Ein Prinz aus Silber und Gold - Viviana Iparraguirre De las Casas - E-Book
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Ein Prinz aus Silber und Gold E-Book

Viviana Iparraguirre De las Casas

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Beschreibung

Sie tanzte sich in sein Herz, er nahm ihr die Freiheit … Zu Ehren des Thronfolgers veranstaltet die Kupferstadt jedes Jahr ein rauschendes Fest. Und wie jedes Jahr sind auch die Steandler mit dabei, ein wanderndes Volk, das nichts mehr liebt als seine Freiheit. Sofija Rea Linn ist ihre Erbin. Mit ihrem atemberaubenden Tambourintanz verzaubert sie den jungen Herrscher, König Lucius – der sie in seinen Palast bringen lässt, damit sie nur für ihn tanzt. Widerwillig stimmt sie zu, seine Königin zu werden, um ihr Volk zu schützen. In Wahrheit hat sie für Lucius nichts als Verachtung übrig – bis sie ihn näher kennenlernt. Doch auch sein Bruder Eric lässt ihr Herz höherschlagen …

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Seitenzahl: 711

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VIVIANAIPARRAGUIRREDELASCASAS

Ein Prinz aus Silber und Gold

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

 

Für Dich, weil du immer an mich geglaubt hast

 

 

 

 

Und er reckte die Hände nach ihr. Er erhob seine Stimme und flehte. Doch es war zu spät.

Denn nicht immer gewährte das Leben eine zweite Chance.

Prinz Ebelon und Krestelle,Das Vermächtnis der Immerwährenden

• Prolog •

Das Reich aus Kupfer und Zinn baute sich vor uns auf wie ein riesiges Uhrwerk. Metallplatten, die wie Zahnräder aussahen, schossen in den Himmel empor und drehten sich mit dem dampfenden Wind, der sich um uns legte wie der Schleier, den ich über meine Augen gezogen hatte. Blicke sind kostbar. Gesichter erzählen Geschichten. Und Augen können lügen, sagte Zan Zahray immer. Deshalb war sie so wertvoll – die Anonymität, die an unserem Volk haftete wie der Staub des Ödlandes an unseren Kleidern.

Wir alle waren erschöpft von der langen Reise. Deshalb kommentierten wir das Aufblitzen der Hauptstadt des Reiches Kupfoa nur mit müdem Lächeln, das wir uns gegenseitig zusandten. Ihre Bewohner nannten sie Kupferstadt. Ein einfaches Siegel, aber doch königlich wie ihr Erscheinen selbst.

Sie strahlte wie die Sonne, während wir uns in die Schatten ihrer Häuser fügen würden wie Gestaltwandler. Denn an den Festtagen hatten auch wir Steandler Asylrecht. Auch wenn die Stadt aus Kupfer und Zinn uns außerhalb dieser Tage noch nie gerne bei sich aufgenommen hatte. Ich erinnerte mich verschwommen an die Kindertage, die ich in der Kupferstadt verbracht hatte. Die Dächer schimmerten in Silber und Kupfer und bestanden an großen Wandfronten aus edel poliertem Glas. Die Straßen waren aus geschliffenen roten Steinen. Und die Menschen schimmerten in der Bronze unserer sonnengebräunten Haut. Vielleicht war das der Grund, warum die Kupferstädter uns nicht gerne sahen. Wir sahen ihnen ähnlich, auch wenn unsere Augen in den Farben der Welt erstrahlten. Ihre hingegen waren silbern. Fast so wie die großen Zahnräder, die uns zur Begrüßung anblitzten. Wir Steandler hatten kein festes Zuhause. Die ganze Welt war unser Zuhause.

Meine Füße schmerzten und sehnten sich nach einem kalten Bad. Die Kupferstadt war umrandet von einem ruhigen Fluss, der über eine stählerne Brücke passierbar war. Dort würden wir unser Lager aufbauen. Die Zelte und Wagen aufbauen, in denen wir uns stets nach den langen Festtagen und nächten zurückzogen. Wir würden unsere bunten Stoffe über errichtete Wäscheleinen hängen und im warmen Wind tanzen lassen. Wir würden ein Lagerfeuer entzünden, um die Dunkelheit zu vertreiben. Und unsere Stimmen würden die Metallstadt in Schwingungen versetzen, so wie ich es aus meinen lebhaften Erinnerungen kannte. Dort, wo Leben war, fühlten wir uns wohl.

Als hätte Zan Zahray, die Stammesälteste, meine Gedanken gelesen, deutete sie für die Neuen unter uns auf den abgelegenen Platz, der von dem Schatten einer Metallbaute erfasst wurde. Dort waren wir immer. Der sandige Boden schien einen ebenen Platz für uns errichtet zu haben – nur für uns Steandler ganz allein.

»Dort errichten wir unser Lager, Freunde.«

Ich erkannte die Erleichterung meines Volkes, als sie das Ende unserer Reise kommen sahen, wenngleich auch dieses Ende einen Anfang bedeutete.

Denn niemals hätte ich gedacht, dass das Schicksal einen hinterhältigen Plan für mich geschmiedet hatte, dem ich nicht entfliehen konnte.

Die Kupferstadt war das Ende. Die Kupferstadt war der Anfang.

• 1 •

Sofija

Wir Steandler waren Parasiten, die keinen Schaden hinterließen – zumindest bezeichneten wir uns mit einem Augenzwinkern selbst so. Wir waren gern gesehen zu Festtagen, doch sobald diese vorbei waren, nahmen wir wieder die Rolle der Randgestalten ein, die die Welt für uns vorhergesehen hatte. Wir würden nie ein Zuhause finden, einen Ort, wo wir mit all unseren Farben, wallenden Tüchern, Instrumenten und heidnischen Gesängen akzeptiert würden. Wir Steandler liebten unsere Freiheit und unsere eigenen Regeln. Die anderen Reiche, Smaratka im Osten, Friole im Norden, Lealo im Westen und eben Kupfoa im Süden, lebten nach den Regeln ihrer Königinnen und Könige. Ich kannte ihre Gesetze nicht. Aber ich stellte es mir ziemlich öde vor, in ein Korsett gezwängt zu werden, in dem man nicht atmen konnte. An die Regeln anderer hatte ich mich noch nie gehalten. Vielleicht lag es daran, dass ich eine der Erben unseres Volkes war. Vielleicht lag es aber auch an dem Dickkopf, den mir meine Mutter vermacht hatte.

Mein Vater hatte es geliebt, Geschichten von ihr zu erzählen, die sie lebendig werden ließen. So lebendig, dass ich meinte, sie tatsächlich gekannt zu haben, bevor der Wind ihre Asche mitgenommen hatte. Noch heute hörte ich die Reibeisenstimme meines Vaters, die sich mit dem Knistern des Lagerfeuers vermischte, als er von ihr erzählte. Der einzigen Frau, die er jemals geliebt hatte. Jetzt waren seine Geschichten stumm – und meine Mutter für immer fort.

Geschichten bleiben, sagte Zan Zahray immer, wenn ich mich nach seiner Stimme sehnte.

»Geschichten bleiben, solange es jemanden gibt, der sie erzählen kann.«

Und so lebten ihre Geschichten in mir – Sofija Rea Linn – weiter. Meine Vorfahren zählten zu den Gründerfamilien des wandernden Volkes, die sich irgendwann als Steandler zusammentaten. Die Familie meines Vaters Rea, die Familie Zahray, zu der unsere Stammesälteste gehörte, und die Familie Lean mit ihrem stolzen Erben Elia.

Die anderen Familien verzichteten auf ihren zweiten Familiennamen. Doch ich hielt die beiden fest zusammen. Als gäbe es endlich keine Distanz mehr zwischen den Menschen, die ich in meinem Herzen trug: Ooley Rea und Lorena Linn.

Jeder Steandler kannte die Geschichten.

Und jeder lebte nach den Prinzipien längst verstorbener Idealisten.

Freiheit war das oberste Gebot. Freiheit und Familie.

Mein Vater Ooley hatte diese Philosophie bis zu seinem Tod vertreten und ich trug sie im Herzen weiter. Vermutlich würde ich meinen Kindern irgendwann das Gleiche auftragen.

•·•

Es dauerte nicht lange, bis wir Steine unter die Räder unserer Wagen geklemmt und die Zelte vor ihnen errichtet hatten. Ein leises Raunen wie das des Wasserfalls in Smarakta, der in einen ruhigen See mündete, ging durch die Reihen der tüchtigen Steandler. Sie entluden das Gepäck oder hielten sich am Fluss auf, um die Tiere zu beaufsichtigen, die gierig das Süßwasser tranken.

Ich ließ die Blicke über unser farbenprächtiges Lager wandern und band eines meiner Tücher an meinen Wagen. Es war blutrot. Die Farbe der Familie Rea, zu Ehren meines Vaters Ooley.

Mein Vater hatte immer gesagt, dass wir die Vielfalt der Nationen repränsentierten. Wir waren das Bindeglied zwischen den vielen Orten, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Das sah ich stetig in den vielen Farben im Wind, wenn wir unser Lager an einem neuen Ort errichteten. Zuletzt waren wir in Friole, dem Eisreich im Norden, gewesen. Anders als hier bestanden die Türme dort aus massivem Eis. Sie rammten ihre langen und krallenartigen Finger in den Himmel, als könnten sie die Wolkendecke brechen, die die Sonne verbarg – vergebens. Stattdessen schneite es ununterbrochen.

Auch wenn die Kälte meinen Schmerz betäubt hatte, war der Gedanke an Friole stets ein scharfes Messer in meiner Brust. Die Kupferstadt stattdessen das Pflaster, das die Wunde heilte. Ich hätte meinen Vater dort nicht zurücklassen sollen, tadelte ich mich, als ich an den Türmen der Kupferstadt hinaufsah. Ich hätte seine Asche hier mit dem Wind ziehen lassen sollen. Hier, wo wir uns schon immer wohlgefühlt hatten.

Ich legte meinen Hut und den Schleier ab und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Der Sonntag machte seinem Namen alle Ehre. Es war etwas anderes, sich die legendäre Hitze Kupfoas in Erinnerung zu rufen, als sie schließlich wieder am eigenen Leib zu spüren. Ich hoffte, die verwinkelten Gassen der Stadt würden mich nicht ebenso überrumpeln. Oft hatten Elia und ich in ihnen Verstecken gespielt, während unsere Eltern das Geld mit ihren Kunstschätzen und Auftritten verdienten. Und genauso oft hatten wir uns an den gefüllten Geldbeuteln der vermögenden Kupferstädter bereichert. Wenn man erwischt wurde, wurde einem im Namen des Königs ein Finger, wenn nicht sogar die ganze Hand abgehackt. Ich wurde nie erwischt, weswegen Zan Zahray mir den Spitznamen Elster gegeben hatte. Elia hingegen fehlte seit zehn Jahren der rechte Zeigefinger.

Ich erinnerte mich noch an das klägliche Weinen meines Freundes, während die Klinge ihn verstümmelte. Heute war seine fehlende Fingerkuppe sein Markenzeichen. Er prahlte nicht selten damit bei jungen Damen, die ihm schöne Augen machten. In seinen abenteuerlichen Geschichten war immer ein blutiger Kampf schuld, niemals seine eigene Dummheit. Er wusste, wie man die Frauen verführte. Die hübschen Grübchen um seine Lippen taten ihr Übriges, wenn man nicht zuvor schon in seinen grünen Augen versunken war. Elia war schon immer ein unglaublich hübscher Junge gewesen, auch wenn er zu gerne mit den Geschichten in seinem Gesicht spielte. Damit hatte er mich oft zur Weißglut getrieben.

Doch dann hatte er sich verändert. Er hatte sich mir entfremdet.

Wir verbrachten unsere Abende immer seltener damit, zusammen um die glühenden Flammen des Lagerfeuers zu tanzen. Er hörte auf, mich zu fragen, ob ich gemeinsam mit den Männern unseres Volkes auf die Jagd gehen wollte.

Ich hatte mich lange gefragt, warum, auch wenn die Stammesälteste meinte, eine ganz einfache Erklärung dafür zu haben: Er war ein Mann und ich eine Frau. Und er hätte ein Auge auf mich geworfen.

Sicherlich wäre diese Vereinigung bei vielen der Steandler gern gesehen.

Doch was genau würde dann geschehen? Wer würde dann mein Erbe weitertragen? Das Erbe der Familie Rea, das ich so gerne als rote Farbe an meinem Leib trug?

Während ich meinen Gedanken nachging, folgte ich dem Lauf des Flusses. Ich setzte mich, abgelegen von den anderen, auf einen Felsen am Ufer und hielt die Füße ins Wasser. Es war klar und rein, wenn auch ein beißender Metallgeruch mit der Kühle an mich herangetragen wurde. Früher hatte ich mit meinem Vater hier gesessen und die Türme der Kupferstadt bewundert, die sich so herrlich im späten Sonnenlicht wärmten und in ihm funkelten. Ja, sie funkelten, als bestünden die hohen Dächer aus Sternen, die unsere Nächte erleuchteten.

Ich seufzte, als sich das gewohnte Ziehen in meiner Magengrube bemerkbar machte. Es fühlte sich an wie ein Messer, das langsam und qualvoll in meiner Mitte verschwand.

Der Verlust meines Vaters hatte mich schwer getroffen. Und es war das erste Mal, dass ich allein auf diesem Felsen saß und schweigend den Anblick genoss – ein stummes Ritual, das wir zelebriert hatten, seitdem ich mich erinnern konnte. Ja, ich hätte seine Asche mitnehmen sollen.

»Woran denkst du?« Zan Zahray hatte sich mir genähert und sah mit betrübter Miene auf mich hinab. Ihre Geschichten waren in tiefen Falten in ihre Haut gebrannt. Fast schon so, als wären ihre Linien Bilder von dem, was sie in den vielen Jahren erlebt hatte. Ich wandte den Blick ab und sah meinen Füßen zu, die im klaren Wasser auf und ab tanzten, ohne die Wasseroberfläche zu berühren.

»Ich habe nachgedacht«, erwiderte ich.

»Und worüber?«

Zan Zahray ließ nie locker. Wenn sie etwas wissen wollte, dann war sie hartnäckig. Traurig schmunzelnd stellte ich fest, dass sich dies wohl niemals ändern würde.

»Ich habe an Vater gedacht«, sagte ich also wahrheitsgemäß und wappnete mich für den Stich, der sich in meiner Magengrube ankündigte. Nur ein kleines Messer, dachte ich. Es schmerzt wie ein kleines Messer, das sich in meine Mitte drückt.

»Es ist das erste Mal, dass ich die Kupferstadt ohne ihn bereise. Es ist komisch, verstehst du?«

»Ja, das kann ich verstehen«, sagte Zan Zahray und ließ sich schwerfällig neben mir nieder. Auch sie hob ihren langen Rock an, um die alten, schrumpeligen Füße neben mir im klaren Wasser verschwinden zu lassen.

»Es ist immer schwer, Menschen loszulassen, die wir lieben. Doch, kleine Elster, das ist nun mal der Lauf der Natur. So war es schon immer. Die Welt atmet dich aus und dann atmet sie dich wieder ein. Ganz natürlich.«

Ich schätzte Zan Zahrays weise Worte. Nicht selten, weil sie recht damit hatte. Doch leider ließ sich der Sturm in mir nicht milde stimmen.

Ich war nun auf mich allein gestellt. Die letzte Erbin der Familie Rea, die diesen Stamm zur Zeit des hundertjährigen Krieges formiert hatte. Ich hatte eine ganz andere Last zu tragen als Zan Zahray, die sich dieses Erbe mit den Geschichten in ihrem Gesicht verdient hatte. Sie hatte keine Erben hinterlassen. Ihr Geist würde auf ewig in unseren Reihen spuken, wenn sie von der Welt eingeatmet werden würde.

Meine Geschichten waren siebzehn Jahre alt. Mein Gesicht hatte das wahre Leben noch nicht wirklich kennengelernt. Ich erinnerte mich an Geschichten der schlimmen Jahre des Krieges, wo die Steandler als Barbaren bezeichnet, gejagt und ermordet wurden.

Wie sollte ich mein Volk vor einem neuen Angriff jemals schützen?

»Nun zerbrich dir nicht deinen schönen Kopf, kleine Elster. Noch bin ich ja da, um unser Volk zusammenzuhalten.«

Und was war, wenn auch sie nun gehen würde? Ich schüttelte gedankenverloren den Kopf und hob die Füße aus dem Wasser. Ich hatte den ganzen Weg über in die Kupferstadt nicht wirklich verstanden, was mich tatsächlich so bedrückt hatte. Jetzt, nach den weisen Worten der Stammesältesten, wusste ich es.

Ich hatte Angst vor dem Alleinsein.

Natürlich war mein Volk groß. Und doch hatte mich Vater allein gelassen. Allein mit der großen Verantwortung, das Erbe zu tragen. In vier Monaten würde ich achtzehn werden. Dann würde auch ich die Aufgaben einer Erbin übernehmen. Entscheidungen treffen. Mein Volk weiterbringen, um den Globus, in weitere Städte aus Glas, Gold, Eis und Stein.

Plötzlich begegnete ich den vertrauten grünen Augen neben meinem Wagen. Er sah eindringlich zu mir herüber, ohne seine Lippen zu einem Lächeln zu verziehen, wie er es zu Kindheitstagen so oft gemacht hatte. Stattdessen versiegelte er seine Züge, die sich in mich hineinbissen.

Ich hielt seinem Blick stand, bis er ihn abwenden und den anderen mit den Vorbereitungen für das Abendessen helfen würde. Doch er sah mich einfach nur an.

»Gib dir einen Ruck, kleine Elster«, hörte ich Zan Zahray freundlich sagen. »Ich habe in meinen Träumen gesehen, dass diese Vereinigung unserem Volk große Vorteile bieten würde.«

Es gab zwei Dinge, die ich wusste.

Das erste war, dass Zan Zahrays Träume und Visionen mehr Schein als Sein waren und sie nur zu gerne das darin aufblitzen sah, was sie sich selbst wünschte.

Und das andere war, dass Vater mich niemals dazu überredet hätte, Elia Lean zum Mann zu nehmen. Wütend sprang ich auf und machte mich daran, Jana zu helfen, ihre Tücher aufzuhängen. Nicht eine Sekunde länger wollte ich über Elia Lean nachdenken, doch sein Blick brannte noch immer in meinem Rücken.

• 2•

Sofija

Ich wusste, dass mein Temperament oft mit mir durchging. Ich hatte es noch nie gut verbergen können, und so sah ich zu, wie die anderen um das Lagerfeuer herum versuchten, meinen wütenden Blick zu deuten. Zan Zahray ließ mich in Ruhe, doch wusste ich genau, dass sie sich über die Geschichten in meinem Gesicht freute. Ich spürte die zusammengezogenen Augenbrauen und den streng zu einem Strich gezogenem Mund wie kleine Nadelstiche. Sie sagte immer, dass ich mich nur so gegen ihren Wunsch sträubte, weil ich schon lange in meinem Herzen entschieden hatte, diese Vereinigung einzugehen. Und das stimmte absolut nicht. Ich wollte frei sein. Frei wie der Wind, der das Feuer zum Tanzen brachte. Sicherlich musste ich gestehen, dass ich als kleines Mädchen ein Auge auf Elia geworfen hatte. Er war der große Bruder, den ich nie hatte. Mein Beschützer und außerdem noch mein bester Freund. Aber war diese Verliebtheit nicht einfach nur ein Zeichen dafür, dass wir uns schätzten? Es hatte nichts zu bedeuten, rein gar nichts.

Jana stupste mir in die Seite und deutete auf meinen vollen Teller.

»Magst du nichts essen, Fija?«

Grimmig schüttelte ich den Kopf und schob die Kartoffeln und gegrillten Echsen, die die jungen Männer zwischen den Steinen gefangen hatten, beiseite.

»Dann hast du bestimmt nichts dagegen, wenn ich mich daran erfreue«, meinte meine Freundin entzückt.

»Bedien dich ruhig«, brummte ich und sah ihr zu, wie sie genussvoll eine Echse verspeiste. Die Art, wie sie ihren kleinen Finger hob und die Schuppen des Tieres entfernte, erinnerte mich an ihre filigrane Näharbeit, an ihre Kunstwerke, die sie zu den Festtagen an die Kupferstädter verkaufte. Sie liebten ihre Arbeit.

Und gerne trugen sie die Hüte und Tücher über ihrer weißen legeren Kleidung.

»Du verpasst was«, stichelte sie.

»Ich habe keinen Hunger.«

Dann erhoben sich Zan Zahray und Elia, die den Plan für die Festtage vortrugen und Aufgaben verteilten. Früher hatten es nur Vater und Zan Zahray gemacht. Als Elia achtzehn wurde, durfte auch er diese Rede mitgestalten. Das war genau vor drei Jahren.

Die Kupferstädter veranstalteten jedes Jahr im gleichen Monat ein riesiges Fest zu Ehren des Kronprinzen, der mittlerweile dreiundzwanzig Jahre alt sein musste. Sie schmückten ihre stählernen Mauern mit bunten Fahnen und hießen uns Steandler gerne willkommen. Das fahrende Volk war nämlich nicht nur ein Parasit. Wir waren Künstler und zeigten den Menschen Dinge, die sie sich nicht einmal erträumten. Doch auch wir genossen ihre Festtage. Es roch immer nach Zimt und Orangen und manchmal sogar nach süßem Karamell. Die Kupferstädter spielten auf interessanten Zupfinstrumenten, die aussahen wie kleine Harfen, und sangen für den Kronprinzen ein Lied, das jeder nach wenigen Phrasen mitsingen konnte. Und jeder, der zu den Festtagen in die Stadt kam, bekam ein kleines, metallisch wirkendes Wappen mit dem königlichen Siegel geschenkt: eine Krone mit zwei gekreuzten Schwertern, die man sich an die Kleidung stecken konnte.

Ich hatte so viele, wie ich alt war. Bald würde ich eine weitere dazubekommen. Sie mussten ihren Kronprinzen wohl sehr lieben, auch wenn ich noch nie gehört hatte, dass er sich in der Öffentlichkeit zeigte oder unter die Leute mischte.

Jana würde ihren Verkaufsstand auf dem Markplatz aufbauen. Sams und Hector würden das Zelt für Zan Zahray und ihre wenig glaubhaften Wahrsagungen direkt daneben errichten. Fuhrwerke, die sich im Kreis drehten, sollten auf der anderen Seite, nahe dem Gemeindezentrum aufgebaut werden. Und dann brauchte Cristo noch einige Helfer, um die Bühne zu errichten, die den Großteil des Marktplatzes einnahm. Dort würden unsere Artisten und Zauberkünstler auftreten, die Bälle schweben, Bänder verschwinden und Funken sprühen ließen. Und dort wäre auch Platz für mich – für mich und mein Tamburin.

Wenn ich tanzte, vergesse man das Atmen, hatte Vater immer gesagt. Und seit drei Jahren konnte ich diese Bewunderung stets in den Augen der Männer entdecken, für die ich tanzte. Beneidende Blicke einiger Frauen taten ihr Übriges. Und dann war da noch mein kleiner Trick, mich an den vollen Geldbeuteln meiner Bewunderer zu bereichern. Ich grinste in mich hinein, als ich darüber nachdachte, meine Hand in ihren Hosentaschen verschwinden zu lassen und mein Tamburin zu heben. Das Klirren war Musik in meinen Ohren. Das Klirren des Geldes ebenso wie das Klirren der Metallplättchen meines Instrumentes, das ich so sehr liebte.

Elia ließ wie beiläufig seine grünen Augen über mich wandern, als er nachfragte, ob auch ich ihn verstanden hatte. Der Ton in seiner Stimme gefiel mir ganz und gar nicht. Er war besitzergreifend und vorlaut. Nicht einmal mein Vater hatte seine strengsten Worte jemals in diesem Ton an mich gerichtet, sodass ich demonstrativ aufstand und ergeben knickste.

»Ja, Eure Hohlheit! Ich habe dich sehr gut verstanden!«

Die Beleidigung saß – ein Überbleibsel aus unseren Kindheitstagen, wo wir noch Prinz und Prinzessin gespielt hatten. Seitdem er seinen Finger verloren hatte, zog ich ihn mit diesem verspottenden Titel auf. Eure Hohlheit. Ja, er hatte sich diesen Titel mehr als verdient. Und nur weil er der Erbe einer der Gründerfamilien war, hatte er die Weisheit nicht mit Löffeln einverleibt bekommen.

Plötzlich wurde es unheimlich still. Nur die Flammen knisterten ihr wärmendes Lied und der Fluss plätscherte seinen Nachtgesang.

Niemand sagte etwas gegen unsere Erben. Vermutlich lag es daran, dass niemand auch nur ansatzweise diesen kleinen Triumph mit mir auskostete.

Elia schäumte vor Wut und ich spürte die vielen Augen, die zwischen uns hin und her schossen. Zan Zahray schüttelte tadelnd den Kopf und Jana sah mich entsetzt an. Elias Blick hingegen war auf einmal meilenweit entfernt. Er nickte in die Runde und verschwand im Schatten der Flammen.

»Was starrt ihr so?«, schnaufte ich. »Kümmert euch um die Vorbereitungen für morgen. Ich kläre das«, fügte ich hinzu und rannte ihm widerwillig hinterher.

Früher war ich Elia hinterhergerannt, weil er schneller war als ich. Jetzt tat ich es, weil meine Worte ihn verletzt hatten – auch wenn ich nicht wirklich vorhatte, sie zurückzunehmen.

Ich fand ihn auf dem Felsen, den ich zuvor für mich beansprucht hatte. Sein dunkles Haar schimmerte im Licht des Silbermondes bläulich. Er schmiss kleine Steine in den Fluss. Das wiederkehrende Plopp und die leisen Stimmen meines Volkes waren das Einzige, was man hören konnte. Das und mein Herz, das mir riet wegzurennen, ehe das alles unendlich peinlich werden würde.

Die Kupferstadt sah streng auf uns herab. Gigantisch.

Undurchdringlich. Einschüchternd.

Ich biss mir auf die Unterlippe und nahm mir schließlich ein Herz.

»Tut mir leid, ich wollte dich nicht beleidigen«, flüsterte ich, was mich eine Menge Überwindung kostete. Doch Hohlheit Elia hielt es nicht für notwendig, mich auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen. Wütend stemmte ich die Hände in die Hüften und wiederholte mich nun etwas lauter. Wieder keine Regung.

Stattdessen schmiss er die Steine immer schneller in den Fluss.

Plopp-plopp.

»Hast du gehört, du taube Nuss?«

»Du solltest endlich lernen, erwachsen zu werden, Sofija«, sagte er, sah mich aber immer noch nicht an. Wenn er mich Sofija nannte, war es ernst. Das machte er nämlich immer nur, wenn er wirklich wütend war. Das letzte Mal hatte er mich Sofija genannt, als wir die Zelte in Friole abgebaut hatten. Dort hatte ich ihm zum ersten Mal sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass ich ihn nicht wollte. Nicht so, wie er mich wollte.

Ich knetete meine Hände, fand keine passenden Widerworte und setzte mich schließlich neben ihn. Es war das erste Mal seit Monaten, das ich den Sicherheitsabstand zwischen uns, den ich mir selbst auferlegt hatte, nicht einhielt.

Der Mond spiegelte sich im Fluss und tanzte im stetigen Rhythmus der platschenden Steine. Wieder erreichte mich ein Metallgeruch mit dem kühlen Abendwind, der sich in unsichtbaren Schlieren um uns legte. Es war eine entfernte Erinnerung, dieser Geruch der Stadt. Er war gleichermaßen heiß und kalt. Scharf und mild.

Lange sahen wir der tanzenden Reflexion des Silbermondes zu und schwiegen, bis Elia zu kichern begann.

»Was lachst du denn jetzt?«, fragte ich gereizt. Hatte er nun völlig den Verstand verloren?

»Erinnerst du dich an den Tag, wo wir erwischt wurden?«

Ich wusste, worauf er anspielte, und verdrehte im selben Moment die Augen.

Es war Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet Elia seinen Finger verloren hatte – der Messerkünstler unter uns war, der sich nicht einmal mit seiner waghalsigen Kunst verletzte. Er war geschickt in dem, was er tat. Nur leider hatte er kein Talent zum Stehlen.

»Du wurdest erwischt. Ich bin entwichen wie eine kleine Kanalratte.«

»Ich habe mich ritterlich vor dich gestellt!«, protestierte er und stupste mir in die Seite.

»Ich habe es anders in Erinnerung!«, murmelte ich nur und dachte an die stählernen Männer, die Elia mitgenommen hatten. Ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich mir das Werkzeug, mit dem sie es getan hatten, in Erinnerung rief. Es sah aus wie eine Schere, und doch war es, als hätte diese Schere Elias Glied verschluckt und anstelle einer offenen Wunde mit einer Kupferplatte versehen. Seine Schreie waren ohrenbetäubend. Und der Schmerz, den ich dabei empfunden hatte, erschütterte mich manchmal heute noch bis ins Mark. Oft hing mir der rostige Geruch von Blut in der Nase – dem Blut, das hätte dort entweichen sollen, wo nun die Kupferplatte glänzte.

»Hättest du nur aufgehört, mit der Dame über dein Diebesgut zu diskutieren … Dann wäre ich gar nicht unaufmerksam gewesen«, erklärte er sich weiter. Ich betrachtete dabei seinen Zeigefinger, der im Strahl des Mondes aufblitzte. Egal, wer die Schuld daran trug. Es war grausam, jemandem einen Finger abzuschneiden, auch wenn Elia mindestens die ganze Hand verdient hätte.

»Ich hätte dich nicht lächerlich vor allen machen sollen«, räumte ich nach einer Weile ein, doch fügte hastig hinzu: »Aber du solltest endlich aufhören, mich so schrecklich zu behandeln!«

»Wie behandele ich dich denn, Fija?«, fragte er und grinste mich schelmisch an.

Da! Da war dieser sanfte Ton aus Kindheitstagen in seiner Stimme, als er meinen Namen sagte. Ich hatte aufgehört zu hoffen, dass er so noch sein konnte.

»Du benimmst dich, als wäre ich dein Besitz!«

»Nein, ich beschütze dich, als wärst du mein Besitz«, korrigierte er.

»Aber ich bin nicht dein Besitz. Ich bin genau wie alle anderen.«

»Das bist du nicht«, seufzte er. »Und das weißt du ganz genau. Bald wirst auch du eine volljährige Erbin sein. Dann musst du Verantwortung übernehmen.«

»Wenn Vater noch leben würde, wäre mir die Sache verwehrt geblieben, zumindest noch für einige Zeit«, grummelte ich tief getroffen und legte mein Kinn auf die angezogenen Beine.

Wieder spürte ich den eisigen Hieb, der mir die Luft zum Atmen nahm.

Wäre mein Vater noch am Leben, wäre ich einfach nur Sofija. Frei wie der Wind. Frei wie alle anderen Steandler auch.

»Wem sagst du das«, sagte Elia nun genauso traurig und spielte an der Kupferplatte an seinem verstümmelten Zeigefinger herum. Er musste früher als ich alleine klarkommen. Seine Eltern starben bei einer gefährlichen Vorführung mit Raubkatzen, Kulatras. Seitdem hatten wir diese aus unserem Programm genommen und auch sonst die Sicherheitsvorkehrungen erheblich verschärft. Ich hatte ihre entstellten Leichen nicht gesehen, da Chanti, unsere Illusionistin, sie verschwinden ließ, ehe die Zuschauer von dem schrecklichen Blutbad mitbekamen. Doch der siebenjährige Elia hatte sie gesehen. Hinter der Bühne lagen ihre offen blutenden Körper. Sie waren tot, noch ehe man versuchen konnte, sie zu retten.

»Irgendwann sind wir diejenigen, die unser Volk mit dem Wind ziehen lassen, Fija. Irgendwann schauen sie zu dir auf und folgen dir bis in den Tod, wenn es sein muss. Ich will dich nur beschützen.«

»Elia«, flüsterte ich müde, doch er unterbrach mich mit seinen funkelnden Augen.

»Fija, du und ich sind die letzten Erben. Wir dürfen nicht versagen.«

»Nun gut, du hast ja recht. Doch du solltest aufhören, auf mich herabzublicken, Elia. Sonst wird Eure Hohlheit zu deiner gängigen Begrüßung.«

Als ich aufstand, schlossen sich seine Finger um mein Handgelenk. Seine Hand war schwitzig. Die Kupferplatte auf meiner Haut so eisig wie ein Eisklotz. Ich bekam Gänsehaut, doch als ich in seine traurigen Augen blickte, wurde mein Herz weicher.

»Ach Elia«, sagte ich sanft, aber entzog mich seiner schwitzigen Hand. »Ein Lächeln würde dir gut stehen.«

Und dann fragte ich mich, wann ich das letzte Mal von Herzen gelacht hatte. Es war, als wären mittlerweile Jahre vergangen.

Wir Steandler waren nicht nur großartige Gestaltwandler. Wir spielten unsere Rolle ziemlich gut. Nach außen hin waren wir stets fröhlich.

Doch keiner würde morgen bei meinem Tanz ahnen, dass ich dabei war zu zerbrechen.

• 3•

Jana

Hau ab!«, schrie Sofija, als ich an die hölzerne Tür ihres Wagens klopfte. Im selben Moment hörte ich einen dumpfen Aufprall, dem eines Kissens ähnlich, das unmittelbar vor der Tür landete.

»Ich bin’s nur«, sagte ich und öffnete die Tür einen kleinen Spalt.

Sofort kam, wie ich bereits vermutet hatte, ein weiteres Kissen auf mich zugeschossen.

So kannte ich sie. Unberechenbar und stur.

Hastig duckte ich mich, ließ die Türklinke jedoch nicht los. Im sperrigen Licht der Öllampe konnte ich schon das nächste Kissen in ihrer Hand sehen. Also wiederholte ich mit kräftiger Stimme abermals: »Ich bin’s nur! Jana!«

Ein erstickendes Keuchen war die Antwort, ehe ich mich versicherte, dass nicht ein weiteres Kissen durch die Luft flog. Vorsichtig öffnete ich die Tür.

Als sich unsere Blicke begegneten, ließ sie sich seufzend in die vielen Kissen auf ihrem Bett fallen. Ihr störrisches Haar vermischte sich dabei mit den dunklen Tüchern, die ihr Bett bevölkerten.

Sobald ich die Tür hinter mir schloss, kitzelte mir der Duft von wilden Rosen und Kräutern in der Nase. Der Duft meiner Kindheit und unserer Freundschaft.

Augenrollend verschränkte ich die Arme vor der Brust, als ich mir das Chaos ansah, das sie hinterlassen hatte.

Überall lagen Kissen und Tücher herum. Ihre kostbaren Kleider, die ich mit eigenen Händen genäht hatte, hingen schief an den Bügeln.

Wütend schrie sie ins Kissen, was sich anhörte, als hätte eine Katze eine lebendige Maus im Maul.

Wie oft hatte ich das schon mitgemacht? Es war zwecklos mitzuzählen, da Elia und Sofija sich nahezu jeden Tag wegen irgendwelcher Lappalien in den Haaren lagen.

»Ich dachte, du bist Elia.«

»Und wenn ich tatsächlich Elia gewesen wäre?«, fragte ich provokant und kassierte im selben Moment einen derben Fluch.

Zan Zahray sagte immer, dass Schimpfworte die Zunge verbrennen würden. Spätestens als Sofija und ich uns als elfjährige Rotzgören heimlich die schlimmsten Worte zugeflüstert hatten, die wir kannten, wussten wir, dass unsere Zungen viel mehr aushalten konnten. Ich hätte vermutlich alles geglaubt, was Zan Zahray sagte. Sofija hingegen hatte schon immer einen besonders ausgeprägten Trotzkopf. Sie hatte schon immer gern nach ihren eigenen Worten gesucht, anstatt auf die der anderen zu hören.

Die Erbin Rea konnte gut reden. Das hatte sie von Ooley geerbt.

Wenn sie ihre Stimme erhob, hörten alle zu. Mit Worten konnte sie Reiche formen. Mit Worten konnte sie sogar Hunger stillen.

Immer wenn sie sprach, hing ihr Volk an ihren Lippen. Wie Taube, die zum ersten Mal hörten, wie Blinde, die zum ersten Mal sahen, und wie Unwissende, die alles glaubten. Umso heftiger empfand Elia ihre Worte, wenn sie sie gegen ihn erhob. Wie Messer, hatte er letztens zu mir gesagt. Genauso fühlte es sich an.

Sofija hob ihren Kopf und begegnete meinem Blick mit aufgeblähten Wangen. Die dunklen Augen funkelten dabei so endlos tief wie der Nachthimmel selbst.

»Dann hätte ich mich vermutlich nicht beherrschen können und anstatt Kissen mit Öllampen geworfen.«

»Doch so gnädig?«, lachte ich und ließ mich auf das Kissen vor meinen Füßen nieder und streckte meine Beine aus.

»Ich hätte ihm eines seiner Messer entgegengeschleudert«, sagte ich und prustete im selben Moment los, auch wenn es nicht stimmte, was ich sagte. Oft genug verstand ich Elia. Schließlich war er nur ein Sklave seiner Gefühle.

Es war offensichtlich, dass er sich Hals über Kopf in Sofija verliebt hatte. Aber ich sagte nun mal gerne die Dinge, die sie hören wollte.

Wir waren schon zu lange beste Freundinnen, das war ich ihr schuldig.

»Ach Jana, er versteht mich einfach nicht.«

»Wie soll er auch? Er ist ein trotteliger Kerl, der es nicht versteht, sich in deinem verwirrenden Kopf zurechtzufinden!«, sagte ich sarkastisch. Vermutlich waren nämlich beide gleichermaßen an ihrem Missverständnis schuld.

»Früher hat er mich verstanden«, klagte sie. »Früher hat er mich besser verstanden, als ich mich selbst verstanden habe.«

Seit ich sie kannte, gab es nur Elia und Fija. Ich erinnerte mich lebhaft an den Tag, an dem ich sie das erste Mal gesehen hatte. Meine Augen aufgequollen und verheult nach dem Abschied von meiner Mutter, die mich mit den Steandlern fortgeschickt hatte.

Manchmal bildete ich mir ein, noch spüren zu können, wie sie ihre Finger aus meinen gerissen hatte. Die Augen verschleiert.

Meilenweit entfernt. Eisig kalt.

»Hör auf zu weinen!«, hatte sie gezischt. Ein Laut, der meine Finger noch heute zum Zittern brachte.

Sofija hatte mir ein Tuch gegeben, um meine Augen zu bedecken.

Um die Tränen zu trocknen, die meine Wangen verätzt hatten. Und Elia … Elia hatte seinen starken Arm um mich gelegt und mich zusammengehalten. Er war zehn Jahre alt gewesen. Die eine Hand mit Tüchern verbunden, um sein kupfernes Geheimnis zu verbergen.

»Wenn man die Wunde nur fest genug verbindet, sieht man sie irgendwann nicht mehr.«

»Doch, man sieht sie«, hörte ich mich sagen. Der Elia aus meiner Kindheit lächelte mir zu und deutete auf das Volk, das mir ein Heim gegeben hatte. »Hier hat jeder seine Wunden. Wir verbinden sie mit unseren Farben.«

»Weil sie zu uns gehören wie der Wind«, hatte die kleine Sofija hinzugefügt und mir ihre Hand gereicht. In ihrem sanften Griff hatten meine Finger aufgehört zu zittern. Das würde ich ihr niemals vergessen.

Dass sie für mich da gewesen war, als ich sie am meisten gebraucht hatte.

Die Erinnerung löste sich wieder auf. Sie schoss in Bildern durch meinen Kopf und in mein Herz. Dorthin, wo ich sie verschloss und wegsperrte, ehe das Zittern wieder zurückkehren konnte.

Bedächtig strich ich über die Zickzacknaht an meinem Rockbund.

Ein wohliges Gefühl unter meinen Fingerkuppen, die von der Näharbeit mit Hornhaut überzogen waren.

Nach einer Weile kroch ich zu Sofija hinüber und legte meinen Arm um sie.

»Es steckt doch noch mehr dahinter, Fija.«

»Hinter was?«

»Hinter alldem, warum ihr euch streitet.«

Sie zuckte die Schultern und schmiegte ihre Wange an meine Beuge.

»Ich brauche ihn, Jana. Seit Vaters Tod mehr denn je. Doch nicht so.«

Ich fuhr über die trockenen Tränen auf ihrer Wange und nickte bedächtig, als ich über ihre Worte nachdachte. Wenn man es so wollte, war Elia der Einzige, der ihr blieb.

Ihre ganze halbe Familie – die auch meine war.

• 4•

Sofija

Es war immer wieder ein aufregender Moment, die Brücke zur Kupferstadt zu überqueren. Die Steine waren in einem saftigen Rot und zogen sich bis in jede Ecke dieser verwinkelten Stadt. Als sich ihre Tore öffneten, wurden wir bereits von den Soldaten des Königs am Stadteingang begrüßt. Man erkannte sie an dem dunkelgrauen Metallwappen auf ihrer linken Brust, das sich bis über den rechten Arm streckte. Das Siegel König Platos, wie jenes, das man zu Festtagen als Souvenir geschenkt bekam. Doch anders als in den Jahren davor waren die Geschichten in ihren Gesichtern nicht freundlich und zuvorkommend. Heute hoben sie ihre Waffen, sodass wir irritiert vor ihnen stehen blieben. Es mussten ein Dutzend Soldaten sein, die sich vor uns aufbauten wie die Türme im Hintergrund.

Zan Zahray war die Erste, die ihre Stimme erhob – eine welke Blüte, getragen von einem starken Stängel. Elia und ich stärkten ihr den Rücken, auch wenn ich mich in der Gegenwart der Wachen plötzlich ziemlich unwohl fühlte. Ich klammerte mich immer fester an mein Tamburin, so fest, dass meine Finger wehtaten.

»Wir kommen zu euren Festtagen, liebe Soldaten. Wie jedes Jahr sind auch wir fester Bestandteil der Festlichkeiten zu Ehren des Kronprinzen.« Einer der Soldaten nickte ihr zu, auch wenn seine Augen eine andere Sprache sprachen. Seine Augen sahen böse aus.

Er erinnerte mich an den Mann, der Elia festgehalten hatte, um seinen Finger abzuschneiden. Auch dieser hatte undurchdringliche Gesichtszüge und ein undefinierbares Alter gehabt. Nicht seinen, sondern den Willen des Königs ausgeführt. Ich erspähte das rege Treiben hinter den Stangen. Atmete den rostigen Duft der Bauten ein. Ließ mich von der dampfenden Brise streicheln und hörte das stetige Ticken der riesigen Uhr auf dem Marktplatz. Der Akzent des Soldaten war schneidend. Kühler als die weichen Klänge der einheitlichen Sprache der Vereinigen Reiche. Er musste aus der Provinz Kupfoas stammen.

»Das wissen wir, gute Frau. Doch unsere Sicherheitsvorkehrungen haben sich geändert. Zur Feierlichkeit zu Ehren unseres neuen Königs Lucius dem Ersten müssen wir Fremde vor Eintritt durchsuchen.« König Platos musste wohl im letzten Jahr gestorben sein, wenn sein Sohn nun den Thron bestiegen hatte. So war das. Eine Ära endete. Eine neue begann. Unwillkürlich fragte ich mich, ob Kronprinz Lucius diesen Tag ersehnt hatte oder ob auch er sein Erbe kaum ertragen konnte.

»Das ist mir neu!«, beschwerte sich Zan Zahray und sah den Soldaten empört an. »Wir Steandler sind seit Jahren ein Teil dieser Festlichkeiten und keine Fremden.«

»Ihr Steandler mögt ein lustiges Volk sein«, räumte der Soldat diplomatisch ein, wurde aber plötzlich von einem Kollegen unterbrochen, der sich vor Zan Zahray aufbaute.

»Aber eigentlich seid ihr nicht mehr als eine Gruppe räudiger Straßenköter! Entweder ihr befolgt unseren Regeln oder ihr geht dahin zurück, wo ihr hergekommen seid!«

Seine Worte waren wie eine Ohrfeige, die erst Augenblicke später schmerzte. Wie gelähmt sah ich zu, wie sich die Metallsoldaten zwischen uns hindurchdrängten und unsere Körper begrapschten.

Es war willkürlich. Jede Berührung war eine Demonstration von Macht, der ich mich nicht widersetzen konnte. Niemand sagte etwas, nicht einmal Zan Zahray. Sie sah nur traurig zu, wie unser Volk verstummte, als sie uns durchsuchten wie eine Horde Verbrecher.

Wir wussten, dass nicht viele unseren Lebensstil guthießen. Doch uns mit Straßenkötern zu vergleichen, war ein heftiger Stich, der an meinem Stolz nagte.

»Wen haben wir denn da?«

Als der Soldat mit den bösen Augen meine Taille packte und mich an sich zog, verpasste ich ihm einen gezielten Schlag auf einen Spalt in der Rüstung. Seine Rippen waren an dieser Stelle nicht geschützt, sodass er erschrak und keuchend zusammensackte.

Mein Tamburin schellte Applaus, während seine Augen zu funkeln begannen.

»Niemand gibt dir das Recht, mich so anzufassen!«, zischte ich und schob entschlossen den Unterkiefer nach vorn. Der Mann schnaufte wütend und ließ seine Hand über mir schweben.

»Du widerliche, kleine …« Ich hob abwehrend die Arme vor mein Gesicht … Ich hatte mir schon oft vernichtende Schläge eingefangen und wusste, wie es sich anfühlen würde.

Immer waren es mit Schmuck verzierte Hände oder solche in Rüstungen, die sich daran erfreuten, uns für das zu bestrafen, was wir in ihren Augen waren – weniger wert als sie selbst.

»Lass sie!« Elia stellte sich vor mich, wurde jedoch von einem anderen Soldaten grob am Arm gepackt.

»Hiergeblieben!«

»Keiner entkommt der Justiz der Kupferstadt! Nicht mal ein hübsches Mädchen.«

»Haymish!«, unterbrach ihn plötzlich eine Stimme aus dem Hintergrund. Sie kam vom stählernen Tor und brachte die restlichen Soldaten dazu, sich ohne zu zögern nach ihr umzudrehen. Es war ein weiterer Mann des Königs, der sich allein durch die Farbe des Wappens auf seiner Brust von den anderen unterschied. Es war aus Kupfer. Nahezu flammend rot.

Ohne Frage. Er musste zur königlichen Familie gehören. Ein Hauptmann, vermutlich ein entfernter Cousin des Königs oder auch ein Freund, der sich durch Treue ein Würdenamt verdient hatte. Der Soldat namens Haymish entfernte sich von mir, ohne mich auch nur ein weiteres Mal anzusehen. Und da begegnete ich den Augen des Hauptmanns, dessen Befehl mich gerettet hatte. Sie waren aus dunklem, flüssigem Gold, eine Farbe, die ich zuvor noch nie gesehen hatte. Ich drohte, mich in ihnen zu verlieren, mich an ihnen zu verbrennen. Also unterbrach ich die Verbindung, indem ich untertauchte. Schnell war ich zwischen Tüchern und Röcken verschwunden, noch ehe der Mann meine Geschichten studieren konnte. Jene, die nicht unter dem Schleier verborgen waren.

Seine Stimme fuhr über uns hinweg wie eine Naturgewalt. Undurchdringbar und gebieterisch.

»Die Steandler sind seit Jahrzehnten unsere Freunde. Nun lasst sie gewähren!«

»Aber …«

»Lasst sie gewähren!«, donnerte es und das Klappern der Stahlschuhe auf der roten Steinbrücke war die einzige Antwort auf seine Forderung.

Nachdem Zan Zahray sich mit einer leichten Verbeugung in Richtung des Soldaten in der Kupferrüstung verabschiedet hatte, passierten wir das offene Tor und ließen uns von der Kupferstadt verschlucken. Die Räder unserer Wagen knirschten und quietschten, die Pferde und Ziegen schnauften. Der Wüstenstaub klebte auf unseren Kleidern wie festgenähte Glitzersteinchen.

Elia stand neben mir und nahm meine Hand, während ich nach den goldenen Augen suchte, die mich gerettet hatten. Ich entdeckte sie neben dem Tor. Sie sahen zusammengekniffen zu Soldat Haymish, der unter ihrem Blick zu schmelzen schien.

Und dann folgten sie mir. Auch wenn ich sie nicht mehr sehen konnte, wusste ich, dass sie mir hinterhersahen, bis wir uns in den Schatten der Stadt verloren.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Elia zornig. Ich erkannte in den Geschichten seines Gesichtes, dass er sich zusammenreißen musste, um nicht zu dem Soldaten zurückzugehen und ihm eine reinzuhauen.

Ich setzte ein Lächeln auf und nickte. Dann ließ ich seine Hand los und verschwand zwischen meinen Leuten. Ich fand Talima, den alten Esel und grub die Hände in sein verfilztes Fell, um etwas anderes zu spüren als Elias eindringliche Berührung. Das Gefühl seiner schwitzigen Hand jedoch blieb. Und die Kupferplatte auf seinem Zeigefinger hinterließ auf meinem Unterarm eine Gänsehaut, die ich nicht einmal mit mehrmaligen Drüberreiben vertreiben konnte. Sie war eine stumme, aber stetige Warnung, die hier durch die Gassen fuhr wie der dampfende Wind. Ich fragte mich, was man noch verlieren könnte außer einem Finger oder einer Hand und was die Metallsoldaten auf einmal von uns wollten.

•·•

Es dauerte einen ganzen Tag, die Stände und Bühnen aufzubauen, doch wir kamen gut voran. Alles sah noch genauso aus wie vor einem Jahr. Der Platz war rund wie die Uhr, die über dem Marktplatz prangte, als wäre sie das königliche Siegel. Darunter befand sich meistens unsere Bühne. Die Uhr war ein schöner Teil unserer Kulisse, vielleicht sogar der schönste, obwohl sie nicht zu uns gehörte.

Sie war ein wahres Kunstwerk: Ihre unzähligen Zahnräder leuchteten in sämtlichen metallischen Farben. Ihr Ticken erfüllte Kupfoa, als wäre sie das Herz, das das Leben in die Stadt pumpte. Es pulsierte. Ich spürte das Ticken in meinem Brustkorb, als wären es meine eigenen Herzschläge. Mein Vater hatte schon immer behauptet, dass diese Uhr die Stadt lebendig hielt. Und heute konnte auch ich es fühlen. Es hatte sich also augenscheinlich nichts verändert.

Und doch gab es einen ganz grundlegenden Unterschied – oder eher Unterschiede: Überall waren Metallsoldaten postiert, die uns beobachteten, als wären wir Kuriositäten. So hatte ich mich noch nie gefühlt. Normalerweise war ich stolz auf unsere Vielfalt, aber heute fühlte ich mich nackt und ich verschwand zu gerne im zweiten Boden unserer Bühne, um die mechanischen Vorkehrungen zu prüfen.

Cristo hatte sich diesen Trick für mich ausgedacht. Er hatte, bevor er zu den Steandlern stieß, als Bühnenbauer gearbeitet und die Technik der großen Theaterhäuser in anderen Königreichen von Alkurnia revolutioniert.

Ich kam bei meinem Auftritt aus dem zweiten Boden, der langsam an Seilen von Sams nach oben gezogen wurde. Begleitet wurde ich dann meistens von einem magischen Nebel, den Chanti aufkommen ließ. Ich kannte jedoch die Chemie hinter ihrer Magie und wusste, dass sie zu gerne mit Stickstoff und anderen Substanzen herumexperimentierte. Und es gab auch einen Trick, mit dem sie für einen kurzen Moment die Lichter in der Stadt einfing. Dann verschwand ich meistens und tauchte zusammen mit den Lichtern zwischen den ungläubigen Zuschauern wieder auf. Das sah immer besonders schön aus und brachte die Zuschauer nicht selten zum Staunen. Wenigstens einmal im Jahr sahen sie zu uns hinauf und bewunderten uns.

Ich ließ meine Finger über die Seile tanzen und prüfte bereits zum dritten Mal die Nägel, die die Balken unter der Bühne zusammenhielten, auch wenn Cristo noch Hilfe bei den Vorhängen gebraucht hätte.

Hier unten wollte ich bleiben. So lange, bis mich die Blicke der Metallsoldaten losließen.

Es schien fast, als würden sie mich besonders angestrengt beobachten. Als würden ihre Augen ununterbrochen auf mir ruhen.

»Hier steckst du!«, hörte ich Cristo schimpfen und schreckte vor seinem Kopf zurück, den er durch das Loch in der Bühne zu mir nach unten streckte.

»Ich habe nur noch mal die Seile geprüft«, verteidigte ich mich gleich, doch wurde von seinem Kopfschütteln unterbrochen. Sein blondes Haar kitzelte auf den Wangen. Cristo musste einst ein schöner junger Mann gewesen sein. Doch seine Geschichten verrieten, dass ihn der Tod seiner Frau alt und verwundbar gemacht hatte. Vor allem seine grauen Augen. Ja, sie logen nicht.

»Wir suchen dich schon überall! Wir müssen den Ablaufplan für den Abend besprechen. Du weißt doch, dass der erste Abend der wichtigste ist. Nun komm!«

Er reichte mir eine Hand und zog mich mit Leichtigkeit durch den Spalt im Boden auf die Bühne. Dort erstrahlte das Werk der Steandler in den gängigen Farben über den Holzbalken, die die Bühne vom Zuschauerbereich trennten. Rot für die Familie Rea.

Blau für die Familie Lean. Und gelb für die Familie Zahray.

Ich trat hinter den Vorhang, wo die anderen bereits auf mich warteten: Chanti, die Illusionistin, die Funken sprühen und Nebel walten ließ, hantierte bereits mit ihren Fläschchen und Boxen, während Saranda, die Sängerin, ihre Lippen lockerte und hin und wieder gurgelnde Laute von sich gab. Jeherus, der Magier, verstaute gerade die letzten Karten in seiner Jacke und wollte seine weiße Taube vorsichtig in seinen Ärmel gleiten lassen.

»Na komm, Berta, mein kleines Täubchen«, säuselte er, sodass sich der gekringelte Schnurrbart wie die Flügel eines Vogels an seinen Wangen auf und ab bewegte. »Sei ein braves Täubchen und komm in meinen Ärmel. Put, put, put.«

Ich rollte die Augen und lachte über die Sturheit der Taube, die wieder und wieder durch die wulstigen Finger des Magiers schlüpfte.

Ich konnte sie verstehen, ich hätte vermutlich auch nicht gerne in seinem Ärmel gewartet, während er im Licht unserer Fackeln zu schwitzen begann.

»Müssen diese geschmacklosen Tiernummern sein? Hast du Berta mal gefragt, ob sie das überhaupt will?«, beschwerte sich Juli, die Tierflüsterin, und verschränkte die Arme vor der Brust. Jeherus sah nicht einmal zu ihr auf, als er mit der Zunge schnalzte.

»Kann Berta sprechen?«, fragte er gelangweilt.

»Mit dir nicht! Stimmts, mein armes kleines Ding?«, ereiferte sich Juli, die im selben Moment liebevoll über das weiße Köpfchen der Taube strich.

Ich unterdrückte ein Kichern, doch wurde wieder ernst, als der Messerkünstler in mein Blickfeld trat. Er trug bereits seine Bühnenkleidung: die schwarze Pumphose und die halbe Kluft, die den linken Teil seiner Brust offen legte. Muskeln umzogen von dunkler Haut spannten sich an, als er sich durch das dichte Haar fuhr, das er mit einem Kammzug aus seiner Stirn gestrichen hatte.

Die kleine Schnittwunde in seiner Augenbraue ließ ihn aussehen wie ein Krieger. Einer, der mit Raubkatzen kämpfte. Einer, der mit Kulatras umging, als wären es handzahme Straßenkatzen. Doch ich wusste es besser. Er hatte sie sich bei einer Schlägerei in einer Schenke zugezogen. Die Stadt aus Kupfer und Zinn glänzte. Doch nicht jede Medaille war auch auf der Kehrseite aus Gold. Irgendein Kupferstädter musste seine Krallen ausgefahren haben. Wobei Elia es vermutlich verdient hatte.

Ich knirschte mit den Zähnen, als er anfing, eines seiner Messer wieder und wieder in die Luft zu werfen und mit der rechten Hand aufzufangen.

»Wenn ich diesen dreckigen Soldaten nachher erblicke, werfe ich mein Messer auf ihn«, knurrte er, als sich unsere Blicke begegneten. Ich wusste, dass er schon den ganzen Tag darüber nachgedacht hatte. Sein Kiefer zuckte nun wild entschlossen.

»Du solltest lieber aufpassen, was du tust, Elia. Du kannst noch was ganz anderes als deinen Finger verlieren«, sagte ich mahnend und ließ den heutigen Ablaufplan über mich ergehen. Wir entschieden uns für das Übliche. Wir würden mit der Illusionsnummer beginnen. Die Schwerter, Messer und meinen Tanz würden wir uns für die spätere Stunde aufheben. Wenn der Mond leuchtete und die Fackeln brannten, klappte Chantis Trick mit den Lichtern am besten.

Als wir fertig waren, machten wir uns in den Zelten daran, uns für die Vorstellung vorzubereiten. Ich würde ein ausgefallenes rotes Kleid mit Metallplättchen tragen, die bei meinem Tanz wie die Plättchen meines Tamburins aneinanderschlugen. Es war ein himmlisches Geräusch. Jana hatte es sich für mich ausgedacht.

»Wenn er dich noch einmal berührt, schlitze ich seine Kehle auf«, fing mich Elia erneut ab und drückte seine rechte Hand in meinen Arm, bis er wehtat und sich langsam taub anfühlte.

»Lass gut sein«, sagte ich und entriss mich ihm, um seinem wilden Blick zu entfliehen. Er hatte den ganzen Tag schon dieses irre Funkeln in seinen grünen Augen. Ganz so, als wäre das Gespräch von gestern Abend nur ein Traum gewesen, als hätte es den kurzen Moment, in dem wir uns ebenbürtig begegnet waren, nie gegeben. Er betrachtete mich als seinen Besitz.

»Dann lass du lieber deine Finger bei dir.« Er deutete mit seinem Kinn auf mein Tamburin. Mein geräuschvolles Ablenkungsmanöver, wenn meine Finger in den Hosentaschen der Kupferstädter verschwanden. Es war eine alte Gewohnheit, das zu tun. Es war aber auch notwendig, um mein Volk auf den langen Reisen in die anderen Königreiche durchzubringen. Notgroschen. Die Garantie, dass wir nicht verhungerten auf der langen Reise nach Smarakta.

»Ich möchte nicht noch einmal meine Hand hinhalten müssen.«

»Lass das meine Sorge sein«, zischte ich, verschwand in meinem Zelt und rieb mir den Arm, der nun wütend prickelte.

Sollte er sich doch um seine eigenen Probleme kümmern.

• 5•

Sofija

Tretet näher, tretet näher und lasst euch heute Nacht in eine Welt aus Illusion, Kunst und Zauberei entführen! Tretet näher, liebe Freunde, und seht her!«

Als Chanti nach ihrer Nummer hinter die Bühne kam, berichtete sie von den vielen Metallsoldaten, die sich unter die Kupferstädter gemischt hatten und unser Treiben mit Argusaugen beobachteten. Ich knirschte mit den Zähnen und zerquetschte mein Tamburin zwischen meinen schwitzigen Fingern. Heute würde ich nur den Hut aufhalten und nicht in ihren Taschen wühlen wie eine gerissene Schlange. Vorerst. Die Festtage gingen drei Wochen. Den ganzen Monat, bis sich der Sommer in den Herbst verwandelte. In dieser Zeit würden sich einige Gelegenheiten ergeben. Und somit könnte ich uns einiges dazuverdienen.

Der Applaus donnerte über den Metallplatz. Er war so viel heftiger als ins Smarakta, so viel fordernder als in Friole und so viel erschütternder als in Lealo. Hier schienen die Kupferstädter auf unser Freudenfest nur gewartet zu haben. So waren sie noch nie.

Und ich war noch nie so aufgeregt und unruhig, während ich darauf wartete, dass ich dran war.

Der Himmel färbte sich schwarz, der Mond stand am selben Punkt wie gestern und die Fackeln gingen nach und nach an und schimmerten auf den Metallmauern in einem satten Gold. Die Uhr über uns tickte im Takt unserer Geigen, Gitarren und Flöten. Es war ein herrliches Geräusch, auch wenn ich spürte, dass mein Herz immer etwas schneller schlug als sie.

Dann war es so weit und Cristo holte mich ab, um mich unter die Bühne zu geleiten.

Dort stellte er mich wie immer auf die Holzplatte, die durch die Seile nach oben gezogen wurde. Ich richtete mein Kleid und ließ die angenähten Metallplättchen um meine Hüfte mit einer Bewegung hin und her schwingen. Über uns hörte ich noch die schweren Schritte von Jeherus. Cristo legte eine Hand auf meine Schulter und drückte sie stumm, sobald der Applaus für den Magier verebbte. Dann ertönte das zaghafte Zupfen einer Gitarre und ich umgriff mein Instrument.

»Du siehst hinreißend aus, Sofija«, sagte er, woraufhin ich ihn anlächelte. Und mit diesem Lächeln begann ich meine kleine Show, mit der ich alle verzauberte.

Ein Raunen ging durch die Menge, als sie mich in Chantis Nebel erblickten. Und tatsächlich, die Illusionistin hatte nicht untertrieben, die Veranstaltung heute war mit vielen Metallsoldaten gefüllt. Sie standen in der hintersten Reihe und wirkten eher wie eine Armee von Zinnskulpturen, wie sie im Springbrunnen in Smarakta standen.

Ich begann zu tanzen.

Meine Füße schmerzten bei jedem Schritt. Sie waren noch wund von der Reise durch das Ödland. Wir waren lange gelaufen.

Ich hob das Tamburin und drehte mich um die eigene Achse, bis mein wallendes Haar flog. Mein Rock wirbelte um meine nackten Beine. Dann ließ ich Haut aufblitzen, entblößte mein langes Bein durch den Schlitz des Rockes, was die Menge mit einem grölenden Rufen quittierte. Ich überlegte, was ich tun würde, wenn ich meine Beine nicht hätte. Was wäre ich in ihren Augen schon wert ohne diese Beine, die für sie tanzten? Die Gitarre wurde nun begleitet von einer Geige und einer Trommel. Und mein Tamburin schwang im Klang des Rhythmus, zu dem die Menschen klatschten. Ich ließ die Hüften kreisen. Meine Füße schmerzten so sehr. Und doch lächelte ich. Es gab kein Leid, wenn ich tanzte.

Dann kam mein Auftritt zum Höhepunkt. Funken wie die eines Feuerwerkes zischten und lenkten die staunende Menge ab. Schnell senkte sich der Boden und ich verschwand in der Klappe, in der ich zuvor erschienen war. Flink huschte ich unter der Bühne hervor und platzierte mich in der Mitte des Marktplatzes. Sobald mich Chanti entdeckte, ließ sie wieder einen Nebel aufsteigen, Funken sprühen. Und dann erstrahlte ich in einem goldenen Licht, während die Kupferstädter mit offenen Mündern zu klatschen begannen.

Ich senkte meinen Kopf zu einer ergebenen Verbeugung und ließ sie applaudieren. Das wenige Geld, das die Zuschauer in meinen Hut warfen, war nicht annähernd das, was ich mir für mein Volk gewünscht hatte. Zan Zahray mochte es zwar nicht, wenn ich mich an dem Reichtum anderer Menschen erlabte. Ich hingegen nannte es gern Reichtum, der gerecht aufgeteilt wurde. Wir Steandler arbeiteten hart für unser Leben. Und seit Vaters Tod war das Leben härter gewesen, als ich es mir jemals hätte vorstellen können.

Mein Blick wanderte über die Menge und ich ließ mich von den funkelnden Mauern der Stadt berauschen. Die Nacht war klar. Kein dampfender Nebel fegte durch die Straßen, sodass ich etwas sah, was mir all die vorherigen Jahre verwehrt geblieben war. Das Schloss der Königsfamilie erstrahlte in einem metallischen Rot und baute sich ebenmäßig gegenüber der großen Ticktackuhr am Marktplatz auf. Es war, als hätte jemand den Nebelvorhang absichtlich zur Seite gezogen, damit ich es einmal sehen konnte. Es war das größte und pompöseste Gebäude, das es hier in Kupferstadt gab, und während ich die Formen und Verzierungen an der Fassade begutachtete, konnte ich nicht aufhören zu staunen.

Und da … Da sah ich eine Gestalt auf einem ebenso prächtigen Balkon.

Sie sah mich unverwandt an. So leblos wie ein Zinnsoldat, eine filigrane Kunstfigur, die vom Licht angestrahlt wurde.

Ich stutzte noch und versuchte, etwas zu erkennen, indem ich die Augen zusammenkniff und eine Hand über die Stirn legte. Doch dann schob sich der altbekannte Nebel vor den Turm. Fast so, als hätte ich mir das alles nur eingebildet.

»Nun staunt, liebe Freunde! Seine Messer sitzen zielgenau!«

• 6•

Jana

Zu Festtagen war mein Platz hinter den hölzernen Ständen, an denen wir unsere Waren verkauften. Ich hatte keine besonderen Talente, die man auf einer Bühne präsentieren konnte, doch Nähen hatte ich schon immer gut gekonnt. Die Kupferstädter liebten meine Handarbeit. Sobald sich die Festtage dem Ende neigten, geschah es nicht selten, dass ich Nächte durcharbeiten musste, um ihren Wünschen hinterherzukommen. Besonders am ersten Tag gingen die bunten Tücher mit Stickereien außerordentlich schnell weg, sodass ich mich dem Spektakel auf der Bühne widmen konnte.

Als Elia an der Reihe war, schlich ich mich von unserem Stand, in der Hoffnung, dass Ama und Sabya nicht mitbekamen, dass ich ihm ungestört zuschauen wollte. Schließlich hatte ich genug von ihrem albernen Plappern, wenn es um den Erben Lean ging, der bei einigen Frauen nur allzu oft Herzflattern verursachte. Ich schloss mich einer Traube von Menschen an, die gebannt auf die Bühne hinaufsahen, und stellte mich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können.

Ein lautloses Keuchen entglitt meiner Kehle, als Chanti Nebel aufsteigen ließ und einen Lichtstrahl auf eine dunkle Silhouette warf. Durch die Reihen der Kupferstädter ging ein erstauntes Raunen, in das ich ebenfalls einstimmte, als eine Klinge im Licht aufblitzte.

Danach folgte eine Hand, die mit kringelnden Bewegungen den Nebel zu teilen schien. Wie ein Strudel teilte er sich in lange weiße Tücher, die sich langsam auflösten. Die Form, die er mit seiner Hand in die Luft gemalt hatte, verflüchtigte sich abrupt mit einem Paukenschlag und absolute Dunkelheit legte sich um uns wie eine Decke. Ich hatte diese Nummer schon öfter gesehen. Und doch war ich immer wieder fasziniert von ihrer Gewaltigkeit und Intensität.

Dann ging das Licht plötzlich an und Elia stand mit gesenktem Kopf am Rande der Bühne. Die Muskeln bis aufs Äußerste angespannt und mit einer hauchdünnen Schweißschicht überzogen, die ihn glänzen ließ, als bestünde seine Haut aus purem Gold.

Trommeln stimmten ein, als er ganz langsam den Kopf anhob. Ich hätte schwören können, dass seine grünen, mit schwarzer Kohle umrandeten Augen den Marktplatz in Brand hätten setzen können. So intensiv glühten sie, so sehr zogen sie mich in ihren Bann. Er wirbelte um seine eigene Achse und hob seine Hand über das Publikum. Jetzt würde er eine unschuldige hübsche Frau aus der Menge erwählen, um um ihren Körper herum ein messerscharfes Kunstwerk zu formen. Wenn sie die Bühne wieder verließ, würde ihr Umriss in Form von spitzen Dolchen in der hölzernen Platte hängen bleiben, die gerade von zwei unserer Männer auf die Bühne getragen wurde.

In Elias Blick konnte ich lesen, dass er sich sein Opfer bereits ausgesucht hatte. Es war eine kurvige Kupferstädterin mit langem schwarzem Haar, das im Licht der Fackeln einen Rotstich hatte. Erst sträubte sie sich, doch Elia hatte überzeugende Argumente. Wer konnte bei diesem hinreißenden Lächeln schon Nein sagen? Na ja, außer Sofija natürlich.

Die Menge, die nun ermutigend klatschte, tat vermutlich den Rest, sodass die Kupferstädterin nur noch einmal kurz eine Grimasse schnitt und sich dann von ihm hinter die Bühne locken ließ. Dort wurde sie von Jeherus empfangen, der ihr einen schmierigen Kuss auf den Handrücken hauchte. So, wie ich ihren Gesichtsausdruck deutete, schien ihr auch dies nicht zu gefallen. Elias Kuss hingegen nahm sie gerne an und ließ sich von ihm in einer eleganten Drehung vor die Holzplatte stellen. Ich erwischte einen kleinen egoistischen Teil in mir, der gerne mit ihr getauscht hätte.

Elia umfasste ihre Schultern und legte angespannt die Finger auf die Lippen, bevor er sich zu dem Publikum umdrehte und ein schwarzes Tuch aus seiner Pumphose zog.

»Er wird doch nicht«, hörte ich eine Dame unmittelbar neben mir flüstern.

»Oh doch, er wird«, flüsterte ich zurück und lächelte verschmitzt, als Elia das Tuch mit geschickten Fingern über seine Augen zog. Er war ein Meister seiner Kunst. Es war, als würden seine Dolche für ihn sehen, während er blind mit ihnen um sich warf. Noch nie hatte er sein Ziel verfehlt.

Nun sah ich die Angst in den Augen der Kupferstädterin, als ihr bewusst wurde, dass er es ernst meinte.

»Nicht bewegen!«, wies Elia sie an und legte seine Finger an den Gürtel, an dem sein Werkzeug hing. Der Trommelwirbel im Hintergrund wurde immer lauter und ein angespanntes Keuchen ging durch die Menge.

Es war, als hätte die Welt aufgehört zu atmen. Und dann schoss ein Messer nach dem anderen auf die Kupferstädterin zu. Den Geschichten ihres Gesichtes zufolge hätte ich vermutet, dass sie vor Angst aufschreien würde. Doch sie biss nur die Zähne zusammen, krallte die Finger zur Faust und sah jedem einzelnen Messer direkt ins Auge. Mutig, dachte ich. Jede andere hätte vermutlich vor Angst die Augen geschlossen.

Der Aufprall des Dolches auf dem Holz war wie Musik in meinen Ohren. Ein dumpfer, wenn auch unheimlich klangvoller Laut, der mich aufgeregt die Hände zusammenschlagen ließ. Stolz überfiel mich, als auch die anderen Zuschauer anfingen, aufgeregt in die Hände zu klatschen. Mittlerweile malten die Dolche ihre Konturen nach. Nun fehlte noch ein letzter – jener, der haarscharf ihren Scheitel teilte.

Elia zischte, was den Trommlern signalisierte, dass er nun zu seinem großen Finale kam. Die Anspannung war beinahe greifbar. Ich spürte einen Jauchzer in meiner Kehle aufsteigen und hakte meine Finger ineinander.

»Wird er …«, flüsterte die Dame neben mir wieder und sah mich erwartungsvoll an.

»Ja, er wird«, antwortete ich und sah dem Dolch zu, wie er auf die Kupferstädterin zuschoss.

Als auch sein letzter Dolch in der Holzplatte stecken blieb, begann das Publikum zu klatschen und zu rufen – und wieder zu atmen. Elia zog das Tuch von seinen Augen, ging mit der eleganten Bewegung eines Tänzers auf die Kupferstädterin zu, die ganz weiß um die Nasenspitze geworden war, und drehte sie mit einer gekonnten Bewegung an sich heran, um sich zusammen mit ihr zu verbeugen.

»Einen herzlichen Applaus für den Messerkünstler und seine hinreißende Assistentin.«

Ich jubelte mit der Menge, bis meine Stimmbänder schmerzten und meine Handflächen wie Feuer brannten.

Elias Blick wanderte über die klatschende Menge. Und dann bildete ich mir ein, dass er mich ansah und seine Mundwinkel leicht nach oben gingen, als ich ihm zuwinkte.

• 7 •

Sofija

Die nächsten Tage verliefen routiniert. Wir waren wie ein gut geöltes Uhrwerk. Wir funktionierten beinahe blind und kassierten donnernden Applaus. Am zweiten Tag war dieser sogar noch größer und flehender. Ich wusste nicht, was in diesem Jahr geschehen war, doch ich vermutete, dass die Kupferstädter einfach unglaublich müde von ihrem öden Alltag waren und die Ablenkung der Festtage willkommen hießen.