sich nachdenklich den Kopf.

»Ach, stimmt, kannst du ja gar nicht! Egal«, fährt er fort, »wenn du Hilfe brauchst, das übernehme ich gerne –«

Schritte auf der Treppe. Dan tritt zurück. Sein höhnisches Grinsen verzieht sich zu einem aufgesetzten Lächeln, seine Gesichtszüge werden weich, als wären sie neu modelliert worden.

»Das hätte ich besser gekonnt als die da!«, spottet er über die Kandidaten im Fernsehen. »Sollen wir uns da mal bewerben, Sarah, was meinst du?«

Ein Hauch von Sarahs Parfüm weht zu mir herüber, wird aber schnell vom Geruch bratender Zwiebeln aus der Küche überlagert.

»Quizsendungen sind überhaupt nicht mein Ding«, erwidert sie lachend und tritt in mein Blickfeld. »Aber Jemma könnte das bestimmt gut.«

Da bin ich mir nicht sicher, auch wenn ich manchmal die richtige Antwort weiß. Gut möglich, dass ich besser als Sarah wäre. Als Pflegerin ist sie super, aber wenn es um Allgemeinbildung geht oder um die Wahl ihrer Freunde – da fehlt ihr der Durchblick.

Aus dem Augenwinkel bekomme ich mit, wie sie Dan zärtlich auf die Lippen küsst.

Plötzlich ist mein Mund ganz trocken.

Das Pärchen, das in Null gewinnt gerade an der Reihe war, ist ausgeschieden. Die beiden wirken sehr enttäuscht.

Dan und Sarah haben nur noch Augen füreinander. »Fertig?« Er lächelt sie an. »Du siehst Hammer aus, Süße!«

Sie nickt dankbar und dreht sich zu mir um. Ihre Augen funkeln, ihre Wangen sind gerötet. »Tschüss, Jem! Bis morgen früh!«

»Bis dann, Jemma«, sagt Dan und zwinkert mir zu.

2

»Entschuldigung, dass es so lange gedauert hat, Spätzchen!«

Mum kommt ins Zimmer gehuscht, und ich bin erleichtert, ihre liebevolle, warme Stimme zu hören. Sie schaltet den Fernseher aus und schiebt meinen Rollstuhl in die Küche, an meinen Platz am Tischende.

Ein Auto fährt auf den Hof. Dad ist zurück. Er hat Finn zum Schwimmunterricht gebracht und Olivia vom Ballett abgeholt. Innerhalb kurzer Zeit herrscht der übliche Trubel in der Küche, und ich verdränge die Gedanken an Dan.

Olivia prahlt, wie gut sie heute getanzt habe, und führt uns ihre neuen Schritte vor, während Mum versucht, die Kleine zu überzeugen, sich an den Tisch zu setzen. Olivia ist neun und erst seit einem Jahr bei uns. Wir sind alle Pflegekinder. Ich bin hier, seit ich zwei Jahre alt bin, Finn ebenfalls, der jetzt fast sechs ist. Ich habe mitbekommen, dass Mum erzählt hat, Olivia sei »schwer zu vermitteln« gewesen. Vielleicht gilt das auch für Finn und mich, auch wenn wir andere Probleme haben als Olivia. Finn ist Autist. Im Moment legt er alle Bohnen auf seinem Teller in eine Reihe. Er ist besessen von geraden Linien. Olivia hingegen ist ein Wirbelwind, manchmal auch ein Tornado, und sie ist laut. Finn und ich sprechen nicht, daher hat sich das Leben sehr verändert und ist deutlich lärmiger geworden, seit Olivia da ist.

»Setz dich, Olivia!«, fordert Dad freundlich, aber bestimmt, und schließlich gehorcht sie. Immerhin bekommt sie keinen Wutanfall, wie sonst oft.

Mum gibt Dad den Shepherd’s Pie mit Bohnen auf und beginnt dann, mir die Mahlzeit als Püree zu füttern. Beim Essen fallen mir Dans Worte wieder ein. Ich versuche, sie auszublenden.

»Wenn ich du wäre, würde ich mir’n Strick nehmen. Wenn du Hilfe brauchst, das übernehme ich gerne –«

Unfassbar, dass er so was gesagt hat! Als ob mein Leben nichts wert wäre!

Olivia schlingt das Essen hinunter, als hätte sie seit Tagen nichts bekommen. Sie ist dünn und futtert wie ein Scheunendrescher. Finn isst nicht. Er konzentriert sich weiter darauf, seine Bohnen aufzureihen, als hinge sein Leben davon ab.

»Komm, Finn«, versucht Dad ihn zu überreden. »Du musst jetzt was essen.«

Doch Finn ist offenbar der Meinung, dass die Linie noch nicht gerade genug ist.

»Finn, mein Schatz«, sagt Mum liebevoll, »probier doch mal den Pie, hm?«

Ich glaube nicht, dass ihre Bitte bei ihm angekommen ist, sondern dass er jetzt mit der Bohnenreihe zufrieden ist. Jedenfalls stopft er sich eine kleine Gabel mit Shepherd’s Pie in den Mund.

Mum füttert mir ebenfalls noch einen Löffel.

»Ich hab heute Paula getroffen«, erzählt sie Dad. »Sieht schlimm aus, die Arme.«

»Immer noch nichts Neues?«, fragt er.

Mum schüttelt den Kopf.

»Was denn Neues?«, will Olivia wissen.

Paula wohnt weiter die Straße runter, ihr Sohn Ryan wurde vor einem Monat ermordet. Er war neunzehn und wurde erstochen. Keiner weiß, wer es getan hat. Aber alle reden darüber – es kam sogar im Radio.

Schnell wechselt Dad das Thema.

»Finn kann schwimmen wie ein Fisch«, erzählt er Mum. »Hat er unglaublich schnell gelernt.«

»Und ich war super beim Ballett!«, verkündet Olivia, die nicht außen vor bleiben will.

»Das glaube ich sofort«, sagt Dad.

»Wie war es denn in der Schule?«, erkundigt sich Mum bei ihr.

Olivia zuckt mit den Schultern.

Über die Schule will sie nie sprechen. Als wäre das ein großes Geheimnis.

Ich selbst habe keine Geheimnisse. Noch nie habe ich etwas getan, ohne dass es jemand mitbekommen hätte. Ich bin vierzehn Jahre alt und habe eine schwere Zerebralparese. Ich bin Quadriplegikerin. Das bedeutet, dass ich keine Kontrolle über meine Arme und Beine habe – und auch über sonst nichts. Ich kann nicht selbstständig essen. Ich kann nicht ohne Hilfe auf Toilette gehen. Ich kann mich nicht bewegen, brauche immer jemanden, der mich mit einer Vorrichtung hochhebt oder im Rollstuhl schiebt. Und ich kann nicht sprechen.

So ist es schon mein Leben lang. Ich kann allerdings sehen, und ich höre gut – was die Leute manchmal vergessen; ihnen ist nicht klar, dass mein Gehirn ganz normal funktioniert. Manche reden über mich, als sei ich gar nicht da. Das hasse ich.

Andere weihen mich manchmal in ihre Geheimnisse ein. Wahrscheinlich liegt es daran, dass es ziemlich anstrengend ist, ein einseitiges Gespräch zu führen. Wenn Menschen mit mir allein sind, wollen sie reden, damit die Zeit vergeht, und am Ende erzählen sie mir, was ihnen gerade in den Sinn kommt. Sie wissen ja, dass ich es nicht weitersagen kann, und glauben deshalb, bei mir sei es gut aufgehoben. Ich bin die perfekte Zuhörerin.

Sarah hat mir ihr Geheimnis erzählt. Sie betrügt Dan. Sie trifft sich noch immer mit ihrem Exfreund Richard, weil er so süß ist und sie ihm nicht weh tun will. Die beiden Jungs wissen nichts voneinander.

Wenn Sarah einen Freund hat, mache ich mir immer Sorgen, auch wenn ihre Berichte über die Jungs spannend sind. Sarah träumt von einer großen Märchenhochzeit – sie hat mir im Internet sogar Bilder von ihrem perfekten Hochzeitskleid gezeigt. Ich weiß, eigentlich sollte ich mich für sie freuen – tu ich auch. Sie würde mir bloß unheimlich fehlen, wenn sie heiraten würde. Sie ist die beste Pflegerin, die ich je hatte.

Vor allem aber will ich nicht, dass sie jemanden heiratet, der nicht gut für sie ist. Und ich will auf gar keinen Fall, dass sie losgeht und Dan heiratet.

3

Als Sarah am nächsten Morgen aufsteht, ist sie supergut drauf, aber auch ein bisschen verkatert. Obwohl sie versucht, es zu verbergen, merke ich, dass sie einen dicken Kopf hat. Sie trinkt massenweise Kaffee. Sieht aus, als hätte sie einen tollen Abend mit Dan gehabt. Sie singt ein Lied von unserer Lieblingsband Glowlight.

Als sie mich von meinem Zimmer in die Küche schiebt, landet die Post mit einem Klatschen auf der Türmatte. Sarah bleibt stehen, hebt sie auf und legt den kleinen Briefstapel auf den Küchentisch.

»Oh, guck mal, einer ist für dich, Jemma!«, bemerkt sie. Während sie mich an meinen Platz fährt, erkenne ich, dass der Brief zwar an Mum und Dad adressiert ist, aber darunter meinen Namen trägt: Eltern/Vormund von Jemma Shaw. Ich bekomme selten Post. Was da wohl drinsteht?

Mum nimmt den Stapel und überfliegt die Briefe. Den für mich steckt sie schnell nach unten und legt dann alle gebündelt auf die Arbeitsfläche. Sarah scheint nichts aufzufallen.

Jetzt bin ich erst recht neugierig. Warum will Mum ihn nicht öffnen?

Nach dem Frühstück geht Sarah nach oben zu Olivia, um ihr beim Fertigmachen zu helfen. Dad steht auf und will zur Arbeit. Mum folgt ihm in den Flur, um sich von ihm zu verabschieden. Ihre Stimmen sind gedämpft, aber ich schnappe Mums Worte auf: »Es ist schon wieder ein Brief gekommen. Ich habe ihn noch nicht aufgemacht, aber ich glaube, wir müssen es ihr sagen.«

Ich strenge mich an, Dads Antwort zu verstehen. »Ja – das ist schließlich Familie. Jemma hat ein Recht, es zu wissen.«

Familie? Wovon reden sie? Wenn ich doch nur fragen könnte! Klingt allerdings, als hätten sie vor, es mir zu erzählen. Ich kann nur hoffen, dass sie es auch tun.

Dad ist weg, Sarah ist mit mir in der Küche und fädelt vorsichtig meine Arme in den Mantel, damit ich zur Schule fahren kann. Mir ist bewusst, dass der Brief für mich immer noch unter den anderen auf der Arbeitsfläche liegt.

Olivia mault, sie könne ihr Lesebuch nicht finden.

Mum seufzt. »Wann hast du es zuletzt gesehen?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Weiß ich nicht.«

»Guck doch noch mal in deinem Zimmer nach, ja?«, schlägt Mum vor.

Olivia schlurft zur Treppe.

»Sarah, kannst du mitgehen? Hier unten ist es wohl nicht.«

»Klar«, sagt Sarah. »So, Jemma, fertig! Wenigstens einer!« Sie eilt Olivia hinterher.

»Wo ist Finns Wasserflasche?«, murmelt Mum vor sich hin. »Ich weiß genau, dass ich sie gestern ausgespült habe. Du hast bestimmt gesehen, wo ich sie hingetan habe, Jemma.«

Zufällig stimmt das sogar. Ich habe gesehen, wie sie vom Abtropfgestell gerutscht und hinter den Mülleimer gefallen ist.

Es klingelt an der Tür. Mum schiebt mich hin. Wir wissen nie, welcher Wagen zuerst kommt: der Kleinbus, der mich abholt, oder Finns Taxi. Heute ist es das Taxi, mit dem Finn zur Sonderschule fährt.

Seufzend steckt Mum eine andere, grüne Wasserflasche in Finns Tasche, was ihm nicht gefallen wird, weil er an die blaue gewöhnt ist. Mum hilft ihm in die Jacke und kämmt ihm noch kurz die Haare. Er entzieht sich ihr, so schnell er kann, und schlüpft mit seinem Begleiter Jo durch die Haustür.

»Lesebuch gefunden«, ruft Sarah und kommt die Treppe herunter.

»Hast du dich auch bei Sarah bedankt, Olivia?«, fragt Mum, weil sie ganz genau weiß, dass ihr Pflegekind nicht an so etwas denkt.

»Ich hab’s nicht verloren!«, protestiert Olivia. »Immer bin ich schuld! Dabei war ich das gar nicht!«

Sie stampft mit dem Fuß auf, und ich bin erleichtert, als es erneut an der Tür klingelt, denn jetzt werde ich abgeholt und brauche mir nicht anzuhören, wie Olivia herumschreit.

Während der Kleinbus durch die Straßen fährt, muss ich immerzu an den Brief denken. Ich überlege, was Mum und Dad gemeint haben könnten. Welche Familie? Mum hat eine Tante und Dad einen Bruder, aber die sehen wir nicht oft, weil sie so weit weg wohnen. Haben sie von ihrer Familie gesprochen? Oder … oder könnten sie meine gemeint haben, also meine leibliche Mutter, die mich auf die Welt gebracht und dann weggegeben hat? Ist sie jetzt vielleicht auf die Idee gekommen, mich sehen zu wollen?

Bloß nicht. Ich will sie nicht kennenlernen – niemals! Wahrscheinlich will sie mich nur begaffen. Hoffentlich sagen Mum und Dad ihr, sie soll sich verziehen.

Sobald Dad am Abend zurück ist, rechne ich damit, dass die beiden mit mir sprechen, aber sie sagen nichts. Beim Mittagessen hab ich den Brief in der Küche nicht mehr gesehen. Der gesamte Stapel war weg. Haben sie es sich anders überlegt, oder wollen sie warten, bis Finn und Olivia im Bett sind, um mit mir zu reden? Ich freue mich nicht gerade auf ein Gespräch über meine leibliche Mutter, aber darauf zu warten und sich den Kopf zu zerbrechen, ist noch schlimmer.

Während Mum und Sarah Finn und Olivia ins Bett bringen, wäscht Dad ab. Es scheint ewig zu dauern, auch wenn er wahrscheinlich nicht länger braucht als sonst. Ich schaue fern. Als es schließlich fast Zeit für mich ist, ins Bett zu gehen, kommen Mum und Dad zu mir. Sie stellt den Fernseher aus, Dad dreht mich zum Sofa um und nimmt mit ernstem Gesicht Platz.

Er hat den Brief in der Hand. Ich spüre eine Welle der Erleichterung, dann Panik.

»Wir müssen dir etwas sagen, Jemma«, beginnt er mit sanfter Stimme. »Etwas Wichtiges.«

Mein Herz schlägt unglaublich schnell. Auf einmal will ich es nicht mehr hören, es gar nicht wissen.

»Wir haben einen Brief bekommen«, fährt Dad fort, »vom Jugendamt.« Er hält inne, als wisse er nicht, wie er fortfahren soll.

Mum setzt sich neben ihn. »Jemma, was wir dir jetzt sagen, wird ein kleiner Schock für dich sein. Ich werde dir erklären, warum wir es dir bisher nicht erzählt haben …«

Ich warte.

Dad greift nach meiner Hand und streichelt sie. »Du hast eine Schwester, Jemma.«

Was?

Eine Schwester?

Mum seufzt und lächelt. »Sie heißt Jodi.«

Ich versuche zu begreifen. Der Schock raubt mir den Atem. Eine Schwester. Ich war so überzeugt, dass meine leibliche Mutter mich sehen will. Eine Schwester – das ist ja etwas ganz anderes.

»Wir waren darüber unterrichtet, dass man ihr nichts von dir erzählt hat«, beginnt Mum. »Deshalb dachten wir, es wäre verstörend für dich, wenn du von ihr erfahren würdest. Aber sie hat deinen Namen in irgendwelchen Unterlagen gefunden und … Es tut mir leid, Jemma. Wir waren so unsicher, was wir tun sollten.«

Sie haben es gewusst! Die ganze Zeit wussten Mum und Dad, dass ich eine Schwester habe. Viele widerstreitende Gefühle kämpfen in mir. Dass sie es mir nicht gesagt haben, macht mich wütend – aber Mum hat recht. Es wäre schwer gewesen, von Jodis Existenz zu wissen, ohne dass sie eine Ahnung von meiner hat. Ich stehe immer noch unter Schock, aber gleichzeitig bin ich neugierig.

Eine Schwester. Meine Schwester. Wie sie wohl aussieht, wie alt sie ist …

»Die Unterlagen, die Jodi gefunden hat, waren ihre Adoptionspapiere«, erklärt Mum. »Ihr beide wurdet getrennt, als ihr zu Pflegeeltern kamt. Eure leibliche Mutter war überfordert – sie hatte viele Probleme. Sie war noch sehr jung und hatte keine Hilfe.«

Ich habe es mir manchmal ausgemalt – wie meine Mum mit mir verzweifelte. Ich konnte sogar ihr Gesicht vor mir sehen, entsetzt über ihr eigenes Baby, unfähig, damit zurechtzukommen, wie ich war. Aber wir waren zu zweit – zwei Kinder. Die Möglichkeit habe ich nie in Erwägung gezogen. Um meine Schwester konnte sie sich ebenso wenig kümmern wie um mich. Ist Jodi vielleicht auch behindert? Ich weiß nicht genau, was ich von der ganzen Sache halten soll – mir ist nur klar, dass es etwas ändert. Es ändert alles.

»Jodi hat gefragt, ob sie … ob sie Kontakt zu dir aufnehmen darf«, holt Dad mich aus meinen Gedanken.

Im ersten Moment freue ich mich, dann kommt die Enttäuschung, als mir klarwird, was sie Jodi sagen mussten – dass ich nicht im klassischen Sinn antworten kann.

»Sie beharrt darauf, dir zu schreiben, auch wenn wir anfangs dachten, es wäre keine besonders gute Idee«, sagt Mum. »Es ist so schwer zu entscheiden, weil du uns nicht mitteilen kannst, was du davon hältst … Aber wir haben ihr von dir erzählt und uns einverstanden erklärt, dass sie dir schreibt. Ich hoffe, dass du das gut findest, Jemma. Wirklich.«

Meine Schwester! Noch immer kann ich kaum glauben, dass ich wirklich eine habe. Wie viel man ihr wohl über mich erzählt hat? Ob sie mich immer noch kennenlernen will, wenn sie erst mal weiß, was mit mir los ist? Trotzdem bin ich aufgeregt. Ich kann es nicht erwarten, mehr über sie zu erfahren. Sie will mir schreiben! Meine Schwester schreibt mir einen Brief!

4

»Ich kann es immer noch nicht fassen. Du hast eine Schwester, und keiner hat es dir gesagt!«, ruft Sarah und greift zu einem Buch, aus dem sie mir vor dem Zubettgehen vorlesen will. »Ich wusste nichts davon, Jemma. Deine Eltern haben nie von ihr gesprochen.«

Das glaube ich ihr sofort. Wenn Mum und Dad von meiner Schwester erzählt hätten, hätte Sarah es mir verraten. So was hätte sie niemals vor mir geheim halten können.

»Meine Schwester Kate und ich«, sagt Sarah, »wir streiten uns oft, aber ich kann mir nicht vorstellen, ohne sie zu sein. Du kannst es bestimmt nicht erwarten, den ersten Brief von Jodi zu bekommen!«

In den folgenden Tagen spricht Sarah immer wieder von Jodi. Als wäre sie genauso aufgeregt wie ich. Wenn ich ihr doch sagen könnte, wie nervös mich das macht! Was ist, wenn Jodi doch nicht schreibt?

Immerhin redet Sarah dadurch nicht mehr ständig von Dan. Fast kann ich so tun, als gäbe es ihn nicht. Heute redet sie sogar überhaupt nicht, sondern konzentriert sich darauf, meine rebellischen Arme in die Pulloverärmel zu stopfen. Meine Muskelkrämpfe sind schlimmer als sonst, weil ich nicht gut geschlafen habe. Die Gedanken an meine Schwester haben mich wach gehalten.

»Heute Abend ist es so weit!«, flüstert Sarah mir zu. Was meint sie damit? Sie will sich doch nicht schon wieder mit Dan treffen, oder? Sie sieht ihn so oft, dass ich manchmal Angst habe, sie wolle mit ihm durchbrennen. Aber das würde sie natürlich niemals tun.

»Ich trenne mich von Richard«, sagt sie. »Es muss sein – ich bin ihm gegenüber nicht fair.« Mit einer Bürste fährt sie rasch, aber umsichtig durch meine kurzen Locken. »Ich darf das nicht länger vor mir herschieben. Ich weiß, dass es ihn fertigmacht, er ist so sensibel.«

Immerhin tut sie das Richtige. Mit jemandem zusammen zu sein, nur weil er einem leidtut, hilft keinem. Jetzt muss sie nur noch Dan ebenfalls abschießen! Sarah könnte bei Männern wirklich mal den Verstand einschalten. Seit sie bei uns ist, hatte sie so einige Freunde, und alle waren hoffnungslose Fälle. Jason zum Beispiel, der sich immer Geld von ihr geliehen hat und es nie zurückgab, oder ein Typ namens Mario, der zum Gähnen langweilig war und sich nur für Fußball interessierte. Dann kam der armselige Richard. Und jetzt Dan.

Als es an der Tür klingelt, ist Sarah noch in ihrem Zimmer und macht sich fertig. Sie will sich mit Richard in der Stadt treffen, er kann es also nicht sein. Ich bin im Wohnzimmer, aber die Tür ist auf und ich stehe ausnahmsweise so, dass ich in den Flur blicken kann. Dad geht öffnen. Ich höre, wie er Dan begrüßt.

Was will der denn hier? Sarah ist mit Sicherheit nicht mit ihm verabredet.

Dad bittet Dan herein, die Haustür fällt ins Schloss. Während sich die beiden übers Wetter unterhalten, beobachte ich sie. Was wird Dan denken, wenn er sieht, dass Sarah sich so aufgedonnert hat? Er wird mit Sicherheit argwöhnisch werden. Angestrengt lausche ich, aber ausgerechnet jetzt bekommt Olivia einen Wutanfall. Irgendwo hinter mir hat sie sich auf den Boden geworfen, tritt um sich und kreischt wie eine Zweijährige, nur doppelt so laut.

Ich höre Dad nach oben rufen: »Sarah! Dan ist hier!«

O Gott – er denkt, die beiden wären heute Abend verabredet!

Immerhin ist sie jetzt gewarnt – es wäre furchtbar, wenn sie nichtsahnend runterkäme, und Dan stände im Flur. Keine Ahnung, was sie sich jetzt einfallen lässt.

Zum Glück kommt Dan nicht ins Wohnzimmer, wahrscheinlich schreckt ihn Olivias Geschrei ab. Mum schaut herein, um nachzusehen, was los ist. Im Vorbeigehen grüßt sie Dan. Sie dreht meinen Rollstuhl um, was mich stört, weil ich lieber mitbekommen würde, was im Flur passiert, als dabei zuzusehen, wie Olivia schreiend auf dem Boden liegt und um sich schlägt. Allerdings erkenne ich jetzt, warum sie sich so aufregt: Einer ihrer Ballettschuhe hat sich im Kronleuchter unter der Decke verfangen. Finn muss ihn hochgeworfen haben. Er kann gut zielen.

Mum beruhigt Olivia und sagt ihr, Dad würde den Schuh herunterholen. Finn ist nirgends zu finden. Mum dreht mich zum Fernseher und stellt ihn an. Dann zieht sie Olivia vorsichtig hoch, umarmt sie und nimmt sie bei der Hand. Ich höre, wie sie die Treppe hochsteigen.

Mir ist bewusst, dass Dan immer noch im Flur ist. Sarah ruft herunter, sie komme gleich. Dan seufzt. Er tritt ins Wohnzimmer, geht direkt zum Fernseher, nimmt die Fernbedienung und zappt durch die Programme. Er tut so, als sei ich nicht da. Wie gerne würde ich rufen: »Hey! Ich gucke das gerade!«, auch wenn es überhaupt nicht stimmt.

Er lässt die Nachrichten laufen. Die will ich gar nicht sehen. Auf dem Bildschirm wird ein Sarg in eine Kirche getragen. Ein Reporter spricht. Erst als der Name Ryan Blake fällt, höre ich genauer hin.

Ryan! Der Junge, der weiter unten in der Straße gewohnt hat. Heute wurde er beerdigt. Ich möchte wissen, was die Polizei herausgefunden hat. Mum und Dad glauben, Ryan hätte mit Drogen zu tun gehabt.

»Die Polizei ruft potentielle Zeugen auf, sich zu melden«, fährt der Reporter fort. »Und seine Eltern bitten jeden, der etwas weiß oder gesehen hat, sich an die Polizei zu wenden.«

Plötzlich dreht sich Dan zu mir um.

»Du weißt doch nichts … oder? Unsere Jemma weiß gar nichts?«, feixt er.

Ich finde es furchtbar, wenn er mich »unsere Jemma« nennt. Als würde er zur Familie gehören.

»Ich verrate dir ein Geheimnis«, raunt er, »ich weiß ja, dass du es keinem weitersagst.« Er zwinkert mir zu. Dann ist es kurz still. Er schiebt sein Gesicht so nah an mich heran, dass ich seinen heißen Atem auf der Wange spüre. »Sie werden mich niemals fassen!«, flüstert er und weist mit dem Kopf in Richtung Fernseher. Mit einem Grinsen richtet er sich auf, als freue er sich diebisch. »Darüber kannst du dir jetzt den Kopf zerbrechen, du Freak!«

Sarah trippelt die Stufen hinunter.

Schnell schaltet Dan zu einer Quizsendung um.

Ihn fassen? Was meint er damit?

Er will mich ärgern, kann gar nicht anders sein …

»Hallo, Baby«, begrüßt er Sarah.

»Was machst du denn hier?«, fragt sie. Sie schlackert leicht mit den Armen, wie Finn. Ich merke, dass sie Angst hat, gleichzeitig schaut sie Dan sehnsuchtsvoll in die Augen. Sie wird doch jetzt nicht Richard sitzenlassen, damit sie mit Dan ausgehen kann, oder? Sie muss dringend mit beiden Schluss machen. Wenn sie doch nur hören könnte, was ich ihr innerlich die ganze Zeit zurufe!

»Du hast einen Handschuh bei mir im Auto liegen lassen«, erklärt Dan. »Habe ich heute erst gefunden. Ich war gerade in der Gegend, deshalb dachte ich, ich bringe ihn dir schnell vorbei. Will ja nicht, dass du kalte Finger bekommst!«

»Oh, danke! Ich habe mich schon gefragt, wo er geblieben ist«, erwidert Sarah. »Aber ich muss mich beeilen. Ich bin mit Emma und Rihanna verabredet – wir wollen ins Kino.«

»Schon wieder?«, fragt Dan.

»Ja, ich habe meinen nächsten freien Abend getauscht. Emma hat heute Geburtstag«, sagt Sarah schnell. Offenbar hat sie sich Ausreden zurechtgelegt. Ich nehme an, dass sie das auch schon Mum erzählt hat. »Wir machen einen Mädelsabend. Becks kommt auch mit. Wir gucken den Film, von dem du meintest, er wäre nur was für Weiber, die gerne heulen.«

»Nee, komm!«

»Doch, wirklich.« Sarah lacht ein bisschen zu lange. »Ich muss jetzt los, sonst komme ich zu spät.«

»Schon gut, ich fahre dich hin«, bietet sich Dan an.

»Nein, Dan, das musst du nicht«, versichert sie ihm.

»Kein Problem.«

»Na gut.«

Unbehagen macht sich in mir breit. Ich will nicht, dass sie mit ihm fährt. Was er eben zu mir gesagt hat … Das kann doch nur ein Witz gewesen sein. Dan ist furchtbar, aber er würde doch niemanden umbringen. Oder doch? Und warum ist er heute Abend vorbeigekommen? Es fühlt sich nicht richtig an. Vielleicht hat er Verdacht geschöpft, dass Sarah immer noch etwas mit Richard hat. Hat er versucht, Sarah auf frischer Tat zu ertappen?

Sie verabschiedet sich von mir und streicht mir liebevoll über die Hand. Ihre Finger sind heiß. Ihr ist bewusst, wie brenzlig die Situation ist. Kurz sieht sie mir in die Augen. Ihr Blick sagt mir, dass sie weiß, dass es mir auch klar ist. Dann wendet sie sich zur Tür.

»Tschüss, Jemma«, sagt Dan und zwinkert mir wieder zu. Mir steht noch sein höhnisches Gesicht vor Augen, als er mich einen Freak nannte, und ich habe nicht vergessen, was er noch gesagt hat. Ich traue ihm kein Stück über den Weg.

Die beiden gehen. Die Haustür fällt ins Schloss.

Dad kommt herein und schaut hoch zum Ballettschuh im Kronleuchter. »So ein Witzbold …«, murmelt er vor sich hin.

5

Mum macht mich bettfertig, doch ich höre kaum zu, als sie erzählt, sie müsse mir dringend ein paar neue Sachen kaufen. Was hat Dan bloß gemeint?

Wenn Mum doch nur in meinen Kopf schauen und erkennen könnte, wie sich die Gedanken darin drehen. Ich weiß, dass ich nach außen hin genauso aussehe wie immer. Man merkt nichts. Niemand weiß Bescheid.

Dan muss versucht haben, mich zu veräppeln. Wenn er mit der Geschichte zu tun hätte, hätten wir doch irgendwas gehört. Wäre er dann nicht ein Verdächtiger? Trotzdem würde ich gerne mit jemandem darüber sprechen. Damit wenigstens alle wissen, was er für einer ist. Nur für den Fall.

Wenn es aber ein Geständnis war, dann hat er es dem einzigen Menschen gemacht, der sein Geheimnis nicht weitererzählen kann. Das wusste er genau. Vielleicht glaubt er, ich würde gar nicht richtig verstehen, was er sagt. Ich will es wissen! Denn wenn Dan ein Mörder ist und herausfindet, dass Sarah ihn betrügt …

Ich kann nicht schlafen, warte darauf, dass Sarah heil nach Hause kommt. Mein Zimmer ist im Erdgeschoss, aber es geht nach hinten raus. Ich horche auf das Geräusch der sich öffnenden Haustür. Irgendwann kehrt Sarah tatsächlich heim, aber da ich mit dem Gesicht nicht zum Wecker liege, kann ich nicht ablesen, wie spät es ist. Vielleicht kommt sie noch mal herein, um mich zu drehen – ich muss nachts umgelagert werden, damit ich mich nicht wundliege. Ja. Ich höre ihre Schritte.

Sie atmet ziemlich schnell, ihre Handgriffe sind nicht so sanft wie sonst. Im gedämpften Licht fängt sie meinen Blick auf und merkt, dass ich wach bin. Ich versuche, sie in Gedanken zu zwingen, mir von ihrem Abend zu erzählen. Manchmal ist es, als könne Sarah meine Gedanken lesen. Das gehört zu den Dingen, die ich so an ihr mag.

»Das war nicht gerade der beste Abend meines Lebens«, flüstert sie.

Gespannt warte ich auf mehr. Sie setzt sich auf die Bettkante.

»Ist doch unfassbar, dass Dan hier aufgekreuzt ist, oder? Das mit dem Handschuh war nur eine Ausrede, meinst du nicht? Irgendwie macht er mir Druck. Er hat gesagt, er könnte es nicht ertragen, von mir getrennt zu sein.« Sie lacht. »Als ich neben ihm im Auto saß, habe ich die ganze Zeit gehofft, dass er keinen Verdacht schöpft. Auf einmal wollte er mit ins Kino kommen! Zum Glück hat er keinen Parkplatz gefunden, da hatte sich das erledigt.«

Sie fährt sich mit der Hand durch die Haare. Nur Sarah kann in so eine Lage geraten.

»Ich hatte Angst, dass er noch in der Nähe ist, deshalb habe ich Richard vom Klo aus eine SMS geschickt, dass ich ein bisschen Verspätung habe. Ich habe zehn Minuten gewartet, bis ich mich endlich getraut habe, in den Pub zu gehen! Das ist doch lächerlich, Jem!«

Sarah nimmt die ganze Geschichte überhaupt nicht ernst. Immerhin wurde sie nicht von Dan erwischt.

»Als ich endlich im Pub war«, fährt sie fort, »hat sich Richard so gefreut, mich zu sehen. Ich konnte es ihm einfach nicht antun.«

Mein Mut sinkt. Sarah druckst herum, wirkt irgendwie aufgeregt. Hat sie es sich anders überlegt und beschlossen, dass sie nun doch mit Richard zusammen sein will?

»Jem, er ist losgegangen und hat uns Tickets für das Konzert von Glowlight nächsten Monat gekauft! Das wird der Wahnsinn!« Verlegen schaut sie mich an. »Ist das schlimm, wenn ich noch bis dahin warte?«

Glowlight! Na ja, es ist nicht gerade eine Glanztat, ihn wegen der Eintrittskarten auszunutzen, aber schließlich ist es Glowlight. Vielleicht würde ich das auch tun … Nein, es ist falsch. Sarah muss mit Richard Schluss machen!

»Vielleicht können wir einfach als Freunde zu dem Konzert gehen«, überlegt sie. »Obwohl ich glaube, dass Richard so was nicht macht. Bei Dan wäre es auf jeden Fall ausgeschlossen.«

Seufzend streicht sie meine Bettdecke glatt.

»Ich bin so ein Feigling, Jem.«

Ich weiß nicht, was ich an Sarahs Stelle täte – auch wenn ich mir gerne einbilde, dass ich erst gar nicht in so eine vertrackte Situation geraten würde.

6

Als der Kleinbus mich am Montag nach der Schule zu Hause absetzt, verkündet Mum, dass wir Besuch haben. Sie schiebt den Rollstuhl in die Küche, wo Mr und Mrs Blake sitzen und Tee trinken. Mum kennt Paula schon seit Jahren, aber mehr vom Grüßen auf der Straße denn als richtige Freundin. Als Ryan noch klein war und Probleme machte, kam sie manchmal rüber, um Mum um Rat zu fragen. Das weiß ich noch. Vielleicht hat Paula sogar eine Zeitlang gehofft, Mum würde ihren Sohn in Pflege nehmen.

Seit Ryans Tod versucht Mum, Paula zu unterstützen. Sie hat sie schon ein paarmal eingeladen. Graeme – Mr Blake – kommt aber normalerweise nicht mit.

Paula grüßt mich mit einem Lächeln, aber man sieht ihre Trauer deutlich in ihren tiefen Falten und müden Augen. Graeme druckst verlegen herum und klopft mit dem Finger auf den Rand des Bechers. Ich spüre, dass er sich in meiner Nähe unwohl fühlt. Er hat seine schwarze Outdoorjacke noch an, während Paula ihre Jacke ausgezogen hat. Offensichtlich hofft er, schnell wieder gehen zu können.

»Ich weiß ja, dass er kein Engel war«, sagt Paula zu Mum, »aber ich war so streng mit ihm – ständig hab ich an ihm herumgenörgelt, ihn kritisiert, ihn gedrängt, dies oder das zu tun. Das Letzte, was ich zu ihm gesagt habe, war: ›Hau ab und komm nie wieder!‹ Das habe ich wirklich gesagt! Ich schäme mich so.«

Sie bricht in Tränen aus.

Graeme streicht ihr ungelenk über die Schulter. Er ist verlegen.

Mum reicht Paula ein Taschentuch.

»Ich weiß«, sagt sie, »aber du konntest doch nicht ahnen, dass etwas passiert. Du hast nur versucht, ihm Grenzen zu setzen. Er wusste, dass du ihn liebhast. Dass du nur sein Bestes wolltest.«

»Meinst du wirklich?«, schluchzt Paula.

Als wir klein waren, hat Ryan mir immer die Zunge ausgestreckt, wenn er mich auf der Straße sah. Als er etwas älter wurde, nannte er mich »Spasti«, »Behindi« oder noch Schlimmeres. Einmal hat er mich sogar angespuckt.

Ryan fehlt mir ganz bestimmt nicht, aber Paula tut mir natürlich trotzdem unheimlich leid. Ryan war ein Asi, aber er war ihr Sohn – und der von Graeme.

Ich betrachte ihn. Er wirkt wie ein Felsblock.

Paula trinkt einen Schluck Tee. »Ich kann den Gedanken einfach nicht ertragen, dass der Unmensch, der das getan hat, frei herumläuft. Vielleicht steht er draußen vor mir, und ich merke es nicht.«

Dans Gesicht erscheint vor meinem inneren Auge. Ja, das könnte sein, denke ich. Er war hier – in diesem Haus, möchte ich Paula sagen. Ein Geräusch kommt aus meinem Hals, ein ersticktes Gurgeln. Paula schaut zu mir herüber und wendet den Blick schnell wieder ab.

Wie gerne würde ich ihnen erzählen, was Dan zu mir gesagt hat! Nur für den Fall. Ich weiß ja nicht, ob Dan und Ryan sich überhaupt gekannt haben. Sie sind sehr unterschiedlich. Und Dan macht nicht den Eindruck, als hätte er mit Drogen, Banden oder Ähnlichem zu tun. Es sei denn, er ist sehr geschickt darin, es zu verbergen. »Wir müssen jetzt los«, sagt Graeme schroff.

Paula dreht sich zu ihm um und sieht ihn erstaunt an, als wollte sie sagen: Warum? Wo müssen wir denn hin?

Doch sie richtet sich auf. Graeme hilft ihr in die Jacke.

»Vielleicht bringt es ja was, wenn es bei Crimewatch läuft«, höre ich Mum sagen, als sie die beiden zur Tür bringt. »Hoffen wir einfach, dass sich jemand meldet und die Polizei neue Anhaltspunkte bekommt.«

Der Mord an Ryan wird also bei Crimewatch gezeigt! Das könnte zur Aufklärung beitragen. Hoffentlich lassen Mum und Dad mich zusehen. Ich habe die Sendung noch nie geguckt, nur davon gehört: Da werden Verbrechen nachgestellt, und die Zuschauer können anrufen, falls ihnen etwas einfällt. Vielleicht entdecke ich einen Hinweis, dass es wirklich Dan war – und wenn, dann werden Sarah, Mum oder Dad oder wer auch immer es sich ansieht, bestimmt merken, dass er es war.

7

Als der Schulbus mich am Dienstag nach der Schule zu Hause absetzt, nimmt Sarah mich in Empfang. Sie grinst noch breiter als sonst.

»Oh, Jem! Du hast einen Brief von deiner Schwester bekommen! Deine Mum hat ihn noch nicht aufgemacht. Sie wartet auf dich. Hoffentlich zeigt sie ihn mir hinterher! Ich will unbedingt wissen, was drinsteht.«

Sarah fährt mich in die Küche und verkündet Mum: »Jemma ist wieder da!« Anschließend wartet sie. Wahrscheinlich möchte sie, dass Mum ihr anbietet, bei uns zu bleiben.

»Danke, Sarah«, sagt sie.

Sarah wirft mir einen aufgesetzt genervten Blick zu und schließt die Tür hinter sich.

Wir sitzen am Küchentisch. Vorsichtig öffnet Mum den weißen Umschlag.

Mein Herz klopft.

»Bist du bereit?«, fragt sie.

Sie legt den Brief auf die Tischplatte, damit ich ihn sehen kann.

»Liebe Jemma«, liest sie vor. »Bis vor wenigen Monaten wusste ich nicht, dass es Dich gibt. Dann habe ich in einer Schublade Unterlagen über mich gefunden. Auf einem Papier stand Dein Name unter meinem. Ich heiße Jodi und bin Deine Schwester!«

Mum hält inne und sieht mich an, bevor sie weiterliest.

»Wir sind sogar noch mehr als das, Jemma: Wir sind Zwillinge!«

Zwillinge? Das hat Mum mir nicht erzählt.

»Offenbar wurden wir wenige Minuten nacheinander geboren«, liest Mum weiter. »Komisch, ich hatte immer so ein seltsames Gefühl – als würde mir etwas fehlen. Als ich das mit Dir erfuhr, hab ich gedacht: Na klar! Das erklärt alles. Ich habe eine Zwillingsschwester. Vor unserer Geburt waren wir neun Monate lang zusammen, seitdem sind wir getrennt.«