Ein Monat auf dem Land & Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten - J.L. Carr - E-Book

Ein Monat auf dem Land & Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten E-Book

J.L. Carr

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Zarte Heilung in der Provinz und ein legendäres Fußballwunder – Zwei hintersinnige Klassiker voller britischem Charme und leiser Komik von J.L. Carr in einem eBook! Ein Monat auf dem Land Sommer 1920 im nordenglischen Oxgodby: Als auf dem Bahnhof ein Londoner aus dem Zug steigt, weiß gleich das ganze Dorf Bescheid: Er ist der Restaurator, der das mittelalterliche Wandgemälde in der örtlichen Kirche freilegen soll. Doch was steckt hinter der Fassade des stotternden und unter chronischen Gesichtszuckungen leidenden Mannes? Tom Birkin hat im Ersten Weltkrieg gekämpft, als traumatisierter Veteran wurde er von seiner Frau verlassen. Er hofft, in der Ruhe und Einfachheit Yorkshires zu gesunden. Und tatsächlich: Je näher er dem Meisterwerk hinter der Kirchendecke kommt, desto näher kommt er auch sich selbst. Und seinen Mitmenschen. Langsam gelingt es ihm, sich der Welt um sich herum zu öffnen, vielleicht sogar der Liebe. Der Monat auf dem Land ist ein Monat der Heilung. Was Birkin hier erlebt, wird er sein Leben lang mit sich tragen… J.L. Carr erzählt von einem Mann, der überlebt, und von der Rettung, die in uns wie den anderen liegt. Dieser moderne Klassiker der englischen Literatur ist in seiner sprachlichen Leichtigkeit und Eleganz eine echte Wiederentdeckung. »Dieses Buch wird Leser finden, solange sich Menschen Geschichten über Liebe und Tod erzählen werden.« Denis Scheck Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten Alex Slingsby ist Exfußballprofi, Grundschullehrer in Sinderby – und ein Mann mit Ambitionen. Unterstützt vom Schuldirektor, einem Exilungarn mit Doktor in Philosophie, nimmt er sich des amateurhaften örtlichen Fußballteams an. Die beiden bilden ein unkonventionelles Trainergespann. So wird etwa eine der zentralen Positionen im Team frei nach dem Motto: »Ein Torwart muss kein guter Fußballer sein, er muss nur Raumgefühl besitzen« vergeben. Zu diesem Torhüter (der überdies noch leidenschaftlich gerne aufräumt) gesellen sich ein leicht depressiver Stürmerstar und der Pfarrer, dessen Schwester eine überzeugte Zeugin Jehovas ist. Und tatsächlich formiert sich aus einem Haufen Außenseiter nach und nach eine Mannschaft. Wie durch ein Wunder schaffen es die einfachen Männer aus Sinderby bis ins Finale des F. A. Cups im Wembleystadion. Aber dieser große Moment ist leider viel zu schnell vorbei … J.L. Carrs Roman ist viel mehr als ein Buch über Fußball – es ist eine Geschichte vom Erfolg des Underdogs, eine Geschichte voller unvergesslicher Charaktere und mit viel Witz, die doch von einer leisen Melancholie durchwirkt ist. Eine kleine Geschichte über den einen großen Moment im Leben. Mit einem Vorwort von Saša Stanišić.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 416

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über die Bücher

Zarte Heilung in der Provinz und ein legendäres Fußballwunder – Zwei hintersinnige Klassiker voller britischem Charme und leiser Komik von J.L. Carr in einem eBook!

Ein Monat auf dem Land

Sommer 1920 im nordenglischen Oxgodby: Als auf dem Bahnhof ein Londoner aus dem Zug steigt, weiß gleich das ganze Dorf Bescheid: Er ist der Restaurator, der das mittelalterliche Wandgemälde in der örtlichen Kirche freilegen soll. Doch was steckt hinter der Fassade des stotternden und unter chronischen Gesichtszuckungen leidenden Mannes? Tom Birkin hat im Ersten Weltkrieg gekämpft, als traumatisierter Veteran wurde er von seiner Frau verlassen. Er hofft, in der Ruhe und Einfachheit Yorkshires zu gesunden. Und tatsächlich: Je näher er dem Meisterwerk hinter der Kirchendecke kommt, desto näher kommt er auch sich selbst. Und seinen Mitmenschen. Langsam gelingt es ihm, sich der Welt um sich herum zu öffnen, vielleicht sogar der Liebe. Der Monat auf dem Land ist ein Monat der Heilung. Was Birkin hier erlebt, wird er sein Leben lang mit sich tragen…

J.L. Carr erzählt von einem Mann, der überlebt, und von der Rettung, die in uns wie den anderen liegt. Dieser moderne Klassiker der englischen Literatur ist in seiner sprachlichen Leichtigkeit und Eleganz eine echte Wiederentdeckung.

»Dieses Buch wird Leser finden, solange sich Menschen Geschichten über Liebe und Tod erzählen werden.« Denis Scheck

Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten

Alex Slingsby ist Exfußballprofi, Grundschullehrer in Sinderby – und ein Mann mit Ambitionen. Unterstützt vom Schuldirektor, einem Exilungarn mit Doktor in Philosophie, nimmt er sich des amateurhaften örtlichen Fußballteams an. Die beiden bilden ein unkonventionelles Trainergespann. So wird etwa eine der zentralen Positionen im Team frei nach dem Motto: »Ein Torwart muss kein guter Fußballer sein, er muss nur Raumgefühl besitzen« vergeben. Zu diesem Torhüter (der überdies noch leidenschaftlich gerne aufräumt) gesellen sich ein leicht depressiver Stürmerstar und der Pfarrer, dessen Schwester eine überzeugte Zeugin Jehovas ist. Und tatsächlich formiert sich aus einem Haufen Außenseiter nach und nach eine Mannschaft. Wie durch ein Wunder schaffen es die einfachen Männer aus Sinderby bis ins Finale des F. A. Cups im Wembleystadion. Aber dieser große Moment ist leider viel zu schnell vorbei … J.L. Carrs Roman ist viel mehr als ein Buch über Fußball – es ist eine Geschichte vom Erfolg des Underdogs, eine Geschichte voller unvergesslicher Charaktere und mit viel Witz, die doch von einer leisen Melancholie durchwirkt ist.

Eine kleine Geschichte über den einen großen Moment im Leben.

Mit einem Vorwort von Saša Stanišić.

© Bob Carr

Über den Autor und die Übersetzerin

J.L. Carr wurde 1912 in der Grafschaft Yorkshire geboren und starb 1994. Nachdem er jahrelang als Lehrer gearbeitet hatte, gründete er 1966 einen eigenen Verlag Quince Tree Press und verfasste acht Romane. ›Ein Monat auf dem Land‹ (DuMont 2016) war 1980 für den Booker-Preis nominiert. Bei DuMont erschienen außerdem ›Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten‹ (2017), ›Ein Tag im Sommer‹ (2018) und ›Die Lehren des Schuldirektors George Harpole‹ (2019).

Monika Köpfer war viele Jahre als Lektorin tätig und übersetzt heute aus dem Englischen, Italienischen und Französischen. Zu den von ihr übersetzten Autor*innen zählen u. a. Galit Atlas, Mohsin Hamid, J. L. Carr, Milena Agus und Agnès Poirier.

J.L. Carr

Ein Monat auf dem Land

&

Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten

Zwei Romane in einem Band

Aus dem Englischen von Monika Köpfer

Vollständige E-Book-Ausgabe der auf Deutsch im DuMont Buchverlag erschienenen Werke ›Ein Monat auf dem Land‹ (© 2016) und ›Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten‹ (© 2017)

E-Book 2025

DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten.

Die Nutzung dieses Werks für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Die englische Originalausgabe von ›Ein Monat auf dem Land‹ erschien 1980 unter dem Titel ›A Month in the Country‹ (© Bob Carr, 1980) bei Harvester Press, Brighton.

Die englische Originalausgabe von ›Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten‹ erschien 1975 unter dem Titel ›How Steeple Sinderby Wanderers Won the FA Cup‹ (© Bob Carr, 1975) bei London Magazine Editions, London.

© 2025 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, Amsterdamer Straße 192, 50735 Köln, [email protected]

Übersetzung: Monika Köpfer

Umschlaggestaltung der abgebildeten Einzelromane: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung › Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten‹: Hahn: © ComicVector – Fotolia.com

Umschlagabbildung ›Ein Monat auf dem Land‹: © User2547783c_812

Satz: Angelika Kudella, Köln

E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book 978-3-7558-1174-9

www.dumont-buchverlag.de

J. L. Carr

EIN MONATAUFDEM LAND

Aus dem Englischen von Monika Köpfer

Für Kathie und für Sally … lebt wohl

 

 

 

 

»Eine Novelle – eine kleine Erzählung, zumeist über die Liebe«Dr Johnson’s Dictionary

 

 

»Nur Atem holen will ich, mach auch du kurz Rast –, reich mir die Hand und sag mir, was du im Herzen hast.«A. E. Housman

 

 

Sie kommt nicht, wenn Mittag ist über den Rosen – nicht am helllichten Tag. Sie kommt erst zur Seele, wenn sie rastet, ausruht von Arbeit und Spiel. Aber wenn es Nacht ist über den Bergen und vom Meer die großen Stimmen hereinwehen, Im Sternenlicht und Kerzenlicht und Traumlicht, da kommt sie zu mir.Herbert Trench

Vorwort

WENNMANLANGEEIN und derselben Beschäftigung nachgeht, neigt man dazu, seine ursprünglichen Absichten zu vergessen. Ich meine mich jedoch zu erinnern, dass mir, als ich Ein Monat auf dem Land zu schreiben begann, eine nette, unterhaltsame Geschichte vorschwebte, ein ländliches Idyll im Stil von Thomas Hardys Die Liebe der Fancy Day. Um einen ganz eigenen Erzählton zu erzeugen, sollte der Erzähler wehmütig fünfzig Jahre später zurückblicken und sich an eine Zeit erinnern, die unwiederbringlich vorbei ist, und dabei leise Trauer verspüren.

Und ich wollte, dass die Geschichte glaubhaft war. Also beschloss ich, sie in North Riding anzusiedeln, im Vale of Mowbray, das seit vielen Generationen die Heimat meiner Familie ist und wo ich in einem Haus ähnlich dem der Ellerbecks aufwuchs, in einer Zeit, in der man noch mit Pferd und Pflug die Felder bestellte und eine Kerze mitnahm, wenn man zu Bett ging.

Das Verfassen eines Romans kann ein kaltblütiges Unterfangen sein. Man benutzt, was immer gerade im Gedächtnis herumliegt, und biegt es so hin, dass es dem eigenen Zweck dient. Der Besuch bei dem todkranken Mädchen, eine erste Erfahrung als Laienprediger, der Ausflug der Sonntagsschule, ein Tag bei der Ernte und noch vieles mehr hat sich tatsächlich zwischen den Pennine Moors und den Yorkshire Wolds ereignet. Die Kirche inmitten der Felder befindet sich hingegen in Northamptonshire, ihr Friedhof in Norfolk und die Pfarrei in London. All das war Wasser auf meine Mühlen.

Auch wird eine Geschichte während der Monate, in denen man über die Vergangenheit schreibt, gefärbt von dem, was man in der Gegenwart erlebt. Auf diese Weise ändert sich der Erzählton unbewusst – was man ursprünglich im Sinn hatte, zerrinnt einem zwischen den Fingern. Und so ertappte ich mich dabei, wie ich durch ein anderes Fenster auf eine dunklere Landschaft blickte, die weder von der Gegenwart noch von der Vergangenheit bewohnt war.

J. L.Carr

Ein Monat auf dem Land

ALSDER ZUGZUM STEHENKAM, stolperte ich die Stufen hinab, während ich meinen Seesack umständlich vor mir herbugsierte. Am unteren Ende des Bahnsteigs rief eine verzweifelte Stimme: »Oxgodby … Oxgodby.« Niemand bot mir Hilfe mit meinem restlichen Gepäck an, also kehrte ich in mein Abteil zurück, taumelte über Knöchel und Füße, um den Bastkorb (aus der Gepäckablage über dem Sitz) und mein faltbares Feldbett (aus dem Stauraum unter dem Sitz) zu holen. Sollte dieses Verhalten charakteristisch für die Nordländer sein, dann befand ich mich in Feindesland und so achtete ich nicht besonders darauf, wo ich meine Füße hinsetzte. Ich hörte, wie ein Kerl vernehmlich die Luft einsog und ein anderer etwas Unverständliches knurrte: Keiner von ihnen sagte etwas.

Dann war ich draußen, der Schaffner blies in seine Trillerpfeife, der Zug fuhr ruckelnd an – und blieb abermals stehen. Dies schien zu genügen, um den alten Mann, der im nächstgelegenen Waggon saß, dazu zu bewegen, das Fenster halb herunterzulassen und mir in breitestem und nahezu unverständlichem Yorkshire-Dialekt zuzurufen: »Pass’n Sie auf, Master, Sie werd’n ja nass bis auf die Knochen!«, und er schob das Fenster direkt vor meiner Nase wieder hoch. Schließlich stieß die Lok eine herrliche Dampfwolke aus, und während der Zug davonzuckelte, zog eine Reihe hölzerner und mich anstarrender Gesichter an mir vorüber. Nunmehr allein auf dem Bahnsteig, ordnete ich meine Gepäckstücke und warf einen letzten Blick auf meine Karte, ehe ich sie wieder in der Tasche meines Mantels verstaute, nur um sie erneut hervorzuzerren, wobei mein Fahrschein dem Stationsvorsteher vor die Füße fiel und ich wünschte, ich hätte die beiden fehlenden Knöpfe angenäht und es würde zu regnen aufhören, bis ich ein Dach über dem Kopf hätte.

Ein junges Mädchen, das Gesicht gegen eine Fensterscheibe des Stationsvorsteherhauses gedrückt, sah mich unverwandt an. Vermutlich hatte mein Mantel sein Interesse geweckt; er stammte noch aus Vorkriegszeiten, schätzungsweise aus dem Jahr 1907, erstklassiges Material, noch die gute alte Qualität, dicker Fischgrät-Tweed. Er reichte mir bis zu den Knöcheln; sein ursprünglicher Besitzer musste ein gut betuchter Riese gewesen sein.

Mir schwante, dass ich tatsächlich bis auf die Knochen nass werden würde; schon drang Wasser durch die Sohlen meiner Schuhe. Der Stationsvorsteher trat in den Lampenraum zurück und sagte etwas zu mir, aber ich konnte seinen Dialekt nicht verstehen. Er schien es zu bemerken. »Ich habe gesagt, Sie können sich meinen Schirm borgen, wenn Sie wollen«, wiederholte er in passablem Englisch.

»Es ist nicht so weit zu meinem Ziel«, sagte ich. »… das heißt, laut meiner Karte.«

Die Leute dort oben sind von unbezwingbarer Neugier. »Und was soll das sein?«, fragte er.

»Die Kirche«, antwortete ich. »Dort werde ich mich gewiss trocknen können.«

»Kommen Sie doch auf ’ne Tasse Tee herein«, erwiderte er.

»Danke, aber ich bin mit dem Pfarrer verabredet.«

»Ach so«, sagte er, »ich selbst bin bei der Freikirche, wissen Sie. Trotzdem, wenn Sie etwas brauchen, lassen Sie es mich wissen. Hoffentlich finden Sie, was Sie suchen.«

Er schien zu wissen, weswegen ich gekommen war.

Dann machte ich mich mit gemischten Gefühlen auf den Weg, während ich den Bastkorb mit meiner Wechselkleidung notdürftig mit dem Mantel vor dem Regen abschirmte. Die schmale Straße befand sich dort, wo sie laut Karte sein sollte. Und da war ein einzelnes Gebäude; es entpuppte sich als heruntergekommenes Bauernhaus, dessen kleiner Vorgarten hinter einem verrosteten schmiedeeisernen Zaun schmollte. Ein Hund, ein Airedaleterrier, zerrte an seiner Kette, jaulte halbherzig und zog sich dann schnell wieder ins Trockene zurück. Sodann passierte ich eine Reihe Hühnerställe, halb eingefallen inmitten der Brennnesseln des darniederliegenden Obstgartens. Der Regen floss mir in einem Rinnsal vom Filzhut in den Nacken, und einer der Griffe meines Bastkorbs hatte sich gelöst. Schließlich bog ich um eine hohe Hecke herum und befand mich auf offenem Feld. Und da war auch schon die Kirche.

Auf den ersten Blick ein Allerweltsbauwerk: Allem Anschein nach hatte dieser Landstrich im ausgehenden Mittelalter keine Schafwoll-Hochkonjunktur erlebt. Dies war mit Sicherheit ein Hungerleiderland gewesen, jeder Baustein hatte der Erde abgepresst werden müssen. Das Giebeldach des Altarraums war weniger steil als das des Hauptgebäudes und musste gut hundert Jahre später hinzugefügt worden sein (das Giebeldach von letzterem lief über den beiden Seitenschiffen flach aus). Ein gedrungener Glockenturm. Nicht, dass Sie einen falschen Eindruck bekommen; alles in allem war ich angenehm überrascht von der Kirche, und im Näherkommen sah ich, dass sie über ein gut erhaltenes Mauerwerk verfügte – Kalkstein statt Bruchgestein. Sogar die Steine zwischen den Strebepfeilern waren gut behauen und kamen mit nur einem Hauch Mörtel aus, und obwohl ich schier im Regen ertrank, zollte ich den Steinmetzen Bewunderung. Was den Stein betraf – nur eine leichte Gelbfärbung, Magnesium –, so musste er in der Nähe von Tadcaster abgebaut und über die Flüsse herbeigeschifft worden sein. Sehen Sie mir diese Detailversessenheit nach: Bereits in jener längst vergangenen Zeit bildete ich mir etwas auf meine Gesteinskenntnisse ein.

Auch die Kirchhofmauer war in gutem Zustand, allerdings war die Klinke des schmalen Tors abgebrochen, und es wurde von einer Schnurschlaufe zugehalten. Einige alte Grabsteine aus dem achtzehnten Jahrhundert waren zu sehen, die flechtenbewachsenen Engels-, Stundengläser- und Totenkopfmotive überwuchert von Gras, Brennnesseln und Hundspetersilie. Auch zwei, drei Zacken eines Familiengrabsteins konnte ich zwischen dem Dornengestrüpp ausmachen. Eine graue Katze spähte daraus hervor, funkelte mich feindselig an, und weg war sie. Der Himmel allein wusste, was sonst noch hier lebte: Heutzutage würde man es gewiss zum schützenswerten Biotop erklären.

Die Dachrinnen und Abflussrohre – ich konnte nicht anders und musste nachschauen, ob sie mit den Wassermassen zurechtkamen. Also ging ich schnell um das Gebäude herum. Nirgendwo ein Sturzbach von oben, kein einziger Spritzer an den Mauern! Feuchtigkeit ist der Untergang von Wandgemälden. Wenn es irgendwo eine grüne Mauer gegeben hätte, hätte ich genauso gut auf dem Absatz kehrtmachen und mich wieder zum Bahnhof zurückspülen lassen können.

Doch so ging ich zu der kleinen Veranda zurück, deren steinerne Sitzbänke blank poliert waren von den Hinterteilen unzähliger Trauergäste, die dort in den letzten fünfhundert Jahren Platz genommen hatten, schwindelig von Weihrauch oder Gewissensbissen.

Dann drehte ich den Eisenring und schob die Tür auf. Sie ächzte – ein Warnsignal, für das ich während der nächsten Wochen noch dankbar sein sollte. Und hier war ich also. Im Großen und Ganzen war es so, wie ich es erwartet hatte – ein Steinplattenboden, drei gedrungene Säulen zu beiden Seiten des Mittelschiffs, zwei niedrige Seitenschiffe und vorn der Altarraum (jedenfalls das, was ich davon sehen konnte), penibel umgestaltet von einem Amtsinhaber der reformerischen Oxford-Bewegung. Ein dichtes, robustes Dach; es hätte ebenso gut ein auf dem Kopf stehender Schiffsboden sein können. Und soweit ich es erkennen konnte, schien es ein paar interessante Scheitelsteine zu geben. Aber natürlich war es der Geruch des Ortes, der sich zuerst einprägte – und dieser Geruch war der von feuchten Kniekissen.

Das Baugerüst war, so wie es mir brieflich zugesichert worden war, errichtet und füllte den Chorbogen aus. Sogar eine mit einem Seil befestigte Leiter stand bereit, und ich stieg augenblicklich hinauf. Man kann ja viel gegen den Reverend Keach sagen. Leider. Aber wenn er eines Tages vor den Richterstuhl Christi tritt, muss dies zu seiner Verteidigung vorgebracht werden: In geschäftlichen Dingen war bei Gott auf ihn Verlass. Und das ist bei Engländern eine rare Tugend. In Frankreich hätten wir ein paar Majore von seinem Schlag gut brauchen können. Er hatte gesagt, das Gerüst werde bereitstehen, und es stand bereit. Er hatte gesagt, wenn ich mit dem Zug um Viertel nach sieben ankäme, werde er mich um halb acht in der Kirche erwarten. Und das tat er.

Und so sah ich ihn zum ersten Mal – er schien mir der fleischgewordene Ausdruck seiner geschäftsmäßigen Briefe zu sein, wie er da schräg unter mir im Eingang stand und an den nassen Fußabdrücken ablas, dass ich bereits da war. Mit der Unnachgiebigkeit eines Spürhunds folgte er ihnen mit den Blicken bis zum Fuß der Leiter und an ihr empor.

»Guten Abend, Mr Birkin«, sagte er, und ich kletterte hinunter. Er war vier oder fünf Jahre älter als ich, so um die dreißig, ein großer, aber nicht gerade kräftiger Mann, wohlgeraten, mit hellen Augen und mit kaltem, verschlossenem Ausdruck, und selbst als er sich längst an das Zucken in meinem Gesicht hätte gewöhnt haben müssen, schien er, wenn er mit mir sprach, seine Worte an jemanden hinter meiner linken Schulter zu richten.

Er kam sogleich zur Sache. »Also, zu Ihrem Wunsch, in der Glockenturmkammer zu wohnen. Ich bin nicht gerade begeistert von dieser Idee. Gewiss habe ich in unserer Korrespondenz erwähnt, dass Mossop jeden Sonntag die Glocke läuten muss und dass das Seil durch ein Loch im Boden verläuft. Ich hatte gehofft, Sie würden sich eine andere Unterkunft suchen – ein möbliertes Privatzimmer vielleicht oder dass Sie sich im Shepherds’ Arms einquartierten.«

Ich murmelte etwas von unnötigen Ausgaben.

»Der Ofen«, sagte ich dann. »Was ist mit dem Ofen? Sie hatten mir meine diesbezügliche Frage noch nicht beantwortet. Kann ich ihn benutzen? Der Regen … so wie heute …« Mein Stottern verwirrte ihn einen Moment lang.

»Im Vertrag steht davon nichts«, sagte er ausweichend und schaffte es irgendwie, durchblicken zu lassen, dass das Gleiche auch für mein Gestotter und Gesichtszucken galt. »Anfangs war von dem Ofen nicht die Rede. Wir müssen an unsere Ausgaben denken, wissen Sie. Sie schrieben, Sie würden einen Spirituskocher mitbringen. In Ihrem ersten Brief. In diesem.« Er holte ihn aus seiner Jackentasche und drückte ihn mir in die Hand. »Auf der zweiten Seite, ungefähr in der Mitte.«

»Nun, ich will verhindern, dass ich etwas in Brand setze«, gab ich zurück und war ziemlich zufrieden mit mir; die Leute sind sich nicht im Klaren darüber, dass ein Stotterer mehr Zeit hat, auf unangenehme Angriffe zu reagieren, und so setzte ich noch eins drauf: »Und vergessen Sie die Versicherung nicht. Die nennen so etwas ›widernatürlichen Gebrauch eines Gebäudes‹. Brennspiritus und Paraffin … uraltes Holz … zundertrocken … todsichere Faktoren, die die Prämie ansteigen lassen. Ein Onkel von mir war Versicherungsvertreter …«

Die Formulierung »widernatürlicher Gebrauch« erzielte offenbar ihre Wirkung. »Widernatürlicher Gebrauch« klang für Londoner schon schlimm, aber wer weiß, was sie auf dem Land – insbesondere hier im Norden – darunter verstanden! Und bekanntlich bläht sich eine Sünde zur doppelten Größe auf, wenn sie gegenüber einem Kirchenmann geäußert wird.

»Na gut«, sagte er gereizt. »Von mir aus können Sie ihn benutzen, wenn Sie nicht ohne ihn auszukommen meinen.« Dann begann er, wie alle Menschen, die schnell nachgeben, ein paar Einschränkungen hinterherzuschicken, um das Gesicht zu wahren. »Aber sorgen Sie dafür, dass er an den Sonntagen in einem ordentlichen Zustand ist, und Sie denken doch natürlich immer daran, dass Sie sich an einem geweihten Ort befinden? Sie sind doch ein Kirchgänger?«

O ja, sagte ich, er könne sich auf mich verlassen. Ich bemerkte, dass er nach einer möglichen Zweideutigkeit in meiner Bemerkung fahndete, sich fragte, in Bezug auf was genau er sich auf mich verlassen könne. Seiner Miene nach in Bezug auf gar nichts. Ich sah nicht wie ein Kirchgänger aus. In der Tat sah ich eher wie eine zwielichtige Person aus, die Dinge widernatürlich gebraucht und die, entgegen seinem Rat, unnötigerweise angeheuert worden war, ein Wandgemälde freizulegen, das er gar nicht sehen wollte, und je früher ich mit meiner Arbeit fertig wäre und wieder im Sündenpfuhl London verschwinden würde, umso besser.

»Er ist sehr ungewöhnlich«, sagte ich.

»Wie bitte?«

»Dieser Ofen«, sagte ich. »Wirklich sehr ungewöhnlich.«

»Hoffnungslos veraltet«, erwiderte er. »Vor dem nächsten Winter werde ich ihn entfernen lassen. Ich habe eine neu patentierte Vorrichtung mit doppeltem Heizkessel in einem Katalog gesehen. Jeder Kessel ist in einen Wassermantel eingebettet, sodass ständig für zuverlässige Hitzezufuhr gesorgt ist. Und der Ofen ist garantiert geräuschlos.«

Mit einem Mal klang er wie ein anderer Mensch, während er sich so fachmännisch über diesen neuartigen Ofen ausließ, den Oxgodby vermutlich nie zu Gesicht bekommen würde.

»Dieser hier ist entweder zu heiß, nicht selten sogar glühend heiß, oder er hält nur sich selbst und niemanden sonst warm.« Verärgert gab er ihm einen kleinen Tritt. Er und der Ofen starrten einander finster an wie zwei Erzfeinde.

Gut möglich, dass er noch etwas sagte, aber ich hörte ihm schon nicht mehr zu, da ich mich darangemacht hatte, den Ofen mit großem Interesse zu untersuchen. Gewisse mechanische Dinge faszinieren mich. Bis zu diesem Tag waren es vor allem Uhren gewesen und alles, was von einem Uhrwerk betrieben wurde. Über die technischen Raffinessen eines Kohleofens hatte ich mir indes noch nie Gedanken gemacht. Es gab mehrere Griffe und Knöpfe, für die ich keinen Verwendungszweck erkennen konnte: Dieses Monstrum würde mir gewiss etliche vergnügliche Stunden bescheren, in denen ich seine Marotten kennenlernen würde, und ich hoffte, dem Pfarrer möge es nicht gelingen, es entfernen zu lassen, solange ich noch hier war. Ich streichelte besänftigend die Stelle, die der Pfarrer zuvor so schnöde gestoßen hatte. Wenn man dem Ofen gut zuredete, konnte man ihn unter der verständigen Mithilfe von Mossop (wer immer das war) womöglich dazu bringen, seine ganze zerstörerische Wirkkraft zu entfalten, um eine Predigt über die Flammen der Hölle perfekt zu machen.

Der Ofen besaß ein großes Wappenschild, umkränzt von schmiedeeisernen Rosen, dem zu entnehmen war, dass die Bankdam-Crowther-Gesellschaft in Green Lane, Walsall, ihn unter der Patent-Nr. 7564B gefertigt hatte. Wenn das nicht ein Stammbaum war, der Wunder versprach! Ja, es war mehr als nur ein Stammbaum – eine ganze Dynastie … Bankdam-Crowther, die Habsburger in der Welt der Öfen! Weiß der Himmel, was aus Bankdam geworden war, aber ich erinnerte mich, in der Daily Mail gelesen zu haben, dass sich Crowther die Kehle durchgeschnitten hatte, ehe er sich vom Pier in Bridlington stürzte, um auch wirklich auf Nummer sicher zu gehen. Aber das hatte natürlich absolut nichts mit seinen Öfen zu tun: Frauen und Pferde waren es gewesen, die er nicht verstanden hatte. Diese Geräte wurden also nicht mehr hergestellt. Ein entsetzlicher Verlust für all jene Regionen der Erde, die eines wärmenden Kohlefeuers bedurften. In der Tat hatte ich den letzten seiner Art in Ypern gesehen. Nach einer Granatexplosion war die Kirche, in der er sich befand, zusammengestürzt. Nicht jedoch der gute alte Bankdam-Crowther! Was für eine großartige Errungenschaft der britischen Handwerkskunst!

Der Regen trommelte aufs Dach. »Was haben Sie genau gegen ihn?«, fragte ich.

»Er rumpelt«, erwiderte der Pfarrer ungeduldig, »und stört die Gebete und Gesänge: Die hohlköpfigen Kinder scheinen das lustig zu finden. Und dann kommt es immer mal wieder zu einem Rückstoß, und wenn er … nun, eben zurückstößt, entlädt er – Rauch, Funken, Asche … ja, Asche, er sprüht Asche auf die Kirchengemeinde. Es gab schon mehrere Beschwerden. Während des Gesangs in der Abendandacht am 15. Januar dieses Jahres wurde sogar der Chor mit Asche eingestäubt. Und nicht nur ein paar Flocken! Eine ganze Aschewolke! Ich habe eigens einen Spezialisten aus York kommen lassen, um ihn sich anzuschauen. Er hat uns eine Guinee dafür berechnet und gesagt, der Ofen werde uns von nun an keine Probleme mehr bereiten. Aber kaum einen Monat später hat er es wieder getan. Erst in letzter Zeit scheint er ein bisschen zur Ruhe gekommen zu sein; ich weiß, ich kann mich auf Sie verlassen, dass Sie nichts tun werden, was an diesem Zustand etwas ändert.«

In Wahrheit dachte er, dass er sich keineswegs auf mich verlassen konnte. Ich sah durch und durch unzuverlässig aus; mein Mantel verriet mich. Mein Gesicht, die linke Hälfte, ebenfalls. Wie dieser Bankdam-Crowther neigte sie zu krampfartigen Zuckungen. Menschen wie Reverend Keach riefen es geradezu hervor. Es begann bei meiner linken Augenbraue und setzte sich bis zum Mund fort. Ich hatte es mir in Passchendaele eingehandelt und war damit nicht der Einzige. Die Ärzte meinten, es würde sich mit der Zeit wieder legen. Dass Vinny davongelaufen war, hatte es auch nicht gerade besser gemacht.

Ja, antwortete ich, er könne sich auf mich verlassen, und setzte eine, so hoffte ich, vertrauenswürdige Miene auf. Während meine eine Gesichtshälfte in eine andere, unzuverlässige Richtung zuckte, musste ich wohl einen erschreckenden Anblick abgegeben haben, denn er versetzte dem Ofen einen weiteren Stoß – diesmal aus Verlegenheit.

»Nun …«, sagte er, »da wäre noch eine etwas delikate Angelegenheit.« Sie musste anscheinend äußerst delikat sein, denn er senkte die Stimme. »Sollten Sie … wenn Sie ein gewisses Bedürfnis verspüren, können Sie die Hütte in der nordöstlichen Ecke des Friedhofs benutzen. Dort sind Sie ganz für sich – sie ist hinter ein paar Fliederbüschen verborgen. Als ich zuletzt dort nach dem Rechten gesehen habe, gab es nur ein paar von Mossops Werkzeugen, aber dort ist Platz genug. Wenn Sie so nett wären, einmal pro Woche ein bisschen Keating’s Insektenpulver und eine Schaufel Erde hineinzugeben – um die Fliegen in Schach zu halten, Sie wissen schon.«

Diese Information loszuwerden musste ihn eine große Anstrengung gekostet haben, und er legte eine Pause ein, um die Kraft für ein weiteres Geständnis zu sammeln.

»Die Sense«, sagte er.

»Die Sense?«

»Mossops Sense hängt dort an einem Nagel. Er ist rostig. Der Nagel.«

»Ah ja.«

»Vielleicht sollten Sie sicherstellen, dass sie fest dort hängt, bevor …«

Ich dankte ihm und fragte mich insgeheim, ob er sich um mein Leben sorgte oder nur um meine Männlichkeit.

»Ich habe Moon gesagt, er kann es ebenfalls benutzen. Um welche Epoche handelt es sich, würden Sie schätzen?«

Das Plumpsklo konnte er wohl nicht meinen, beschloss ich, also nahm ich an, er beziehe sich auf den Ofen, und sagte: »Oh, 1890 … 1900 herum … ungefähr in diesem Zeitraum«, und fragte mich, wer Moon, mein geheimer Mitbenutzer, wohl sein mochte.

»Nein, nein«, rief er irritiert aus. »Das Gemälde … das Wandbild …«

Ich erklärte ihm, dass ich das nicht sagen könne, bevor ich nicht wenigstens einen Teil freigelegt hätte. Anhand der Kleidung der Porträtierten würde ich es auf zehn bis zwanzig Jahre genau datieren können; die Mode ändere sich auch bei den Wohlhabenden nicht so schnell, und bei den Armen so gut wie gar nicht, und ich hoffte, dass ein, zwei reiche Damen abgebildet sein würden. Das Schlupfkleid, die Cotte, zum Beispiel sei um 1340 außer Mode gekommen, während gleichzeitig Haarnetze aufgekommen seien. Aber wenn er eine grobe Schätzung von mir haben wolle – und mehr als das sei nicht möglich –, dann würde ich auf das vierzehnte Jahrhundert tippen, die Zeit nach dem Schwarzen Tod, als sich die überlebenden Adeligen zu skandalös niedrigen Preisen die Güter ihrer verstorbenen Nachbarn angeeignet und, weil sie selbst auch um ihr Leben fürchteten, einen Teil des Profits geopfert hatten.

Seine Erwiderung war ziemlich belanglos, und vielleicht war das mit ein Grund, warum es mir schwerfiel, ihm zuzuhören. Aber auch seine Stimme wirkte sich irgendwie lähmend auf mein Denken aus, sodass ich einen Großteil dessen, was er sagte, gar nicht mitbekam (vielleicht brütete ich über den geheimnisvollen Moon und Mossops Damokles-Sense).

»Wann werden Sie beginnen?«

Das schnappte ich allerdings auf. Hier war ich – und ich hatte schon begonnen. Diese Antwort war wirklich einfach. Dann hörte ich ihn sagen: »Zusätzliche Kosten werden wir nicht übernehmen.«

»Es wird keine geben.«

»Es darf keine geben. Sie haben einem Honorar von fünfundzwanzig Guineen zugestimmt – zwölf Pfund, zehn Shilling ungefähr nach der Hälfte und dreizehn Pfund, fünfzehn Shilling nach Fertigstellung und Annahme durch die Testamentsvollstrecker. Hier habe ich Ihren diesbezüglichen Brief.«

»Warum nur durch die Testamentsvollstrecker?«, fragte ich. »Warum nicht auch durch Sie?« Ein raffinierter Zug von mir, wie ich fand.

»Ein Versäumnis von Miss Hebron in ihrem Vermächtnis«, log er, und seine Stimme klang verbittert. »Ein Versehen, natürlich.«

Gewiss, dachte ich. Natürlich!

Aber er holte zum Gegenschlag aus. »Wie auch immer, in allen praktischen Angelegenheiten vertrete ich die Testamentsvollstrecker. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie es ausbessern … verblichene Stellen … oder gar verschwundene Teile … ergänzen Sie sie ruhig. Solange es angemessen ist und mit dem Rest harmoniert. Aber ich überlasse das Ihnen«, fügte er skeptisch hinzu.

Unglaublich!, dachte ich. Warum bloß waren so viele Pfarrer so? Musste man ihr mangelndes Feingefühl damit entschuldigen, dass sie ganz und gar von Gott in Anspruch genommen waren? Und was war mit ihren Ehefrauen? Ob sie zu Hause, ihnen gegenüber, genau so waren?

»Aber natürlich kann man sich nicht sicher sein, dass überhaupt etwas da ist«, sagte ich und versuchte, einen vertraulichen Ton anzuschlagen.

»Natürlich ist da etwas. Wenngleich ich gegenüber Miss Hebron gewisse Vorbehalte hege (über die ich nicht sprechen möchte), aber dumm war sie bestimmt nicht. Sie ist eine Leiter hochgestiegen und hat einen Flecken freigekratzt, bis sie fündig wurde.«

Du lieber Himmel, wie furchtbar! »Wie groß war der Fleck?«, fragte ich stöhnend und ein wenig hysterisch, während ich entsetzt auf die finstere Wand über dem Chorbogen starrte (und meine linke Wange wie verrückt zuckte).

»Einen Kopf hat sie freigelegt, glaube ich«, sagte er. »Aber bestimmt nicht mehr als zwei.«

Einen Kopf! Vielleicht auch zwei! Wahrscheinlich ein halbes Dutzend Köpfe! Bestimmt hatte sie Schmirgelpapier und eine Drahtbürste benutzt. Ich verspürte den Impuls, die Leiter hochzustürmen und meinen eigenen Kopf gegen die Wand zu schlagen.

»Dann hat sie die Stelle wieder übertüncht«, fuhr er fort, ziemlich unbeeindruckt angesichts meiner Verzweiflung. »Und damit Sie es wissen: Dieser Auftrag, mit dem man Sie betraut hat, genießt keineswegs meine Zustimmung. Aber das haben Sie zweifelsohne längst erraten – sofern Sie in meinen Briefen zwischen den Zeilen gelesen haben. Die Sache wäre nie so weit gediehen, hätten die Testamentsvollstrecker nicht eine so unvernünftige Haltung eingenommen, als ich sie um ihre Zustimmung bat, die fünfundzwanzig Guineen einem anderen Zweck zuzuführen, und sich nicht so stur geweigert, Miss Hebrons Vermächtnis über tausend Pfund für unsere Kirchenstiftung auszuzahlen, bevor sämtliche Bedingungen ihres Letzten Willens erfüllt sind.«

Wieder spähte ich forschend in die Dunkelheit über mir. Wie hatte sie wissen können, dass es da war? Aber was, wenn bis auf die Köpfe nichts mehr übrig war? Wenn jedoch Keach, ganz offensichtlich ein notorischer Zweifler, glaubte, dass da etwas war, dann musste es auch so sein. Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass er vielleicht ebenfalls versuchsweise herumgekratzt hatte.

»Die Menschen werden es ungehindert betrachten können«, sagte er in anklagendem Ton.

»Es?«, fragte ich. »Es?«

»Was immer es ist«, erwiderte er barsch und ließ den Blick die Leiter hinaufgleiten. »Es wird sie von ihrer Andacht ablenken.«

»Nur für kurze Zeit«, sagte ich. »Die Menschen werden der Farben und Formen schnell überdrüssig, die sich an der immer gleichen Stelle befinden. Außerdem glauben sie, sie hätten noch alle Zeit der Welt, was natürlich nicht stimmt, und dass sie eines Tages unter der Woche wiederkommen werden, um sich das Kunstwerk in Ruhe anzusehen.« Ich hätte »wir« sagen sollen – ich bin genauso.

Ich glaube fast, er überlegte tatsächlich, ob meine Argumentation Hand und Fuß hatte, ehe er sie für sich abtat. Dann ging er. Er hatte mir nicht gesagt, wer Moon war. Vielleicht würden wir uns ja hinter den Fliederbüschen begegnen.

ERNEUTSTIEGICHDIE LEITER hinauf und hüpfte ganz vorsichtig ein paar Mal auf der Gerüstplattform auf und ab; sie machte einen lobenswert robusten Eindruck. Dann kontemplierte ich angesichts der ausgedehnten Wand vor mir. Ja, »kontemplierte« – ein passenderes Wort gibt es nicht: Es war ein feierlicher Moment. Sie erstreckte sich (das heißt die Wand) oben bis zu den Dachbalken und seitlich und abwärts bis zum Rand des Chorbogens. Wie ein Blinder fuhr ich mit beiden Handflächen über die Oberfläche, bis ich die Stellen fand, die übertüncht worden waren. Wir sind von Natur aus hoffnungsvolle Geschöpfe, stets bereit, von Neuem betrogen zu werden, voll banger Erwartung, welches Wunder sich möglicherweise in einem braunen, auch noch so schmuddeligen Packpapierpaket verbirgt.

Aber ich wusste, dass es da war. Und ich wusste, es war das Jüngste Gericht. Es musste das Jüngste Gericht sein, weil es sich immer an exponierter Stelle befand, dort, wo die Gemeindemitglieder nicht umhinkamen, die gottgewollten entsetzlichen Dinge anzuschauen, die ihnen widerfahren würden, wenn sie ihren Kirchenzehnten nicht herausrückten oder das Mädchen nicht heirateten, das sie geschwängert hatten. Dort würden der Erzengel Michael sein, der Gut und Böse gegeneinander abwägt, Christus in seiner Herrlichkeit als Richter und, ganz unten, das ewiglich brennende Feuer – eine wahrhaft grandiose, prachtvolle Darstellung einer biblischen Massenszene. Vielleicht wäre ich besser gefahren, hätte ich eine Pro-Kopf-Entlohnung ausgehandelt.

Ich war so aufgeregt, dass nur die Dunkelheit mich davon abhielt, augenblicklich loszulegen. Was für ein Glück! Mein erster Auftrag … nun, mein erster eigenständiger Auftrag. Ich sollte ihn besser nicht vermasseln, dachte ich, die Bezahlung ist zwar miserabel, aber ich werde schon irgendwie über die Runden kommen und dann etwas haben, was ich zukünftigen Kunden vorweisen kann. Und ich wollte, dass es etwas Gutes wäre, etwas Famoses, wirklich Erstaunliches. Wie Stoke Orchard oder Chalgrove. Etwas, was die Times zu einer Erwähnung veranlassen würde und die Illustrated London News gar zu einem detaillierten Bericht (mit Abbildungen).

Ich stieg wieder vom Gerüst herab und die Glockenturmleiter hinauf, doch bevor ich meine Öllampe löschte, begab ich mich ans Fenster und blickte durch die Dunkelheit zu den verstreuten Lichtern des Dorfs, die im Regen glitzerten. Gut, dachte ich, das hier ist für die nächsten paar Wochen mein Zuhause; und ich kenne keine Menschenseele, und niemand kennt mich. Ich hätte ebenso gut ein Marsmensch sein können. Nein. Das stimmte schon nicht mehr. Ich kannte Reverend Keach, wusste wahrscheinlich alles von ihm, was ich je von ihm zu wissen brauchte. Und den Stationsvorsteher; hatte er mich nicht sogar zum Tee eingeladen? Im Grunde wartete alles, was in Oxgodby Rang und Namen hatte, samt den Gebrüdern Mossop und Moon, auf seine Chance, mich kennenzulernen. Ich war bereits zu Jemandem geworden – binnen weniger Stunden. Fabelhaft!

INDIESER NACHTSCHLIEFICH zum ersten Mal seit vielen Monaten wie ein Toter und erwachte früh am nächsten Morgen. In der Tat schlief ich auch in all meinen folgenden Oxgodby-Nächten kaum länger als bis zur Morgendämmerung. Die Arbeit war ermüdend – ich war fast den ganzen Tag auf den Beinen, aß oftmals sogar im Stehen –, und nachts gab es dort oben auf meinem Dachboden hoch über den Wiesen und Feldern und fern der Straße, zu weit entfernt, als dass Stimmen zu hören gewesen wären, nichts, was mich störte. Wenn ich manchmal für einen Moment erwachte, hörte ich eine Füchsin am Rand eines entfernten Waldes heulen oder den Schrei einer kleinen Kreatur, die in der Dunkelheit von einer größeren erhascht wurde. Abgesehen davon nur die typischen Geräusche eines alten Gebäudes, ein Erzittern des Seils, das vom Glockenstuhl herab und durch ein Loch im Boden nach unten verlief, ein Knarren im Dachgebälk, Stein, der sich selbst nach fünfhundert Jahren noch immer setzte …

Während meiner Wochen dort oben hatte ich nur zwei schlechte Nächte. Einmal, als ich träumte, dass der Turm zusammenstürzte, und ein andermal, dass ich im Maschinengewehrfeuer voranrobbte, weit und breit keine Kuhle, in die ich mich retten konnte, sodass ich immer weiter durch den Morast kriechen musste, der sicheren Verstümmelung, dem Tod entgegen. Meine Schreie stimmten in die der nächtlichen Kreaturen ein. Nun, es gab eine dritte schlaflose Nacht, aber die ereignete sich sehr viel später und aus einem ganz anderen Grund.

An meinem ersten Morgen rollte ich meine Decke zusammen und begab mich, darauf bedacht, nicht das Glockenseil zu berühren, ans Südfenster, um meinen Mantel abzunehmen, den ich davorgehängt hatte, damit kein Regen hereindrang. Es war ein einfaches zweiteiliges Fenster, natürlich unverglast, mit einem schlichten Mittelpfosten, der stark genug war, dass ich mich dagegenlehnen konnte. Der Regen hatte aufgehört, und Tau glitzerte auf dem Friedhofsgras, Spinnweben schwebten in der sanften Brise, ein Amselpaar pickte nach Insekten, eine Drossel sang, und ich konnte sie im Geäst einer der Eschen ausmachen. Und dahinter lag die Wiese (mit einem in der Nähe eines Bachs aufgeschlagenen Rundzelt), die ich auf meinem Weg vom Bahnhof überquert hatte, und weitere Weiden und Felder erstreckten sich bis zu einer dunklen Bergkette in der Ferne. Und während es hell wurde, entfaltete sich vor mir eine weite, grandiose Landschaft. Ich wandte mich ab; es war ungemein befriedigend.

Dann packte ich meinen Proviant aus – Tee, Margarine, Kakao, Reis, einen Laib Brot – und dachte, dass ich mir irgendwo ein paar verschließbare Dosen borgen sollte, um die Sachen luftdicht aufzubewahren. Ich half meinem Ofen mit etwas Brennspiritus auf die Sprünge, briet dann ein paar Speckscheiben und machte mir ein dickes Sandwich. Es war angenehm, auf den Brettern zu sitzen, den Rücken an die Wand gelehnt, denn auch in dieser Position konnte ich durch das Fenster die Berge sehen, die sich wie der Rücken eines großen Meereswesens erhoben und deren bewaldete Flanken dunkel zum Tal hin abfielen.

Und dann, so wahr mir Gott helfe, überkam mich in diesen ersten Minuten meines ersten Morgens in Oxgodby das Gefühl, dass dieser nördliche Landstrich mir gar nicht feindlich, sondern wohlgesinnt sei, dass mein Leben eine entscheidende Wende genommen habe und dass mir dieser Sommer des Jahres 1920, der tatsächlich so strahlend bleiben sollte, bis die ersten Blätter fielen, eine glückliche, gesegnete Zeit bringen würde.

Ich sagte mir, es sei mir gleich, wie lange mich diese Arbeit in Anspruch nehmen würde – den restlichen Juli, August, September, ja, von mir aus auch den ganzen Oktober hindurch. Ich würde glücklich sein, bescheiden leben und meine Ausgaben auf das Nötigste beschränken – Paraffin, Brot, Gemüse und hin und wieder ein bisschen Corned Beef. Normalerweise wäre ich mit zwei Krügen Milch pro Woche ausgekommen, aber bei diesem Wetter würde sie sich nicht lange halten und ich würde drei davon benötigen; Haferbrei ist sehr nahrhaft und muss nur aufgewärmt werden, und schon hat man eine zweite Mahlzeit. Also rechnete ich mir aus, ich würde in Anbetracht der Tatsache, dass ich keine Miete zahlen musste, bequem mit fünfzehn Shilling pro Woche auskommen, vielleicht sogar mit nur zehn oder zwölf. In der Tat würden sich die fünfundzwanzig Pfund, auf die ich mich mit meinen Auftraggebern geeinigt hatte, vielleicht so lange strecken lassen, bis mich das kalte Wetter in mein Winterquartier nach London zurückscheuchen würde.

Das Wunderbare war indes, dass ich in dieser Oase des Friedens gelandet war und mir einen Sommer lang über nichts anderes den Kopf zerbrechen müsste, als dieses Wandgemälde freizulegen. Und wer weiß, vielleicht könnte ich anschließend einen Neuanfang machen und vergessen, was der Krieg und die Streitereien mit Vinny bei mir angerichtet hatten, und ein neues Kapitel in meinem Leben aufschlagen. Das war es, was ich brauchte, dachte ich – einen Neuanfang, und hinterher würde ich vielleicht kein allzu Versehrter mehr sein.

Nun, die Hoffnung hält uns aufrecht.

Es gab ein zweites Fenster in der Turmkammer; ich hatte es bereits am vorigen Abend bemerkt. Davor hing eine Art Sackleinen, daher hatte ich angenommen, dass sich dahinter eine Öffnung verbarg. Jetzt zog ich es weg.

In all den Jahren musste ich in Dutzenden, wenn nicht gar Hunderten Kirchen herumgestöbert haben, aber wissen Sie, noch nie hatte sich mir ein so unglaublicher Anblick geboten wie in dem Moment, als ich dieses Stück Sackleinen zur Seite zog. Vor mir, direkt vor meiner Nase, befand sich eine Säule, ein Baluster, ein wuchtiger angelsächsischer Baluster. Ich lachte. Obgleich ich noch nie einen echten zu Gesicht bekommen hatte, erkannte ich sofort eines jener Exemplare, die im guten alten Banister-Fletcher abgebildet waren, unsere Bibel damals in Miss Witherpens Unterricht über Englische Architektur. »Zeichnet einen Baluster«, hatte sie uns immer wieder gemahnt. »Haltet euch nicht mit hübschen korinthischen Säulen auf, sondern zeichnet einen englischen Baluster.« (Ich kann es noch heute.)

Und nun hatte ich einen vor mir – einen massigen Steinkorpus mit doppelten Rillen oben und unten. »Los, zeichnet einen Baluster!« Wäre ich Joseph Conrad gewesen, hätte ich zu einer Rede über das verlorene Land der Jugend angesetzt. Mein erster wirklicher Baluster! Und für die nächsten Wochen würde er faktisch mir gehören: Es war mein Baluster. Ich strich mehrmals zärtlich über seinen Bauch – einmal für Banister, einmal für Fletcher und einmal für alle Handwerker dieser Welt, jene, die längst tot waren, und jene wie mich, die noch lebten.

Ich blickte ins Kirchenschiff hinab. Noch war es nicht hell genug, vor allem auf der Gerüstplattform unter dem Holzdach war es noch viel zu dunkel, um ans Werk zu gehen. Also stieg ich wieder hinab, um mich ausgiebig im Gebäude umzusehen. Im Großen und Ganzen war es mit seinen niedrigen Arkaden und den beiden breiten Seitenschiffen ein hübscher Bau, im Detail jedoch (mit Ausnahme meines Balusters natürlich) nicht besonders aufregend. An einer Wand gab es allerdings ein weiteres bemerkenswertes Kunstwerk – ein barockes Basrelief, das eine gut gebaute junge Dame zeigte, Laetitia Hebron, die züchtig ihr Leichentuch zusammenhielt, um ihre irdischen Reize zu verbergen, während sie aus ihrem Sarkophag kletterte. Das Ganze war 1799 von einem gewissen A. H. recht hübsch in Stein gemeißelt worden – dazu ein paar wohlgewählte Zeilen von ihrem jungen Gatten. Nun, jedenfalls hoffte ich, sie waren von ihm und er hatte sie nicht aus irgendeinem Vorlagenkatalog für Inschriften. Sie waren natürlich auf Latein, aber ihr Sinn erschloss sich mir dennoch.

Conjugam optima amantissimam et delectissimam

Meiner über alles geliebten, entzückendsten Gattin

Und in diesem Stil ging es weiter in den elf folgenden Versen, in denen er ihre unvergleichlichen Vorzüge aufzählte, ehe er ihr im zwölften und letzten Vers in einem einzigen Wort Lebewohl sagte – Vale.

Ich besah mir Laetitia eingehender, nachdem ihr ein so gutes Zeugnis ausgestellt worden war. Ihr eng um den Körper geschlungenes Leichentuch hob ihre Vorzüge hervor. Und sie hatte ein freundliches Gesicht, die Lippen zu einem schelmischen Lächeln verzogen, »Conjugam optima amantissimam et delectissimam …« Nun, er hatte recht. Er hatte mehr Glück gehabt als ich.

Schließlich schaffte ich meinen Werkzeugkasten die Gerüstleiter hinauf und breitete meine Utensilien griffbereit aus – ein Skalpell (um die Kalktünche zu entfernen), ein Glas mit alkoholischer Salzsäurelösung, verschiedene Bürsten, Trockenfarben, ein Glas destilliertes Wasser zur Verdünnung von Ammoniak … Das meiste davon hatte Joe Watterson an mich weitergegeben, als er verkündete, seinen letzten Auftrag erledigt zu haben, und mir viel Glück wünschte.

»Es ist ein Handwerk, mein Junge«, hatte er gesagt. »Und zwar ein verdammt gefährliches und miserabel bezahltes, aber wenn ein Handwerk etwas ist, das nicht allzu viele Männer beherrschen, dann ist das, was wir machen, wirklich eins.« Und er lachte dabei mokant in seinen Bart hinein. »Deswegen sind wir ja auch so gut wie ausgestorben; es gibt nur noch euch zwei, und George Peckovers Augenlicht ist mittlerweile so schlecht, dass er über kurz oder lang von der Leiter fallen wird. Dann wirst du konkurrenzlos diesen Hungerleiderberuf ausüben können.«

Ich bewegte mich vorsichtig auf meinem neuen Terrain. Direkt über meinem Kopf verlief der Kiel des Dachs, der in der Turmmauer mündete; die Knotenpunkte waren mit drei außergewöhnlichen Scheitelsteinen geschmückt, deren ursprüngliche Farbe sich dank der in der Abgeschiedenheit hoher Dächer nistenden Düsternis erhalten hatte. Diese drei Ornamente bildeten eine prachtvolle mittelalterliche Galerie – das mir am nächsten stellte das beinahe spanisch anmutende Haupt des leidenden Christus dar, verfangen im Laub eines römischen Galgenbaums; das danach zeigte einen schwarzen Teufel, der grinsend den Kopf zwischen ein Liebespaar schiebt, das in flagranti im falschen Bett erwischt wurde; und das dritte schließlich bildete eine dralle Frau mit einem blauen Lilien-Wappenschild ab. Es bewies, was jeder weiß, der gern in alten Kirchen herumkriecht: Auch in den noch so unscheinbaren gibt es immer wieder etwas höchst Interessantes zu entdecken.

Mit einem Mal ging knarrend die Tür auf, und ein mittelgroßer, stämmiger Kerl spähte zu mir herauf, sah mich abschätzend an, als wollte er mit einem Blick so viel wie möglich erfassen. Er hatte ein selbstsicher wirkendes rundes Gesicht und blaue, wissende Augen. »Guten Morgen«, sagte er. (Seine hohe Stimme war von außergewöhnlicher Klarheit.) »Guten Morgen! Ich bin Charles Moon«, und er zog einen eingedrückten Tweedhut von seinem zerzausten blonden Haar. »Ich bin sozusagen Ihr Nachbar und grabe nicht weit von hier. In der Wiese. Vielleicht haben Sie schon mein Zelt gesehen? Ich wollte Sie eigentlich erst einmal in Ruhe lassen, musste aber einfach herkommen und Sie mir anschauen. Nun, auch deswegen bin ich hier, aber vor allem, weil mir in der Früh meine steifen Beine keine Ruhe lassen und ich es mir zur Gewohnheit gemacht habe, in die Kirche hinüberzustapfen und nachzusehen, ob es Laetitia in der vergangenen Nacht gelungen ist, herauszuklettern.« Er machte eine vage Handbewegung zum südlichen Seitenschiff.

»Warten Sie, ich komme hinunter.« Gesagt, getan. Er war sieben- oder achtundzwanzig, ein stämmiger, untersetzter Mann, der wie am Boden angewachsen dastand. Und sein »Hilf mir, o Gott, mir reicht das Wasser schon bis an die Kehle«-Ausdruck verriet mir, dass wir viel gemeinsam hatten, noch bevor ich die drei Löcher in den Schultern seiner Uniformjacke entdeckte, wo sich seine Hauptmanns-Abzeichen befunden hatten.

Ich mochte ihn von Anfang an: Er war sich selbst genug. Und er mochte mich (was bekanntlich immer hilft). O Gott, wie viele Jahre das alles her ist, längst vergangen und vorbei. Die aufgeregte Vorfreude und der Stolz auf diesen ersten Auftrag, Oxgodby, Kathy Ellerbeck, Alice Keach, Moon, dieser herrliche Sommer – vorbei, als wären sie nie gewesen.

Gemeinsam gingen wir in den Sonnenschein hinaus und lehnten uns über die Mauer. Ich fragte ihn, ob er lange zu bleiben gedenke, und er deutete auf sein Zelt. »Bis der Frost mich vertreibt. Ich hoffe, hier genügend sparen zu können, um im kommenden Winter zur Ausgrabungsstätte nach Ur in Mesopotamien reisen zu können. Der Archäologe Woolley ist dabei, die Zikkurat, Sie wissen schon, diesen Tempelturm, freizulegen: Wenn ich auftauche, stellt er mich bestimmt ein.«

Später sollte ich herausfinden, dass das typisch für Moon war – sein fester, treuherziger Glaube, dass alles gut werden würde. »Woolley stellt mich bestimmt ein!« Klar würde er das. Und wenn man Moon so reden hörte, hatte man unwillkürlich diese fantastische Vision, wie er an der Abzweigung nach Ur aus dem einmal täglich verkehrenden Zug von Basra nach Bagdad ausstieg – drei Hütten und kein Bahnsteig –, sich zu Fuß über Steine und Sand weiter durchschlug und rief: »Hier bin ich. Wir sind uns noch nie begegnet, Sie kennen mich also nicht. Mein Name ist Charles Moon. Welche Arbeit haben Sie für mich?«

Ich fragte ihn, wonach er denn grabe. Er lachte. »Nun, offiziell nach dem Grab von Miss Hebrons Vorfahren, eines gewissen Piers Hebron, gestorben 1373. Miss Hebron hat einen Hinweis auf seine Exkommunikation entdeckt und beschlossen, er müsse außerhalb des Friedhofs beerdigt worden sein. Ich solle ihn finden oder jedenfalls nach ihm suchen. Sie hat fünfzig Pfund bereitgestellt, um ihn einfrieden zu lassen.« Moon spulte die Details herunter, als interessierten sie ihn nicht.

»Keine Knochen, keine Kohle?«

»Du lieber Himmel, nein. Ich bin kein Knochenjäger. Der Vertrag besagt, dass ich ›über einen angemessenen Zeitraum hinweg einen angemessenen Aufwand‹ betreiben muss. Und die Testamentsvollstrecker meinten, dass sie mit drei oder vier Wochen zufrieden wären und ich mir keine grauen Haare wachsen lassen solle, wenn nichts zum Vorschein komme.«

»Und rechnen Sie tatsächlich damit, sie … ihn zu finden? Ich meine, er kann überall liegen. Und haben Familien wie die Hebrons den Dorfpfarrer nicht nach ihrer Pfeife tanzen lassen? Wahrscheinlich ist er in bester Lage direkt unter dem Altar bestattet.«

Moon schmunzelte. Viel später sollte ich mich daran als ein Lächeln der altmodischen Art erinnern (wie man es in dieser Gegend nannte). »Nun«, sagte er, »vielleicht haben Sie recht«, und machte eine vage Handbewegung, die nicht nur die Wiese, sondern das ganze Pfarreigelände einschloss. »Genau das habe ich dem alten Knaben auch gesagt. Der alte Knabe? Nun, Miss Hebrons Bruder, der Colonel … nein, nein, im Burenkrieg. Und er hat verstanden, worauf ich hinauswollte. ›Verdammt, Sie haben recht, Moon. Genau das Gleiche habe ich Addie auch gesagt. Das ist doch Unsinn, Addie, habe ich gesagt. Sie könnten überall sein. Vielleicht sind es diese Knochen, die Mossop beim Gurkenspalier ausgegraben hat. Würde auch keinen Unterschied machen. Aber sie kam immer wieder mit dieser alten Geschichte daher – Ich würde meinen, ich kann mein Geld ausgeben, wie es mir beliebt, Ted. Ich hinterlasse dir ohnehin mehr, als du je brauchen wirst. Dieses starrköpfige, törichte Weibsbild!‹«

Moon kicherte in sich hinein. »Es ist ein Jammer, dass ich sie nicht mehr kennengelernt habe«, sagte er und tastete in der Jacke nach seiner Brieftasche. »Schauen Sie, hier ist ein Schnappschuss von unserer Wohltäterin: Mossop hat es mir geliehen. Das Foto ist leider ein bisschen verblichen.«

Mit allergrößtem Interesse besah ich mir Miss Adelaide Hebron; meine erste Arbeitgeberin! Sie war eine Frau mit länglichem Kopf, das blonde Haar streng zurückgekämmt, ein Mundwinkel – die Andeutung eines zynischen Lächelns – leicht nach oben gezogen, helle Augen, zierliche Nase. Gegen dieses Generalfeldmarschallsgesicht hatte ein Colonel, noch dazu einer aus dem Burenkrieg, sicher nicht die geringste Chance gehabt.

»Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass ich es mit ihr gut getroffen habe«, sagte Moon. »Ich glaube, sie würde verstehen, warum es mir schnuppe ist, ob ich den armen Teufel ausgrabe oder nicht. Schade, dass sie die Geldsumme erst für die Zeit nach ihrem Tod ausgelobt hat: Ich hätte ihre tägliche Inspektion vermutlich sehr genossen.«

»Nun, wenn Sie es so sehen – ich meine, wenn Sie sich nichts aus dieser Arbeit machen –, warum sind Sie dann hergekommen?« Ich musste es fragen: Für mich grenzte es fast an Betrug.

»Weil ich gleich gesehen habe, was hier ist«, erwiderte er, als erstaunte es ihn, dass ich es nicht auch gesehen hatte. »Nun, vielleicht stimmt das nicht ganz. Ich sollte wohl besser sagen, ich habe erkannt, was hier möglicherweise ist. Deswegen ließ ich mich erst auf den Handel ein, nachdem mich ein Kumpel von den Royal Flying Corps in seiner alten Springbag hergeflogen hat. Alles selbstverständlich inoffiziell. Wir kamen spätabends hier an. Die ideale Tageszeit, um zu sehen, was sich anno dazumal zugetragen hat …

Und ich hatte recht; ich erkannte ziemlich deutlich – eine Basilika. Wenn die Sachsen so etwas gehabt hätten, hätte man es »Kapelle« genannt. Vermutlich war sie zwischen 600 und 650 erbaut. Sehr, sehr früh, kann nicht lange nach den ersten großen Christianisierungsversuchen gewesen sein, weil sie mitten in einem früheren Friedhof steht. Natürlich nicht vergleichbar mit dem hier – tönerne Urnen, Hunderte davon; die Wiese ist ein einziges Scherbenfeld. Aber man braucht nicht zu hoffen, dass es zufällig jemand bemerkt.

Eigentlich sollte ich den offiziellen Stellen einen Hinweis geben. Und natürlich werde ich das auch tun. Aber nicht bevor ich die Fundamente des Gebäudes kartiert und Antworten auf zwei, drei Dinge gefunden habe, die mir Kopfzerbrechen bereiten. Die Einheimischen glauben noch immer, ich suche nach Knochen, und sie halten alle Steine, die sie finden, für die Überreste eines alten Kuhstalls. Ich erzähle es nur Ihnen, weil Sie es so oder so spitzgekriegt hätten, wo Sie sozusagen über mir wohnen.«

Nun, ich für meinen Teil hätte sicher nicht die Dreistigkeit besessen, mich für eine Arbeit bezahlen zu lassen, aber etwas ganz anderes zu tun!

»Ich habe keine Gewissensbisse deswegen«, fuhr er fort, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Nicht die geringsten. Es ist noch zu früh, um mich nach Ur aufzumachen. Ich habe keine Familie, nur eine Schwester, mit deren Mann ich nicht gut auskomme. Nun, das stimmt nicht ganz; wir vertragen uns, aber er ist nicht mein Fall und umgekehrt genauso. Doch das ist nicht von Belang. Ich habe das Gefühl, Addies Geld einem guten Zweck zuzuführen. Wie auch immer, ich traue es ihr glatt zu, sie hat geahnt, dass das hier keine normale Wiese ist. Im Übrigen werde ich, wenn ich meine Erkundung abgeschlossen habe, noch immer Zeit haben, nach den alten Knochen herumzustochern. Allein um zu sehen, wie das Grab ausgesehen hat …«

In der Rückschau sollte mir klar werden, dass er, als wir uns dort unterhielten, längst wusste, wo genau er das Grab finden würde.

»Warum stehen wir eigentlich hier herum?«, sagte er. »Gehen wir doch zu mir, und ich brüh uns eine schöne Kanne Tee auf.«

Ich sagte, ich hätte bereits gefrühstückt.