Ein Pinguin unter Störchen -  - E-Book

Ein Pinguin unter Störchen E-Book

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Beschreibung

Störungen im Autismus-Spektrum zeigen sich in vielfältigen Formen. Aber es gibt Erfahrungen, die verbinden und Mut machen können. Die Autor*innen der hier versammelten Texte kennen sozialen Stress und haben gelernt, mit schwierigen Situationen umzugehen. Sie haben bei sich besondere Talente entdeckt, die das eigene Leben reicher machen. Im Anderssein zuhause sein »Ich bin tough und stehe immer wieder auf, nachdem ich hingefallen bin. Ich lerne dazu. Andere hätten sicherlich schon mehrere Fremdsprachen gelernt, in der Zeit, in der ich die zwischenmenschliche Sprache im Miteinander erlernt habe. Aber ich habe sie erlernt.« – Der Grundgedanke des Buches ist: Was kann anderen Autist*innen helfen, ihren Weg zu gehen? Welche Strategien im Umgang mit anderen Menschen waren hilfreich? Wie kann man entspannen und auftanken? Denn es gibt nicht nur die Geschichten vom schwierigen Alltag und dem enormen Druck sich anzupassen, sondern auch von der Erforschung und Entdeckung eigener Bedürfnisse, Stärken und Fähigkeiten.

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Im Anderssein zu Hause sein

»Dies bedeutet nicht, dass ich mir keine Mühe gebe, mich in die Welt einzufügen, den Alltag so zu bewältigen, wie er ist. Aber wieso ist es eine Behinderung, dass ich Dinge wahrnehme, die andere nicht wahrnehmen können?«

Aspies e.V., Silke Lipinski

Ein Pinguin unter Störchen

Leben mit Autismus

Cover

Titel

Vorwort

Und manchmal nervt er doch!Matthias Frank

Lost girl’s dreamMonika Hildenbrand

Meine Schwäche zur Stärke gemachtJana Michel

Fernschule ist meine LösungAyla

Wie mein Hobby mir geholfen hatChristine Kuhlenbeck

Mein unsichtbarer BegleiterRoswitha Stephan

Ich bin mein eigenes SpektrumTomi

Diagnose Autismus: Bin ich jetzt nicht mehr normal?Carmen Heiser

Am liebsten halte ich mich an Regeln, die ich selbst festlegeEin Interview mit Lars U.

Als Alien mit einer kleinen ramponierten KI zusammenlebenSandra Kaliga

Meine Arbeit und meine Tiere sind das Wichtigste für michDiana H.

Meine Familie ist der logische Bruch in meinem LebenLena Mabiem

Mein sicherer OrtNour

Die Kraft der DetailsKatharina

Mit Fantasie dem Alltag entfliehenLena Loki

Ich liebe Reize, weil sie Stoff für meine Geschichten sindJonathan Engert

Identitätsfindung als PuzzleLeopold Tzscheetzsch

Selbsterkenntnis als Schlüssel zu einem freundlicheren Umgang mit mir selbstGyde Pulmer

Über die Phase, alles durch die Autismus-Brille zu reflektieren, bin ich hinausDea Kühne

Ein Pinguin unter StörchenTobias

Impressum

Vorwort

Die Lebenswirklichkeit von Menschen im Autismus-Spektrum lässt sich mit Diagnosekriterien allein nicht einmal ansatzweise erfassen. Die Autorinnen und Autoren dieses Buches haben einzigartige Geschichten zu erzählen. Dass man ihnen zuhört, ist nicht selbstverständlich.

Die ersten Beschreibungen von autistischen Menschen verfassten Wissenschaftler und später auch Angehörigenorganisationen und es entstanden Autismus-Bilder, die wenig mit der Lebenswirklichkeit von autistischen Menschen zu tun hatten. Erst ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wurden sich Erwachsene aus dem hochfunktionalen Teil des autistischen Spektrums zunehmend ihrer eigenen Stimme bewusst.

Zunächst im angloamerikanischen Raum begannen sie, selbst ihre Erfahrungen in Aufsätzen und Monografien zu beschreiben. Ab Ende der 1990er Jahre gab es auch im deutschsprachigen Raum erste autobiografische Veröffentlichungen von autistischen Menschen. Sie zeigen sehr deutlich, dass Autismus in erster Linie bedeutet, die Welt anders wahrzunehmen. Ihr Anliegen: In Hinblick auf Denken und Wahrnehmen muss Menschsein insgesamt als ein Spektrum verstanden werden, in dem Autismus seinen Platz hat. Nur diese neurodiverse Sichtweise kann die Grundlage einer sinnvollen Unterstützung, Förderung und Inklusion autistischer Menschen sein. Das bedeutet insbesondere auch, autistische Lebensmodelle und Lebensweisen, von denen auch in diesem Buch berichtet wird, anzuerkennen und als Potenziale zu verstehen.

Als Aspies e.V. 2010 mit dem Buch »Risse im Universum« einen Sammelband von Texten autistischer Menschen herausgab, war das ein Novum. Ein wichtiges Anliegen war damals, ein Forum zu schaffen, in dem autistische Menschen selbst zu Wort kommen. Mit dem Abstand von über zehn Jahren erschien es uns an der Zeit, quasi ein Update einzuholen, nicht zuletzt, um zu sehen, was sich in dieser Zeit verändert hat – und was nicht. Eine Autorin hat auch in diesem Band wieder mitgewirkt.

Im Herbst 2020 riefen die Herausgeber deshalb gemeinsam zur Einsendung von Texten auf, die nicht nur Hürden im Alltag von Menschen im Autismus-Spektrum zeigen, sondern auch Bewältigungsstrategien beschreiben. Die Zahl der eingesendeten Texte war so groß, dass nicht alle Beiträge in den Sammelband aufgenommen werden konnten. Bei der Auswahl war der Leitgedanke, eine möglichst große Bandbreite autistischer Lebenserfahrungen aufzunehmen. Daher spielten Kriterien wie z. B. das Alter der Einsendenden und deren geschilderte Lebenssituationen eine Rolle. Die von uns ausgewählten Beiträge wurden vom Verlag so angenommen und die Autorinnen und Autoren durch das Lektorat unterstützt. Die Auswahl von Titel und Buchcover haben wir ebenfalls gemeinsam vorgenommen.

Auch wenn eine solche Auswahl nicht repräsentativ sein kann, vermittelt sie dennoch ein Bild und eine Vorstellung des autistischen Spektrums, das anderweitig nur schwer zu erhalten ist. Unterschiede werden genauso sichtbar wie Gemeinsamkeiten. Herausforderungen und Lösungen sind individuell und zeigen doch gleichzeitig, was das Erleben vieler Autistinnen und Autisten ausmacht.

Wir danken den Autorinnen und Autoren dieses Buches, dass sie etwas von sich mit den Lesenden teilen, Sandra Kaglia zusätzlich ihre Version des Pinguins, ihre Schrift und die Illustration der kleinen, ramponierten KI. Wir sind der Überzeugung, dass die geteilten Befremdungs- und Entfremdungserfahrungen in der »normalen« Gesellschaft, das gemeinsame Erleben einer Vielzahl von Barrieren im Alltag, die aus der Außenperspektive gar nicht oder nur unzureichend wahrgenommen und angesprochen werden, dabei helfen können, diesen Alltag besser zu bewältigen.

In Deutschland stehen selbst organisierte Selbsthilfegruppen im Zentrum der autistischen Bewegung. Die erste dieser Gruppen wurde Ende der 1990er Jahre in Berlin gegründet, aus ihr ging der Selbsthilfe- und Selbstvertretungsverein Aspies e.V. hervor. Weitere Selbsthilfegruppen folgten in anderen Städten und inzwischen gibt es über hundert solcher Gruppen in Deutschland und die Vernetzung auf europäischer Ebene schreitet voran.

Kaum etwas hat in den letzten zwanzig Jahren vielen autistischen Menschen auf dem holprigen Weg in ein selbstständiges Leben geholfen wie diese selbst organisierten gegenseitigen Unterstützungsgruppen. Hier lernt man im Austausch miteinander den eigenen Autismus kennen, übt sich darin, Barrieren zu identifizieren und zu überwinden, eigene Stärken und Potenziale zu erkennen. Nicht zuletzt helfen positive Vorbilder, die Selbstwahrnehmung zu schärfen und ein positives Selbstbild sowie Selbstbewusstsein zu entwickeln. All dies sind notwendige Voraussetzungen für ein bedeutungsvolles und angemessenes Leben.

In dieser Hinsicht stellen auch diese biografischen Darstellungen eine wertvolle Quelle zum Selbstverständnis von Autismus dar. Sie zeigen, dass der Umgang mit Schwierigkeiten so vielfältig ist wie die Menschen im Spektrum selbst. Wir möchten damit jeder Autistin und jedem Autisten Mut machen, den eigenen Weg zu finden – und alle anderen einladen, die Gemeinsamkeiten wahrzunehmen und die Unterschiede als Bereicherung für ihr Leben und die Gesellschaft zu sehen.

Silke Lipinski und Aspies e.V.

PS: In jedem Buch gibt es Fehler. Der Verlag, der Verein und ich freuen uns, wenn Lesende uns auf Irrtürmer und Lücken hinweisen, damit wir bei einer zweiten Auflage nachbessern können.

Kontakt: [email protected]

Und manchmal nervt er doch!

Matthias Frank

Autismus ist für mich …

… eine Behinderung? Nein.

… eine Einschränkung? Ist eigentlich nur ein Euphemismus für Behinderung. Nein. Obwohl …

… eine Krankheit? In keinem Fall. Krank bin ich, wenn ich Grippe habe. Oder Krebs.

… eine Störung? Bei Streit zu Hause kann es sein, dass meine Frau zu mir sagt: »Du bist ja so was von gestört!« In diesem Sinn ist mein Autismus keine Störung. »Störung« in der Fachsprache von ICD und DSM kann ich zwar gut akzeptieren, aber »Störung« bleibt mir trotzdem zu defizitorientiert.

… eine Seinsvariante? Das hätte ich gern. Aber es ist nicht so. Autistisch sein ist nicht so was wie schwul sein. Denn homosexuelle Menschen kämpfen »nur« gegen eine immer noch partiell dumpfe Gesellschaft an. Mit sich selbst können sie heute im Reinen sein. Und genau das ist bei mir eben nicht immer der Fall. Trotz Psychoedukation, trotz Therapie.

Aber ich bin nicht unglücklich. Nein, ich bezeichne mein Leben auch nicht als misslungen. In Schule, Studium und im Job ist mir nie mehr Böses widerfahren als anderen Menschen auch, die nicht zu den Strebern, Meinungsführern, Rampensäuen, Macht- und Karrieregeilen gehören. Meine Beziehung hält seit Jahrzehnten. Wir können miteinander lachen, miteinander heulen – und wir können uns fetzen. Dabei ist schon Porzellan zu Bruch gegangen, einmal auch eine Glastür, und es gab Schweigephasen, die gelegentlich nach Monaten zählten. Daran hat wohl mein Autismus auch einen Anteil. Wir haben trotzdem nicht voneinander gelassen.

Meine Marotten halten sich in Grenzen und ich kann sie augenzwinkernd betrachten: dass ich zum Stressabbau durch die Wohnung hüpfe und dabei das Muster der Fliesen im Flur beachte, dass ich mir selbst Gedichte in Endlosschleife vorsagen kann (manchmal sind es auch Schlagertexte oder Weihnachtslieder an Ostern), dass ich vorwiegend mit dem Löffel esse und meist aus Müslischalen, dass ich gerne auf einem dünnen Futon auf dem Fußboden schlafe, irgendwo in der Wohnung, an wechselnden Orten (und das manchmal auch realisiere), dass ich am liebsten in einer bis auf das Nötigste leeren Wohnung leben würde, weil ich zwar Platz brauche, aber mit allem, was ein Heim angeblich heimelig macht, nichts anfangen kann, weshalb unsere Wohnung ein Kompromiss ist.

Wo, verdammt, ist dann mein Problem?

Ich weiß, dass andere Aspies sich nach Zweisamkeit sehnen und keine Beziehung hinkriegen. Ich weiß, dass viele Ausbildung oder Studium abgebrochen haben, noch mehr nachher in unsicheren Arbeitsverhältnissen zurechtzukommen versuchen, manche es nicht bis zur Rente schaffen. Wenn ich daran denke, was auch bei mir hätte der Fall sein können, werde ich ganz still und bescheiden. Ja, ich werde da demütig. Ein kleines bisschen kann ich diese Dankbarkeit dem Leben, meinem Leben, dem Schicksal gegenüber auch fühlen. Ich habe viel Glück gehabt.

Wo ist also mein Problem?

Manchmal wäre ich so gern … wie die anderen: die Neurotypischen, die Normalos. Oder in sachlicher Sprache: In manchen Situationen würde ich mir autismusfreies Agieren, Reagieren wünschen. Beispiele:

Ich bin irgendwo bei einem sozialen Event: Geburtstagsfeier mit vielen Unbekannten, Jubiläum im Verein, Neujahrsempfang bei meiner Gewerkschaft, Weihnachtsfeier irgendwo, wo ich mich ehrenamtlich engagiere. Ich denke schon Tage vorher daran, wie es dort wohl sein wird, auf wen ich treffe, wo ich sitze (falls es feste Plätze gibt), und vor allem: Werden Leute mit mir reden? Werde ich mit Leuten reden können?

Wie lange muss ich mindestens bleiben? Stehe ich – für alle sichtbar – als Außenseiter dumm herum? Achtung: Ich gerate nicht in Panik, ich bin nicht völlig blockiert – ich fühle mich nur unwohl beim Gedanken an das, was mir bevorsteht.

Und beim Event selbst? In drei von zehn Fällen verläuft es gar nicht schlecht, in vier von zehn Fällen ist es noch zum Aushalten (langweilig, aber wenigstens ist das Essen gut!), und in zwei von zehn Fällen verdrücke ich mich, so schnell es geht. Bleibt ein Event, zu dem ich gar nicht erst hingehe. Andere – Freunde, meine Frau – finden weiß Gott nicht jede Veranstaltung dieser Art toll, aber sie denken nicht darüber nach, sie verstehen es, auf den blödesten Feten mit ein bisschen Small Talk zwei, drei Stunden über die Runden zu kommen. Und obwohl Autisten untereinander nicht müde werden zu beteuern, wie doof sie Small Talk finden: Ein bisschen Small Talk würde ich manchmal auch gern können. (Flirten ist übrigens auch so etwas wie Small Talk. Tja, geht halt auch nicht.)

Und ich kriege das mit den Gefühlen nicht hin. Ich kann meine eigenen nicht präzisieren. Ich hasse es, wenn mein Therapeut mitten in der schönen Geschichte, die ich ihm gerade erzähle, fragt: »Und wie haben Sie sich da gefühlt?« Ich kenne »richtig wütend« und ich kenne »supergut«, schon bei »traurig« muss ich überlegen. Alles andere, was sonst zu verbalisieren wäre, geht nur mit Hilfe.

Aber das ist ja noch kein Problem. Problematisch wird es eher, wenn es darum geht, Gefühlslagen anderer Menschen zu erkennen. Tränen kann ich einordnen, besser noch, wenn dazu hörbar geschluchzt wird. Und ich verstehe Lachen, vor allem in Verbindung mit lautem Gekicher. Aber sonst, all die Feinheiten, die man angeblich aus Mimik und Gestik herauslesen kann, die andere gleichsam intuitiv verstehen – ich nehme sie alle nicht wahr. Dabei verstehe ich sie, wenn von ihnen in einem Roman die Rede ist, bzw. ich habe zumindest vordergründig gelernt, was sich hinter den einzelnen Begriffen verbirgt. Außerdem bin ich nicht gefühllos: Bei einem Unfall kann ich klar erkennen, dass jemand Hilfe braucht, und ich kann dann auch handeln, auch noch, wo andere mit ihrem ach so ausgeprägten Empfinden kneifen: »Ach Gott, ich kann da nicht hin, ich kann kein Blut sehen«, »Nee, ich hab Angst, am Ende noch was falsch zu machen«. Solche Ängste kenne ich nicht. Ist das nicht gut? Worüber beklage ich mich schon wieder?

Ich würde gerne manchmal meine Frau von mir aus in den Arm nehmen, nachdem ich erkannt habe, dass sie eine Umarmung braucht. Ich wäre gern – wenigstens manchmal – von mir aus der große Verständnisvolle, dem sie nicht zu sagen braucht: »Hey, mir geht’s grade gar nicht gut, drück mich mal ein bisschen!«

Dann ist da noch die Spontanität. Ich kann spontan ins Kino gehen. Bin ich mit meiner Arbeit am frühen Abend gut zu Ende gekommen, dann kriege ich es durchaus hin, innerhalb von Minuten mich für einen Film zu entscheiden, noch ein Brot zu verdrücken – und weg bin ich. Ebenso klappt das mit Spaziergängen, sogar mit Wanderungen: Ich kann sonntags um halb neun beschließen, jetzt gleich zu einer Zwanzig-Kilometer-Tour aufzubrechen. Ich gehe ganz spontan in mein Lieblingscafé, ins Sportstudio, ins Museum. Das Fatale ist nur: Ich kann das am besten allein. Ist da noch jemand beteiligt, geht das mit der Spontanität lange nicht so gut. Und manchmal geht es gar nicht. Was klappt, wenn ich die Absprache sozusagen nur mit mir selbst treffen muss, klappt nicht mehr, wenn andere die Idee an mich herantragen: Da weiß ich am liebsten schon Tage, Wochen vorher, was auf mich zukommt, sehe es täglich im Terminplaner, kann mir vorstellen, wie es sein wird. Ist das nun schlimm? Oder ist das schon wieder so ein Luxusproblemchen?

Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass Freundschaft immer auch eine spontane Seite haben muss, sonst klappt sie nicht so recht: »Nee, den Matthias anrufen, das lohnt nicht, der sagt immer nur ab.« Fehlende Spontanität kann einsam machen. So eine kleine Prise mehr Spontanität, das wäre schon gut.

Ich bin nicht hypersensibel. Ich kann durch volle Supermärkte gehen, ungern zwar, aber ich kriege keine Panikanfälle. Ich halte laute Verkehrsgeräusche aus, sogar vor meinem Arbeitszimmer. Am Schreibtisch kann ich mich recht gut fokussieren, da stört selbst eine Polizei- oder Feuerwehrsirene kaum. Ich habe klitzekleine Einschränkungen im taktilen Bereich, ich mag bestimmte Stoffe nicht, im Gesicht schon gar nicht (Mundschutz!), und Berührungen durch Fremde sind unangenehm.

Was ich gar nicht haben kann, ist helles Licht. Im Freien essen, in der Sonne zusammensitzen, da muss ich passen, weil mir das in den Augen wehtut. Selbst eine Sonnenbrille nützt dann kaum. Und mich mit anderen unterhalten, wenn die Umgebung laut ist, das kriege ich auch nicht wirklich auf die Reihe. Das strengt zuerst ungeheuer an, dann bricht mir die Konzentration weg, es entsteht jenes »Ich will hier weg«-Gefühl, das ich sonst aus komplexeren sozialen Situationen kenne. Trotzdem: Im Ganzen fühle ich mich im Bereich der Reizverarbeitung nicht eingeschränkt.

Aber halt: Gelegentlich wäre es ja doch ganz cool, wenn ich dann, wenn mir jemand mal kumpelhaft auf die Schulter haut, nicht gleich im Kopf so eine Überreaktion hätte: Was tut der da? Wie soll ich reagieren? Zurückhauen? Eher Streichelbewegungen machen? Warum, verdammt, geht das bei mir nicht einfach intuitiv, ohne darüber nachzudenken? Warum spüre ich den Kontakt noch geraume Zeit danach auf der Haut?

Die Liste lässt sich verlängern. Freundschaften aufbauen und halten wäre noch ein Thema, ein Riesenthema. Vielleicht drücke ich mich deshalb davor, darüber zu schreiben. Veränderungen aller Art sind auch schwierig, die Dinge sollen möglichst so laufen, wie es in meinem Planer steht, wie ich es mir im Kopf vorgestellt habe, wie es mit anderen abgesprochen war.

Aber dann wieder sage ich mir: Hey, dir geht es gut. Es gibt tausend Dinge, die dir Spaß im Leben machen. Deine Einschränkungen sind händelbar. Gib’s doch zu: So sehr nervt dich dein Autismus gar nicht. Punkt.

Matthias Frank (Pseudonym)

ALTER: in der Nacherwerbsphase

GESCHLECHT: männlich

WOHNORT ODER REGION DES AUFENTHALTS IN DEUTSCHLAND:

Metropolregion Rhein-Neckar

KINDER BZW. ELTERNSCHAFT: –

AUSBILDUNG ODER BERUF: Lehrer im beruflichen Schulwesen

INTERESSENGEBIET, BESCHÄFTIGUNG, SPEZIALINTERESSE:

• Literatur / Theater / Film von Kindheit an übers Studium bis zum Job

• Sprachen und ihr unterschiedliches Funktionieren finde ich faszinierend.

• Konkrete Kunst

Lost girl’s dream

Monika Hildenbrand

Ich weiß ja nicht, ob es nur mir so geht. Aber nach all den Jahren seit Erscheinen von »Risse im Universum«1 habe ich nicht gerade den Eindruck, dass sich schon sehr viel verbessert hätte, was das Verständnis von Autismus anbelangt, zumindest hier in Deutschland, und ich meine nicht nur das Verständnis für Autismus ganz allgemein, sondern vor allem auch in Bezug auf die »Missing Generation«, die »Lost Girls«2 und »Spätdiagnostizierten«. Aber vielleicht liegt mein Eindruck ja auch nur daran, dass ich Informationen hierzu eher nur aus dem Internet und einem »sozialen Medium« beziehe.

Das »wunderbare Leben«, das ich mir so sehr erhofft hatte, hat sich bisher auch nur in kleinen Ansätzen verwirklichen lassen. Zumindest aber habe ich erreicht, wie erwartet, dass ich mich mehr und mehr positiv sehen und mich selbst besser verstehen kann. Und mittlerweile können es auch die Menschen, die mir geblieben sind.

All die Ideen, die ich damals, noch vor Erscheinen von »Risse im Universum«, hatte, um das Thema Autismus mehr in das Bewusstsein vor allem von Fachleuten zu bringen und es auch allen am Thema Interessierten zugänglich zu machen, haben sich nicht so verwirklichen lassen, wie ursprünglich gedacht, und so habe ich inzwischen all das, was mir wichtig erschien, auf einer Internetseite3 zusammengetragen, und mit diesem »Zusammentragen« bin ich auch bis heute noch immer befasst. Meine Tage sind also mehr als ausgefüllt.

Oft wünschte ich sogar, dass ich jeweils noch ein paar Stunden mehr zur Verfügung hätte, so sehr bin ich vor allem mit Lesen beschäftigt: Interessante Beiträge und Artikel zum Thema Autismus4 finden sich im Internet zuhauf, und auch Bücher, die ich lesen möchte, stapeln sich – entweder tatsächlich »in echt«, weil ich sie schon besorgt habe, oder als »Nicht-vergessen-Notizen«. Es sind nicht nur Bücher zum Thema Autismus, sondern auch zu den Bereichen Psychologie und Ernährung. Und Biografien lese ich gerne.

Nur Zeit zum Schreiben finde ich leider nicht in dem Maße, wie ich es mir eigentlich wünschte.

Auch nicht als »Zeitmillionärin«, die ich zwar bin, weil es mit dem »Sprung« zurück ins Berufsleben nicht geklappt hat, aber den ganzen Tag kann auch ich nicht mit Lesen und Schreiben zubringen, da ich als »Familienfrau« auch noch ein »bisschen Haushalt« zu versorgen habe. Und auch wenn ich sehr darauf bedacht bin, alle Arbeiten so rationell wie möglich zu gestalten, so beanspruchen diese Tätigkeiten doch jeden Tag eine gewisse Zeit, vor allem das Kochen. Ich koche nämlich sehr gerne und lege auch großen Wert auf eine frisch zubereitete warme Mahlzeit am Tag. Und nur ein Tag mit selbst gebackenem Dinkelvollkornbrot ist auch ein guter Tag!

Meine Familie ist leider recht klein geblieben, was ich sehr bedaure, weil so auch mein Sohn zu einem Einzelkind geworden ist und ihm damit wichtige Geschwistererfahrungen fehlen – Erfahrungen, die auf das Leben vorbereiten, weil man mit Geschwistern lernen kann, sich durchzusetzen, sich zu streiten und sich auch wieder zu vertragen, und wenn man Geschwister hat, so ist auch immer jemand da zum Spielen (und Reden), und man erfährt, wie schön es ist, gemeinsam etwas zu erleben und sich später auch gemeinsam daran zu erinnern. Es sind Erfahrungen, die auch mir als Einzelkind fehlen, was mir, je älter ich werde, umso schmerzlicher bewusst wird.5

Schon als Kind hatte ich nicht viel Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein, dafür aber viele Ängste, und vermutlich auch schon sehr früh eine »soziale Angst«.

Denn immer wieder erfahren zu müssen, dass man Anforderungen, die von der Allgemeinheit als »selbstverständlich« angesehen werden – wie Small Talk, Augenkontakt –, nie so ganz entsprechen kann, macht es sehr schwer, unbefangen und »unverkrampft« am Leben teilzunehmen. Und bei mir kommt – neben allen Autismus-üblichen Beeinträchtigungen – noch mein schlechtes Kurzzeitgedächtnis hinzu, was auch nicht dazu beiträgt, ohne Weiteres in Kontakt zu kommen und auch zu bleiben. Kann ich nämlich nicht schnell genug auf etwas zuvor Gesagtes reagieren, also antworten oder auch fragen, so vergesse ich oft ganz schnell wieder, was ich habe sagen wollen. Platze ich allerdings einfach heraus mit meiner Antwort oder Frage, gelte ich als unhöflich. – Mein schlechtes Kurzzeitgedächtnis hat mich schon oft in unangenehme Situationen gebracht. (Und ich vermute stark, dass ich auch dieses Problem schon als Kind hatte.)

All diese Schwierigkeiten und auch meine »soziale Angst« sind mir aber erst nach und nach bewusst geworden, seit ich mich mit dem Thema Autismus befasse. Sonst hätte ich vielleicht rechtzeitig genug – mit entsprechender fachlicher Unterstützung – »gegensteuern« können, auch was meine sonstigen Ängste anbelangt, wie z. B. meine Höhenangst und meine ausgeprägte Spinnenphobie.

Mit meiner Höhenangst kann ich ja ganz gut leben, weil ich nicht unbedingt »hoch hinaus« muss, aber Spinnenangst ist eine ganz, ganz fiese Angst. Weil man nie weiß, wann es zu einer »Begegnung«