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Köln, 1967 Kurz vor dem Schah-Besuch und dem Aufkeimen der 68-er Bewegung lernen sich die beiden Einzelgänger Lukas von Freystein und Maximilian Galiano kennen. Zwischen den jungen Männern entwickelt sich über Monate hinweg eine zarte Freundschaft. Für Lukas bietet diese zugleich einen Weg, sich peu à peu dem strikten Regiment seines Vaters zu entziehen. Viel lieber sitzt er gemeinsam mit Max unter dem Dach und hört die neuesten Scheiben von Frank Zappa oder The Doors. Als mit Roswitha Janisch eine neue Mitschülerin in Luks Klasse kommt, die ihn in die Kreise des Sozialistischen Studentenbunds einführt, verändert das nicht nur Luks Leben, sondern auch die Beziehung zwischen ihm und Max. Dieser muss sich nämlich widerstrebend eingestehen, dass die Gefühle, die er für seinen besten Freund hegt, womöglich über Freundschaft hinausgehen. Doch was bedeutet das in einer Zeit, in der noch die Nazigesetze gegen gleichgeschlechtliche Liebe gelten und Schwule für ihre Neigung nicht nur mit gesellschaftlicher Ächtung, sondern sogar mit Gefängnis zu rechnen haben? "Gerade in Tagen wie diesen, in denen Hass, Hetze und Rückschritte in ein lautes Gegeneinander unsere Zeit einfärben, brauchen wir tiefe, bewegende und echte Geschichten wie die von Luk und Galiano mehr denn je. Wir brauchen sie, um nicht zu vergessen, wie es sein kann, wenn wir rückwärtsgehen. Was das mit jedem Einzelnen von uns macht, auf ganz persönlicher Ebene wie auch mit uns als Gesellschaft. Vielleicht aber auch, wie wir uns aufs Neue auf den Weg machen können, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen." -Dr. phil. Caroline Hack (Medizinethikerin, Leiterin Stabsabteilung Klinische Ethik am Universitätsklinikum Erlangen)
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Seitenzahl: 436
Veröffentlichungsjahr: 2024
ein Roman von Elyseo da Silva
Für Caroline Hack
Dein Licht und Deine Klarheit leuchten hell, wenn alles ringsum finster scheint.
Januar 1967
Verdammte Kälte! Dabei hatte ich einen milden Januar erwischt, um mein Leben aus den Angeln zu heben. Ich konnte von Glück reden. Ohne Zuhause war mild allerdings relativ.
Ich lachte vor mich hin. Ohne Zuhause. Wie dramatisch! Eine junge Mutter warf mir einen Blick zu und zog ihr Kleinkind in den Eingang der Hahnentorlichtspiele.
Natürlich hatte ich ein Zuhause. Dass ich mich da um diese Zeit nicht blicken lassen konnte, hieß ja nicht, dass es nicht existierte. Und dass ich mich da nicht blicken lassen konnte, war allein meine Schuld. Mein Vater würde mir den Marsch blasen, wenn er von solchen Gedanken erführe. Kein Zuhause. Auch in der Uni wäre es sicherlich kuschelig warm gewesen.
Vor mir drängten sich die Menschen, um rechtzeitig vor Ladenschluss noch die Kaufhalle zu erreichen. Wenn ich in Bewegung bleiben wollte, wechselte ich besser auf die andere Straßenseite. Doch leichter gesagt als getan. Auf dem Ring herrschte Feierabendverkehr.
Ich schlug meinen Mantelkragen hoch und zog den Schal enger. Minus ein Grad hin oder her – dieser Wind war eisig. Ich tippelte von einem Fuß auf den anderen. Was für eine Blechlawine! Das kam davon, dass plötzlich jeder ein Auto brauchte.
Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr. Ich drehte mich um. Der Fremde kam geradewegs auf mich zu, schien mich jedoch nicht zu sehen. Sein Blick wirkte leer, geradezu apathisch. Ich tat einen Schritt zur Seite, doch er ging einfach weiter, direkt auf die Straße zu. Als er über den Bordstein hinweg mitten auf die Fahrbahn trat, machte ich einen Satz, packte ihn am Pullover und riss ihn zurück.
„Ma che cazzo!“
War der wahnsinnig geworden?
Mit quietschenden Reifen kam ein Auto direkt vor uns zum Stehen. Der Fahrer hupte erbost.
„Hey, hey, hey!“ Ich hielt den Jungen noch immer bei den Schultern und schüttelte ihn. „Alles in Ordnung mit Ihnen?“
Irgendwas stimmte mit dem nicht. Seine Miene war völlig ausdruckslos, dabei wäre er beinahe vor ein Auto gelaufen. War er auf Droge?
„Hören Sie mich?“ Er war vielleicht 18, auf jeden Fall etwas jünger als ich. Und viel zu dünn angezogen – noch nicht einmal eine Jacke trug er über seinem Rolli.
Auf dem Ring hatten die Wagen inzwischen ein Hupkonzert angestimmt. Der Opel Kapitän vor uns blockierte die Straße. Der Fahrer kurbelte das Beifahrerfenster herunter. „Sind Sie lebensmüde, oder was? Anzeigen sollte ich Sie!“ Er tippte sich an die Stirn.
Im Auto dahinter ging die Fahrertür auf. „Brauchen Sie Hilfe?“, fragte eine ältere Frau mit Pelzmütze besorgt.
Wenn ich das wüsste. Ich zuckte mit den Achseln.
Der Fremde, den ich noch immer festhielt, sah mich zum ersten Mal an. „Ich muss hier nur weg.“
Die Frau sah mich noch immer an.
„Ich kümmere mich drum. Danke Ihnen!“, rief ich ihr zu und sie stieg wieder in ihren Wagen.
„Kommen Sie“, sagte ich an den Fremden gewandt und er lief hinter mir her über die Straße. Da die Gaffer auf der anderen Spur jetzt langsam fuhren, war das ein Kinderspiel.
Wohin sollten wir gehen? Ich hatte kein Geld – drinnen schied also aus. Zum Park? Warum nicht. Da hätten wir zumindest unsere Ruhe. Nicht, dass er sich blindlings vors nächste Auto stürzte!
Widerspruchslos folgte er mir die Aachener Straße hinunter. Der Geruch aus dem Bosporus-Imbiss ließ mir das Wasser im Munde zusammenlaufen.
Naja, ich würde ihn zum Aachener Weiher bringen und dann schauten wir weiter.
Schweigend bogen wir in den Park und setzten uns auf eine Bank am Ufer.
„Wohin wollten Sie denn?“
„Danke“, sagte er.
„Wie bitte?“
„Für eben. Mit dem Auto. Ich – ich war – ja –“
Ich wartete, doch es kam nichts weiter.
„Und wohin wollten Sie?“
Er zögerte. „Ich weiß es nicht.“
„Sie wissen es nicht?“
Er schwieg.
Ich fingerte eine Lucky aus meiner Manteltasche und hielt ihm das Päckchen hin.
„Schlechter Tag?“ fragte ich, entzündete ein Streichholz und gab ihm Feuer.
Er inhalierte den Rauch, bevor er antwortete.
„Können Sie wohl sagen!“
Dabei blieb es.
Gesprächig war er nicht gerade, aber ich hatte das Gefühl, dass es ein Fehler wäre, ihn zu bedrängen. Er wirkte so zerbrechlich, als könnte die leiseste Erschütterung ihn zum Zerspringen bringen. War es am Ende kein Zufall gewesen, dass er vor ein Auto gelaufen war?
Mein Magen knurrte. Kurz vor sieben. Johanna wartete bestimmt schon mit dem Abendessen auf mich.
„Wollen Sie drüber reden?“, fragte ich, als ich meine Kippe ausgetreten hatte.
Wind kräuselte das Wasser. Das Licht des Mondes tanzte auf der Oberfläche, ehe sich eine Wolke vor ihn schob. Der Fremde schnippte seine Kippe weg. Ein roter Glutpunkt zog eine Kurve durch die Nacht und erlosch im See.
„Sie würden es nicht verstehen.“
Gut. Dann nicht. Ich stand auf. Es war ohnehin an der Zeit zu gehen.
„Ich muss dann mal.“
Er nickte schwach. Er würde schon klarkommen. Mehr als meine Hilfe anbieten konnte ich nicht.
„Passen Sie auf sich auf!“
Er kam mir vor wie eine Schildkröte, die ihren Kopf in den Panzer zurückgezogen hatte. Keine Ahnung, ob er mich noch wahrnahm.
Zum Glück hatte ich es von hier nicht weit.
Ich war bereits einige Meter am Weiher entlanggegangen, als der Fremde ein Geräusch von sich gab, dass mich gefrieren ließ.
Im Bruchteil einer Sekunde trug es mich zurück in eine Nacht, die viele Jahre zurücklag.
Genau wie jetzt war es finster gewesen damals. Nur unter der Türschwelle des Kinderzimmers hatte das Licht vom Korridor hereingeschienen, als ich mich aufsetzte.
Ich lauschte. Irgendwas musste mich geweckt haben, aber außer dem regelmäßigen Atmen meines Bruders war nichts zu hören. Meine Kehle war trocken wie Sandpapier, also kletterte ich aus unserem Stockbett. Barfuß tappte ich die kalte Treppe runter. Die Küchentür stand einen Spalt offen und das Licht brannte. Seltsam.
Vor dem Spülbecken stand, mit dem Rücken zu mir, mein Papà. Machte er den Abwasch? Mitten in der Nacht? Seine Arme hingen schlaff an seiner Seite herab. Was war da los?
Ein furchtbares Gefühl machte sich in mir breit – als ob jemand mir beim Fußball in den Bauch getreten hätte. Ich brachte keinen Ton heraus.
In diesem Augenblick gab Papà dieses Geräusch von sich. Als ob jemand erstickte – aber wollte, dass niemand es mitbekam. Und es war das gleiche Geräusch, das der Fremde auf der Bank hinter mir gerade von sich gegeben hatte.
Jene Nacht damals hatte für mich das Ende des Lebens bedeutet, wie ich es bis dahin gekannt hatte. Danach hatte ich zwar eine neue Schwester, aber keine Mutter mehr.
Ich musste diese Bilder verscheuchen.
Wie lang hatte ich es geschafft, nicht dorthin zurückzukehren! Und doch hatte das Gefühl nichts von seinem Grauen verloren.
Ich löste mich aus meiner Erstarrung. Was auch immer es war, was diesen Fremden quälte, ich konnte ihn nicht allein lassen.
Vor der Bank blieb ich stehen und streckte ihm meine Hand entgegen.
„Mein Name ist Maximilian Galiano.” Er reagierte nicht. „Meine Freunde nennen mich Galiano.”
„Lukas”, sagte er schließlich. „Lukas von Freystein.“ Seine Stimme vibrierte dunkel. Ich zog meine Hand zurück. Er hatte sie nicht geschüttelt.
Seine Zähne schlugen klappernd aufeinander. Ein Wunder, dass er nicht längst erfroren war.
„Wollen wir ein Stück gehen?”, schlug ich vor.
„Wohin?” Er klang skeptisch.
„Egal.”
Und das war es. Alles, was zählte, war, die Kälte aus meinen Gliedern zu vertreiben – und mehr noch aus seinen.
Ich rieb die Hände an meinen tauben Beinen und ging voran. Wortlos folgte er mir.
Wir stiegen zwei Hügel an der Südseite des Parks hinauf. Oben lag mein Steinkreis. Die kahlen Zweige des Ahorns stachen wie dürre Finger in den Nachthimmel. Zu unseren Füßen der Park.
„Ich komme oft hierher, in letzter Zeit.”
„Warum?”, fragte er.
„Ich kann nicht nach Hause.”
Ich spürte, dass er mich jetzt ansah.
„Warum?” Selbst bei diesem einen Wort zitterte seine Stimme. Ich nahm meinen Schal ab und hielt ihn ihm hin. Er machte eine abwehrende Handbewegung, also legte ich ihn ihm um den Hals, woraufhin er mich ansah, als wäre ich Sankt Martin persönlich.
„Mein Vater weiß nicht, dass ich mein Studium geschmissen habe.”
Ich wartete nicht auf eine Antwort, sondern machte mich auf den Weg den Hügel hinunter.
Der Reif seufzte leise, ansonsten war es wieder still.
„Wollen wir vielleicht einen Kaffee zusammen trinken?”, sagte er hinter mir.
Ich blieb stehen.
„Ich lade Sie ein. Ich habe noch ein paar Mark in der Tasche und mir ist verdammt kalt. Sie können nirgends hin und –”, wieder stockte er, „und ich auch nicht, wenn ich ehrlich bin.”
Ich sagte ihm nicht, dass in diesem Moment ein warmes Abendessen auf mich wartete.
„Ja, warum nicht?”, erwiderte ich stattdessen.
Als ich die Tür zur „Linde“ aufstieß, schlug uns ein Schwall warmer Luft entgegen. Wir setzten uns an einen Zweier-Tisch abseits in einer Nische. Ein gewisser Hajo hatte sich im dunklen Holz verewigt. 07.02.1963. Eine herrliche Hitze strahlte vom Kachelofen in der Ecke ab.
Wir hatten uns noch nicht richtig gesetzt, da stand bereits die Kellnerin neben uns. „Was darf’s denn sein, die Herren?”
Sie zog einen Block aus der weißen Spitzenschürze. Lukas bestellte ein Kännchen Kaffee mit zwei Tassen.
Die Kerze auf dem Tisch ließ Schatten über sein Gesicht flackern. Sein Haar war dunkelblond, die Farbe seiner Augen in dieser Beleuchtung eine Mischung aus grün und grau.
Ich schaute auf die Uhr. „Entschuldigen Sie, aber ich muss kurz zu Hause anrufen.”
Er nickte nur.
Der Wirt am Tresen deutete in einen Korridor, der ins Hintere des Cafés führte, als ich nach einem Münzfernsprecher fragte.
Ich warf meine beiden Groschen in den Schlitz und drehte die Wählscheibe.
„Bei Galiano”, meldete sich Johanna.
„Ciao! Ich bin es, Max.”
„Der Herr geruht also anzurufen, anstatt zum Essen zu erscheinen. Das fällt dir ja früh ein. Die Suppe ist schon kalt.”
„Tut mir leid, ich wurde an der Uni aufgehalten. Ich hoffe, ihr habt nicht auf mich gewartet.”
Johanna seufzte. „Nein, nein. Du kennst deinen Vater – er hat Hunger, wenn er von der Arbeit kommt.“
„Gibst du ihm Bescheid, bitte?”
„Natürlich, das mache ich.“
„Danke.“
„Was soll ich –”
„Du, ich muss Schluss machen.“ Ich drückte auf die Gabel.
Ich kam zeitgleich mit der Bedienung zurück. Der Kaffee duftete himmlisch. Lukas legte seine Hände um das Kännchen.
„Haben Sie Hunger?”
„Ich? Bin pleite. Die letzten Groschen sind eben beim Telefonieren draufgegangen.“
„Bringen Sie uns noch zwei Halve Hahn, bitte“, sagte er an die Bedienung gewandt.
„Das müssen Sie aber wirklich nicht!“ Doch mein Widerspruch fand kein Gehör. Ohnehin hatte ich es nur aus Höflichkeit gesagt.
Während ich Roggenbrötchen, Käse und Zwiebeln in mich hineinschaufelte, als gäbe es kein Morgen mehr, kaute er lustlos auf seinem Essen herum und schob mir auch noch den Rest rüber, bevor er sich mit einer Serviette die Krümel aus dem Mundwinkel wischte.
„Doch kein Appetit.“
Sollte mir recht sein. Mein Magen war vermutlich der italienischste Teil an mir.
„Und was war der Grund, wenn ich fragen darf?”
Ich spülte den Bissen mit einem Schluck Kaffee herunter. „Der Grund wofür?”
„Den Studienabbruch. Dass Sie es ihrem Vater nicht erzählt haben, kann ich übrigens verstehen. Meinem könnte ich auch nicht erzählen, wenn ich nicht mehr zum Klavierunterricht ginge.“
„Du spielst Klavier?“ Ich goss mir Kaffee nach. „Entschuldige, aber ich kann dieses dämliche Sie nicht leiden.“
„Ich auch nicht, ehrlich gesagt. Also du. Wann hast du denn aufgehört mit dem Studieren?“
„Ich tue meinem Vater Unrecht. Er kann nichts dafür, dass ich es ihm noch nicht gesagt habe. Drei Wochen und ich habe noch immer das Gefühl, ich bin nicht so weit. Aber es ist ein großer Schritt. Ich will Schriftsteller werden, weißt du? Und eines Morgens bin ich aufgewacht und wusste, ich kann so nicht weitermachen.“
„Dieses Gefühl kenne ich.“
Was meinte er damit? Wieder einmal sprach er, ohne etwas zu sagen.
„Was haben Sie denn studiert?“, fragte er nach einer Weile.
„Philosophie. Dachte, das passt. Aber Fehlanzeige. Da sitzt du in dieser Vorlesung von einem Professor Höllmann über die Dialektik bei Hegel und kein Mensch macht den Mund auf.“
„Was ist Dialektik?“, unterbrach er mich.
„Beste Frage!“ Ich musste lachen. „Im Prinzip vielleicht so viel wie, dass eine Sache zugleich sich selbst und ihr eigenes Gegenteil bedeuten kann – und beides wahr ist. Aber was weiß ich schon. Der Höllmann erzählte jedenfalls nichts als Wischiwaschi und ich bin sicher, meine Kommilitonen hatten genauso wenig Schimmer wie ich. Aber außer dir hatte bisher noch niemand den Mumm, das zuzugeben.“
„Ich studiere das ja auch nicht.“ Er runzelte die Stirn, doch da lag so etwas wie ein Lächeln auf seinen Lippen.
„Und dann kam noch heraus, dass der Höllmann ein Nazi war – angeblich mit Lehrstuhl unter Hitler. Gab Proteste und alles.“ Ich nippte an meiner Tasse.
„Also war das der Grund?“
„Einer davon. Ich musste immer wieder an einen Satz meines Nonno Emanuele denken – mein italienischer Opa. Jemand hat nur Macht über dich, wenn du sie ihm gibst. Und ich gab diesem Altnazi Macht über mich, wenn ich in seinen Vorlesungen saß. Wie hätte ich das jemals meinem anderen Großvater erklären sollen?“
„Dem anderen? War der auch Italiener?“
„Nein, Deutscher. Und überzeugter Kommunist. Aber das war ohnehin eine rhetorische Frage. Die Gelegenheit dazu bekomme ich nicht mehr.“
„Ist er –?“ Er brach die Frage ab, ohne sie zu Ende zu bringen.
„Schon okay“, erlöste ich ihn aus seiner Verlegenheit. „Wie hättest du das wissen sollen? – Dachau. Angeblich Lungenentzündung.“
Wir schauten einander an. Zum ersten Mal war er ganz da. Doch dann wirkte er mit einem Mal traurig.
Er stand auf und rieb seine Hände an den Oberschenkeln.
„Vielleicht sollte ich dann mal langsam –“
„Du kannst bei mir übernachten, wenn du nicht weißt, wo du hingehen sollst.“ Die Worte waren raus, bevor ich weiter darüber nachgedacht hatte.
Er erstarrte. „Aber – deine Eltern?”
„Lass das meine Sorge sein.”
Zum ersten Mal lächelte er übers ganze Gesicht – und es war, als hätte ein neuer Mensch den Raum betreten.
Januar 1967
Ich fuhr hoch. Wo zum Geier war ich? Das Surren, das mich geweckt hatte, gab es wohl nur in meinem Kopf. Eine braune Lampe. Bücher bis an die Dachschrägen. Jedenfalls nicht zu Hause.
Neben mir lag Galiano. Ach, richtig. Er hatte die Arme angezogen, sein Mund stand offen und er atmete tief. Die schwarzen Locken waren vom Schlaf zerdrückt. Der Wecker zeigte Viertel nach sieben.
Plötzlich war alles wieder da. Das Schreiben aus der Anstalt. Verfluchter Mistkerl! Ich zog mir die Decke über den Kopf. Irgendwann würde ich zurück müssen. Der Gedanke ließ mich frösteln.
Galiano drehte sich auf den Rücken, wachte aber nicht auf. Wo war die Toilette? Er hatte es mir noch gesagt, als wir hereingeschlichen waren, aber ich hatte wohl nicht richtig zugehört.
Ob jemand zu Hause war?
Ich glitt aus dem Bett, schlüpfte in meine Hosen und zog den Rolli über. Die Tür knarzte, aber Galiano schnarchte weiter.
Im Halbdunkeln tastete ich mich die Treppe hinunter. Im ersten Stock fiel ein wenig Licht durch ein Fenster am Ende des Korridors. Aber welche der Türen war es? Wenn ich Glück hatte, würden alle noch schlafen. Vorsichtig drückte ich die Klinke der erstbesten Tür herunter. Das Bad, tatsächlich. Und niemand war drin. Schwein gehabt.
Ich schloss hinter mir ab und pinkelte. Danach zog ich den Pullover aus und wusch mich. Im Regal stand ein Deodorant. Niemand würde es merken.
In diesem Moment drückte jemand gegen die verschlossene Tür. War ja klar.
„Max?” Frau Galiano wahrscheinlich.
Was nun? Ich konnte sie schlecht ignorieren. Wenigstens abgesperrt hatte ich.
„Max, sagst du mir Bescheid, wenn du fertig bist?”
Ich räusperte mich und drehte das Wasser auf. Dann ließ ich einige Sekunden vergehen, bevor ich aufsperrte und nach draußen linste.
„Wann bist du gestern eigentlich nach Hause – Oh!”
„Entschuldigung.”
Die untersetzte Frau vor mir tat einen Schritt zurück. Sie reichte mir kaum bis an die Schulter. Trotzdem ballte sie die Hände zu Fäusten und nahm eine Verteidigungspose ein, als stünden wir im Boxring.
„Wagen Sie es nicht, ich schreie!“
Das fehlte mir gerade noch.
„Nein, nein, nein! Ich bin ein Freund von Galiano – äh, Max. Er hat mir angeboten, hier zu übernachten, weil – Ja also, tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.”
So zerknautscht wie ihre Locken aussahen, konnte auch sie eben erst aufgestanden sein.
„Sie müssen Frau Galiano sein.” Ich streckte ihr meine Hand entgegen, zog sie aber gleich wieder zurück. „Nass. Entschuldigung.” Ich rieb sie an meiner Hose. „Mein Name ist Lukas. Lukas von Freystein.”
Die Frau kniff die Augen zusammen. „Sie wollen ein Freund von Max sein?”
Ich nickte. Hatte ich was Falsches gesagt?
„Frau Galiano ist seit Jahren tot.”
„Oh mein Gott. Das – das tut mir leid.” Was war ich nur für ein Vollidiot? Hatte er das erzählt und ich hatte es vergessen? Dass ich so leicht rot wurde, machte mich jedenfalls kaum glaubwürdiger.
„Ich würde sagen, das ist nicht Ihr Fehler.”
Am liebsten wäre ich auf der Stelle im Erdboden versunken.
„Ich bin Johanna.” Sie machte eine kurze Pause. „Die Haushälterin.”
„Es, es, es –“ Sinnloses Gebrabbel – seit jeher meine große Stärke. „Um ehrlich zu sein – also Max und ich, wir haben uns erst gestern getroffen. Er hat mir, also ich war in einer Art Notlage, da hat er mir angeboten –“
Plötzlich lachte sie. „Das sieht ihm ähnlich. Möchten Sie einen Kaffee?”
Selbst diese einfache Frage überforderte mich. Was wusste ich, was ich wollte?
„Ich setze einfach einen auf”, sagte sie, als ich stumm wie ein Fisch vor ihr stand. „Max trinkt ihn sicher, ohne Kaffee ist er unausstehlich. Wenn Sie wollen, kommen Sie runter in die Küche. Aber zunächst, wenn Sie erlauben?”
Damit schob sie sich an mir vorbei und schloss die Badezimmertür hinter sich. Na, das war ja großartig gelaufen!
Sollte ich Galiano wecken? Nein, besser nicht. Dann musste ich ihm wenigstens nicht beichten, dass ich der Haushälterin in die Arme gelaufen war.
Auf dem Schreibtisch in Galianos Zimmer lagen aufgeschlagene Bücher, eins davon so dick wie die Bibel, die die Liesl auf ihrem Nachttisch liegen hatte. Alles war voll mit Unterstreichungen und Kommentaren. Ich las eine der markierten Stellen. Englisch! Ernest Hemingway, For whom the bell tolls stand auf dem Buchrücken.
Ich sollte los. Auch mein Kopf fühlte sich an wie eine riesige Glocke. Wie sollte ein Mensch da klar denken können? Außerdem brauchte ich Luft.
Die Badezimmertür stand offen, aber niemand war zu sehen. Ich hatte es beinahe bis zur Haustür geschafft, als Johannas Stimme aus der Küche drang. „Ihr Kaffee wartet schon! Ich hab’ Ihnen ein paar Stullen dazu gemacht.”
Sollte ich so tun, als ob ich nichts gehört hätte? Einfach verschwinden? Wäre kaum das erste Mal, dass ich einen schlechten Eindruck hinterließ.
Ich trat in die Küche. Johanna lächelte mir entgegen. Vor dem Fenster bog sich ein kümmerlicher Apfelbaum im Wind. Der Tag war grau, in der Küche aber war es warm. Johanna musste eingeschürt haben.
„Nun kommen Sie schon!” Sie zog einen Stuhl vom Tisch zurück und lud mich mit einer Handbewegung ein, mich zu setzen. Auf einem Teller lagen Stullen, dick mit Butter und roter Marmelade bestrichen. Es duftete nach Kaffee. Mein Magen meldete sich zu Wort. Jetzt kam ich ohnehin nicht mehr hier raus, ohne jedes Gebot der Höflichkeit mit Füßen zu treten.
Johanna schenkte mir ein. „Zucker? Kaffeesahne?”
„Beides, bitte.”
„Habe ich von den Erdbeeren aus dem Garten gemacht“, sagte sie, als ich in Nullkommanichts das Brot verschlungen hatte. Sie musste glauben, ich bekäme sonst nichts zu essen.
Jemand kam die Treppe herunter.
„Du bist ja schon wach!” Galiano klopfte mir auf die Schulter. Seine Haare standen wild in alle Richtungen. „Wie ich sehe, hat Johanna sich um dich gekümmert. Sehr gut! Danke, Johanna!”
„Hättest mir aber ruhig sagen können, dass du Besuch mitbringst. Ich habe mich zu Tode erschreckt, als der junge Herr aus dem Bad kam!”
„Tschuldigung”, sagte Galiano.
„Es sei denn, du willst mich um die Ecke bringen.”
„Da fielen mir bessere Methoden ein!”
„Untersteh dich!” Johanna zog ihn am Ohr.
„Jetzt brauche ich erstmal Kaffee. Davor sieht’s mit meinem Einfallsreichtum mau aus.”
Er setzte sich neben mich. Wieder sah er mich mit diesem Blick an, als könnte er in mich hineinschauen. Aber nein, das war unmöglich. Er konnte nichts wissen.
Johanna schenkte ihm einen Kaffee ein. Er nahm einen Schluck und stieß einen bühnenreifen Seufzer aus. „Wunderbar. Wenn ich dich nicht hätte! Ich wäre schön dumm, wenn ich dich um die Ecke bringen wollte.”
Sie lachte. „Wenn du es wenigstens einsiehst! Wann musst du los?”
Max sah auf seine Uhr. „Um zehn muss ich in der Uni sein. Ein bisschen Zeit ist noch.”
Auch ohne Worte verstand ich die Botschaft, die er mir zukommen ließ.
„Dürfte ich noch ein wenig Kaffee?”, fragte ich.
„Dafür habe ich ihn doch gemacht!” Johanna schenkte mir nach.
Ich musste an die Liesl denken. Dass selbst sie mir nicht die Wahrheit über meine Mutter gesagt hatte! Ich verstand es einfach nicht.
Ich legte das angebissene Brot zurück auf den Teller.
„Schon satt?”, fragte Galiano.
Statt einer Antwort stand ich auf. „Ich sollte jetzt gehen.”
„Willst du nicht auf mich warten?”
Wieso war er so nett zu mir?
„Es ist besser, ich mache mich auf den Weg.”
„Verstehe.“ Er klang beinahe enttäuscht. „Aber warte einen Augenblick!“
Er polterte die Treppen hinauf. Johanna schien das nicht zu stören. Kurz darauf war er wieder da und hielt mir eine Jacke hin. Sie sah warm aus.
„Nein, wirklich, das kann ich nicht.”
„Keine Widerrede.”
Johanna sah vom Herd zu uns herüber. „Hat er denn keine Jacke dabei?”
Galiano schüttelte den Kopf.
Sie sah aus, als hätte ich sie persönlich beleidigt. „Nun nehmen Sie schon die Jacke. Ist ja schlimm mit Ihnen! Sie sind wie ein kleines Kind!”
Die Jacke war gefüttert und hatte einen Kragen, den ich aufstellen konnte. „Ich weiß nicht, wie ich dir für all das danken soll.”
„Das musst du nicht.”
„Ich sollte jetzt wirklich.”
„Na dann.” Seine Hand war weich und warm. Verweichlicht hätte der Vater das genannt.
„Danke für den Kaffee und die Stullen“, sagte ich zu Johanna. „Und entschuldigen Sie noch einmal, dass ich Sie erschreckt habe.”
„Längst vergessen!”
Als ich aus der Küche war, hörte ich noch, wie sie sagte: „Was für ein netter Junge.” War ich das?
Ich lief und lief, immer weiter, ohne Plan. War eh egal, Hauptsache vorwärts. Davonlaufen hatte zwar keinen Sinn, aber zumindest laufen. Vielleicht würde es das Surren vertreiben.
Ein eisiger Wind fegte durch die Stadt. Zum Glück war ich nicht so dumm gewesen, die Jacke abzulehnen.
Es musste schon nach Mittag sein, als ich ein trockenes Brötchen kaufte. Danach holte ich mir eine Karte für die Nachmittagsvorstellung im Kino. Wer hat Angst vor Virginia Woolf?
Der Kinosaal war eine Höhle. Das kam mir gerade recht, ich wollte mich ohnehin bloß verkriechen. Vom Film bekam ich kaum etwas mit, doch die Zeit verflog. Ehe ich mich’s versah, war der Abspann vorüber und das verdammte Licht ging wieder an. Ich war der Einzige, der noch auf seinem Platz saß, als die Aufräumer hereinkamen. Wohl oder übel schlüpfte ich in Galianos Jacke und ging.
Und jetzt? Bald wäre es dunkel. Und dann? Wo sollte ich schlafen?
Es war eisig. Als ich meine Hände in die Taschen schob, fand ich ein Stück Papier. Wahrscheinlich hatte Galiano es vergessen. Obwohl es mich nichts anging, zog ich den Zettel heraus und entfaltete ihn. Er sah aus, als wäre er achtlos von einem größeren Bogen abgerissen worden. Galiano stand darauf – und eine Telefonnummer. War das etwa für mich?
Ich könnte anrufen und es herausfinden. Aber bestimmt war er noch nicht zu Hause. Jetzt bereute ich, dass ich ihn nicht gefragt hatte, wie lange er heute Student spielen musste. Aber ich konnte ohnehin schlecht noch eine Nacht dort verbringen. Für wen sollten die mich halten?
Das bisschen Geld, das ich noch dabei hatte, reichte nicht für eine Fahrkarte bis heim ins Bergische. Geschweige denn, dass ich genug Kohle hätte, um irgendwo zu übernachten.
Diese Nummer. Verlockend war es schon. Noch eine Nacht so tun, als ob nichts passiert wäre. Aber was wäre mit der Liesl? Die würde durchdrehen vor Sorge. War sie wahrscheinlich schon, schließlich war ich gestern nicht aufgetaucht.
Zwanzig vor fünf. 30 Kilometer. Wäre ich besser gleich losgelaufen, anstatt meinen Nachmittag im Kino zu verbummeln. Jetzt würde ich mitten in der Nacht ankommen.
Meine Nase lief, ich schwitzte und fror zugleich. Meine Beine waren so schwer, dass der Vater mir vorgeworfen hätte, dass ich schlurfe.
Aus dem Fenster der Stube drang ein mattes Licht. Als Kind hatte das Haupthaus des Gutes mir Angst gemacht, vor allem nachts. Keine zehn Pferde hätten mich nach Einbruch der Dunkelheit freiwillig raus in den Schuppen gebracht. Der Vater allerdings schon. Wenn der sagte Holz holen, holte ich Holz, brave Aufziehfigur, die ich nun mal war. Doch es war nicht gut, diesem Haus den Rücken zuzuwenden.
Ich schob das Tor gerade soweit auf, dass ich mich hindurchzwängen konnte. Der Mond war nicht zu sehen, doch meine Füße kannten den Weg. Zur Küche. So bestand immerhin die Chance, dass ich dem Vater nicht in die Arme laufen würde. Heimzukommen hieß schließlich nicht, dass ich mich mit seinen Lügen auseinandersetzen wollte. Zumindest nicht jetzt. Nicht nach fünf Stunden in der Kälte. Was ich brauchte, waren etwas Warmes zu essen und ein Bett.
Die Hinterseite des Hauses lag im Dunkeln. Ich drückte die Klinke der Küchentüre herunter. Nichts. Das konnte doch nicht wahr sein! Hier sperrte sonst nie jemand ab!
Also doch vorne rum.
Das Portal gab keinen Laut von sich. Behutsam drückte ich es hinter mir ins Schloss. Der vertraute Geruch von feuchten Lodenmänteln stieg mir in die Nase.
„Lukas! Wo in Gottes Namen warst du?“ Das Licht ging an. Da hatte ich die Schuhe extra ins Schuhschränken gepackt, damit niemand sie sehen würde und nun das. In Kittelschürze stand die Liesl vor mir.
„Ich habe mir solche Sorgen gemacht!”
Ich legte den Finger auf die Lippen, doch es war zu spät. Aus dem Wohnzimmer näherten sich die Schritte des Vaters. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.
Er verpasste mir eine Ohrfeige, die mich zu Boden schleuderte. Plötzlich sah ich mich Aug in Aug mit seinen Filzpantoffeln. Die Liesl legte mir ihre warme Hand auf die Stirn und jammerte leise vor sich hin. Doch das würde ihn nicht beeindrucken, dazu kannte ich ihn gut genug.
Meine Wange brannte wie Feuer.
„Lassen Sie ihn!”, sagte der Vater.
„Du bist völlig ausgekühlt. Ich lasse dir ein Bad ein.“
„Haben Sie nicht gehört?”
Sie richtete sich auf. Auch ich schaffte es, mich hochzurappeln.
„Wohin glaubst du, dass du gehst?”
Egal, Hauptsache weg!
Seine Lippen waren schmal, beinahe weiß.
Sollte er mich aufhalten!
„Bleib gefälligst stehen, wenn ich mit dir rede!”
Einen Augenblick zögerte ich.
Menschen haben nur Macht über dich, wenn du sie ihnen gibst.
Wollten wir doch mal sehen.
Noch bevor ich die Küchentür erreicht hatte, sah ich. Der Schmerz war reißend. Er hatte mich am Ohr gepackt und schleifte mich gnadenlos hinter sich her. Mir blieb keine Wahl. Die Liesl kam uns nach, als er mich die Treppe hinaufzerrte.
Dieser Schmerz war nicht auszuhalten. Ich schrie auf und schlug wild um mich. Irgendwo musste ich ihn getroffen haben, denn er ließ mein Ohr los. Mit aller Kraft stieß ich ihn von mir weg, stolperte dabei aber und taumelte rückwärts. Vielleicht mein Glück, denn so erwischte er nur meine Jacke. Noch einmal schubste ich ihn weg, aber sein Griff war eisern.
Ich dachte an Mama. Was er mich glauben gemacht hatte über all die Jahre! Nie zuvor hatte ich mich gewehrt. Aber heute war anders. Der alte Lukas war tot! Ich ließ mich nach hinten fallen.
Ratsch.
Der Kragen! Galianos Jacke!
Aber ich war frei.
Hinter mir kam der Vater wieder auf die Beine, doch da war schon mein Zimmer. Ich schlug die Tür zu und stemmte mich von innen dagegen. Er würde mich totschlagen!
Doch nichts war zu hören. War er mir nicht nachgekommen? Das Blut rauschte in meinen Ohren. Ich hielt den Atem an. Nein, da war nichts.
Plötzlich ruckelte es an der Tür. Mit aller Kraft hielt ich dagegen. Doch er drückte gar nicht! Was hatte er vor?
In diesem Moment drehte er von außen den Schlüssel im Schloss um. Ich war gefangen.
Langsam ließ ich mich auf den Boden sinken. Hätte ich doch nur Galiano angerufen!
Vielleicht hatte der Vater meiner Mama ohne es zu wollen sogar einen Gefallen getan. Alles war besser als das hier.
Ein Geräusch ließ mich zusammenfahren. Ich lag auf dem Bett, noch nicht mal umgezogen hatte ich mich.
„Bist du wach?”
Die Liesl flüsterte die Worte und schob rasch die Tür hinter sich ins Schloss. In ihren Händen trug sie einen Teller mit Schinkenbroten und sauren Gurken.
Meine Augen brannten. Ich gähnte.
„Danke.”
„Kann dich doch nicht verhungern lassen. Dein Vater, weißt du, er kann manchmal –”
„Du musst nichts dazu sagen.”
Sie nickte, gab mir den Teller und setzte sich auf den Rand meines Bettes. Ich legte Galianos Jacke weg. Schlimm genug, dass sie kaputt war, da wollte ich sie nicht auch noch einsäuen. Das Brot schmeckte himmlisch. Ich spürte den Blick der Liesl auf mir, aber ich war noch nicht so weit. Erst als ich alles vertilgt hatte, schaute ich sie an.
Tränen liefen ihr über die Wangen.
„Aber Liesl!”
Dabei wollte ich doch wütend auf sie sein.
Sie fingerte ein Stofftaschentuch aus ihrer Schürze und wischte sich damit übers Gesicht.
„Es ist nur – ich wollte doch nie –” Der Rest ging in einem Schluchzen unter.
„Wo ist der Vater?”
„Hat sich zurückgezogen.” Sie straffte sich. „Weißt du, er meint es nicht so.“
Ich lachte bitter.
„Lukas!” Damit hatte ich wohl den falschen Nerv getroffen, denn ihre Stimme war streng wie selten. „Er kann nicht anders.”
„Natürlich kann er anders. Er hat gelogen. All die Jahre!”
Einen winzigen Moment lang weiteten sich ihre Augen.
Ich versteckte meine Hände unter Galianos Jacke. Ich wollte nicht, dass sie mein Zittern bemerkte.
Die Liesl war immer da gewesen. Seit meiner frühesten Kindheit. Seit ich denken konnte. Allen Widrigkeiten zum Trotz.
„Und du auch!“
Sie zuckte unter meinen Worten zusammen.
„Du hast es herausgefunden.”
Es war keine Frage. Ich tat ihr den Gefallen und nickte trotzdem.
„Gut.”
Gut? Nichts war gut. Das wusste sie ebenso gut wie ich.
Und doch löste sich meine Wut auf sie, als ich sie da auf meinem Bettrand sitzen sah, mit einem Mal in Nichts auf.
„Was willst du jetzt tun?“
Ich hatte nicht den blassesten Schimmer. Also sagte ich nichts. Eine Ewigkeit verging, aber ich wusste es wirklich nicht.
„Hast du noch Hunger?”, unterbrach sie schließlich das Schweigen, das sich von Sekunde zu Sekunde bedrohlicher anfühlte.
Als ich verneinte, meinte sie, sie werde mich schlafen lassen.
Ihr Blick fiel auf die zerrissene Jacke.
„Ich kümmere mich drum”, sagte sie und nahm sie an sich.
Kurz wirkte sie ratlos, dann aber zog sie mich in ihre starken Arme. Dieser Geruch sollte mir bleiben. Nach frisch gebackenem Brot roch sie, die Liesl.
März 1967
„Max!” Johannas Stimme schaffte es problemlos bis zu mir unters Dach. „Herr von Freystein ist am Apparat.”
Oh - damit hatte ich nicht mehr gerechnet. Ich ließ das leere Blatt leeres Blatt sein.
„Galiano.”
„Entschuldige”, sagte Lukas. „Ich hätte mich längst bei dir melden sollen.”
„Kein Problem.”
„Störe ich?“
„Ein wenig Ablenkung kommt mir gerade recht. Ich versuche zu schreiben.“
„Soll ich besser ein andermal –?“
„Nein, nein, alles gut. Ich freue mich.“
„Jedenfalls – wirklich, es gibt eigentlich keine Entschuldigung dafür, aber ich habe es über allem völlig vergessen. Deine Jacke. Die ist noch bei mir. Ich wollte dich fragen, wann ich sie dir vorbeibringen kann.”
„Komm vorbei, wenn du magst. Ich bin hier.”
„Wird aber ein bisschen dauern. Die Busse fahren hier draußen im Bergischen nicht so oft.”
„Du erinnerst dich, wie du herkommst?”
„Ehrlich gesagt, nein.”
Ich erklärte es ihm.
Lukas war blass. Er lächelte mich an und zog meine Jacke aus einer Tasche, die er bei sich trug.
„Es tut mir leid, ich bin an einem Zweig hängen geblieben. Unsere Haushälterin hat es zwar genäht, aber man sieht es noch, fürchte ich. Wenn es ein Problem ist, kann ich –”
„Kein Problem.” Ich hängte die Jacke in den Schrank. Was ihre Nähkünste anging, könnte sich Johanna von der Haushälterin der von Freysteins noch eine Scheibe abschneiden.
„Wollen wir ein wenig rausgehen?“, fragte er. „Also nur, falls du Lust hast natürlich.”
Wieder spiegelten sich im Weiher die Straßenlaternen.
„Fühlt sich anders an heute.“ Lukas schaute mich an, als müsste ich wissen, wovon er sprach. „Dieser Ort, meine ich.“
„Der Frühling kommt?“
„Vielleicht das, ja.“
Er zog an seiner Zigarette.
„Fühlst du dich erwachsen, Galiano?“, fragte er nach einer Weile.
Tat ich das? Ich wohnte bei meinem Papà; Johanna kochte mein Essen und wusch meine Wäsche. Technisch gesehen war ich volljährig, aber dieses Datum hatte nichts verändert – nichts, was von Belang wäre zumindest.
„Nein“, erwiderte ich. „Warum fragst du?“
„Falls es nicht nur der Frühling ist.“
Frühling hin oder her – und was auch immer er mir damit sagen wollte – es war kalt.
„Was hältst du davon, weiterzugehen?“, schlug ich vor. „Ich muss mich ein bisschen bewegen.“
Er war einverstanden.
Wir spazierten über die Trümmer, die nach dem Zweiten Weltkrieg liegen gelassen worden waren. Dunkel erinnerte ich mich an diese Jahre, auch wenn ich damals ein kleiner Steppke war. Manche Bilder bleiben. Und dann gab es irgendwann den Park. Gras war darüber gewachsen, im wahrsten Sinne des Wortes. Es bedeckte die Vergangenheit nahtlos. Bald würde wohl niemand mehr wissen, woher diese Hügel stammten.
„Du hast deinem Vater also erzählt, dass du abgebrochen hast?“, fragte Lukas. Wir waren beim Steinkreis angelangt. Der Wind spielte mit den kahlen Zweigen über unseren Köpfen.
„Fechte nur Kämpfe aus, die du gewinnen kannst, sagt meine Nonna Giulia immer. Naja – in diesem Fall stand ich auf verlorenem Posten. Und ich konnte schlecht für immer so tun, als ob, oder?“
„Und wie hat er reagiert?“
„Mein Großvater ist Schriftsteller. Mein Glück, vermutlich. Letztlich macht Papà sich ja bloß Sorgen. Er sieht beim Nonno, wie schwer es ist. Der hat schon etliche Romane veröffentlicht, aber es reicht gerade so.“
„Wie heißt er?“
„Emanuele Galiano.“
Lukas schüttelte den Kopf.
„Er ist hier nicht sehr bekannt“, sagte ich. „Und das, obwohl seine Bücher ins Deutsche übersetzt werden. Italienische Autoren sind nicht gefragt – abgesehen von Moravia vielleicht.“
„Sprichst du Italienisch?“
„Un po‘. Mein Vater wollte, dass wir als Deutsche aufwachsen. Wegen meiner Großeltern verstehe ich ein bisschen, aber wirklich sprechen, nein. Bei meinem Bruder ist das anders. Aber der hat für drei Monate bei ihnen gelebt, damals, nachdem meine Mutter gestorben war.“
„Tut mir leid“, murmelte er.
„Ich war noch so klein, ich kann mich kaum an sie erinnern.“
„Du schreibst auf Deutsch, oder?“, wechselte er das Thema. Ich bejahte.
„Vielleicht hast du es ja dann leichter als dein Großvater.“
Unser Weg führte uns kreuz und quer durch die Stadt. Schließlich landeten wir am Fort im Hindenburgpark. Die Schwingen dieses dämlichen stählernen Adlers zeichneten sich vor dem Nachthimmel ab.
Lukas legte den Kopf in den Nacken. „Wahnsinn“, murmelte er.
„Dass wir ausgerechnet die Dümmsten zu Helden verklären!“, sagte ich. „So werden wir auf dieser Welt nie etwas verändern.“
Er sah mich an, als wäre ich eben aus einem Ufo gestiegen. Okay, ich hatte es wohl darauf angelegt. Aber diese Kriegsbeweihräucherung machte mich wütend. Und normalerweise musste ich mich niemandem erklären – ich selbst verstand mich recht gut. Meistens jedenfalls.
Ich deutete auf die Bronzetafel unter der Statue.
Den Helden von 1914 – 1918.
„Diese sogenannten Helden haben versagt, wenn du mich fragst. Das waren junge Männer wie du und ich. Bloß sind die singend und lachend in einen Krieg gezogen. Und was haben sie davon? Eine Bronzetafel. Eine halbe Generation – und das ist alles, was von ihnen übriggeblieben ist.“
„Mein Großvater ist damals auf See geblieben. Er war einer von ihnen”, sagte er.
Fettnäpfchen.
Doch Lukas redete weiter, als sei nichts gewesen: „Mein Vater war acht, als es passiert ist. Trotzdem erzählt er bis heute von ihm. Als ob er sich überhaupt an ihn erinnern könnte. Ich erinnere mich an nichts, was passiert ist, als ich acht war – du?“
„Nur an den Tod meiner Mutter.“
Er zögerte einen Augenblick, ging jedoch nicht darauf ein. „Jedenfalls gab es für diesen Großvater nichts Wichtigeres als den guten Namen der Familie.” Er nahm Haltung an. „Zu alter Größe führen, mein Sohn“, sagte er im Tonfall eines Brigadegenerals, „wir müssen den Namen von Freystein zu alter Größe führen. Das sind wir deinem Großvater schuldig.“
„Das klingt wie eine Menge – Druck?“
„Als wir über dein Studium gesprochen haben“, sagte er nach einer Weile. „Weißt du noch?“
„Natürlich.“
„Mein Vater hat sich in den Kopf gesetzt, aus mir einen berühmten Konzertpianisten zu machen. Jemanden, der einen Namen hat. Unseren Namen. Und bis es so weit ist, führt er mich seinen Untergebenen vor. Würde ich aufhören, wie sollte er mich –“ Er unterbrach sich. „Nein, das wäre nicht gut.“
„Und was möchtest du?“
„Ich habe mich daran gewöhnt. Ich bin viel allein. Das Spielen hilft mir manchmal.“
Keine Ahnung, was es damit auf sich hatte, aber der Adler in meinem Rücken verursachte mir Beklemmungen.
„Ist dir schon mal aufgefallen“, fragte Lukas nach einer Weile, „dass es für den Zweiten Weltkrieg nichts dergleichen gibt? Keine Denkmäler, keine Erinnerungstafeln?“
„Für die Nazis, meinst du?“
„Für den Ersten Weltkrieg gibt es sie ja auch“, beharrte er. „Auch an dem waren wir nicht ganz unschuldig.“
Ich steckte mir eine Lucky an. Was sollte ich darauf sagen? War ja nicht so, dass die Bastarde es verdient hätten.
„Vielleicht liegt es an denen, die gern so tun würden, als ob all das nie passiert wäre. Ich meine, dein Höllenberger ist ja kein Einzelfall.“
„Höllmann.“
„Wie auch immer. Wer vergessen will, braucht keine Denkmäler.“
„Weißt du, was absurd ist? Dass sich nichts verändert hat. Dieses Untertanentum. Es hat uns in zwei Weltkriege geführt. Und trotzdem ist es genau das, was Höllmann und Konsorten heute wieder einfordern. Absoluter Gehorsam – dass wir uns, ohne nachzufragen, ihrer sogenannten Autorität fügen.“
„Davon kann ich dir ein Liedchen singen. Weil ich es sage, ist einer der liebsten Sätze meines Vaters.“
„Die Autorität der Hilflosen. Dabei stört mich Autorität an sich nicht. Wenn sie begründet ist. Aber was genau soll diese Generation geschaffen haben, kannst du mir das sagen? In Autorität steckt Autor, oder? Aber die? Wer alles zerstört, kann im Nachhinein alles wiederaufbauen. Wirtschaftswunder würde ich das nicht unbedingt nennen.“
Lukas drehte sich noch einmal zu dem Adler um. „Ich mag diesen Ort nicht.“ Er sprach mir aus der Seele. „Sollen wir?“
Unten im Hafenbecken wogten die Lastkähne auf und ab. Ihre Bäuche versanken tief im Rhein. Auf dem Deck eines der unbeladenen Kähne machte sich ein Mann mit Schweißerbrille und Schiebermütze zu schaffen. Funken flogen in hohem Bogen durch die Nacht. Der Klang unserer Schritte hallte von den Wänden der Häuser zurück. Entlang der Uferbegrenzung standen entkoppelte Güterwaggons, manche in Grüppchen, manche allein, wie Gäste auf einer beginnenden Abendgesellschaft.
Ich liebte diese nächtliche Stimmung im Hafen. Sie brachte mich jener anderen Welt, der unwiederbringlich entschwundenen, so nah, als wäre es nichts als ein dünner Schleier, der uns trennte.
Eines Tages würden mich derlei Gedanken vielleicht zum Schriftsteller machen – wenn, ja, wenn ich endlich etwas aufs Papier bekommen würde. Bislang allerdings Pustekuchen.
„Komm mal mit”, sagte Lukas und überquerte die Straße.
Vor einer kleinen, bauchigen Kirche blieb er stehen. St. Maria in Lyskirchen stand in einem Schaukasten. Das Hauptportal war verschlossen.
„Was in Gottes Namen sollen wir hier?”, fragte ich.
Er ignorierte mich und ging zum Seiteneingang. Die Tür gab nach. Er tauchte seine Finger ins Weihwasser und bekreuzigte sich.
„Was sollen wir hier?”, wiederholte ich im kirchenspezifischen Flüsterton. Unmöglich, sich dem zu entziehen.
„Wart’s ab, du wirst schon sehen.“
Er lief davon. Mit einem Mal war ich allein im Dunkeln. Von den Deckengewölben starrten Dämonenfratzen auf mich herab.
Plötzlich brauste Orgel-Donner über mich hinweg. Lukas hatte einen Choral angeschlagen.
Es dauerte einen Augenblick, doch selbst ich kannte dieses Lied: Von guten Mächten wunderbar geborgen.
Ich setzte mich auf eine der Bänke.
Wie wunderschön diese Musik war! Sie ging mir durch und durch. Selbst die Fratzen wirkten mit einem Mal eher wie wohlwollende Beschützer.
Er ließ das Stück nahtlos in Lobe den Herren übergehen. Das dürften die beiden einzigen Kirchenlieder sein, die selbst ich als Nicht-Kirchgänger kannte.
Der letzte Ton verklang.
Hörte man uns von draußen?
Lukas schien das vollkommen egal zu sein; er schlug die ersten Akkorde eines weiteren Lieds an. Und was für eins! Schluss mit Kirchenmusik! Zeit für Roll over Beethoven! Yeah, baby! Rock’n’Roll!
Er spielte und spielte. Irgendwann konnte ich nicht länger stillsitzen. Erfüllt von einer unglaublichen Freude tanzte ich durch das Mittelschiff der Kirche, bis ich eine hölzerne Treppe fand.
Oben saß Lukas an der Orgel und hämmerte auf die Tasten ein. Erst als ich neben ihm stand, sah er auf und strahlte.
„Hat was, oder?“ Noch immer glitten seine Finger über die Tasten und eine leise Melodie erklang. Ich kannte sie nicht.
„Das? Wow – ehrlich – du bist ja der Hammer! Genau das ist es, wofür man diese verdammten Kirchen benutzen sollte, das sage ich dir!“
Plötzlich ging im Kirchenraum das Licht an. Schwere Schritte polterten die Stiegen hinauf.
„Was in drei Teufels Namen fällt Ihnen ein? Das ist Gotteslästerung!“
Porca puttana!
Lukas‘ Finger erstarrten auf der Klaviatur. Die letzten Klänge verhallten im Gewölbe. Ich traute mich kaum zu atmen.
Jetzt in den Schatten versinken! Nie hier gewesen sein! Warum hatte ich mich da bloß reinziehen lassen?
Ich atmete tief ein.
Nein, eins war klar, selbst, wenn ich es gekonnt hätte, ich würde Lukas hier nicht allein lassen. Mitgefangen.
Ein breitschultriger Kerl mit Alkoholiker-Nase stürmte auf die Empore.
„Auf der Stelle Schluss mit dieser Satansmusik!”
Er packte mich grob am Arm. Als könnte ich dieser Orgel auch nur einen einzigen Ton entlocken!
Lukas sprang auf. Polternd fiel der Hocker um.
„Lassen Sie ihn los! Es war nicht seine Schuld. Ich war’s!“
März 1967
Meine Ohren dröhnten. An Galianos Hals traten die Sehnen hervor. Gott, er musste sich zurückhalten! Den Vater in dieser Stimmung zu reizen, war, wie sich vor einen fahrenden Güterzug zu werfen.
„Mich derart in Verlegenheit zu bringen! Dein Großvater, Gott hab ihn selig, würde sich im Grabe herumdrehen! Hausfriedensbruch! – Gotteslästerung! Du kannst von Glück sprechen, dass der Name von Freystein ein gewisses Gewicht hat! Hast du einen Gedanken daran verschwendet, wie ich jetzt dastehe? Du musst von allen guten Geistern verlassen sein!“
Konnte Menschen Schaum vor den Mund treten? Falls ja, wäre es beim Vater gleich so weit.
„Wäre Pfarrer Mooslechner nicht mein Kollege im Schützenverein! Dem Himmel sei Dank, dass der keins dieser tratschsüchtigen Großmäuler ist. Fehlte gerade noch: Vorstandsvorsitzender von Düsselstahl in Blasphemie-Affäre verstrickt.”
Sein Atem roch nach Mett. Mit Extra-Zwiebeln. Doch ich wich nicht zurück; das würde alles nur noch schlimmer machen.
„Blas-phe-mie! Du magst es dir in deinem Spatzenhirn nicht ausmalen können, aber es gibt Leute, die würden sich auf eine solche Geschichte stürzen wie Ratten auf stinkendes Aas. Wenn du jemals wieder – je-mals! Verstehen wir uns?”
Ich nickte gehorsam. Galiano stand ein Stück abseits. Wie sollte ich ihm je wieder in die Augen sehen können?
„Dann gehen wir jetzt nach Hause.” Der Vater wandte sich an Galiano. „Und Sie, Herr –”
„Galiano.“
„Ich habe keine Ahnung, welche Rolle Sie in dieser Geschichte spielen. Eines aber will ich Ihnen geraten haben: Halten Sie sich fortan von Lukas fern. Das Haus von Freystein hat keinerlei Bedarf an –“
Er ließ seinen Blick an der mageren Gestalt des einen Menschen hinabwandern, der womöglich hätte mein Freund werden können.
„– an Gammlern und Tagedieben wie Ihresgleichen.”
Galiano verzog keine Miene, sah selbst mich nicht an, drehte sich einfach nur um und ging ohne ein Wort des Abschieds davon.
Es blieb mir nichts anderes, als die zwei Wochen Hausarrest abzusitzen. Wenn ich nicht Klavier spielte, lag ich herum und dachte nach. Das Orgelspiel in der Kirche war wohl nicht die beste Idee gewesen. Aber Spaß hatte es gemacht.
Fechte nur Kämpfe aus, die du gewinnen kannst.
Hatte Galiano das gesagt?
Dass dieser Kampf aussichtslos war, war mir jedenfalls klar.
Ab und an zwinkerte die Liesl mir zu, wenn sie mir Essen auftat. Sie zog auch gelegentlich ein Buch aus den Falten ihrer Kittelschürze, wenn ich ihr auf der Treppe begegnete. „Damit dir nicht zu langweilig wird”, wisperte sie dann, ehe sie weiterging, denn es war ihr verboten, mit mir zu reden. Sie war eine große Leserin, die Liesl. In den einsamen Stunden auf meinem Zimmer verschlang ich also Steinbeck, Capote, Werfel und Thomas Mann, wobei Steinbeck mein Liebling war.
Jenseits von Eden.
Was für eine Geschichte! Beinahe hätte ich mich beim Vater noch für den Hausarrest bedankt!
Adam, Aron und Cal waren mir Familie in diesen Stunden. Ich liebte sie alle – liebte Adam, liebte Aron, ja, liebte selbst Cal – alle außer Kate, denn die, die konnte wahrlich niemand lieben. Eine andere Figur aber war es, die eine Traurigkeit in mir weckte, bei der ich nicht recht wusste, wohin damit. Samuel, der weise alte Mann. Als er in der Mitte des Buches starb, heulte ich, bis ich kaum noch Luft bekam. Dabei, was hatte das mit mir zu tun? Diesen Gedanken zu Ende zu denken, wagte ich nicht.
Ich konnte von Glück reden, dass der Vater nicht durch geschlossene Zimmertüren sehen konnte, denn mein Zimmer zu betreten, das erlaubte er sich nie – ebenso wenig wie er es je gestattet hätte, dass ich das seine beträte. Nein, dergleichen war tabu. Eine geschlossene Tür war im Hause Freystein eine geschlossene Tür; es gab ein ungeschriebenes Gesetz, das solche Türen heiligte.
April 1967
Der letzte Tag meines Hausarrests war vorüber. Mir gegenüber saß der Vater am Mittagstisch und musterte mich schweigend. Am liebsten wäre ich davongelaufen. Stattdessen löffelte ich meine Graupensuppe. Er würde nichts sagen. Er sagte nie irgendetwas. Seit Mutter fort war, war es still auf dem Gut.
Die Suppe schmeckte fade. Die Liesl durfte auf Anweisung des Vaters kaum Salz verwenden. Der Blutdruck. Auch mit Fleisch sollte er sich zurückhalten, doch das kam nicht in Frage. Die von Freysteins hatten immer Fleisch gegessen. Selbst während des Krieges. Ich kannte die alte Leier. Also trieben, Verbot hin oder her, gräuliche Bratwurstklumpen zwischen den Graupen.
Um mich abzulenken, konzentrierte ich mich auf die Schlürfgeräusche, die der Vater beim Suppe-Essen von sich gab. Es heiße, die Geschmacksknospen zu stimulieren. Die Vorstellung von stimulierten Geschmacksknospen verdarb mir endgültig den Appetit.
Ich schob den Teller von mir.
Unter seinen buschigen Augenbrauen hervor blitzte der Vater mich an, als hätte ich mich eines weit schwereren Vergehens schuldig gemacht, als meine Suppe nicht aufzuessen. Obwohl die beiden Wochen vorüber waren, schien er mir nicht verziehen zu haben. Sühne ja, Vergebung nein.
Allerdings wollte ich gerade heute keinen Streit vom Zaun brechen, also schaufelte ich noch ein paar Graupen in mich hinein. Ich konnte es kaum erwarten, Galiano zu sehen, auch wenn ich zugleich Angst davor hatte. Allein der Gedanke an die Szene vor der Kirche, wie unsäglich peinlich das war.
Der Vater räusperte sich, strich die Stoffserviette über seinem weißen Hemd glatt.
„Und der Klavierunterricht?”
„Läuft gut.”
„Sieh mich an, wenn du mit mir sprichst.”
„Der Klavierunterricht läuft gut, Vater. Herr Jochimsen ist sehr zufrieden.”
„Übst du auch genügend? Wenn ich zu Hause bin, habe ich den Eindruck, als lägst du den ganzen Tag nur auf der faulen Haut.”
„Ich übe, wenn Sie auf der Arbeit sind.”
Er sah mich an, als glaube er mir nicht. Ich versuchte seinem Blick standzuhalten, schließlich sagte ich die Wahrheit. Doch es war schwer. Wäre es schon gewesen, ohne, dass ich vorgehabt hätte, sein ausdrückliches Verbot in den Wind zu schießen.
„Ich werde mit Herrn Jochimsen sprechen müssen”, verkündete er.
Sollte er. Ich hatte nichts zu befürchten. Was gab es außer dem Lesen hier sonst für mich zu tun?
Die Liesl kam herein. „Wenn die Herrschaften gestatten?” Sie tauchte die Kelle in die Suppenschüssel aus Meißener Porzellan.
„Vielen Dank, aber ich bin satt.”
Der Vater ließ sich noch einmal auftun. In diesem Moment klingelte das Telefon.
„Verzeihen Sie.” Sie legte die Schöpfkelle zurück, eilte aus dem Raum und nahm den Hörer ab.
„Gewiss. Einen Augenblick, bitte.”
Die Liesl kam zurück. „Die Firma.”
Der Vater ging hinaus in den Korridor und schloss die Tür hinter sich. Als er wiederkam, war er bereits in Hut und Mantel. „Ich muss fort. Man braucht mich. Vergiss das Üben nicht”, ermahnte er mich, während er das Esszimmer verließ. Dann fiel die Haustür ins Schloss. Mit einem Husten sprang der Motor des Mercedes an.
Die April-Sonne blendete. Wir saßen auf unserer Bank.
„Ich muss mich bei dir entschuldigen.”
„Wofür?”, fragte Galiano.
„Mein Vater. Er hatte kein Recht, dich so zu behandeln. Es war schließlich mein Fehler. Und selbst davon abgesehen –”
„Du musst nicht die Verantwortung für das übernehmen, was er tut.”
„Aber er ist mein Vater, oder?”
„Gerade deshalb sollte er dazu wohl selbst in der Lage sein.”
„Ich habe mich schlecht gefühlt deswegen. Wenn du keine Lust mehr hättest, dich mit mir zu treffen –”
„Basta! So ein Unsinn. Und es war alles andere als ein Fehler! Ich muss noch immer lachen, wenn ich an deine kleine Rock’n’Roll-Einlage denke!”
„Naja, respektlos war es schon, oder?”
„Wem gegenüber denn?”
„Gott?”
„Ach, ich glaube, der hätte seinen Spaß gehabt.”
Wie leicht er war! Rock’n’Roll-Einlage! Und ich hatte so eine Angst gehabt, ihn wiederzusehen. Vielleicht war manchmal alles gar nicht so kompliziert.
„Mag sein“, erwiderte ich.
Wer wusste schon, was Gott gefiel. Bloß, weil einer Pfarrer war …
„Dieser Mooslechner hat mich trotzdem verfolgt“, gestand ich.