Ein Nest voller Träume - Glendy Vanderah - E-Book
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Ein Nest voller Träume E-Book

Glendy Vanderah

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Beschreibung

»Eine herzerwärmende, magische Geschichte über Liebe, Verlust und das Finden einer Familie dort, wo man es am wenigsten erwartet.« Christopher Meades Eine Geschichte dreier Menschen, die auf außergewöhnliche Weise zueinander finden Was soll sie jetzt tun? Joanna ist sich nicht sicher. Schmutzig, barfuß, in Pyjamahosen und völlig zerzaust steht das kleine Mädchen da gegenüber von Joannas Haus am Rande des Waldes. Sie sagt, dass sie seit gestern nichts getrunken und gegessen hat. Was soll Joanna jetzt tun? Sie muss die Polizei alarmieren, doch das Mädchen sagt, dass sie dann wegrennen wird. Ursa will nicht mehr von Joannas Seite weichen. Was ist dem Mädchen nur passiert? Wieso hat sie solche Angst? Erst einmal muss Joanna sie versorgen und dann eine Lösung finden.  Um herauszufinden woher das Mädchen kommt, bittet Joanna ihren Nachbarn Gabe Nash um Hilfe. Nach und nach entsteht eine enge Bindung zwischen dreien, die zeigt, wie man nach einer schweren Zeit wieder Vertrauen fasst und Liebe findet. In Glendy Vanderahs herausragenden Roman wird die Geschichte einer starken, selbstbewussten Frau, eines mysteriösen, hochbegabten Mädchens und eines zurückgezogenen Mannes erzählt, die auf ganz besondere Weise zu einer Familie finden.

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Seitenzahl: 453

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Glendy Vanderah

Ein Nest voller Träume

Roman

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Fischer

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Da steht sie. Ein kleines Mädchen, barfuß, schmutzig und mit blauen Flecken versehen, steht am Rande des Waldes gegenüber von Joannas angemieteten Haus. Eigentlich will Joanna Teale beweisen, dass sie in der Lage ist ihre Doktorarbeit fertigzustellen. Dafür stürzt sich die Ornithologin in ihre Forschungsarbeit. Doch jetzt ist das kleine Mädchen da, und alles ändert sich in Jos routiniertem Leben. Wer ist die Kleine? Ist sie weggelaufen oder auf der Flucht? Was tun, wen kontaktieren? Instinktiv sorgt sich Jo über die häusliche Situation des Mädchens und nimmt sie zunächst bei sich auf. Um das Rätsel von Ursas Herkunft zu lösen, sucht sie Hilfe bei ihrem zurückgezogen lebenden Nachbarn Gabriel Nash. Je mehr Zeit die beiden mit dem Mädchen verbringen, desto mehr Fragen stellen sie sich. Über mehrere Wochen hinweg werden die drei füreinander eine Ersatzfamilie. Doch noch bevor der Sommer zu Ende geht, werden sie von Ursas gefährlicher Vergangenheit eingeholt.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Glendy Vanderah ist Ornithologin. Obwohl sie in Chicago aufwuchs, interessierte sie sich immer schon mehr für die Tierwelt und die Natur als für das Leben in der Großstadt. Sie studierte an der University of Illinois und arbeitete als Feldbiologin für den Schutz von bedrohten Vogelarten. Heute lebt sie mit ihrem Ehepartner und ihren drei Kindern in Florida und hat sich ganz dem Schreiben gewidmet. Vanderahs Bestseller-Roman »Ein Nest voller Träume« wurde in 33 Sprachen übersetzt und fand weltweit begeisterte Leser*innenstimmen.

 

Andrea Fischer hat Literaturübersetzen studiert und überträgt seit über zwanzig Jahren Bücher aus dem britischen und amerikanischen Englisch ins Deutsche, unter anderem die von Lori Nelson Spielman, Michael Chabon und Mary Kay Andrews. Sie lebt und arbeitet im nördlichen Münsterland.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Für Cailley, William und Grant.

Und für Scott.

1

Das Mädchen hätte ein Feenkind sein können. Es hob sich kaum von der Umgebung ab; das blasse Gesicht, der Kapuzenpullover und die Hose verschwammen mit dem Wald im Dämmerlicht. Die Kleine war barfuß. Reglos stand sie da, einen Arm um den Stamm eines Hickorybaums geschlungen, und rührte sich auch nicht von der Stelle, als das Auto am Ende der Kiesauffahrt wenige Meter von ihr entfernt knirschend zum Stehen kam.

Jo stellte den Motor aus und drehte dem Mädchen den Rücken zu, um Fernglas, Rucksack und Datenblätter vom Beifahrersitz zu nehmen. Wenn sie nicht hinsah, würde das Kind vielleicht wieder in sein Feenreich verschwinden.

Doch als Jo ausstieg, war es immer noch da. »Ich kann dich sehen«, rief Jo zum Schatten neben dem Hickorybaum hinüber.

»Ich weiß«, rief das Mädchen zurück.

Aus den Sohlen von Jos Wanderstiefeln fielen trockene Erdbrocken auf den betonierten Weg. »Kann ich dir irgendwie helfen?«

Das Mädchen antwortete nicht.

»Was machst du auf meinem Grundstück?«

»Ich wollte deinen Hund streicheln, aber er will nicht.«

»Das ist nicht mein Hund.«

»Wem gehört er denn?«

»Niemandem.« Jo öffnete die Tür zu der mit Insektengitter verkleideten Veranda. »Geh besser nach Hause, so lange es noch nicht ganz dunkel ist.« Sie knipste die Insektenlampe an und schloss die Haustür auf. Nachdem sie das Licht eingeschaltet hatte, verriegelte sie die Tür. Das Mädchen war zwar keine zehn Jahre alt, mochte aber trotzdem etwas im Schilde führen.

In der nächsten Viertelstunde duschte Jo und zog sich T-Shirt, Jogginghose und Sandalen an. Sie machte in der Küche Licht, was einen stummen Schwarm Insekten an das erleuchtete Fenster zog. Während sie das Grillgut vorbereitete, wanderten ihre Gedanken zu dem Mädchen draußen. Es hatte bestimmt zu viel Angst vor der einbrechenden Dunkelheit und war nach Hause gegangen.

Jo nahm eine marinierte Hühnerbrust und drei Gemüsespieße mit zu der Feuerstelle auf dem Rasen, der sich zwischen dem mit gelben Schindeln verkleideten Haus und der mondbeschienenen Graslandschaft erstreckte. Das Ferienhaus namens »Kinney Cottage« stammte aus den vierziger Jahren. Es stand auf einer Anhöhe mit Blick auf den Wald; auf der Rückseite gab es eine freie Fläche, die regelmäßig vom Besitzer abgebrannt wurde, damit der Wald nicht zu nah ans Haus heranrückte. Jo entfachte ein Feuer im Steinkreis und platzierte den Grillrost obenauf. Während sie Hühnerbrust und Spieße darauf verteilte, kam eine dunkle Gestalt um die Hausecke geschlichen. Jo zuckte zusammen. Es war das Mädchen. Nur wenige Meter vom Feuer entfernt blieb es stehen und beobachtete, wie Jo den letzten Spieß auf den Rost legte. »Hast du keinen Herd?«, fragte das Kind.

»Doch.«

»Warum kochst du dann draußen?«

Jo setzte sich auf einen der vier klapprigen Gartenstühle. »Weil’s mir Spaß macht.«

»Das riecht gut.«

Falls das Kind sich hier herumtrieb, um etwas zu essen zu bekommen, wäre es enttäuscht von den leeren Schränken einer Feldbiologin, die nur wenig Zeit zum Einkaufen fand. Das Mädchen sprach mit dem gedehnten Akzent der Einheimischen; barfuß, wie sie war, musste sie in der Nähe wohnen. Sollte sie sich doch zu Hause den Bauch vollschlagen.

Das Mädchen kam näher. Im Schein des Feuers sah Jo ihr Gesicht und das schmutzig blonde Haar, doch die Augen blieben mysteriöse schwarze Löcher in ihrem Gesicht.

»Meinst du nicht, dass es Zeit ist, nach Hause zu gehen?«, fragte Jo.

Das Mädchen kam noch näher. »Ich habe kein Zuhause auf der Erde. Ich komme von da oben.« Sie zeigte in den Himmel.

»Woher?«

»Von Ursa Major.«

»Aus dem Sternbild Großer Bär?«

Das Kind nickte. »Ich komme aus der Feuerradgalaxie. Das ist eine Spiralgalaxie im hinteren Teil des Großen Bären.«

Jo hatte keine Ahnung von Galaxien, doch der Name klang erfunden. »Ich habe noch nie von einer Feuerradgalaxie gehört«, sagte sie.

»So wird sie auf der Erde genannt, bei uns heißt sie ganz anders.«

Nun konnte Jo die Augen der Kleinen sehen. Das clevere Funkeln in ihrem Blick wollte nicht recht zu ihrem Puppengesicht passen. Jo dachte, dass das Mädchen sie auf den Arm nehmen wollte. »Wenn du ein Alien bist, warum siehst du dann aus wie ein Mensch?«

»Ich habe mir den Körper eines Erdenmädchens geliehen.«

»Dann sag dem Mädchen, es soll mit dir nach Hause gehen, so lange du da drin bist, ja?«

»Das kann es nicht. Es war tot, als ich mir seinen Körper genommen habe. Wenn es jetzt plötzlich zurückkäme, würden seine Eltern Angst bekommen.«

Das Kind tat so, als sei es ein Zombie. Solche Phantasiespiele waren typisch für Kinder, hatte Jo gehört, aber wenn das Mädchen jemanden suchte, mit dem es Alien oder Zombie spielen konnte, war es bei ihr an der falschen Adresse. Jo hatte weder mit Kindern noch mit Traumwelten je viel anfangen können, auch nicht als sie selbst im Alter des Mädchens war. Jos Eltern, beide in der Wissenschaft tätig gewesen, hatten gern behauptet, das läge an der doppelten Dosis analytischer Gene, die ihre Tochter mitbekommen habe. Sie erzählten oft, Jo sei mit einem grimmigen Stirnrunzeln auf die Welt gekommen, als vertrete sie eine kritische Hypothese darüber, wo sie gelandet war und wer all die Menschen im Kreissaal sein mochten.

Hungrig verfolgte der angebliche Alien in Menschengestalt, wie Jo die Hühnerbrust wendete.

»Geh mal besser zum Essen nach Hause«, sagte Jo. »Deine Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen.«

»Ich habe doch gesagt, ich habe kein …«

»Willst du irgendwo anrufen?« Jo zog ihr Handy aus der Hosentasche.

»Wen sollte ich denn anrufen?«

»Ich kann das auch für dich tun. Sag mir einfach die Nummer!«

»Wie sollte es denn ein Telefon geben, wenn ich von den Sternen komme?«

»Wie wär’s mit der Nummer des Mädchens, dessen Körper du genommen hast?«

»Ich weiß nichts über sie, nicht mal ihren Namen.«

Was auch immer das Kind da erzählte, Jo war zu müde dafür. Sie war seit vier Uhr morgens auf den Beinen, war mehr als dreizehn Stunden bei großer Hitze und hoher Luftfeuchtigkeit durch Wald und Flur gestiefelt. So verliefen bei ihr seit Wochen fast alle Tage, und die wenigen Stunden abends im Cottage waren ihr wichtig, um sich zu entspannen. »Wenn du nicht gehst, rufe ich die Polizei«, sagte sie mit aufgesetzter Strenge.

»Was soll diese Polizei denn tun?«, erwiderte das Mädchen, als hätte sie das Wort noch nie gehört.

»Dich dahin bringen, wo du hingehörst.«

Das Mädchen verschränkte die Arme vor der schmalen Brust. »Und was macht die Polizei, wenn ich sage, dass ich kein Zuhause habe?«

»Dann nimmt sie dich mit zum Polizeirevier und macht deine Eltern ausfindig beziehungsweise ermittelt, wo du wohnst.«

»Und was macht die Polizei, wenn sie da anruft, und die Leute sagen, dass ihre Tochter tot ist?«

Allmählich wurde Jo wütend. »Hör mal, es ist nicht komisch, wenn man niemanden auf der Welt hat. Geh zurück zu den Menschen, die für dich verantwortlich sind.«

Das Mädchen verschränkte die Arme noch fester und schwieg.

Vielleicht half es, wenn Jo ihr ein bisschen Angst machte. »Wenn du wirklich keine Familie hast, bringt dich die Polizei zu einer Pflegefamilie.«

»Was ist das?«

»Dann kommst du zu fremden Leuten. Die sind nicht unbedingt nett, also geh jetzt besser nach Hause, bevor ich die Polizei rufe.«

Das Mädchen rührte sich nicht.

»Ich meine es ernst.«

Der junge Hund, der schon an den letzten Abenden bei Jo um Essen gebettelt hatte, wagte sich in den Widerschein des Feuers. Das Mädchen hockte sich hin, streckte die Hand aus und wollte das Tier mit hoher Stimme zu sich locken.

»Der kommt nicht«, sagte Jo. »Das ist ein wilder Hund. Wurde wahrscheinlich im Wald geboren.«

»Wo ist seine Mutter?«

»Keine Ahnung.« Jo legte ihr Handy zur Seite und wendete die Spieße. »Gibt es irgendeinen Grund, warum du Angst hast, nach Hause zu gehen?«

»Warum glaubst du nicht, dass ich von den Sternen komme?«

Das nervige Kind wusste einfach nicht, wann es genug war. »Hör mal, kein Mensch wird dir abnehmen, dass du ein Alien bist.«

Das Mädchen ging ans Ende der Rasenfläche, wo das Grasland begann, reckte Gesicht und Arme dem Sternenhimmel entgegen und skandierte unverständliche Worte, die wohl die Sprache eines Aliens darstellen sollten. Es klang, als spräche sie fließend eine Fremdsprache. Anschließend drehte sie sich, die Hände in die Hüften gestützt, selbstgefällig zu Jo um.

»Ich hoffe, du hast deine Aliens gebeten, dich abzuholen«, sagte Jo.

»Das war eine Grußadresse.«

»Eine Grußadresse. Aha. Interessant.«

Das Mädchen ging wieder zum Feuer. »Ich kann noch nicht zurück. Ich muss auf der Erde bleiben, bis ich fünf Wunder erlebt habe. Das gehört zu unserer Ausbildung, wenn wir in einem bestimmten Alter sind – so ähnlich wie hier in der Schule.«

»Dann wirst du länger hier bleiben müssen. Es ist mehr als zweitausend Jahre her, dass Wasser in Wein verwandelt wurde.«

»Ich meine keine Wunder wie in der Bibel.«

»Sondern?«

»Alles Mögliche«, antwortete das Mädchen. »Du bist ein Wunder, und der Hund ist eins. Das alles hier ist eine ganz neue Welt für mich.«

»Gut, dann kannst du ja schon zwei abhaken.«

»Nein, die Wunder hebe ich mir für richtig gute Sachen auf.«

»Vielen Dank auch!«

Das Mädchen setzte sich in den Gartenstuhl neben Jo. Von der Hühnerbrust tropfte ölige Marinade ins Feuer. Es qualmte, und ein leckerer Duft verbreitete sich in der Abendluft. Das Kind starrte auf das Fleisch. Es hatte offenbar wirklich Hunger. Vielleicht konnten sich die Eltern kein Essen leisten. Jo ärgerte sich, dass sie nicht eher darauf gekommen war.

»Du kannst ja hier noch etwas essen, bevor du nach Hause gehst«, schlug sie vor. »Magst du einen Putenburger?«

»Woher soll ich wissen, wie Putenburger schmecken?«

»Willst du einen oder nicht?«

»Ja. Ich soll auf der Erde so viel wie möglich probieren.«

Jo schob die Hühnerbrust auf die nicht so heiße Seite des Gitters, dann ging sie ins Haus und suchte einen gefrorenen Putenpatty, ein Burgerbrötchen und die übrigen Zutaten zusammen. Ihr fiel ein, dass sie noch ein bisschen Käse im Kühlschrank hatte, und nahm ihn mit. Das Mädchen hatte den Käse wahrscheinlich nötiger als Jo.

Sie ging nach draußen zurück, legte das Putenfleisch auf den Rost und die anderen Sachen auf den leeren Stuhl neben sich. »Ich hoffe, du magst den Burger mit Käse.«

»Von Käse habe ich schon gehört«, sagte das Mädchen. »Soll lecker sein.«

»Wer sagt das?«

»Die, die mal hier waren. Wir lernen schon ein bisschen über die Erde, bevor wir herkommen.«

»Wie heißt dein Planet?«

»Das ist in deiner Sprache schwer auszusprechen – so ähnlich wie Hedareh. Hast du auch Marshmallows?«

»Auf Hedareh kennt man Marshmallows?«

»Angeblich spießen die Kinder sie auf einen Stock und lassen sie über dem Feuer schmelzen. Hab gehört, dass das gut schmecken soll.«

Endlich hatte Jo einen Grund, die Tüte mit den Marshmallows zu öffnen, die sie aus einer Laune heraus gekauft hatte, als sie ins Cottage gezogen war. Es wurde auch Zeit, sie zu essen, bevor die Dinger alt und hart würden. Jo holte die Tüte aus dem Küchenschrank und legte sie dem Alienmädchen auf den Schoß. »Aber zuerst isst du deinen Burger.«

Das Kind suchte sich einen Stock und setzte sich wieder auf den Stuhl, die Marshmallows legte es sich auf den Schoß, die dunklen Augen auf das bratende Fleisch gerichtet. Jo röstete das Brötchen und legte einen der Grillspieße mit Kartoffeln, Broccoli und Pilzen neben den Burger auf den Teller. Sie hatte zwei Gläser mit nach draußen gebracht. »Magst du Apfelcider?«

Das Mädchen probierte einen Schluck. »Schmeckt echt gut!«

»Gut genug, um als ein Wunder durchzugehen?«

»Nein«, befand der kleine Alien, aber leerte innerhalb von Sekunden fast das ganze Glas.

Während Jo den ersten Bissen aß, hatte das Mädchen seinen Burger schon beinahe vollständig verputzt. »Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?«, fragte Jo.

»Noch auf meinem Planeten«, antwortete das Mädchen mit vollem Mund.

»Und wann war das?«

Das Mädchen schluckte. »Gestern Abend.«

Jo legte ihre Gabel beiseite. »Du hast den ganzen Tag nichts gegessen?«

Die Kleine schob sich ein Stück Kartoffel in den Mund. »Ich wollte nicht. Mir war irgendwie schlecht … von der Reise zur Erde, dem neuen Körper und so.«

»Aber jetzt futterst du wie ausgehungert …«

Das Mädchen zerteilte das letzte Stück vom Burger und warf die Hälfte dem bettelnden Hund hin, wahrscheinlich um zu beweisen, dass es nicht ausgehungert war. Der Hund schlang das Essen so schnell hinunter wie das Mädchen. Als es dem Tier den letzten Rest auf der Hand hinhielt, schlich der Hund vorsichtig heran, schnappte sich das Fleisch und zog sich zum Fressen zurück. »Hast du das gesehen?«, fragte das Mädchen. »Er hat mir aus der Hand gefressen!«

»Ja.« Doch Jo sah nicht nur das; sie sah auch ein Kind, das vielleicht große Probleme hatte. »Ist das eine Schlafanzughose, die du da anhast?«

Das Mädchen schaute auf seine dünne Hose hinunter. »Ich glaube, so heißt das auf der Erde.«

Jo schnitt eine Scheibe von der Hühnerbrust ab. »Wie heißt du?«

Das Mädchen ging auf die Knie und krabbelte langsam zum Hund hinüber. »Ich habe keinen Erdennamen.«

»Und wie ist dein Alienname?«

»Der ist schwer auszusprechen.«

»Sag trotzdem!«

»Ungefähr so: Eerpüd-na-asru.«

»Er pü …?«

»Nein, Eerpüd-na-asru.«

»Okay, Eerpüd, jetzt sag mir mal die Wahrheit: Warum bist du hier?«

Das Mädchen ließ den ängstlichen Hund in Ruhe und erhob sich. »Darf ich jetzt die Marshmallows aufmachen?«

»Erst isst du den Broccoli.«

Der kleine Alien schaute auf den Teller. »Das grüne Zeug?«

»Genau.«

»Auf meinem Planeten essen wir nichts Grünes.«

»Du hast gesagt, du sollst hier möglichst viel probieren.«

Schnell schob sich das Mädchen die drei Broccoliröschen in den Mund. Während sie kaute, riss sie die Plastiktüte mit den Marshmallows auf.

»Wie alt bist du?«, fragte Jo.

Mit großer Überwindung schluckte das Kind das letzte Stück Broccoli hinunter. »Mein Alter kann ein Mensch nicht verstehen.«

»Wie alt ist der Körper, in dem du steckst?«

Der Alien spießte einen Marshmallow auf. »Weiß ich nicht.«

»Ich muss wirklich die Polizei rufen«, sagte Jo.

»Warum?«

»Das weißt du doch. Du bist wie alt? Neun … zehn? Du kannst nicht nachts allein durch die Gegend laufen. Es muss sich doch jemand um dich kümmern!«

»Wenn du die Polizei rufst, laufe ich weg.«

»Warum? Die hilft dir doch.«

»Ich will nicht bei bösen Leuten landen, die ich nicht kenne.«

»Das war ein Witz. Man würde bestimmt eine nette Familie für dich finden.«

Das Mädchen drückte einen dritten Marshmallow auf den Spieß. »Glaubst du, Kleiner Bär mag Marshmallows?«

»Welcher kleine Bär?«

»Der Hund – ich nenne ihn nach Ursa Minor, dem Sternbild neben meinem. Findest du nicht, dass er wie ein kleiner Bär aussieht?«

»Nein, und gib ihm keine Marshmallows! Zucker ist nicht gut für Hunde.« Zu abgelenkt, um aufzuessen, warf Jo die letzten Stückchen Hühnerbrust dem Hund hin. Als der Köter das Fleisch verschlungen hatte, gab sie ihm auch noch die restlichen Gemüsestücke von den zwei Spießen.

»Du bist nett«, sagte das Mädchen.

»Nein. Ich bin dumm. Jetzt werde ich ihn nie wieder los.«

»Hui!« Die Kleine hielt sich brennende Marshmallows vors Gesicht und pustete.

»Warte, bis sie abgekühlt sind!«, mahnte Jo.

Doch der kleine Alien hörte nicht, sondern stopfte sich die zähe weiße Masse in den Mund. Ein süßer Klumpen nach dem anderen verschwand, anschließend röstete das Mädchen noch einen Spieß, während Jo die Soßen und das Geschirr in die Küche brachte. Beim Abwaschen überlegte sie sich eine neue Strategie. »Böser Bulle« funktionierte offenbar nicht. Jo musste das Vertrauen des Mädchens gewinnen, um etwas aus ihm herauszubekommen.

Als Jo wieder nach draußen ging, saß das Kind im Schneidersitz im Gras und ließ sich vom Hund hingebungsvoll die geschmolzenen Marshmallows von den Fingern lecken. »Ich hätte nie gedacht, dass dieser Hund einem Menschen aus der Hand frisst«, sagte Jo.

»Es ist zwar eine Menschenhand, aber er weiß, dass ich von Hedareh komme.«

»Ist das was Besseres?«

»Wir haben besondere Kräfte. Wir haben die Macht, Gutes zu bewirken.«

Das arme Kind. Wahrscheinlich suchte es Zuflucht in seiner blühenden Phantasie, weil es in schlimmen Verhältnissen lebte. »Kann ich deinen Stock haben?«

»Für Marshmallows?«

»Nein, um dich von meinem Grundstück zu vertreiben!«

Das Mädchen grinste. Ein tiefes Grübchen bildete sich in ihrer linken Wange. Jo spießte zwei Marshmallows auf und hielt sie übers Feuer. Das Kind setzte sich wieder in den Gartenstuhl, und der Hund legte sich daneben, als hätte das Mädchen ihn wie von Zauberhand gezähmt. Als die Marshmallows von allen Seiten gebräunt und ausreichend abgekühlt waren, aß Jo sie direkt vom Stock.

»Ich wusste nicht, dass auch Erwachsene Marshmallows mögen«, bemerkte das Mädchen.

»Das ist ein Geheimnis, das Erdenkinder nicht kennen.«

»Wie heißt du?«

»Joanna. Joanna Teale. Aber die meisten nennen mich Jo.«

»Wohnst du ganz allein hier?«

»Nur den Sommer über. Ich habe das Haus gemietet.«

»Warum?«

»Wenn du hier aus der Gegend bist – und das bist du mit Sicherheit –, dann weißt du, warum.«

»Ich komme doch nicht von hier. Erzähl!«

Jo ermahnte sich, den guten Bullen zu spielen und nicht wieder auf der Lügengeschichte herumzureiten. »Dieses Haus und knapp dreißig Hektar drumherum gehören einem Biologieprofessor namens Kinney. Er vermietet es an andere Professoren und Doktoranden, die hier wohnen, wenn sie ihre Feldstudien betreiben.«

»Warum wohnt er nicht selbst hier?«

Jo legte den Stock auf den steinernen Rand der Feuerstelle. »Als er das Haus gekauft hat, war er Mitte vierzig. Er hat es mit seiner Frau als Ferienhaus genutzt und unten am Fluss Wasserinsekten erforscht, aber seit sechs Jahren kommen die beiden nicht mehr her.«

»Warum nicht?«

»Sie sind jetzt über siebzig, und seine Frau ist krank. Deshalb müssen sie immer in der Nähe eines Krankenhauses sein. Mit dem Haus verdienen sie ein bisschen Geld, aber sie vermieten es nur an Leute aus der Wissenschaft.«

»Bist du eine Wissenschaftlerin?«

»Fast. Ich bin noch nicht fertig. Ich bin Doktorandin.«

»Was heißt das?«

»Das heißt, dass ich die ersten vier Jahre Studium hinter mir habe und jetzt weitere Seminare besuche, selbst unterrichte und forsche, um zu promovieren.«

»Was heißt ›promovieren?‹«

»Einen Doktortitel erlangen. Wenn ich den habe, kann ich eine Professorenstelle an einer Universität bekommen.«

Das Mädchen leckte sich die schmutzigen, vom Hund abgeschleckten Finger ab und rieb über die schwarzen Marshmallowreste an seiner Wange. »Eine Professorin unterrichtet Studenten, oder?«

»Ja, und die meisten in meinem Fachgebiet forschen auch.«

»Was ist das für ein Fachgebiet?«

Unerschöpfliche Neugier. Das Mädchen würde eine hervorragende Wissenschaftlerin abgeben. »Also, mein Fachgebiet ist Vogelschutz und -ökologie.«

»Was machst du da genau?«

»Jetzt ist es aber mal gut, Erpu…«

»Eerpüd!«

»Es wird Zeit, dass du nach Hause gehst. Ich muss früh aufstehen, deshalb muss ich jetzt ins Bett.« Jo holte den Wasserschlauch und zog ihn zum Feuer.

»Musst du es ausmachen?«

»Der Feurige Bär sagt, dass es besser ist.« Sie drehte den Schlauch auf, die Flammen zischten und qualmten.

»Das ist traurig«, bemerkte das Mädchen.

»Was?«

»Der Geruch von nasser Asche.« Das Gesicht der Kleinen wirkte bläulich im Schein der Neonröhre aus der Küche. Fast so, als sei sie wieder zum Feenkind geworden.

Jo drehte den quietschenden Wasserhahn zu. »Warum verrätst du mir nicht, weshalb du dich hier rumtreibst?«

»Hab ich dir doch gesagt!«

»Hör doch mal auf damit! Ich gehe jetzt ins Haus, aber ich habe kein gutes Gefühl dabei, wenn du hier draußen bist.«

»Schon in Ordnung.«

»Gehst du heim?«

»Komm, Kleiner Bär«, sagte das Mädchen, und unglaublicherweise folgte ihr der Hund.

Jo sah zu, wie das Alienkind mit dem Köter davontrottete, und das Bild, wie die beiden im dunklen Wald verschwanden, hatte etwas so Trauriges an sich wie der Geruch von nasser Asche.

2

Um vier Uhr morgens wurde Jo vom Wecker aus dem Schlaf gerissen – ihre normale Aufstehzeit an Tagen, wenn sie lange Strecken zu ihren Beobachtungsgebieten zurücklegen musste. Im Licht der Nachttischlampe zog sie ein T-Shirt, ein Hemd, eine Cargohose und Stiefel an. Erst als sie die Neonröhre über dem Herd anknipste, fiel ihr das Mädchen wieder ein. Seltsam, wo sie doch in der unruhigen halben Stunde vor dem Einschlafen an fast nichts anderes gedacht hatte. Jo schaute durch die Hintertür auf die leeren Stühle an der Feuerstelle. Dann machte sie das Außenlicht vorne an und trat auf die Veranda. Keine Spur von dem Mädchen. Wahrscheinlich war sie wirklich nach Hause gegangen.

Während der Porridge kochte, machte sich Jo ein Thunfisch-Sandwich und packte es zu ihrem Studentenfutter und dem Wasser in die Tasche. Zwanzig Minuten später verließ sie das Haus und erreichte das erste ihrer neun Untersuchungsgebiete bei Sonnenaufgang. In der kühlen Morgenluft suchte sie an der Church Road, dem Standort mit dem wenigsten Schatten, nach Nestern von Indigofinken. Zwei Stunden später fuhr sie zur Jory Farm, dann zur Cave Hollow Road.

Um fünf Uhr nachmittags machte Jo Schluss, früher als gewöhnlich. In den letzten beiden Jahren, seit ihrer Diagnose und dem kürzlichen Tod ihrer Mutter, hatte sie sich an die Schlafstörungen gewöhnt, doch aus irgendeinem Grund war die Beklemmung in den letzten drei Nächten besonders schlimm gewesen. Jo wollte spätestens um neun im Bett sein, um ein wenig Schlaf nachzuholen.

Obwohl sie vorher bei einem Hofladen vorbeigefahren war, kam sie früh genug zur Turkey Creek Road, um noch den Eiermann anzutreffen, einen bärtigen jungen Mann, der immer an der Kreuzung der Turkey Creek Road mit der Landstraße unter einer blauen Plane saß. An Jos seltenen freien Tagen – meistens, wenn es regnete – hatte sie festgestellt, dass er einen regelmäßigen Turnus hatte; er verkaufte seine Eier montagabends und donnerstagvormittags.

Als sie um die Kurve bog, nickte der Mann ihr zu. Sie winkte zurück und hätte gerne Eier gekauft, um ihn zu unterstützen, hatte aber noch mindestens vier im Kühlschrank.

Turkey Creek Road war eine fünf Meilen lange Schotterstraße, die bis zum Kinney-Grundstück und einem Flüsschen namens Turkey Creek führte. Die Strecke nahm eine Weile in Anspruch, selbst mit einem SUV. Nach der ersten Meile wurde die Piste schmaler, wand sich voller Schlaglöcher und Bodenwellen durch die Landschaft. Zum Ende hin wurde sie an den Stellen, wo der Fluss sie bei starkem Regen unterspülte, mehrmals gefährlich steil. Das letzte Stück der Heimfahrt über die Turkey Creek Road war für Jo immer das Highlight des Tages. Sie wusste nie, was sie hinter der nächsten Kurve erwartete – ein Truthahn, eine Familie Virginiawachteln oder sogar ein Rotluchs. Zum Schluss bot die Straße einen herrlichen Blick auf den klaren Fluss in seinem steinigen Bett und brachte Jo nach einer Linkskurve zu ihrem malerisch gelegenen Cottage auf der Anhöhe.

Als Jo an diesem Tag auf den Kiesweg zum Cottage abbog, erblickte sie jedoch keine wilden Tiere, sondern den Ursa-Major-Alien nebst dem Ursa-Minor-Hund. Das Mädchen trug dieselbe Kleidung wie am Vortag und war immer noch barfuß. Jo parkte und stieg in ihrer kompletten Feldmontur aus. »Was willst du denn wieder hier?«

»Habe ich doch gesagt«, antwortete das Mädchen. »Ich komme von …«

»Du musst nach Hause!«

»Ja! Ich verspreche, dass ich zurückkehre, wenn ich fünf Wunder gesehen habe.«

Jo holte ihr Handy aus der Hosentasche. »Tut mir leid. Ich rufe jetzt die Polizei.«

»Wenn du das machst, laufe ich weg. Dann suche ich mir ein anderes Haus.«

»Das würde ich nicht tun! Es gibt sonderbare Menschen, böse Menschen …«

Das Mädchen verschränkte die Arme vor der Brust. »Dann ruf nicht die Polizei!«

Gute Idee. Das erledigte Jo besser, wenn die Kleine es nicht mitbekam. Jo steckte das Handy ein. »Hast du Hunger?«

»Bisschen«, sagte das Kind.

Wahrscheinlich hatte es seit dem Vorabend nichts mehr gegessen. »Magst du Eier?«

»Rührei soll lecker sein.«

»Unten an der Straße ist ein Stand, da gibt es Eier. Ich besorge welche.«

Das Mädchen beobachtete, wie Jo zu ihrem Auto ging. »Wenn das gelogen ist und du die Polizei holst, laufe ich weg.«

Die Verzweiflung in den Augen des Kindes berührte Jo, als sie vom Auto aus zurückblickte. Sie wendete und bog wieder auf die Turkey Creek Road ab. Ungefähr eine Meile weiter hielt sie auf einer Anhöhe, weil sie vermutete, dass der Empfang dort einigermaßen gut war, und rief die Auskunft an, um die Nummer vom Vorzimmer des Sheriffs zu bekommen. Nach drei erfolglosen Versuchen legte sie das Handy auf die Konsole. Sie hatte eine bessere Idee.

Gerade noch rechtzeitig erreichte Jo die Nebenfahrbahn des Highways. Der Eiermann hatte seine Dachplane und das Schild mit der Aufschrift »FRISCHE EIER« schon abgebaut, den Tisch und seinen Stuhl mit drei übrig gebliebenen Eierkartons aber noch nicht im Auto verstaut. Jo hielt am Straßenrand und nahm sich ihr Portemonnaie. Sie wartete hinter dem Eiermann, der sich über den Tisch beugte, um die Beine einzuklappen. Jo hatte den Mann noch nie in voller Größe gesehen, weil er immer hinter seinem Tisch hockte. Er war ungefähr eins achtzig groß und kräftig, jedoch nicht wie jemand, der Gewichte stemmt, sondern mit gleichmäßig aufgebauten Muskeln von harter körperlicher Arbeit.

Er drehte sich um, lächelte und hielt Jos Blick länger als sonst. »Spontan Lust auf ein Omelett bekommen?«, fragte er, als er das Portemonnaie in ihrer Hand bemerkte.

»Schön wär’s«, sagte sie, »aber ich hab keinen Käse mehr. Muss mich mit Rührei begnügen.«

»Tja, ohne Käse ist es kein richtiges Omelett.«

In den fünf Wochen seit ihrer Ankunft hatte Jo dreimal Eier gekauft. So viel hatte der Mann noch nie mit ihr gesprochen. Normalerweise bestand sein Beitrag zur Kommunikation in einem Nicken, dem Annehmen des Geldes mit seiner schwieligen Hand und einem »Danke, Ma’am«, wenn sie sagte, er könne das Wechselgeld behalten. Der Eiermann war ihr ein Rätsel. Sie hätte angenommen, dass ein Typ, der am Straßenrand Eier verkaufte, ein bisschen schwer von Begriff sei, doch seine Augen, die in dem bärtigen Gesicht hervorstachen, waren schneidend wie blaue Glasscherben. Außerdem war er noch recht jung, schätzungsweise in Jos Alter. Sie verstand nicht, warum ein aufgeweckter Kerl in dem Alter mitten im Nirgendwo Eier verkaufte.

Der Eiermann legte den Klapptisch im Gras ab und drehte sich zu ihr um. »Einen kleinen oder einen großen Karton?«

Jo hörte bei ihm nicht den für die Einwohner von Süd-Illinois typischen langgezogenen Akzent. »Einen großen«, sagte sie und reichte ihm einen Fünfer aus ihrem Portemonnaie.

Er nahm einen Karton vom Stuhl und tauschte ihn gegen den Geldschein.

»Stimmt so«, sagte sie.

»Danke, Ma’am«, erwiderte er und stopfte sich das Geld in die Gesäßtasche. Dann hob er den Tisch an und trug ihn zu seinem alten weißen Pick-up.

Jo folgte ihm. »Darf ich Sie etwas fragen?«

Er hievte den Tisch auf die offene Ladefläche seines Wagens und drehte sich zu ihr um. »Dürfen Sie.«

»Ich habe da ein Problem …«

Seine Augen leuchteten auf, eher aus Neugier denn vor Sorge.

»Sie wohnen doch an dieser Straße, oder?«

»Ja. Auf dem Grundstück neben den Kinneys.«

»Oh, das wusste ich gar nicht.«

»Was ist denn das Problem, Frau Nachbarin?«

»Ich nehme mal an, dass Sie die Leute hier in der Gegend kennen. Wahrscheinlich kaufen die auch ihre Eier bei Ihnen.«

Er nickte.

»Gestern Abend ist ein Mädchen bei mir aufgetaucht. Haben Sie gehört, dass irgendwo ein Kind vermisst wird?«

»Nein.«

»Sie ist ungefähr neun Jahre alt, dünn, hat lange dunkelblonde Haare, große braune Augen … ein hübsches, interessantes Gesicht, eher oval. Ein Grübchen in der Wange, wenn sie lächelt. Kommt Ihnen das bekannt vor?«

»Nein.«

»Sie muss aber hier aus der Gegend sein. Sie war barfuß und hatte nur eine Pyjamahose und einen Kapuzenpullover an.«

»Sagen Sie ihr, sie soll nach Hause gehen.«

»Hab ich ja, aber sie will nicht. Ich glaube, sie hat Angst. Sie hatte den ganzen Tag nichts gegessen.«

»Dann rufen Sie vielleicht besser die Polizei.«

»Sie sagt, wenn ich das tue, würde sie weglaufen. Hat mir eine abstruse Geschichte aufgetischt, sie käme von einem anderen Planeten und hätte sich den Körper eines toten Mädchens geliehen.«

Der Eiermann hob die Augenbrauen.

»Ja, ziemlich abstrus. Aber ich halte sie nicht für verrückt. Sie ist intelligent …«

»Viele Verrückte sind intelligent.«

»Aber es kommt mir vor, als wüsste sie genau, was sie tut.«

Seine blauen Augen wurden noch stechender. »Warum sollte ein psychisch kranker Mensch nicht genau wissen, was er tut?«

»Darauf will ich ja hinaus.«

»Worauf?«

»Was ist, wenn sie intelligent genug ist, um zu wissen, was sie tut?«

»Will sagen?«

»Dass sie weiß, wie gefährlich es ist, nach Hause zu gehen.«

»Sie ist erst ungefähr neun. Sie muss nach Hause.« Der Eiermann öffnete die Beifahrertür und stellte die zwei verbliebenen Eierkartons in den Fußbereich.

»Also rufe ich die Polizei, und wenn das Mädchen das merkt, läuft es weg. Wer weiß, was dann passiert …«

»Dann sagen Sie der Polizei, sie soll sich anschleichen.«

»Wie denn? Sie ist doch längst im Wald, bis die Polizisten ausgestiegen sind.«

Er wusste auch keine bessere Lösung.

»Mist! Ich hab keinen Bock darauf!«

Verständnisvoll musterte der Eiermann Jo, den Arm auf der offenen Beifahrertür. »Sie sehen aus, als hätten Sie einen langen Tag hinter sich.«

Jo schaute auf ihre schmutzige Kleidung. »Tja. Und er wird noch länger, als ich mir vorgenommen habe.«

»Wie wäre es, wenn ich mitkomme und mir das Mädchen mal angucke? Vielleicht kenne ich sie ja …«

»Würden Sie das tun?«

»Ja. Aber ich kann nichts versprechen.«

Jo hielt ihm die Eierpackung hin. »Bringen Sie die hier mit. Ich sage dem Mädchen, dass Sie keine Eier mehr hatten und erst welche von zu Hause holen mussten. Sonst wird sie vielleicht misstrauisch.«

»Das kleine Mädchen hat Sie ja ganz schön im Griff.«

Der Mann stellte die Eier zu den anderen in den Fußraum vorm Beifahrersitz. »Und, wozu forschen Sie genau?«

Diese Frage hatte Jo vom Eiermann nicht erwartet. Im ersten Moment wusste sie nichts zu sagen.

»Letzten Sommer haben ein paar Studenten im Cottage gewohnt, die haben Fische untersucht«, sagte er. »Im Sommer davor waren es Libellen und Bäume.«

»Ich forsche zu Vögeln«, antwortete Jo.

»Welche Art?«

»Ich untersuche den Bruterfolg von Indigofinken.«

»Davon gibt’s hier viele.«

Jo war überrascht, dass er die Vogelart kannte. Viele Menschen kannten höchstens den Kardinal, und selbst der wurde oft nur »roter Vogel« genannt.

»Ich habe Sie ein paarmal herumlaufen sehen«, sagte der Eiermann. »Sind die orangen Markierungsbänder, die überall rumflattern, von Ihnen?«

»Ja. Die Turkey Creek Road gehört zu meinen Beobachtungsgebieten.« Jo verriet ihm nicht, dass die Bänder Nester markierten. Wenn das die Kinder in der Gegend spitzbekämen, würden sie vielleicht Blödsinn machen und das Ergebnis verfälschen. Jo sah zu, wie der Mann den Klappstuhl zusammenfaltete. »Ist Ihnen vielleicht zufällig ein Hund entlaufen?«, fragte sie.

»Ich habe keinen Hund, nur ein paar Scheunenkatzen. Warum fragen Sie?«

»Ein hungriger Junghund ist mein zweites Problem.«

»Wenn es kommt, dann dicke, was?«

»Sieht so aus«, sagte Jo und ging zu ihrem Auto zurück. Als sie auf die Zufahrt zum Cottage bog, konnte sie weder Mädchen noch Hund entdecken. Sie lud ihre Forschungsausrüstung sowie den Einkauf mit Obst und Muffins aus. Entweder versteckte sich das Mädchen, oder es hatte den Ärger gerochen und war verduftet.

Als Jo ihre Einkäufe verstaute, klopfte es dreimal an der Küchentür. Jo machte auf. Vor der ramponierten Fliegengittertür stand das Mädchen.

»Machst du jetzt Rührei?«, fragte die Kleine.

»Der Mann hatte keine Eier mehr«, erwiderte Jo. »Er bringt welche vorbei.«

»Wie kann er welche bringen, wenn er keine mehr hat?«

»Er fährt nach Hause und holt Nachschub. Er wohnt auf dem Hof nebenan. Da drüben.«

Jo wies nach Westen, das Mädchen schaute hinüber.

»Magst du einen Blaubeermuffin?«

»Ja!«

Jo drückte das Gebäck in die schmutzige Hand.

»Danke«, sagte das Mädchen und stopfte sich den Muffin in den Mund.

Das Essen lockte den Hund um die Hausecke, das Kind hatte jedoch zu viel Hunger, um ihm etwas abzugeben. Als der weiße Pick-up des Eiermanns eine halbe Minute später über die Schotterauffahrt rumpelte, hatte die Kleine den Muffin bereits verputzt. Jo ging nach draußen, nahm ihr die Papiermanschette aus der Hand und warf sie in die kalte Asche der Feuerstelle. »Dann wollen wir mal die Eier holen«, sagte sie und gab dem Mädchen ein Zeichen, ihr um das Haus herum zu folgen.

»Oh, nein!«, rief die Kleine.

»Was ist?«

»Kleiner Bär hat das Muffinpapier gefressen!«

»Der hat bestimmt schon Schlimmeres verschlungen. Komm!«

Der Eiermann stand vor seinem Pick-up. Als er Jo den Eierkarton reichte, musterte er das Kind von den schmutzigen nackten Füßen bis zu den fettigen Haaren. Es sah deutlich ungepflegter aus als am Vorabend. »Wohnst du hier in der Gegend?«, fragte er.

»Sie hat dir gesagt, dass du mich das fragen sollst, oder?«, mutmaßte die Kleine. »Deshalb bringst du die Eier vorbei, die waren gar nicht ausverkauft.«

»Aah, eine ganz Gewiefte«, sagte der Eiermann.

»Was heißt das?«, fragte das Mädchen.

»Das ist jemand, der ein bisschen zu vorlaut ist. Und wo wir schon mal dabei sind: Wieso läufst du eigentlich halb im Pyjama herum?«

Die Streunerin schaute auf ihre mit Sternen bedruckte lavendelfarbene Hose hinunter. »Die hatte das Mädchen an, als es starb.«

»Welches Mädchen?«

»Das Mädchen, dessen Körper ich übernommen habe. Hat Jo dir das nicht erzählt?«

»Wer ist Jo?«

»Ich«, meldete sich Jo.

Der Eiermann hielt ihr die Hand hin. »Freut mich. Ich bin Gabriel Nash.«

»Joanna Teale.« Sie drückte seine warme raue Hand, und ihr war sehr bewusst, dass sie seit zwei Jahren keinen Mann mehr berührt hatte. Jo hielt die Hand ein bisschen länger fest als üblich, aber vielleicht ging das auch von ihm aus.

»Und wie heißt du, kleines Zombiemädchen?«, fragte er und reichte dem Kind die Hand.

Es wich ihm aus, hatte Angst, er könne zupacken. »Ich bin kein Zombie. Ich bin auf Besuch von Hedareh.«

»Wo ist das?«, fragte der Eiermann.

»Das ist ein Planet in der Feuerradgalaxie.«

»In der Feuerradgalaxie? Echt?«

»Kennst du die?«

»Ich hab sie schon gesehen.«

Das Mädchen legte den Kopf schräg. »Nee, hast du nicht.«

»Doch. Durch ein Teleskop.«

Da strahlte die Kleine vor Glück. »Die ist total schön, oder?«

»Das ist eine von meinen Lieblingsgalaxien.«

Also gab es sie tatsächlich. Immerhin hatte das Mädchen damit nicht gelogen.

Der Eiermann lehnte sich gegen die Motorhaube seines Pick-ups, die Hände in den Jeanstaschen. »Und warum bist du auf die Erde gekommen?«

»Das ist für uns so, als würden wir zur Schule gehen. Ich bin so was Ähnliches wie Jo – ich studiere.«

»Aha … Und wie lange willst du hierbleiben?«

»Bis ich genug gesehen habe.«

»Genug wovon?«

»Genug, um die Menschen zu verstehen. Wenn ich fünf Wunder gesehen habe, gehe ich zurück.«

»Fünf Wunder?«, wiederholte Gabriel. »Das dauert ja ewig.«

»Mit Wundern meine ich Dinge, die mich zum Staunen bringen. Wenn ich fünf habe, gehe ich zurück und erzähle meinem Volk davon. Das ist so ähnlich, als würde ich promovieren und Professorin werden.«

»Dann wirst du eine Expertin für Menschen?«

»Nur für den kleinen Teil der Welt, den ich kenne. So wie Jo eine Expertin für Vogelschutz ist, aber nicht für alle Naturwissenschaften.«

»Wow«, sagte Gabriel und schaute Jo an.

»Schlauer kleiner Alien, was?« Jo hielt dem Mädchen den Eierkarton hin. »Könntest du die in den Kühlschrank stellen?«

»Du lässt mich ins Haus?«

»Ja.«

»Nur weil du mit ihm über mich reden willst.«

»Bring die Eier jetzt rein!«

»Sag nichts Gemeines über mich.«

»Komm, los!«

Das Mädchen lief zur Haustür. »Sei vorsichtig!«, rief Jo ihr nach. »Sonst liegt dein Rührei gleich auf dem Boden!« Sie drehte sich zu Gabriel um. »Und, was meinst du?«

»Ich habe sie noch nie gesehen. Bin mir ziemlich sicher, dass sie nicht an dieser Straße wohnt.«

»Sie muss aber aus der Nähe sein. Wenn sie weit gelaufen wäre, sähen ihre Füße ganz anders aus.«

»Vielleicht hat sie unterwegs ihre Schuhe verloren? Hat die Füße im Fluss gewaschen und vergessen, wo sie die Schuhe ausgezogen hat.« Er löste sich von seinem Wagen und rieb sich den Bart. »Nach ihrem Akzent zu schließen, würde ich sagen, sie ist aus der Gegend, aber das ganze Gerede über Promotion und Professoren …«

»Das hat sie von mir.«

»Schon klar, aber sie scheint mir zu klein zu sein, um das alles zu verstehen und zu verarbeiten.«

»Ich weiß, das denke ich ja auch die ganze Zeit …«

Das Mädchen schlug die Verandatür hinter sich zu und kam zu ihnen zurück, die nackten Füße klatschten auf den rissigen Asphalt. »Was redet ihr da?«, fragte es atemlos.

»Wir haben gerade gesagt, dass es Zeit für dich wird, nach Hause zu gehen«, sagte Gabriel. »Soll ich dich mitnehmen? Ich kann dich nach Hause fahren.«

»Du willst mich in den Weltraum zu meinem Planeten bringen?«

»Du bist zu intelligent, um zu glauben, dass wir dir die Geschichte mit dem Alien abkaufen«, sagte Gabriel. »Und du weißt, dass ein Mädchen in deinem Alter nicht allein unterwegs sein sollte. Sag uns die Wahrheit!«

»Tu ich doch!«

»Dann hat Jo keine andere Wahl, als die Polizei zu rufen.«

»Toidi nie tsibud!«, rief das Mädchen.

»Toidi nie – was?«, fragte er.

Das Kind begann, in seiner Aliensprache zu schimpfen, es sprach so flüssig wie am Vorabend, nur richtete es seine Tirade diesmal mit wild fuchtelnden Armen an den Eiermann.

»Was war das?«, fragte er, als die Kleine fertig war.

»Ich habe dir in meiner Sprache gesagt, dass du nett zu einer Doktorandin sein solltest, die den langen Weg von den Sternen auf sich genommen hat, um euch zu besuchen. Wenn ich nicht hierbleiben darf, werde ich nie eine Professorin sein.«

»Du weißt, dass du hier nicht bleiben kannst.«

»Promovierst du vielleicht auch?«, fragte das Mädchen.

Perplex sah der Eiermann sie an.

»Dann wüsstest du nämlich, dass es falsch ist, mich nicht promovieren zu lassen«, sagte sie.

Er ging zu seinem Pick-up und öffnete die Tür.

»Warte!«, rief Jo.

Er setzte sich hinters Lenkrad und schlug die Tür zu. »Ich bin raus«, sagte er durchs Fenster.

»Und was wäre, wenn sie bei dir aufgetaucht wäre?«

»Ist sie aber nicht.«

Mit spritzendem Schotter fuhr er zur Straße.

»Der hat’s aber eilig«, sagte Jo. »Steht sein Hühnerstall in Flammen?«

»Was steht in Flammen?«, fragte das Mädchen.

»Schon gut.«

Der Nachbar war offensichtlich verärgert. Vielleicht verunsicherte ihn Jos Bildungsniveau. Warum sonst hatte er so heftig auf die Frage des Mädchens reagiert?.

»In der Küche steht ein Kuchen. Darf ich ein Stück davon haben?«

Jo starrte in Richtung der leeren Straße. Das Brummen des Pick-ups wurde leiser. Warum konnten die Leute in dieser Gegend nicht selbst aufeinander aufpassen? Warum überließen sie das ihr, einer Fremden, die den üblichen Umgang und die ungeschriebenen Gesetze hier nicht kannte?

»Darf ich?«, fragte das Mädchen.

Jo drehte sich um und versuchte, sich zu beruhigen. »Ja, du kannst ein Stück Kuchen haben. Aber zuerst musst du etwas Vernünftiges essen.« Und davor musste Jo die Polizei rufen, ohne dass das Kind es merkte.

»Ist Rührei was Vernünftiges?«

»Ja«, antwortete Jo. »Aber ich möchte, dass du dich vor dem Essen wäschst. Du musst duschen.«

»Kann ich nicht erst essen?«

»Ich habe gesagt: erst duschen, dann essen. Halt dich dran oder geh.«

Wie ein hungriger Welpe folgte das Mädchen Jo ins Haus.

3

Nachdem Jo selbst kurz geduscht hatte, schickte sie das Mädchen mit einem frischen Handtuch ins Bad. Sie schloss die Tür und lauschte auf das Wasserrauschen. Als sie sicher war, dass das Kind nichts mitbekam, eilte sie mit dem Handy nach draußen.

Der Wald war grau, es war genauso dämmerig wie am Vorabend, als das Feenkind zum Cottage gefunden hatte. Jo ging die Auffahrt hinunter und wedelte die Mücken fort. Schweißtropfen mischten sich mit dem Wasser, das aus ihren nassen Haaren rann. Kleiner Bär schlich um Jo herum und folgte ihr, wie ein Spion, den der kleine Alien auf sie angesetzt hatte.

Sich ins Internet einzuwählen und die normale Nummer des Sheriffs herauszufinden, dauerte über sieben Minuten. Als sich die Frau aus dem Vorzimmer des Sheriffs meldete, sprach Jo so schnell wie möglich, aus Angst, das Mädchen könne nach draußen kommen und etwas mithören. Sie erklärte der Frau, es müsse jemand wegen eines Mädchens vorbeikommen, das vielleicht obdachlos sei. Sie nannte ihre Adresse und beschrieb, wie man das Haus am besten erreichte. Die Frau stellte weitere Fragen, doch Jo hatte nur noch Zeit zu sagen, dass sie sich große Sorgen um das Mädchen mache und sofort jemand herkommen solle. Dann steckte sie das Handy in die Tasche und ging schnell ins Haus zurück.

Gerade noch rechtzeitig. Das Mädchen stand ins Handtuch gewickelt im Wohnzimmer, aus den langen Haaren tropfte es auf ihre schmalen Schultern. Ihre dunklen Augen musterten Jo. »Wo warst du?«, fragte sie.

»Ich hatte draußen was gehört«, erwiderte Jo. »War aber nur der Hund.« Sie näherte sich dem Kind und hoffte, dass das, was sie sah, nur Schmutz war, den das Mädchen nicht abgewaschen hatte. Doch die Flecken waren echt. Das Kind hatte violette Blutergüsse am Hals und am linken Oberarm; der rechte Oberschenkel war voller Kratzer und Schrammen. Der hohe Kragen des Kapuzenpullovers hatte den blauen Fleck an ihrer Kehle verdeckt. Die Hämatome am linken Arm schienen von Fingern zu stammen. Als hätte sie jemand mit Gewalt festgehalten. »Woher hast du diese Verletzungen?«

Das Mädchen wich zurück. »Wo sind meine Sachen?«

»Wer hat dir weh getan?«

»Ich weiß nicht, woher das kommt. Das war am Körper des toten Mädchens. Vielleicht wurde sie von einem Auto angefahren oder so.«

»Hast du deshalb Angst, nach Hause zu gehen? Weil dir jemand weh tut?«

Das Mädchen kniff die Augen zusammen. »Ich dachte, du wärst nett, aber das bist du gar nicht.«

»Warum bin ich nicht nett?«

»Weil du mir nicht glaubst.«

Jo atmete aus. Sie hatte befürchtet, das Mädchen hätte ihr Gespräch mit dem Sheriff mitbekommen. In dieser Situation war auf jeden Fall die Polizei gefragt. Jo hoffte, man nahm ihren Anruf ernst und kam schnell, doch bis dahin musste sie das Kind ablenken.

»Dann wollen wir mal was zum Anziehen für dich suchen und dir ein Rührei machen«, sagte sie.

Die schmutzigen Sachen konnte das Mädchen auf keinen Fall wieder tragen. Sie hatte aber nichts dagegen, ein T-Shirt und Leggings von Jo anzuziehen, die sie bis zu den Waden hochrollte. Die Kleine half ihr in der Küche, wusch sogar zwei Teller ab. Beim Kochen und Essen versuchte Jo, das Kind zum Reden zu bringen, fragte wieder nach, woher es kam, doch es hielt an seiner haarsträubenden Geschichte fest. Trotz des »Grünzeugs«, ein wenig Babyspinat, verputzte das Mädchen Rührei aus drei Eiern. Anschließend futterte sie noch ein großes Stück Apfelkuchen und verkündete dann, sie habe Bauchschmerzen.

Nach dem Aufräumen und Spülen bettelte das Mädchen so lange, Kleiner Bär etwas zu essen geben zu dürfen, dass Jo ihr erlaubte, den Hund mit den Resten von Bohnen, Reis und Huhn zu füttern, die schon zu lange im Kühlschrank lagen. Sie gaben das Essen auf einen Teller und stellten ihn auf die betonierte Fläche vorm Haus. Der Hund schlang alles fast noch schneller hinunter als seine außerirdische Fürsprecherin. »Ich wasche den Teller ab«, verkündete das Mädchen.

»Nein, lass ihn draußen stehen. Komm, wir gehen ins Wohnzimmer und reden.« Jo wollte nicht, dass das Mädchen in der Nähe der Tür war, wenn der Sheriff kam.

»Worüber?«, fragte die Kleine.

»Setz dich zu mir!« Jo führte das Mädchen zu dem abgewetzten blauen Sofa. Sie hoffte, dass das Kind ihr noch vor dem Eintreffen des Deputys verriet, warum es im Wald unterwegs war. Solange es ihr noch ein bisschen vertraute. »Ich wüsste gerne deinen Namen«, sagte Jo.

»Hab ich dir doch schon gesagt.«

»Sag mir bitte deinen richtigen Namen!«

Das Mädchen legte den Kopf auf ein Kissen und rollte sich zusammen wie eine Raupe.

»Es gibt Menschen, die dir helfen können, egal, was passiert ist.«

»Darüber spreche ich nicht mehr mit dir. Ich finde es doof, dass du mir nicht glaubst.«

»Du musst darüber sprechen.«

Das Mädchen zog sich eine feuchte Locke über die Nase. »Dein Shampoo riecht gut.«

»Wechsel nicht das Thema!«

»Welches Thema?«

»Du kannst dich nicht ewig verstecken.«

»Ich will mich auch gar nicht ewig verstecken. Nach fünf Wundern bin ich weg.«

»Meine Güte, bist du stur!«, stieß Jo aus. Dann überlegte sie. Das Mädchen musste entsetzliche Angst haben. Was hatte das arme Kind erlebt?

»Kann ich hier schlafen?«

Der kleine Alien sah nicht gut aus: Die Wangen waren hohl und leichenblass, dunkle Ringe unter den Wimpern ließen die Rehaugen noch größer erscheinen. Sie erinnerten Jo an die Augen ihrer Mutter kurz vor dem Tod. Vom Morphium hatten sie so fremd geglänzt. »Ja, du kannst hier schlafen«, sagte sie, breitete eine Decke über das Mädchen und steckte sie um den schmalen Körper fest.

»Gehst du auch ins Bett?«

»Ich lese noch ein bisschen, aber ich bin so müde, dass ich bestimmt nicht weit komme.«

Das Mädchen drehte sich auf den Rücken. »Was tust du den ganzen Tag, dass du so müde bist?«

»Ich suche Vogelnester.«

»Wirklich?«

»Ja.«

»Das ist komisch.«

»Nicht für eine Vogelbiologin.«

»Das ist ja gerade das Komische. Ich habe gehört, die meisten Frauen auf der Erde sind Kellnerinnen, Lehrerinnen oder so.«

»Dann falle ich wohl nicht in die Kategorie ›die meisten Frauen auf der Erde‹.«

»Kann ich mithelfen, Nester zu suchen? Das hört sich an, als würde es Spaß machen.«

»Macht es auch, aber jetzt musst du erst mal schlafen.« Jo stand auf und ging zum vorderen der beiden Schlafzimmer.

Das Mädchen setzte sich auf. »Wo willst du hin?«

»Ich hole mein Buch. Dann setze ich mich zu dir und lese.« Jo verschwand kurz im dunklen Schlafzimmer, nahm die alte Ausgabe von Schlachthof 5 und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Sie setzte sich ans Ende des Sofas, wo das Mädchen seine Füße hatte.

»Was ist das für ein Buch?«, fragte das Kind.

»Es heißt Schlachthof 5. Darin kommen Aliens vor.«

Das Mädchen machte ein skeptisches Gesicht.

»Doch, echt. Sie heißen Trafalmadorianer. Kennt ihr Hedarehner die?«

»Nimmst du mich auf den Arm?«

»Ich …«

Eine Faust schlug gegen die äußere Gittertür. Die Polizei. Wahrscheinlich hatte es schon vorher geklopft, und Jo hatte es nicht gehört. Um den eintreffenden Polizeiwagen zu übertönen, hatte sie die Klimaanlage im Fenster auf die höchste Stufe gestellt.

Das Kind erstarrte wie ein Reh im Scheinwerferlicht und sah mit wildem Blick zur Eingangstür. »Wer ist das?«

Jo legte dem Mädchen die Hand auf den Arm. »Du brauchst keine Angst zu haben! Hör zu, ich möchte wirklich gerne wissen, was pass…«

»Du hast die Polizei gerufen?«

»Ja, aber …«

Das Mädchen sprang auf und warf die Decke auf Jo. Dann sah sie ihr mit einem verletzten Blick und voller Verachtung in die Augen und verschwand in der Küche. Die Hintertür wurde geöffnet, die Fliegengittertür fiel hinter der Kleinen zu.

Jo befreite sich von der Decke und legte sie in die warme Kuhle, wo das Alienmädchen gelegen hatte. Sie hätte es nicht gegen seinen Willen festgehalten. Niemand hatte das Recht, das von ihr zu erwarten.

Wieder schlug die Faust gegen die Tür. Jo ging auf die Veranda und erkannte durch das Gitter einen Mann in Uniform. »Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte sie. »Ich bin Joanna Teale.«

»Haben Sie wegen eines Mädchens angerufen … das angeblich obdachlos ist?«, fragte der Mann im breiten Dialekt der Gegend.

»Ja, habe ich. Kommen Sie herein!« Sie ließ den Deputy auf die Veranda. Er sah zur offenen Eingangstür hinüber, das Gesicht fahl im Schein der violetten Insektenlampe. »Ist sie im Haus?«

»Kommen Sie herein!«, wiederholte Jo.

Der Deputy folgte ihr ins Wohnzimmer und machte die Tür hinter sich zu, damit es im Haus kühl blieb. Auf seinem Namensschild stand »K. DEAN«. Er sah aus wie Mitte dreißig, hatte schütteres Haar und war ein bisschen dicklich. Sein schlichtes rundes Mondgesicht wurde von einer dicken Narbe durchteilt, die sich von seinem linken Kiefer die Wange hochzog. Aus beiläufiger Gewohnheit fiel sein Blick auf Jos Oberkörper. Da es dort nichts zu sehen gab, wartete Jo, bis er wieder bei ihren Augen angekommen war. Es dauerte zwei Sekunden, vielleicht weniger. »Als Sie geklopft haben, ist das Mädchen weggelaufen«, erklärte sie.

Er nickte und sah sich um.

»Wissen Sie von irgendwelchen ausgerissenen Kindern, oder gibt es Vermisstenmeldungen hier aus der Gegend?«, fragte sie.

»Nein.«

»Es werden keine Kinder vermisst?«

»Kinder werden immer vermisst.«

»Hier in der Gegend?«

»Nicht dass ich wüsste.«

Sie erwartete, dass er ihr Fragen stellte, doch er schaute sich immer noch um, als hätte er es mit einem Tatort zu tun. »Sie ist gestern hier aufgetaucht. Ist ungefähr neun Jahre alt.«

Der Deputy sah Jo an. »Wieso dachten Sie, das Mädchen sei obdachlos?«

»Sie hatte eine Pyjamahose an …«

»Ich glaube, die sind bei den Kids gerade groß in Mode«, bemerkte er.

»Außerdem war sie schmutzig und hatte einen unglaublichen Hunger. Und sie war barfuß.«

Obwohl der Deputy schwach lächelte, bewegte sich seine Narbe nicht. »Könnte ich mit neun Jahren sein.«

»Sie hatte auch Blutergüsse.«

Endlich wirkte er besorgt. »Im Gesicht?«

»Am Hals, am Bein und am Arm.«

Argwohn verdunkelte seine grünen Augen. »Woher wissen Sie das, wenn das Mädchen lange Kleidung trug?«

»Ich habe sie duschen lassen.«

Er kniff die Augen fester zusammen.

»Wie gesagt, sie war schmutzig. Und ich musste sie irgendwie beschäftigen, während ich auf Sie gewartet habe. Ich habe ihr auch etwas zu essen gegeben.«

Dass er Jo ansah, als hätte sie etwas falsch gemacht, brachte sie auf die Palme.

»Ich verstehe immer noch nicht, wie Sie auf die Idee kommen, das Mädchen könnte obdachlos sein«, bemerkte er.

»Mit ›obdachlos‹ meine ich, dass sie Angst hat, nach Hause zu gehen.«

»Also ist sie doch nicht obdachlos.«

»Ich weiß es nicht!«, rief Jo. »Sie hat blaue Flecken. Sie wurde vielleicht misshandelt. Ist das etwa egal?«

»Hat sie gesagt, dass ihr jemand weh getan hat?«

Die Alien-Geschichte würde die ohnehin vertrackte Situation nur noch komplizierter machen. »Sie wollte mir nicht sagen, woher sie die Blutergüsse hat. Sie wollte mir gar nichts sagen, nicht mal ihren Namen.«

»Haben Sie sie gefragt?«

»Ja, allerdings.«

Der Deputy nickte.

»Brauchen Sie eine Personenbeschreibung?«

»Na gut.« Er zückte jedoch keinen Notizblock, sondern nickte nur, während Jo das Mädchen beschrieb.

»Werden Sie morgen nach ihr suchen, wenn es hell ist?«

»Wenn sie weggelaufen ist, will sie nicht gefunden werden.«

»Ja, und? Sie braucht Hilfe.«

Der Deputy sah Jo an, als hätte er sich längst eine Meinung gebildet. »Welche Hilfe braucht sie denn Ihrer Ansicht nach?«

»Sie kann ja wohl nicht in einem gewalttätigen Umfeld bleiben!«

»Soll sie vielleicht in eine Pflegefamilie?«, fragte der Deputy.

»Wenn nötig.«

Er überlegte kurz, rieb sich die Narbe, als würde sie jucken. »Ich sag Ihnen mal was«, begann er, »was Sie vielleicht falsch verstehen, aber ich erzähl’s trotzdem. Auf der Mittelschule wurde ein Freund von mir seiner Mutter weggenommen, weil sie trank und sich praktisch nicht um ihn kümmerte. Er kam zu Leuten, die mehrere Pflegekinder hatten, weil sie dafür Geld vom Staat bekamen – das gibt es öfter, als Sie glauben –, und am Ende war mein Freund viel schlimmer dran als bei seiner Mutter. Der Pflegevater hat ihn verprügelt, die Pflegemutter machte ihn psychisch fertig. Mit fünfzehn starb mein Freund an einer Überdosis.«

»Was wollen Sie damit sagen? Dass das Kind besser in einem Umfeld bleibt, in dem es misshandelt wird?«

»Das habe ich nicht gesagt, oder?«

»Sie haben es angedeutet.«

»Nein, angedeutet habe ich nur, dass das Mädchen nicht vom Regen in die Traufe kommen soll. Sie kann die Blutergüsse auch haben, weil sie über einen Zaun geklettert oder von einem Baum gefallen ist, und wenn man sie darauf anspricht, wird sie das wahrscheinlich auch behaupten, selbst wenn es nicht stimmt. Kinder sind schlauer, als wir meinen. Sie wissen oft besser als Sozialarbeiter, die keinen blassen Schimmer von ihrem Leben haben, wie sie mit der Scheiße umgehen sollen, mit der sie jeden Tag zu tun haben.«

Waren das die ungeschriebenen Gesetze in dieser Gegend? Oder war es nur die verbitterte Meinung eines Mannes, der seinen Jugendfreund verloren hatte?

»Das heißt wahrscheinlich, dass Sie nicht nach ihr suchen werden, oder?«, fragte Jo.

»Was sollen wir tun? Hunde auf das Kind ansetzen?«

Jo brachte den Deputy zur Tür.

4

Jo ging mit einer Taschenlampe nach draußen, um das Mädchen zu suchen. Eine Wetterfront war aufgezogen, die am nächsten Tag Regen bringen sollte. Die Wolken verdeckten Mond und Sterne. In der schwülen Luft roch Jo bereits eine Ahnung von Regen. Von dem Mädchen sah sie keine Spur.

Ein paar Stunden später kam der Regen, ein heftiges Trommeln auf dem Dach, das Joe aus einem tiefen Schlaf riss. Sie dachte an das Mädchen, das jetzt ganz allein im dunklen Wald sein musste, und bereute, den Sheriff gerufen zu haben. Sie schaute auf ihr Handy: 2.17 Uhr. Heute war der Geburtstag ihrer Mutter. Sie wäre einundfünfzig geworden.

Jo ging ins Bad, eher zur Ablenkung als aus einem Bedürfnis heraus. Während sie sich Wasser ins Gesicht spritzte, beugte sie sich vor und betrachtete im Spiegel ihre gesund schimmernde Haut und die sonnengebleichten Strähnen in ihrem Haar. Ihr Gesicht war schmaler, und die Haare waren noch nicht wieder lang genug, um sie zu einem Pferdeschwanz zu binden, doch sie sah fast wieder wie sie selbst aus.

Fast. Ihre graugrünen Augen verspotteten sie im Spiegel. Wen sah sie dort – die alte Jo oder die fast