Ein Paar, ein Tandem und 15.000 km nach Indonesien - Antonia Merz - E-Book

Ein Paar, ein Tandem und 15.000 km nach Indonesien E-Book

Antonia Merz

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Beschreibung

Antonia und Daniel kündigen ihre Jobs, um bei alten Freunden in Indonesien eine Pizza zu essen – ohne dafür zu fliegen. Auf dem Tandem reisen sie über den Balkan, die Türkei, Georgien, Aserbaidschan, den Iran, fast alle Stan-Länder, China und Südostasien. Was sie erwartet? Eine Welt, die sich ihnen öffnet. Mit all ihren Reizen, ihren Wundern und Begegnungen. Und all ihren Härten, Ungerechtigkeiten und Strapazen.

Was macht es mit zwei Menschen, die glauben einander zu lieben, stundenlang denselben Rhythmus zu treten? Und dabei so exponiert zu sein, wie nur möglich. Auf einem Tandem, für jeden sicht- und berührbar, nie für sich allein. Antonia nimmt uns mit auf die Reise. In ihrem eigenen Kopf. Wir dürfen teilhaben – an den widersprüchlichen Gefühlen, den Herausforderungen, aber vor allem an all dem Glück, das uns berührt.

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Seitenzahl: 411

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Buch

Antonia und Daniel kündigen ihre Jobs, um bei alten Freunden in Indonesien eine Pizza zu essen – ohne dafür zu fliegen. Auf dem Tandem reisen sie über den Balkan, die Türkei, Georgien, Aserbaidschan, den Iran, fast alle Stan-Länder, China und Südostasien. Was sie erwartet? Eine Welt, die sich ihnen öffnet. Mit all ihren Reizen, ihren Wundern und Begegnungen. Und all ihren Härten, Ungerechtigkeiten und Strapazen.

Was macht es mit zwei Menschen, die glauben, einander zu lieben, stundenlang denselben Rhythmus zu treten? Und dabei so exponiert zu sein, wie nur möglich. Auf einem Tandem, für jeden sicht- und berührbar, nie für sich allein. Antonia nimmt uns mit auf die Reise. In ihrem eigenen Kopf. Wir dürfen teilhaben – an den widersprüchlichen Gefühlen, den Herausforderungen, aber vor allem an all dem Glück, das uns berührt.

Autorin

Antonia Merz, geboren 1985, hat die Welt bereist – auch mit dem Flugzeug –, bis ihr Studium der Nachhaltigkeit und die Arbeit in einer NGO sie unter anderem das Fliegen aufgeben hat lassen. Reisen finden jetzt per Tandem oder Zug statt, meist von Basel in der Schweiz aus, wo sie lebt und arbeitet. Antonia bloggt auf wanderwonder.de.

ANTONIA MERZ

EIN PAAR, EIN TANDEM UND 15.000 KM NACH INDONESIEN

Was wir auf unserer Reise durch 22 Länder über uns und die Welt erfahren haben

Alle Ratschläge in diesem Buch wurden vom Autor und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Eine Haftung des Autors beziehungsweise des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist daher ausgeschlossen.Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der schlechten Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe März 2023

Copyright © 2023: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Uno Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Antonia und Daniel auf dem Tandem: © Alfian Riyadi

Alle weiteren Bilder © Antonia Merz

Redaktion: Nina Schnackenbeck

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

GS ∙ IH

ISBN 978-3-641-29434-2V002www.goldmann-verlag.de

INHALT

1 Good Night, Baby

2 Europa im Zeitraffer

3 Vor dem Aus

4 Leidenschaft

5 Geerdet

6 Ganz nah dran

7 Inspiration

8 (Über-)Leben in der Islamischen Republik

9 Eine Frage der Eh(r)e?

10 Von der Anstrengung, eine Frau zu sein

11 Was nicht dem Koran entspricht, gibt es nicht

12 Süße Unbefangenheit

13 Zettelwirtschaft

14 Bis hierhin und nicht weiter

15 Wer hat hier die Hosen an?

16 Liebe

17 Grenze und Grazie

18 Wille

19 Menschlichkeit

20 Servus, schon satt?

21 Es werde Licht

22 Bröckelnder Pamir

23 Reifezeit

24 (Keine) Goldige(n) Zeiten

25 Freundschaft

26 Einfaches Glück

27 Geborgenheit

28 Die Pferde im Dorf lassen

29 Starke Frau, weites Land

30 Satt

31 Verwöhnprogramm und Vorurteile

32 Hanmonie?

33 Trennung auf Zeit

34 Tagträume

35 Heimwe(h)g

36 Das Leben dahinter

37 Der innere Welpe

38 Trostlosigkeit

39 Mein eigenes Bett

40 In der Schweiz Asiens

41 Ohne Tandem?

42 Knietief in der Scheiße

43 Finito

44 Angekommen?

45 Leere

46 Heimat

47 Was bleibt?

48 Epilog

Bildteil

Danke, Daniel.

1 GOOD NIGHT, BABY

Ich schlage die Augen auf und blicke in totale Dunkelheit. Ich bekomme kaum Luft. Es ist heiß. Ich spüre die feuchten Stellen auf meinem Rücken. Ein Geräusch lässt mich erstarren. Ich kann nicht sagen, was es ist, und lausche angestrengt. Vielleicht kommt es wieder.

Erst jetzt nehme ich die anderen Geräusche wahr. Als wäre ich aus der Stille des Wassers aufgetaucht. Mit einem Schlag sind alle meine Sinne hellwach. Meine Augen starren weit aufgerissen in tiefe Dunkelheit. Daniel atmet gleichmäßig neben mir. Der Schlafsack, der an mir klebt, raschelt bei der kleinsten Bewegung. Ich versuche, meine schnelle Atmung in den Griff zu bekommen. Mich überkommt die Ahnung, dass etwas nicht in Ordnung ist. Mein frisch erwachtes Selbst ist in Alarmbereitschaft und lauscht – da ist es wieder! Ein glucksender, röhrender Laut, der durch die verwundbare Zeltwand dringt. Zu groß für einen Frosch, zu tierisch für einen Menschen, zu grotesk für ein gesundes Tier. Ein Hirsch würde nicht auf sich aufmerksam machen, sondern still hoffen, dass das seltsame rote Ding, das aussieht wie ein großer Stein und so komisch riecht, ihn noch nicht entdeckt hat. Also muss es ein Raubtier sein. Etwas, das scharfe Zähne hat. Ich denke an den Hirten in Georgien, der uns von den Bären erzählt hat. Aber in einem anderen Tal. Wir sind erst heute nach Aserbaidschan eingereist und direkt in diese abgelegene Gegend gefahren. Wir konnten noch mit niemandem über wilde Tiere reden. Ob sich Bären hier auch wohlfühlen?

Wir sind mitten im Nichts und schutzlos. Seit acht Uhr abends ist kein Auto mehr auf der nahen Schotterpiste gefahren, ich kenne keine Notrufnummer, und die nächsten Nachbarn wohnen sicher zwei Kilometer entfernt. Ich zwinge mich wieder, meine Atmung zu kontrollieren, ziehe meinen Arm aus dem Schlafsack und stupse Daniel an. Der ist sofort hellwach und setzt sich auf. Da ist es wieder.

»Was ist das?«

»Keine Ahnung.«

Ist es nur eines oder sind es mehrere? Ich verfluche die Tatsache, dass uns gerade heute das Pfefferspray verloren gegangen ist.

Wieder ein Röhren. Ich setze mich ebenfalls auf und wir besprechen flüsternd, was wir tun sollen. Das Messer ist in der gelben Tasche und die ist am Tandem, unerreichbar für uns. Daniel hat einen großen Ast zwischen Innen- und Außenplane des Zelts bereitgelegt. Für den Fall, dass das Rudel Straßenhunde, das uns am Tag begegnet ist, nachts auf die Idee kommen sollte, uns einen Besuch abzustatten.

»Ich geh raus.« Ich stelle mir vor, wie er die Außenplane des Zelts öffnet und ein vor Tollwut schäumender Straßenköter ihn anfletscht. Wenn es mehrere sind, haben wir schlechte Karten. Daniel setzt die Stirnlampe auf, knipst sie an und öffnet langsam den Reißverschluss des Zelts, während er den Holzknüppel umfasst.

Ein kühler Schwall Luft lässt mich erschaudern. Sein Rücken versperrt mir die Sicht nach draußen, aber direkt vor dem Zelt scheint das Vieh nicht zu sitzen. Ich kauere hellwach und angespannt hinter ihm.

»Und? Und?« Mein ganzer Körper ist im Fluchtmodus. Gänsehaut überzieht die feuchten Stellen und jeder meiner Muskeln ist angespannt. Daniel zwängt sich aus dem Zelt und richtet sich auf. Ich schiebe meinen Kopf vorsichtig durch die frei gewordene Öffnung. Daniel leuchtet in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen ist. Wir blicken in zwei reflektierende Augen, ungefähr sechs Meter vom Zelt entfernt! Einen Moment verharren wir still. Dann schlägt Daniel mit dem Stock hart auf den Boden. Das Etwas macht sich davon.

»Was war das?« Ungefähr so groß wie ein großer Fuchs oder ein kleines Reh. Und definitiv etwas mit scharfen Zähnen.

Ein Gefühl von großer Zuneigung für Daniel überkommt mich und die Anspannung löst sich teilweise. Ich schäle mich aus meinem viel zu warmen Hochtourenschlafsack und sauge die kühle Nachtluft, die weiter durch die offene Zelttür hereindringt, ein. Wir legen uns wieder hin und versuchen, die Anspannung abzuschütteln. Es wird eine unruhige Nacht.

***

Als ich das nächste Mal die Augen aufschlage, blicke ich in die golden erhellte Kuppel des Zelts. Die Nacht ist überstanden. Ich muss grinsen. Denn die Geschichte ist so alt wie die Menschheit: Dunkelheit ist uns unheimlich und lässt so manches größer erscheinen als es ist. Die totale Dunkelheit ist ungewohnt, man muss sich mehr auf seine anderen Sinne verlassen. Nachts (in einem Zelt) kommt einem jedes Geräusch lauter vor. Man hat Angst. Angst, verletzt oder gar getötet zu werden. Es ist ein ungewohntes Gefühl für uns behütete Mitteleuropäer, die wir sonst in unseren massiven Häusern und weichen Betten nächtigen. Meist umgeben von Nachbarn und einem Telefonanschluss in der Nähe, mit dem man leicht Hilfe holen kann. Nie fällt es mir leichter, realistische Worst-Case-Szenarien zu entwickeln, als nachts, in völliger Dunkelheit in einem Zelt, nur durch eine dünne Nylonschicht getrennt von dem Draußen. Die Angst grätscht sofort in meine rationalen Überlegungen. Diese Angst ist eigentlich unser Freund. Sie soll uns schützen, sie warnt und weckt uns, wenn etwas nicht planmäßig verläuft, und gibt uns die Kraft, körperlich über uns hinauszuwachsen, wenn es nötig ist.

Ich muss an die letzte Nacht denken, die ich vor mehr als drei Monaten in meinem eigenen Bett verbracht habe. Die war auch etwas unruhig. Aber anders.

***

Ich höre Daniel neben mir tief und gleichmäßig atmen. Meine Sinne sind hellwach. Ich bleibe still liegen und versuche die Zeit auszudehnen. Dies sind die letzten Stunden, die ich in dieser Wohnung verbringen werde. Zumindest für die nächsten Monate.

Ein Jahr davor. Wir sitzen an einem Sonntagmorgen beim gemütlichen Frühstück nebenan im Wohnzimmer, als Daniel zum wiederholten Mal das Thema »Nach Indonesien fliegen« auf den Tisch bringt.

»Ich will den Ort sehen, an dem du ein Jahr lang gelebt hast.« Das war, bevor wir uns kennengelernt haben und bevor ich beschlossen habe, keine Langstreckenflüge mehr zu buchen. So wie ich mir andere kleine und größere Aufgaben stelle, um herauszufinden, ob es wirklich so schwer ist, einen für Mutter Erde verträglichen Lebensstil zu führen. Das Ganze ist ein Prozess, der bis zu diesem Zeitpunkt ungefähr bereits sieben Jahre andauert. Ich arbeite für eine Umweltschutzorganisation und das Wissen, das ich über den Zustand unserer Erde angesammelt habe, lässt mir keine andere Wahl: Fliegen fällt aus. Daniel kennt das Spiel schon. Schließlich haben wir die letzten sechs Jahre miteinander verbracht. Na ja, mehr oder minder. Zuerst war ich nämlich noch in Hamburg und habe Praktika und meinen Nachhaltigkeits-Master gemacht, während er seinen Master in Informatik abgeschlossen und den ersten Job begonnen hat. Erst drei Jahre später sind wir dann zusammen in diese Wohnung gezogen und konnten ausprobieren, ob wir uns auch noch lieben, wenn wir am selben Ort leben.

Hat ganz gut funktioniert. Trotzdem lässt Daniel die Idee, nach Indonesien zu reisen, nicht los. An diesem Morgen ist er irgendwie hartnäckiger.

»Dann lass uns hinlaufen, wenn du nicht fliegen willst.« Ich stelle mir kurz vor, einen riesigen Rucksack durch die Welt zu schleppen, und spüre es in meinem unteren Rücken ziepen.

»In den Bergen wandern – mega! Aber durch die Welt pilgern zu Fuß? Nein, danke.« Wir lachen über die Idee, werden aber still, als uns der naheliegende Gedanke kommt, den Daniel zuerst ausspricht:

»Radeln?« Daniel ist begeisterter Radsportler, mit Team, Trikot, Wettkämpfen und rasierten Waden. Und ich finde es auch ganz nett, mir den Fahrtwind bei einer leicht abschussigen Fahrt ins Gesicht wehen zu lassen. Aber …

»… dann muss es ein Tandem sein! Ich schnaufe dir doch nicht hinterher, während du locker flockig über die Berge ziehst!« Ich will nicht immer das Gefühl haben, dass er auf mich warten muss. Auch wenn Daniel mir das nie vorwerfen würde.

Daniel fährt so routiniert Rad wie er atmet. Ich hingegen bin schon am Rande des Wahnsinns, wenn wir zusammen Rennrad fahren und ich gleichzeitig lenken und daran denken muss, die Schuhe aus den Pedalen auszuklicken, wenn ich anhalte.

Wir nehmen betreten einen Schluck aus unseren Kaffeetassen und blicken uns fragend an.

»Echt jetzt?« Ich denke darüber nach, was wir uns in Konstanz alles aufgebaut haben, all die Beziehungen zu lieben Menschen, die engen Kontakte. Ich denke an meinen Job bei Filme für die Erde in der Schweiz, den ich liebe, und an das Team. So was ist nicht leicht zu finden. Und ich denke an meine Mami. Die mich schon wieder für ein Jahr gehen lassen müsste. Aber na ja, wir haben das schon zweimal geübt. Einmal direkt nach dem Abi, als ich meine Koffer für acht Monate Brasilien packte, und eben für Indonesien.

»Echt jetzt!« Wir stoßen mit unseren Kaffeetassen an und versprechen einander, dass wir das machen werden.

»Dann schau ich gleich mal, wie eine mögliche Route aussehen könnte.«

»Lass uns Nana und Matze besuchen. Wir brauchen eh viele Kohlenhydrate nach so einem Ritt und die machen die beste Pizza in Yogyakarta.« Matze kenne ich vom Indonesischstudium, mittlerweile ist er als ausgebildeter Koch in die Pizzeria seiner indonesischen Frau Nana eingestiegen.

Ich hebe den Zeigefinger, um die wichtigste Bedingung noch einmal zu unterstreichen:

»Und es wird nicht geflogen! Nicht zwischendrin und nicht auf dem Rückweg!« Daniel nickt ergeben.

Stunden später präsentiert er mir eine mögliche Route:

»Über den Balkan in die Türkei, von dort durch den Iran und ein paar der Stan-Länder, über China, Myanmar, Thailand, Malaysia und Singapur bis nach Indonesien, was meinst du?« Mir gefällt die blaue Linie, dich sich um die halbe Weltkarte spannt.

»Wie viele Kilometer sind das?«

»Ungefähr 15 000. Aber du weißt, wie das läuft. Hier sind viele Straßen mit eingeplant, die wir am Ende nicht fahren können oder wollen. Deswegen können das auch locker 20 000 Kilometer werden.« Ich schaue ihn erschrocken an.

»Ach, das ist ungefähr das, was ich im Jahr mit dem Rennrad fahre.« Daniel radelt im Schnitt drei Stunden pro Tag, überschlage ich. Das kann ich auch – wenn ich den ganzen Tag Zeit habe.

»Mmmh, klingt machbar. Und was ist mit dem Winter? Kommen wir um den rum?« Ich denke an diverse schlaflose Nächte in den eiskalten Bergen und mein Frostbeulenalarm schlägt sofort an.

»Hab ich natürlich dran gedacht. Ich denke, wenn wir im April losfahren, könnten wir den Herbst in Zentralasien erwischen und müssten auch auf dem ersten Drittel unserer Reise nicht so sehr frieren.« Klingt gut in meinen Ohren.

»Also kündigen wir spätestens zum Jahresende unsere Jobs. Die Wohnung? Zwischenmiete?« Daniel nickt.

In den nächsten Tagen beginnen wir unseren Freunden und Familien von unserem verwegenen Plan zu erzählen. Irgendwie merken sie gleich, dass es uns ernst ist, und während wir uns selbst immer wieder zuhören, kommt uns die Idee tatsächlich immer weniger abwegig vor. Wir klären mehr und mehr Details. Die Liste der Fragen zur Ausrüstung ist lang. Auf einem Tandem haben wir nur so viel Platz für Gepäck wie ein einzelner Radler. Wir sind aber zu zweit, und ich bin eine Frostbeule. Also müssen wir pragmatisch entscheiden, welcher Schlafsack dick genug ist, um mich vor der Kälte zu schützen, die uns im Hochgebirge erwartet, aber nicht zu voluminös für den täglichen Transport auf dem Tandem. Auch unsere Kleidung muss auf ein Minimum beschränkt werden. Und irgendwann sehe ich endlich ein, dass ich meinen Föhn zu Hause lassen muss.

Dann wäre da noch das Bürokratische. Gilt es als triftiger Grund, mit einem Rad die halbe Welt bereisen zu wollen, um einen zweiten Reisepass beantragen zu können? Den einen werden wir brauchen, um weiterreisen zu können, während der andere bei einer Botschaft liegt und ein Visum für ein nächstes Land bekommt. Eine Auslandskrankenversicherung wollen wir auf jeden Fall, aber welche ist die beste? Für welche Länder benötigen wir ein Visum und wie lange braucht es, das zu beantragen? Unser Wohnzimmer wird zur Reisezentrale, und es gibt eine Menge To-do-Listen, die wir erstellen, pflegen und sogar abarbeiten müssen.

Irgendwann merken wir allerdings, dass man nicht alles planen kann, und dass es auch wichtig ist, die Momente vor der Reise bewusst zu erleben. Ich finde für mich die Metapher des Zwischendecks: das Gefühl, sich auf dem Zwischendeck zu befinden, also nicht mehr ganz im Maschinenraum des normalen Alltags, bei dem die Prioritäten klar gesteckt sind und der Fokus klar ist, aber auch noch nicht ganz auf der Sonnenterrasse, auf der Überraschungen und Abenteuer warten und die nächsten Schritte nur von meinen Entscheidungen abhängen. Ich habe schon bei früheren Reisen gelernt: Es kommt immer – genau – anders als man denkt. Sowieso.

Ich nehme mir also vor, im Moment und den Tag von vorn nach hinten zu leben. So kann ich allem die nötige Aufmerksamkeit schenken und verpasse nicht das, was gerade noch passiert, weil ich in Gedanken bereits einen Pass hochkeuche. Und genau ab da beginne ich tatsächlich, mich zu entspannen und dem Neuen einfach hinzugeben.

Auch jetzt, wo ich hier so in unserem Bett liege, mache ich mir bewusst: Es gibt nichts mehr zu tun. In wenigen Stunden werden wir aufstehen, unsere Radtaschen fertig packen und mit unseren Freunden die ersten 40 Kilometer der geplanten Tour anfahren. Was danach kommt, weiß niemand. Aber in der Hülle der Nacht bin ich auf einmal tief davon überzeugt, dass dies der richtige Schritt ist. Und ich bin fest entschlossen, diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Tritt für Tritt.

So entscheide ich, die Zeit weiterlaufen zu lassen und mich dem Leben anzuvertrauen, auch wenn nichts sicher ist und ich die Verletzlichkeit meines Seins gerade sehr bewusst spüre. Ich berühre Daniels Arm und spüre seine Wärme. Sie trägt mich zurück in den Schlaf. Als ich die Augen wieder öffne, beginnt unser Abenteuer.

2 EUROPA IM ZEITRAFFER

IN ÖSTERREICH

Der Parkplatz eines Supermarktes irgendwo in Österreich. Wir sind bereits zwei Wochen unterwegs. Morgen ist Ostern. Wir sitzen neben dem Tandem und knabbern an einem Schokoriegel. Die beiden Radler, die neben uns geparkt haben, kommen gerade aus dem Laden. Sie sind Mitte 50 und haben unser Tandem vorher schon interessiert begutachtet, uns aber nicht angesprochen. Da fasst sich der Mann ein Herz und spricht uns an.

»Servus, wo soll’s denn hingehen?«

»Nach Indonesien.« Das will er genauer wissen. Wir zeigen ihm die geplante Route auf unserer in der Lenkertasche verstauten Weltkarte.

»Und wie läuft das mit der Navigation?«

»Halt immer gen Osten.« Er nickt beeindruckt. Er hätte uns auch einfach einen Vogel zeigen können.

»Von Deutschland nach Indonesien mit dem Rad? Das weiß doch keiner, ob das funktioniert.«

»Stimmt, aber wir werden es versuchen.«

IN SERBIEN

Mieses Regenwetter. So schlechtes Wetter hatten wir seit Beginn unserer Reise vor drei Wochen noch nie. Nicht in Slowenien, nicht in Kroatien, aber hier in Serbien erwischt uns der April. Voll.

Wir freuen uns bereits den ganzen Tag auf eine warme Stube und darauf, unsere Regenjackenkapuzen endlich abnehmen zu können. Meine Ohren fühlen sich darunter an wie eingesperrt. Das führt wiederum dazu, dass sie denken, wir seien drinnen, während meine Augen und mein Gesicht meinem Hirn jedoch melden, dass wir draußen sind. Weil nämlich der kalte Regen direkt in mein Gesicht klatscht. Das ist verwirrend, um nicht zu sagen nervtötend. Trotzdem hat es irgendwie etwas Heimeliges, die endlosen Alleen im Regen entlangzufahren. Die noch brachliegenden Felder, die Kuhlen, in denen sich Pfützen bilden, der raue Wind. Man spürt, dass man lebt.

Wir erreichen eine Kleinststadt und halten direkt auf ein Hotel zu. Es erinnert mich an eines der Gasthäuser im Schwarzwald, die in den 70ern höllisch chic waren und jetzt trist vor sich hingammeln. Der Putz blättert überall ab, manche Fenster sind zugenagelt, und in den anderen verhindern dicke, weiße Rüschenvorhänge den Blick nach innen. Ich steige trotzdem vom Rad und versuche, die Türklinke nach unten zu drücken. Ich erschrecke ein wenig, als die Tür tatsächlich nachgibt. Ich rufe zweimal »Halloooooo?« in den dunklen Flur dahinter, dann verlässt mich der Mut und ich trete den Rückzug an. Daniel googelt nach der Touristeninfo und tatsächlich – im Stadtzentrum soll es eine geben. Der Platz erinnert mich ebenfalls an den Schwarzwald. Denn dort habe ich das letzte Mal eine so hässliche 70er-Jahre-Plattenbauwüste gesehen. Und bei Regenwetter sieht das Ganze noch trostloser aus.

Die drei Damen der Touristeninfo sind sichtlich schockiert, als wir ihr heimelig warmes Büro betreten. Unsere Schuhe hinterlassen kleine Dreckpfützen auf dem Boden und von unseren Jacken tropft der Regen. Eine der Damen kann tatsächlich Englisch, und sie empfiehlt uns nicht nur ein günstiges Hotel, sondern auch noch ein Restaurant und ein Café. Mit so vielen Vergnügungsmöglichkeiten mitten auf dem Land haben wir gar nicht gerechnet. So starten wir positiv überrascht unsere Runde durch die Etablissements und sind hocherfreut: Das Hotel ist frisch renoviert und blitzsauber. Trotzdem murrt der Besitzer kein bisschen wegen der Dreckspur, die wir hinter uns herziehen. Das Café ist der Place to be, und wir schlürfen Kaffee, während draußen der Regen gegen die Fensterscheiben prasselt. Es ist ein wohliges Gefühl, inmitten der Einheimischen einen Nachmittag im Café zu verbringen und sich wie im Urlaub zu fühlen. Abends suchen wir das Restaurant, und ich ernte nichts als ein ungläubiges Kopfschütteln, als ich einen Passanten danach frage. Er deutet auf die kyrillischen Schriftzeichen direkt über uns.

»Du stehst direkt davor, Mädchen, kannst du nicht lesen?«, scheint er sagen zu wollen. Ne, kann ich tatsächlich nicht. Für mich sieht diese Schrift aus, als seien alle Buchstaben verdreht. Irgendwie bin ich sogar ein bisschen bockig, weil ich mir denke: Wie soll ich das denn lesen können?

Drinnen erwartet uns ein uriges Ambiente mit Holzvertäfelung, weißen Tischdecken und einem Kellner mit Fliege. Auf allen anderen Tischen türmen sich die Fleischberge, und ich staune, wie viel Tier in einen Menschen passt. Zwischendurch wird immer mal wieder am Sliwowitz genippt und es sieht einfach herrlich gemütlich aus. Die Platte, die vor uns beiden steht – die heiße Platte mit Gemüse –, ist im Gegensatz dazu reichlich mickrig bestückt, und ich fühle mich ein wenig geizig. Dabei essen wir Gemüse, weil es uns schmeckt und uns zufrieden macht, und nicht, weil wir uns das Fleisch nicht leisten können. Immer wenn ich selbst wählen kann, nehme ich eben lieber die vegetarische Alternative, um die Ressourcen unseres Planeten nicht noch weiter überzustrapazieren. Ich binde das nicht jedem auf die Nase, ich esse einfach so, und wenn es jemanden interessiert, dann erkläre ich es. Eine lange Geschichte, die ich an diesem Abend sicherlich nicht mehr loswerde, und so lehne ich mich zurück und genieße das dämmrige Licht, die von Essensdüften geschwängerte Luft und meinen kugelrunden Bauch. Echtes Ferienfeeling in Serbien.

IN BULGARIEN

Ich sitze auf einer kleinen Lichtung in der Hocke und mache Pipi. Da bemerke ich etwas aus dem Augenwinkel. Im nächsten Moment klatscht etwas Weiches, Feuchtes gegen mein Knie. Ich springe erschrocken auf und schaue auf eine Kröte, die vor mir im Gras liegt. Ich kann nur ihren Bauch sehen und für einen Moment frage ich mich, ob sie tot ist. Dann kommt langsam wieder Leben in sie. Sie war nur starr vor Schreck. Genau wie ich. Ich ziehe meine Hose hoch. Nie ist man allein.

***

Ich liege im Brombeerstrauch, meine linke Pobacke schmerzt ziemlich. Gerade sind wir noch über einen Feldweg geholpert. Im nächsten Moment finde ich mich hier wieder. Daniel steht über mir mit Entsetzen in den Augen.

»Alles okay?«

»Ich glaub schon.«

Ich sehe an mir herunter, und er hebt das Tandem von meinem linken Bein. Dann wirft er es auf die Seite und flucht wie wild. Ich befreie mich vorsichtig aus den Dornen und schwanke zwischen Schmerz, Wut und Mitgefühl für Daniel.

»Es tut mir leid. Ich hab’s versaut! Wir sind gecrashed.« Ich muss unwillkürlich grinsen und erinnere mich an die Anfänge unserer Tandemkarriere. Wie Daniel aufgrund seiner Rennraderfahrung eine viel höhere Trittfrequenz als ich vorlegte, und wie wir üben mussten, uns irgendwo zwischen Wie-wild-Kurbeln (meine Sicht) und Durch-die-Gegend-Eiern (seine Sicht) einzuschwingen. Oder wie ich an jeder Kreuzung einen mittleren Herzkasper erlitt, weil Daniel »schnittig« auf diese zuhielt und bereits über die Kreuzung drüber war, während ich einem entsetzten Autofahrer in die Augen sah, weil ich auf dem hinteren Teil des Tandems immer noch auf der Kreuzung »stand«. Oder wie er dank seiner jahrelangen Übung locker zwischen zwei Pfosten hindurchmanövrierte oder auf dem Randstein balancierte, während ich uns schon dabei sah, wie wir mit unseren riesigen Satteltaschen zwischen den Pfosten stecken bleiben und nach vorn absteigen würden, und wie dabei mein Knie auf der Straße zerschellen oder wir vom Randstein kippen würden. Oder wie wir uns selbst beibringen mussten, beim Anfahren nicht zweimal mit dem auf dem Boden stehenden Fuß anzuschubsen, sondern gleichzeitig den eingeklickten Fuß nach unten zu drücken und mit diesem Schwung direkt aufzusteigen. Und natürlich musste ich auch einen Teil meines emanzipierten Mitbestimmungsrechts überdenken und dieses dem Team unterordnen.

Es hat uns ein paar Diskussionen, das Abgleichen von Wahrnehmungen und viel Vertrauen gekostet, um unsere Bewegungen zu synchronisieren. Trotzdem stecken wir eben in zwei verschiedenen Körpern und deshalb geht nicht immer alles ohne Lernerfahrungen vonstatten.

Genau in diesem Moment erleben wir wieder eine solche, und ich entscheide über meinen inneren Tumult. Ich entscheide mich gegen die quengelnde Stimme, die Daniel gern die Verantwortung geben würde, und übernehme sie für mich selbst.

»Daniel, wir sind jetzt fast zwei Monate unterwegs. Wenn ich uns durch die Gegend lenken würde und es uns in dieser Zeit jede Woche nur einmal umgehauen hätte, wären wir schon mindestens achtmal auf der Fresse gelandet. Also hast du uns sieben Mal erspart.« Ich ziehe ihn zu mir her und nehme mir vor, ihm nie das Gefühl zu geben, dass er für mich verantwortlich ist, nur weil er lenkt. Ich habe selbst entschieden, hinten auf dem Tandem zu sitzen. Mit allen Konsequenzen.

***

Wir sind in Karabunar, einem Dorf 100 Kilometer hinter der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Es ist von Weinreben umgeben. Der lokale Wein wird von älteren Damen an bunten Ständen in Plastikflaschen verkauft. Wir halten an einem davon an, die ältere Dame fragt: »Sofia?« Wir nicken. Dann zeigen wir ihr auf der Karte, dass wir aus Deutschland hergeradelt sind. Sie schlägt die knochigen Hände über dem Kopf zusammen und macht große Augen. Wir zeigen auf den Wein und versuchen mit Händen und Füßen zu erklären, dass wir nur einen halben Liter kaufen wollen, indem wir die Zwei-Liter-Plastikflasche in vier Teile teilen und dann bei einem den Daumen recken. Sie schaut uns verdutzt an. Dann will sie uns mit ernstem Gesicht resolut eine Zwei-Liter-Flasche Wein in die Hand drücken. Wir winken ab und kaspern uns pantomiemend einen vor ihr ab. Wir sind so viel geradelt (mit den Händen kurbeln wir die imaginären Pedale vor unserer Brust), jetzt sind wir müde (Handflächen aufeinander, Wange drauf und Augen zu), wir können nicht so viel trinken (Kopf in den Nacken, die Flasche ansetzen und dann den Kopf schütteln). Sie bricht in hohes Lachen aus. Wir wissen nicht, ob aufgrund unserer Darbietung oder aufgrund der lächerlichen Weinmenge, die wir verlangen. Sie kriegt sich nicht mehr ein. Wir machen uns Sorgen um ihr Herz. Also nehmen wir die große Flasche und halten ihr den Geldbeutel hin. Sie schüttelt den Kopf. Ich schüttle auch den Kopf. Ich tue, als würde ich Trauben pflücken, sie stampfen und zu Wein machen. Ehrliche Arbeit verdient ehrliche Bezahlung, will ich damit zum Ausdruck bringen. Die alte Dame nimmt meine Hände, zieht mich zu sich herunter und küsst meine Stirn. Dabei murmelt sie wahrscheinlich einen Segen. Mein Widerstand ist gebrochen. Sie bekommt eine Umarmung statt Geld und wir radeln klingelnd von dannen. Sie hat Tränen in den Augen. Wir werden noch Tage später von dem Wein trinken und auf die alte Dame mit den runzligen Händen anstoßen.

IN GRIECHENLAND

Wir fahren nur 30 Kilometer durch das schöne Griechenland. Bei unserem Tempo sind das ohne Pausen eineinhalb Stunden. Gerade lang genug, um einen Drink in einer Dorfbar zu nehmen und eine echte griechische Grillplatte mit einem Haufen Fleisch darauf zu verschlingen – zu verführerisch weht der Grillgeruch zu uns herüber. Als wir unser Tandem vor der Bar parken, werden wir von dem älteren, ausschließlich männlichen Publikum kritisch beäugt. Wir sagen »καλή μέρα« – »Kalimera« und eilen an die Bar – wir haben ganz schön Hunger. Nach kurzer Pantomime ist klar: Es gibt hier nichts zu essen. Also bestelle ich, was meine liebste griechische Freundin bestellen würde: einen Frappé. Ein recht süßes Instantgetränk, das wohl an Eiskaffee erinnern soll. Wir liegen damit eindeutig im Trend und so langsam wagen sich die älteren Männer an uns heran. Einer wird vorgeschoben, denn er kann Deutsch.

»Wo geht’s hin?«

»In die Türkei.« Wir haben es schon bis hierher geschafft und sind ein wenig stolz. Er beugt sich verschwörerisch zu uns herüber und lässt uns wissen, dass die Türken ein fürchterliches Volk seien. Seine schwarzen Augenbrauen sind dabei fest zusammengekniffen, der Ausdruck seiner dunklen Augen ernst. Wir grinsen ihn an und sagen, wir werden es herausfinden.

AN DER GRENZE VON GRIECHENLAND ZUR TÜRKEI

Vier Wochen, so schnell schafft man es also mit dem Rad von Deutschland bis in den äußersten Westen der Türkei. Als wir an der Grenze stehen, komme ich mir ein bisschen vor wie im CERN. Oder sonst einem Ort mit hochsensiblen Geheimnissen. Der Stacheldraht begrenzt die schmale Straße. Überall sind Schilder, die einem verbieten, Fotos zu machen oder anzuhalten. Als wir auf der anderen Seite ankommen, klopft man uns erst mal auf die Schulter. Gut, dass ihr da seid. Hier ist alles besser. Dabei sind wir nicht aus einem autoritären Spitzelstaat gekommen, in dem wir um unser Leben bangen mussten, sondern aus der Europäischen Union. Aus Griechenland. Die türkischen Beamten bitten uns freundlich, unsere Taschen zu öffnen, und wir erleben die erste ernsthafte Grenzkontrolle unserer Reise. Während ein Beamter unsere Taschen ein wenig lustlos inspiziert, geben wir einem anderen unsere Personalausweise. Kaum zu glauben, aber deutsche Staatsbürger dürfen hier mit Perso einreisen. Ganz im Gegensatz zu den Türken, die ein Visum für Deutschland benötigen. Der Beamte schaut sich die Ausweise an und gibt uns zu verstehen, dass wir kurz warten sollen. Wir treten ein Stück von dem Grenzhäuschen zurück und schauen nervös zu, wie der andere Beamte immer noch in unseren Taschen herumwühlt.

»Antonia!« Mein Kopf fährt herum, als ich meinen Namen höre. Ich kann aber nicht zuordnen, woher die Stimme kam. Am ehesten aus dem Grenzhäuschen, in dem sich noch der Beamte mit unseren Ausweisen befindet. Aber der blickt ungestört auf sein Pult. Ich beschließe, mich verhört zu haben, und entspanne mich wieder.

»Daniel!« Daniel und ich schauen nun beide zum Grenzhäuschen, dann er zu mir und zuckt die Schultern. Ich jedoch drehe meinen Kopf nicht ganz zurück, sondern linse aus dem Augenwinkel immer noch halb in Richtung Kabine.

»Antonia!« Ha, jetzt habe ich sie! Die Kollegin des Ausweisprüfers hat gerade ganz klar meinen Namen gerufen. Aber ohne aufzublicken.

»Krass, die prüfen, ob wir auf unsere Namen reagieren.«

»Weil die denken, wir haben die Ausweise geklaut?«

»Möglich.« Ich fühle ein mir neues Gefühl. Zumindest an einer Grenze: Wut. Man unterstellt mir, dass ich etwas Unrechtes im Schilde führe. Mein Ego plustert sich auf. Hallo, was soll das? Dann sehe ich der Wahrheit ins Auge: Ich bin es einfach gewohnt, immer ganz problemlos durchzuflutschen. Ist das nicht so, fühle ich mich sofort ungerecht behandelt. Wie oft das wohl Menschen passiert, die keinen deutschen Pass haben?

Der Beamte im Kasten winkt uns nun zu sich und übergibt uns unsere Persos.

»Have a great journey.«

»Teşekkür.« – »Dankeschön.«

IN DER TÜRKEI

Ich schneide Tomaten. Wir sitzen auf einer Bank am Straßenrand in einem Dorf auf dem Land. Wir sind müde und dreckig und lassen uns unsere Vesper schmecken. Ich lecke meine Finger ab. Zwei alte Herren gehen vorbei. Der eine trägt ein Tweed-Jackett. Er bleibt stehen, hebt seine rechte Hand zu seinem Herzen und deutet eine kleine Verbeugung an, bei der er seinen Kopf elegant leicht schräg legt. Aus seinem Mund kommt ein leises, aber herzliches »Hoş geldiniz!« – »Seid willkommen.« Ich führe reflexartig ebenfalls meine rechte Hand ans Herz und bedanke mich: »Teşekkür«. Erst später lernen wir die richtige Antwort: »Hoş bulduk« – »Es freut mich, hier zu sein.« Ich bin tief gerührt von dieser Geste und muss seitdem jedesmal an diesen Herrn denken, wenn uns jemand auf diese Weise begrüßt.

***

Die Sonne glitzert auf dem Bosporus, im Hintergrund ragen die filigranen Türme der Blauen Moschee in den wolkenlosen blauen Himmel über Istanbul. Ich lehne mich zurück und lasse meinen Blick über die Menge schweifen. Das hier könnte auch ein Biergarten sein. So viel Grün und umhereilende Kellner. Nur stecken die nicht in Lederhosen, sondern in schwarzen Hosen und weißen Hemden. Und sie servieren keine Maß, sondern schön geschwungene Teegläschen mit heißem »Chai« – Schwarztee – darin. An den Tischen sitzen Hipster, türkische Großfamilien, verliebte Pärchen, elegante Ehepaare und genießen ihren Tee oder haben – wie wir – eine Auswahl an – wohlgemerkt, selbst mitgebrachten! – Leckereien vor sich. Ein perfekter Sonntagmorgen in Moda, dem alternativen Stadtviertel Istanbuls. Unsere neu gewonnenen Freunde Ibo, Türke, selbst begeisterter Radler, und Marion, Französin, haben uns hierhergebracht, zu einem ihrer Lieblingsplätze, nachdem wir eine Tour durch den Feinkostmarkt von Moda gemacht haben, wo wir uns unsere Schätze selbst ausgesucht haben.

Es geht hier etwas gesitteter zu als auf den Märkten, die wir bisher kennengelernt haben. Dort stapelten sich Granatäpfel, Orangen, Karotten und Tomaten zu kunstvollen Türmen auf. Das Fleisch lag offen auf der Theke und der süß säuerliche Geruch ließ mich die Luft anhalten. Es gab türkischen Frühstücksschafskäse direkt aus der Lake, Honig in der Wabe, Pyramiden aus Gewürzen, die die Verkäufer mit Schäufelchen umgraben. Knusprige Simits, eine Art Bagel mit Sesamsamen, getrocknete Tees und Kräuter von alten Frauen, die verrunzelt und eingefallen neben ihren wenigen, selbst hergestellten Produkten hockten und zu uns aufschauten. Hier in Moda gibt es für fast jedes Lebensmittel ein eigenes Geschäft und man darf alles nach Herzenslust probieren.

Ich erwache aus meinem Tagtraum aus Farben und Gerüchen, weil Ibo mir ein Stück Brot mit einer weißen Creme vor die Nase hält. »Damit schafft ihr jeden Berg!« Ich beiße herzhaft in das Brot. Der Belag ist milchig, frisch und fast ein bisschen süß.

»Das ist Kaymak.»

»Eigentlich nichts anderes als Schichtsahne, man nimmt sie hier zum Kochen oder bestreicht eben Brot damit«, ergänzt Marion schulterzuckend.

Ich als Butterfetischistin und heimliche Sahnebecher-Ausleckerin bin begeistert – und das alles mit diesem Ausblick!

3 VOR DEM AUS

Ich versuche den Schmerz zu ignorieren. Meine Aufmerksamkeit auf den Punkt in mir zu konzentrieren, der diesen pochenden, schabenden Schmerz in meinen Knien ausblenden kann. Das hat die letzten Wochen ganz gut funktioniert. Nur wird der Schmerz immer schlimmer, meine Nerven immer dünner und ich merke, wie meine Lippen anfangen zu beben.

Eigentlich sollte ich diesen Teil der Radelei gerade genießen. Nachdem wir uns entschieden haben, den »Hell of a Highway«, die D100, DIE Straße, die die Osttürkei mit der Westtürkei verbindet, zu verlassen, um dem gefährlichen und hässlichen Verkehr zu entkommen, radeln wir nun durch welliges Hinterland. Mit nur einer Spur in jede Richtung, und so abgelegen, dass ohnehin fast nie ein Auto vorbeikommt. Die Landschaft ist herrlich. Sattes Grün umgibt uns und die Menschen in den Dörfern nicken uns freundlich zu, wenn wir vorbeigondeln. Aber dieser Schmerz krallt sich erbarmungslos in meine Knie, jedes Mal, wenn einer meiner Füße am höchsten Punkt der Umdrehung angekommen ist und ich Druck auf das Pedal ausübe, um die nächste Runde zu beginnen. Ich versuche auszurechnen, wie oft pro Minute ich diese Bewegung mache und ob es wohl eine Schmerzgrenze gibt, die sich in Schmerz pro Minute berechnet.

Wir haben gerade wieder eine kleine Anhöhe geschafft, und ich bitte Daniel, anzuhalten. Ich versuche so vorsichtig wie möglich auf dem rechten Fuß zu landen, aber es hilft nichts. Der Schmerz treibt mir die Tränen in die Augen und den Schweiß auf die Stirn. Ich muss all meine Willenskraft aufbieten, um den anderen Fuß aus der Fahrradschuhbindung zu klicken, und stehe dann für einen Moment um Fassung ringend mit dem Rücken zu Daniel. Er bemerkt sicher an meiner Körperhaltung und daran, dass ich immer öfter still bin, dass etwas nicht stimmt. Ich drehe mich schweigend um, ohne ihm in die Augen zu blicken, und halte den Lenker, sodass er das Tandem routiniert auf den Standständer hieven kann. Dann kommt er um das Rad herum und nimmt mich schweigend in den Arm. Ich bebe in seiner Umarmung und frage mit erstickter Stimme:

»Wie soll ich das aushalten? Wir sind erst sieben Wochen unterwegs und brauchen sicher noch viermal so lange, bis wir in Indonesien sind.«

Meine Knie waren schon immer Memmen. Seit mir mit 18 Jahren Arthrose in beiden Knien diagnostiziert wurde, mache ich regelmäßig meine Übungen. Wir haben sogar, weil ich ahnte, dass meine Knie zum Problem werden könnten, eine Veranstaltung des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs besucht, bei der ein radbegeisterter Arzt alle Räder individuell auf ihre Besitzer und Besitzerinnen eingestellt hat. Mit all diesen Maßnahmen haben wir es bis in die Türkei geschafft. Ein bisschen mehr als 3000 Kilometer weit. Immerhin. Und jetzt kist es vorbei. Wir müssen aufgeben.

Ich bereue jetzt den Moment in Bulgarien vor ungefähr drei Wochen, als ich in einer Hauruckaktion Daniel gebeten hatte, meinen Sattel nach unten zu stellen, weil ich in dieser Position nicht mehr sitzen konnte. Wir waren den ganzen Tag auf ebenen Straßen gefahren und der Druck auf den immer gleichen Stellen am Po war einfach nicht mehr zu ertragen. Aus hygienischen Gründen hatten wir uns vor Fahrtantritt gegen gepolsterte Fahrradhosen entschieden und einen Ledersattel gewählt, der sich mit der Zeit perfekt an den eigenen Allerwertesten anpasst. Dass der Weg dorthin schmerzhaft werden würde, war mir klar, aber irgendwann ist eben eine Grenze erreicht. Eine von Weinreben gesäumte Landstraße in Bulgarien war meine Grenze. Daniel warnte mich, dass die Änderung der Sattelhöhe andere Probleme hervorrufen könnte, aber ich war so entnervt, dass er nachgegeben hat – leider.

Eine Woche später begannen die »anderen« Schmerzen. Erst ab und zu. Am Anfang erholten sich meine Knie noch nach einer kurzen Pause. Inzwischen quäle ich mich den ganzen Tag über und werde abends schmerzlich an meine Schwachstellen erinnert, wenn ich mich in den Schneidersitz setzen will. Als Wohltat empfinde ich es mittlerweile, morgens ohne Schmerzen aufzuwachen. Sobald wir aber auf dem Tandem sitzen, kommen sie langsam wieder. Wir haben den Sattel seitdem schon ein paarmal wieder verstellt, und ich bin ganz gut im Umgang mit körperlichen Leiden. Aber jetzt und hier ist Schluss. Ich kann nicht mehr. Ich frage mich, ob es schwierig wird, ein Reiserad für Daniel zu finden. Und ich überlege, was ich stattdessen machen könnte. Ich bin nicht bereit, einfach wieder nach Hause zu fahren.

Ich löse mich aus Daniels Umarmung und die gewohnte Grimmigkeit erfasst mich. Das kann doch nicht sein! Ich will hier nicht aufgeben!

»Wir müssen aufhören, wenn es nicht geht. Das ist okay, es ist unsere Reise. Wir müssen niemandem etwas beweisen.« Er will mich nicht leiden sehen.

»Du hast recht. Aber ich schreibe Thomas noch eine Mail. Wenn er keinen Rat weiß, geben wir auf.« Thomas ist der radbegeisterte Arzt, dessen Veranstaltung wir besucht haben. Und gerade nach Malawi gezogen. Ferndiagnose via Internet ist in einer globalisierten Welt eben nötig.

Gerade holt uns ein junger Mann ein, den wir vorher am Berg überholt hatten. Er ist zu Fuß unterwegs in dieser abgelegenen Gegend und erinnert mich an einen Freund. Ich schaue dem Fremden wehmütig ins Gesicht und denke: Gerade wäre es auch schön, zu Hause zu sein und ihn mal wieder in die Arme schließen zu können. Meine Nerven liegen blank. Ich drehe mich weg und dehne meine Beine in der Hoffnung, ein wenig Erleichterung zu bewirken.

Während ich über das schöne Tal blicke und versuche, irgendwie den Druck aus meinen Knien zu strecken, muss ich an unsere erste Etappe in Österreich denken. Da waren wir ganz frisch unterwegs und wollten bald die Grenze zu Slowenien überqueren. Damals hatte ich ein Ziehen im Bauch, weil ich Angst hatte vor dem, was kommen würde. Weil ich unsicher war, ob Wildzelten in Ländern, die dem Alkoholkonsum stärker zugeneigt sind, eine gute Idee ist, und ob es aus demselben Grund wirklich sicher ist, auf den Straßen zu fahren. Jetzt muss ich über meine Angst grinsen. Sie war völlig unbegründet und ein Produkt meiner Vorurteile, gepaart mit der Angst vor dem Ungewissen. Von dieser Angst habe ich mich nicht aufhalten lassen. Ich habe einfach dem Leben vertraut und wieder die Erfahrung gemacht, dass es richtig ist, Dinge auszuprobieren und sich sein eigenes Bild zu machen.

Der Balkan war herrlich ländlich und die Menschen nur am Anfang einer Begegnung zurückhaltend. Und wir haben auch im letzten Dorf wunderbare Bars gefunden, in denen uns und dem wettergegerbten, vorrangig männlichen Publikum leckerer Kaffee serviert wurde. Bis zum Nachmittag habe ich kein Bier und keine Klaren auf den Tischen gesehen und konnte mein Vorurteil korrigieren: Die Männer des Balkans sind in Wirklichkeit Kaffeetanten – wer hätte das gedacht? Ich muss über mein Kopfkino lachen und schöpfe so langsam wieder Hoffnung. Diese schöne Erinnerung kann aber leider nicht den Schmerz aus meinen Knien vertreiben – der Körper lässt sich eben nicht so einfach überlisten wie der Geist.

Ich signalisiere Daniel, dass ich mich fertig gedehnt habe und wir weiterziehen können. Doch schon als ich mein linkes Bein einklicke, durchfährt mich wieder dieses Stechen. Ich versuche, nicht die Nerven zu verlieren, und tröste mich damit, dass es erst mal bergab geht.

Ich schreibe die Mail an Thomas noch am selben Abend und muss nur eine Woche auf seine Antwort warten. Er rät auf jeden Fall weiterzumachen, wenn auch mit einer kleinen Verschnaufpause und einer Umstellung des Sattels – so weit nach oben wie möglich. Und natürlich ein paar Schmerztabletten, die die Schmerzerinnerung meines Körpers durchbrechen sollen. Allein seine Anteilnahme lässt mich neuen Mut fassen, und ich setze mir selbst eine zweiwöchige Frist. Bis dahin muss ich eine Verbesserung spüren, sonst war’s das. Ich teile Daniel meine Entscheidung mit.

»Und auch wenn ich nicht mehr kann – du fährst weiter. Meine körperlichen Grenzen sind nicht deine. Du kannst nicht meinetwegen das Abenteuer deines Lebens verpassen.« Daniel will nichts davon hören. Er will, dass wir uns darüber erst Gedanken machen, wenn klar ist, dass ich wirklich nicht mehr weiterkann.

Die zwei Wochen verstreichen und ich spüre tatsächlich eine Besserung, trotz unseres täglichen Pensums von 60 Kilometern, das wir nach einer dreitägigen Ruhepause in reduzierter Form – sonst fahren wir eher 80 – wieder aufgenommen haben. Meine innere Balance kehrt zurück, mein Kampfgeist, meine positive Einstellung. Ich muss an all die Menschen denken, die an chronischen Erkrankungen leiden und trotzdem stark sind – das bewundere ich. Ich kann meine Schmerzfreiheit richtig genießen und habe wieder Spaß an der Bewegung. Ich nehme mir vor, es mehr zu schätzen, wenn ich gesund bin. Eben das, was man immer tut, wenn die Erinnerung an das Leiden noch ganz frisch ist.

Das war kurz vor knapp. Daran hätte unser Abenteuer scheitern können. Das wäre schade gewesen, aber nicht das Ende der Welt. Ich glaube, ich kann das so gelassen sehen, weil ich meine Erwartungen immer recht niedrig gehalten habe. So kann ich den Gedanken zulassen, dass ich Schwächen habe. Manchmal muss man einfach wissen, wann es genug ist, und sich dann eine andere Herausforderung suchen. Das ist keine Niederlage, kein Aufgeben, kein Versagen. Es ist das Annehmen von Dingen. Das Zugeben von Schwächen in dem Wissen, dass man an diesen auch wachsen kann. Deshalb war für mich die Ankunft in der Türkei bereits ein Erfolg.

Ich wünsche mir, dass ich das in meinen beruflichen Alltag mitnehmen kann. Es würde vieles einfacher machen und vor allem meine Nerven schonen.

Mit dem Tandem weiterfahren zu können, verstehe ich als Geschenk. Als die Möglichkeit, all die Erfahrungen, die ich sammle, nicht einfach hinzunehmen, sondern sie zu genießen, zu feiern, aktiv wertzuschätzen. Danke, Universum.

***

Daniel grinst und hält mir sein Smartphone vor die Nase. Eine Nachricht von Sarper aus Istanbul: »Just eating in our fish restaurant«, mit einem Foto von einem gegrillten Fisch. Unser Fischrestaurant also. Ein warmes Gefühl der Rührung überkommt mich. Sarper war einer unserer Warmshowers-Gastgeber und wir waren bestimmt seine anstrengendsten Gäste.

Wir schlagen am Muttertag bei ihm auf und wollen nur noch kurz den Reifen unseres Tandems aufpumpen, bevor wir etwas essen gehen, als klar wird: Da ist so einiges im Argen. Der Hinterreifen lässt sich nicht mehr aufpumpen und gibt komische Geräusche von sich. Sarper fackelt nicht lange, sondern fährt uns samt Tandem mit seinem Pick-up zum Radmechaniker seines Vertrauens in die nächste Stadt. Dort die niederschmetternde Diagnose: Unser kleiner Crash vor der Hagia Sophia am Tag zuvor hat unsere Nabe zerstört. Das Ding in der Mitte des Rads, das die Speichen aufnimmt, und an dem Rad und Rahmen miteinander verbunden sind. Wir hatten einfach so fasziniert die eindrucksvolle, inzwischen säkularisierte Moschee betrachtet, dass wir nicht-sehenden Auges in einen Gullydeckel gekracht sind, der ungefähr 20 Zentimeter eingesunken war. Mir hat es fast das Rückgrat gebrochen, aber abgesehen davon hatten wir angenommen, wir wären noch mal mit einem Schrecken davongekommen. Und nun heißt es: ohne Ersatzteil kein Weiterfahren. Sarper übersetzt die Worte von Mikell, dem Fahrradmech:

»Er sagt, er habe das Teil nicht da, könne es aber morgen in Istanbul holen, wenn die das vorrätig haben. Und ihr könnt natürlich so lange bei mir bleiben, wie ihr wollt!«

Wir nehmen sein liebes Angebot an und versuchen uns in die Situation hineinzuentspannen. Besonders Daniel gelingt das nicht so gut. Er will weiter, nachdem wir fast eine Woche in Istanbul Pause gemacht haben. Aber das Tandem bleibt da und Sarper kurvt mit uns zurück in seine Stadt. Dort laden wir an einem Fischrestaurant ein verführerisch duftendes Food-Paket ein und er zeigt uns seinen »Schrebergarten am Meer«, eine kleine Wohnung, in der er sein Kajak lagert, und wir genießen den Fisch beim rot glühenden Sonnenuntergang über dem Marmarameer. Er macht das oft, sagt er, allein oder mit seiner Partnerin, und es ist für ihn eine willkommene Abwechslung zu seinem anstrengenden Alltag als Augenarzt in einer Klinik. Darum ist er Stammkunde in dem Fischrestaurant.

Wir bleiben noch ganze zwei Tage bei Sarper, genießen das Frühstück, das er uns jeden Morgen liebevoll bereitet, sitzen mit ihm in seinem gemütlichen, weitläufigen Wohnzimmer oder am Meer und diskutieren über die politische Situation in der Türkei, über Moskau und er erzählt uns von seinen vielen Reisen.

Und jetzt ist es also unser Fischrestaurant. Es macht uns glücklich, dass er bei alltäglichen Dingen an uns denkt. Wir wünschen ihm »Afiyet olsun!« – »Guten Appetit!«

4 LEIDENSCHAFT

Zugegeben, ich bin ein wenig beschwipst. Die Lichter, die sich im Schwarzen Meer spiegeln, schwanken. Oder bin ich das? Ich bin froh, dass ich den Weg vom Festland über den Wellenbrecher bis hierher geschafft habe. Zwischen den großen Steinen klaffen immer wieder tiefe Abgründe und dort hineinzuplumpsen, wäre sicher nicht besonders angenehm. Özgür berührt meinen Arm, um mir noch ein Bier zu reichen. Ich grinse ihn an. Er hat sein hellgraues Jackett, das so gut zu seinen strahlend blauen Augen passt, längst ausgezogen und am Strand zurückgelassen. Die obersten Knöpfe seines weißen Hemds sind offen und lassen ihn etwas derangiert wirken. Auch er schwankt. Diesmal bin ich mir sicher, dass er selbst die Ursache ist.

Wir haben Özgür erst an diesem Morgen kennengelernt. Bei einem Termin mit dem Bürgermeister von Gerze, einem beschaulichen Städtchen an der Schwarzmeerküste der Türkei. Özgür ist Bauingenieur und dort als Stadtplaner angestellt. Da er jedoch eine große Leidenschaft für das Fotografieren und Filmen hegt, hat er »ganz nebenbei« einen Film über Gerze gedreht, der auch noch den ersten Platz bei einem Wettbewerb von Cittaslow belegt hat. Genau deswegen hatte ich einen Tag zuvor, als ich eben diesen Film im Netz entdeckt hatte, die Stadt Gerze auch um ein Interview für unseren Reiseblog wanderwonder.de gebeten. Die Slow-Food-Bewegung, die schon 1986 in Italien gegründet wurde, kenne ich als dem Dolce Vita verfallene Italienliebhaberin schon lange. Sie versucht, weltweit eine Gegenbewegung zu Fastfood und Einheitsessen zu schaffen. Und zwar über regionale und saisonale Produkte, die ökologisch vertretbar kultiviert werden, und über Kreativität bei deren Zubereitung, um die Menschen wieder für den echten Geschmack von Lebensmitteln zu sensibilisieren. Die Bewegung prägte Schlüsselbegriffe wie »buono, pulito e giusto – gut, sauber und fair« und setzt sich für die Erhaltung alter Pflanzen- und Haustierrassen sowie althergebrachter Herstellungsmethoden ein.

Wann immer ich also die rote Schnecke sehe, das Logo der Slow-Food-Bewegung, weiß ich: Hier gibt es etwas zu entdecken! Das orangefarbene Weichtier, das ich am Ortseingang von Gerze entdecke, symbolisiert dabei die Auszeichnung zur Cittaslow, also zu einer Stadt, die sich dazu entschieden hat, einen lebenswerten Ort für Bürger und Touristen zu schaffen. Ich bin neugierig, welche Maßnahmen eine Stadt wie Gerze – fernab der üblichen Touristenpfade – umgesetzt hat, um den Cittaslow-Anforderungen gerecht zu werden.

Neben dem Bürgermeister sind Özgür als Filmemacher sowie zwei Projektkoordinatoren anwesend. Bereits meine erste Frage nach den Gründen für die Teilnahme an dem Projekt Cittaslow beantwortet der Bürgermeister in den blumigen Worten, für die ich die Menschen hier so liebe, und die nichts an Schönheit einbüßen bei der Übersetzung durch Caner, einen der Projektkoordinatoren:

»Mit dem Projekt möchten wir den Lebensstil bewahren, der Gerze prägt. Das sind der quirlige Markt, die schönen Cafés, in denen man sich kennt und trifft. Es ist auch die natürliche Schönheit von Gerze und es ist das Handwerk, das wir bewahren wollen.«

Eines dieser Handwerke dürfen wir im Anschluss kennenlernen: In der Werkstatt eines einheimischen Holzkünstlers bestaunen wir Spielzeug aus Holz und dürfen auch selbst ein paar Figuren sägen. Es ist herrlich zu sehen, mit wie viel Liebe dieses alte Handwerk betrieben wird, und wie viel Kultur darin verborgen ist. Auch die Frau von Özgür, Şule, nimmt gerade an einem der Kurse teil, die der »Master« gibt.