Phoenixwalzer - Elyseo da Silva - E-Book

Phoenixwalzer E-Book

Elyseo da Silva

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Beschreibung

Die brutale Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit droht Luks Zukunft zu zerstören. Was auch immer er versucht, um die Hoheit über sein Leben zurückzugewinnen, hängt doch über jedem seiner Schritte der Schatten des übermächtigen Vaters. Galiano versinkt unterdessen in Depression. Unterstützung erfährt er von seiner Familie, allem voran von Maria. Nach einer Weile erwacht unerwartet auch seine sexuelle Lust wieder und führt ihn in ein Leben außerhalb der eigenen vier Wände zurück. Dort erwarten ihn neben neuen Freundschaften nicht nur die Parallelwelt der Cruising-Szene, sondern auch die verhangenen Fenster der ersten Schwulenkneipen, die Ende der 1970er-Jahre in Köln ihre Pforten öffnen. Währenddessen überzieht die RAF das Land mit Terror, die Anti-Atomkraftbewegung wird geboren und die Menschen leben in Furcht davor, dass der Kalte Krieg in einen dritten Weltkrieg mündet. Doch welche Rolle vermögen Politik und Gesellschaft noch zu spielen, wenn das eigene Leben auseinanderbricht? „Das Buch ist bis zur letzten Zeile hochspannend. Besonders berührend und intensiv fand ich die Schilderung der Szenerie rund um den Aachener Weiher – und überhaupt die Interna aus der Kölner Schwulenszene. Auch natürlich, dass die HIV-Problematik da mit be- bzw. verarbeitet wird. Ganz großartig! Und alle Figuren wachsen einem (oder einer) wirklich ans Herz.“ Dorothee Joachim, Künstlerin (Köln) "Luk und Galiano (...) sind auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt und ihrer eigenen Identität, während sie behutsam entdecken, was Liebe in all ihren Facetten bedeutet. Da Silvas sensibler und authentischer Schreibstil bringt diese Gefühlswelt auf eine Weise zum Leben, die ihresgleichen sucht. Auch die Nebencharaktere sind eindringlich und glaubwürdig porträtiert, sodass man das Gefühl hat, sie schon lange zu kennen." - Leserin Adrienne Ava über "Ein Regenbogen für den Schah"

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Phoenixwalzer

Impressum

Luk und Galiano

Buch zwei

Buch zwei – Phoenixwalzer

Was bisher geschah

Kapitel 1 – Welt ohne Farben (Galiano)

Kapitel 2 – Geschlechtermulde (Luk)

Kapitel 3 – Eine Blume des Winters (Galiano)

Kapitel 4 – Solche wie du (Luk)

Kapitel 5 – Nachts im Wald (Galiano)

Kapitel 6 – Samuel (Luk)

Kapitel 7 – La famiglia (Galiano)

Kapitel 8 – Spielarten des Limbus (Luk)

Kapitel 9 – Unglaublich nah (Galiano)

Kapitel 10 – Zur Hoffnung verdammt (Luk)

Kapitel 11 – Maos Verrat (Galiano)

Kapitel 12 – Der Besuch der Alibi-Frau (Luk)

Kapitel 13 – Kneipenkur (Galiano)

Kapitel 14 – Sprachbarrieren (Luk)

Kapitel 15 – Nel (Galiano)

Kapitel 16 – Die Violinistin (Luk)

Kapitel 17 – Trümmertrinen (Galiano)

Kapitel 18 – Verständnisse (Luk)

Kapitel 19 – Doppelbeschluss (Galiano)

Kapitel 20 – Unkrautrupfen und Wichsen (Luk)

Kapitel 21 – Passione (Galiano)

Kapitel 22 – Verlorener Sohn (Luk)

Kapitel 23 – Schwarzseiden (Galiano)

Kapitel 24 – Wind aus Südost (Luk)

Kapitel 25 – Was bleibt (Galiano)

Kapitel 26 – Melaten (Luk)

Kapitel 27 – Der es mit ansah (Galiano)

Kapitel 28 – Ruf der Raunächte (Luk)

Kapitel 29 – Was wir wollen (Galiano)

Kapitel 30 – Mauern (Luk)

Kapitel 31 – Ein Freund namens Peter (Galiano)

Kapitel 32 – Aussätziger unter Aussätzigen (Luk)

Nachwort

Danksagung

Phoenixwalzer

ein Roman von Elyseo da Silva

Impressum

© 2024 by Elyseo da Silva

Rua Rui Barbosa 8, RC esq,

1170-331 Lisboa, Portugal

Alle Rechte vorbehalten

Text: Elyseo da Silva

www.lukundgaliano.de

Korrektorat / Lektorat: Dr. phil. Caroline Hack, Inara Anne Wenk

Umschlaggestaltung: Saskia Deschan

Buchsatz E-Book-Version: Gabriel Dötzer

Luk und Galiano

Buch zwei

Für Julie Alderson

Mit Dir durch dick und dünn – auf dass wir eines Tages die sein werden, die wir schon immer sein wollten!

Für ausführliche Informationen zum historischen Hintergrund von Ein Regenbogen für den Schah und Phoenixwalzer, Musik aus der Epoche und vieles mehr besuche die Website zum Roman unter:

www.lukundgaliano.de

Buch zwei–Phoenixwalzer

Was bisher geschah

Phoenixwalzer ist der zweite Band der Luk-und-Galiano-Reihe. Es empfiehlt sich, den ersten Band Ein Regenbogen für den Schah zuerst zu lesen, da die Geschichten nicht in sich abgeschlossen sind.

Wenn Du Ein Regenbogen für den Schah nicht gelesen hast, solltest Du die folgenden Zeilen nicht lesen, da sie Spoiler enthalten.

Im Januar 1967 lernen sich die jungen Männer Lukas von Freystein und Max Galiano in Köln kennen. Die beiden Außenseiter freunden sich allmählich an und geraten durch Luks Mitschülerin Roswitha Janisch in die Kreise des SDS, kurz bevor der Schah-Besuch in Westdeutschland und die damit einhergehende Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg die größten Proteste der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte auslösen.

Max, den alle Galiano nennen, hat sein Studium abgebrochen, um Schriftsteller zu werden, ist mit diesem Weg bis dato allerdings wenig erfolgreich. Luk hingegen hat aufgrund des schwierigen Verhältnisses zu seinem Vater seit früher Kindheit unverhältnismäßig viel Zeit am Piano verbracht – diese Stunden haben sich ausgezahlt und schon Anfang der 70er feiert er erste Erfolge als Konzertpianist, was dem alten von Freystein bestens in den Kram passt.

Bereits im Jahr 1968 merken Luk und Galiano, dass ihre Verbindung über eine herkömmliche Freundschaft hinausgeht. Trotz aller inneren und äußeren Widerstände beginnen sie eine Liebesbeziehung und ziehen als vorgebliche Wohngemeinschaft in eine gemeinsame Wohnung.

Luks Vater ist ein unberechenbarer Despot. Bereits zu Beginn des Romans erfährt Luk, dass der Vater seine Mutter in die Psychiatrie hat einweisen lassen und sie nicht, wie seinerseits behauptet, Mann und Kind verlassen hat. Dennoch vergehen Jahre, bevor Luk den Mut aufbringt, die Mutter in der geschlossenen Anstalt von Bedburg-Hau zu besuchen.

Als er es schließlich tut, stellt sich heraus, dass nichts, was er in seinem Leben als sicher geglaubt hat, den Tatsachen entspricht. Die Mutter erzählt ihm, dass er einen Bruder hatte, der jedoch im Nachkriegsköln ums Leben kam. Damit nicht genug trug dieser Bruder auch noch Lukas‘ Namen. Nach dem Tod jenes Bruders, von dem Luk nie zuvor gehört hat, straft der Vater seine Frau über Monate hinweg mit Nichtachtung, bis er sie eines Nachts in ihrem Schlafzimmer vergewaltigt. Entsetzt erkennt Luk, dass er selbst Produkt dieser Vergewaltigung ist und ihm noch nicht einmal ein eigener Name zugestanden wurde.

Als die Mutter diese Geschichte im Besucherraum der psychiatrischen Klinik beendet, flieht der verstörte Luk Hals über Kopf nach Hause, wo Galiano auf ihn wartet. Lukas schweigt sich über das Geschehene aus, lässt sich jedoch von Galiano trösten und auffangen. Tags darauf wirft ein Telegramm mit der Nachricht vom Selbstmord der Mutter Luk allerdings endgültig aus der Bahn.

Er verlässt wortlos die gemeinsame Wohnung, ohne dass Galiano ihn aufhalten könnte, fährt zum Gut des Vaters im Bergischen und zerschmettert sich mit der Wagentür die rechte Hand, auf dass er niemals wieder in Versuchung geraten möge, den Wünschen des Vaters nachzukommen.

Mit dieser Szene endet Ein Regenbogen für den Schah. Was weiterhin geschieht, erfahrt ihr in nun Phoenixwalzer.

Kapitel 1 – Welt ohne Farben (Galiano)

März 1974

Es hämmerte an der Tür, dass die Wände zitterten.

„Herr Galiano! Wenn Sie da drin sind, machen Sie sofort die Tür auf.”

Sie sollten verschwinden.

„Max.” Marias Stimme klang kläglich.

„Herr Galiano. Hören Sie? Herr Galiano!” Wieder Herr Schmidt von oben. Schmidt mit DeTe.

„Sind Sie verletzt?”

Verletzt? Oh ja, ich war verletzt. Aber das lag außerhalb der Schmidt-mit-DeTeschen Welt. Die war klar geordnet. Meine sah aus wie Dresden in der Nacht, als Luks Großeltern ums Leben gekommen waren.

„Herr Galiano, wenn Sie nicht sofort diese Tür aufmachen, lassen Sie mir keine Wahl. Ich rufe die Feuerwehr und lasse sie aufbrechen.”

Drei Wochen zuvor:

Februar 1974

In unendlicher Langsamkeit fiel die Tür ins Schloss. Etwas in mir erlosch.

Sieben Jahre – und der Windhauch einer sich schließenden Tür genügte, um es auszublasen.

Luks Schritte verhallten im Treppenhaus.

Ich setzte mich im Schlafzimmer auf unser Bett. Das konnte nicht sein Ernst sein, oder?

Sollte ich ihm nachlaufen?

Das Licht des Spätnachmittags schmeckte bitter. Er würde zurückkommen. Musste. Es konnte nicht sein, dass er uns einfach so wegwarf.

Ich verkroch mich unter unserer Decke.

Schweißgebadet wachte ich auf.

Es dauerte einen Moment, bis die Realität über mich hereinbrach. Er war weg.

Ich wünschte, ich wäre nicht aufgewacht.

Das Telefon klingelte.

Ich sprang aus dem Bett und rammte meinen großen Zeh gegen die Kommode.

„Porco Dio!“

Das Telefon schrillte noch immer.

Ich riss den Hörer von der Gabel. „Luk?”

In der Leitung knisterte es. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Er hatte es sich anders überlegt! Er musste!

„Max?” Mein Bruder.

Ich sank zu Boden. Mein Zeh sandte Wellen des Schmerzes mein Bein hinauf. Erneut liefen mir die verdammten Tränen übers Gesicht.

„Max? Hallo? Bist du dran?”

„Ja, David, ja. Ich bin da. Entschuldige, ich habe gerade geschlafen.”

„Mitten am Tag?”

„Wie spät ist es?”, krächzte ich.

„Halb sechs.”

Ich räusperte mich, um meine Stimme zurückzugewinnen. „Was gibt’s denn?”

„Johanna lässt fragen, ob du zum Essen kommen willst.”

„Ich würde gerne”, log ich. „Aber ich bin schon verabredet.”

„Schade!” David zögerte. „Alles in Ordnung mit dir? Du klingst seltsam.”

„Bin gerade aufgewacht”, sagte ich. „Du, ich muss Schluss machen. Grüß schön!”

„Mach‘ ich.”

Ich legte auf und atmete tief durch.

Auf dem Schlafzimmerboden lag meine Jeans. Wo waren meine verdammten Kippen? Als ich die Schachtel schließlich in den Händen hielt, war sie leer.

Ich hatte Luk vorhin die letzte gegeben. Vorhin. Es kam mir vor wie ein anderes Leben.

Ich brauchte eine Kippe. Es half alles nichts. Ich schlüpfte in die Jeans und streifte einen Pullover über. Ganz hinten im Schrank hing die alte Jacke. Ich hatte sie seit damals nicht getragen. Ich presste mein Gesicht hinein. Sie roch nach Schrank. Meine Finger glitten über die Naht, die die Liesl hinterlassen hatte.

Draußen wehte ein eisiger Wind. Der Tabakladen befand sich am Ende der Straße. Blass säumten die Häuser den Straßenrand. Alle Farbe war aus der Welt verschwunden. Ich sah zum Nachthimmel auf. Nichts leuchtete mehr.

Jemand rempelte mich an.

„Verzeihung”, murmelte ich.

„Also hören Sie mal, junger Mann”, keifte eine Frau hinter mir her. „Passen Sie gefälligst auf, wo Sie hinlaufen!”

Ihre Stimme tat mir in den Ohren weh.

Tabakladen. Tabakladen.

Eine Glocke schrillte, als ich endlich die Tür aufstieß. Ein grauhaariger Mann mit Schnauzbart stand vor dem Tresen und musterte mich.

„Hereinspaziert”, flötete eine Stimme. „Aber die Kälte können Sie draußen lassen.”

Ich drückte die Tür ins Schloss. Hinter dem Tresen saß eine Mittvierzigerin mit blonder Dauerwelle. Im Hintergrund lief Nights in White Satin. Rot lackierte Fingernägel klackerten auf die Ladentheke. „Keine falsche Schüchternheit! Was kann ich für Sie tun?”

Ich schluckte. „Drei Stangen Lucky Strike, bitte.”

Der Kerl mit dem Schnauzbart starrte mich unverhohlen an.

„Tüte?”

„Nicht nötig.”

Ich bezahlte und wandte mich zum Gehen.

„Hey!” Eine raue Stimme in meinem Rücken. Ich blieb stehen.

„Sie haben etwas vergessen!”

Als ich mich umdrehte, hielt der Mann mir drei Feuerzeuge hin. „Gibt es dazu, wenn Sie Stangen kaufen. Nach Adam Riese macht das drei.”

Ich nahm die Feuerzeuge und nickte ihm zu.

„Wer den Pfennig nicht ehrt.”

Ich schaffte es nicht, zu lächeln, also nickte ich noch einmal.

„Wiedersehen.”

Als die Glocke mich auf die Severinstraße entließ, atmete ich auf.

Ich riss einen der Kartons auf. Dort drüben, an der Severinstorburg hatten wir gemeinsam Musik gemacht. Das war nach einem von Luks Konzerten gewesen, kein Jahr konnte das her sein. Die Menschen waren stehen geblieben, hatten gelacht. Ein junges Mädchen hatte Luk einen Kuss auf die Wange gedrückt, als er Killing me softly für sie gesungen hatte. Softly. Ich spuckte aus und steckte mir eine Lucky an.

Heute stand das Tor starr und abweisend. Menschen mit grauen Mienen eilten mir entgegen. Niemand nahm von mir Notiz. Ich wollte bloß nach Hause. Aber was wäre das noch für ein Zuhause ohne ihn?

Als ich in unserer Wohnung ankam, schloss ich die Tür hinter mir ab, zog den Stecker des Telefons aus der Wand und ließ in sämtlichen Zimmern die Jalousien herunter. Dann legte ich mich aufs Bett. An der Decke verschwammen die Schatten zu schwarzen Schemen. Er würde nicht wiederkommen.

Drei Wochen verließ ich die Wohnung nicht. Ob Tag oder Nacht war – ich hatte keine Ahnung. Mein Rhythmus war zerstört. Wenig drang bis zu mir herein und ohnehin war mir die Welt draußen egal.

Luk hatte all seine Sachen zurückgelassen. Der Steingraeber stand im Wohnzimmer. Unmöglich, dass er seinen heißgeliebten Flügel aufgeben würde. Also musste ich in der Wohnung bleiben. Wenn er auftauchte, wäre ich hier.

Ich lag auf dem Bett, rauchte, trank Wasser aus der Leitung und Whiskey. Ich hasste Whiskey. Deswegen hatte ich die Flaschen zuvor nie angebrochen. Keine Ahnung, warum alle Welt glaubte, ich sei ein Whiskey-Trinker.

Nun, jetzt war ich einer.

Nach einigen Gläsern fühlte ich mich leichter. Die Rechnung dafür bezahlte ich am nächsten Tag, wenn unweigerlich die Wirklichkeit über mich hereinbrach. Aber vielleicht waren die wenigen Stunden, in denen die Welt ihre Farben zurückgewann, es wert. Selbst wenn diese Farben meist dunkel waren. Nuancen von Nachtblau und Bordeauxrot.

In den seltenen Momenten, in denen doch der Hunger einsetzte, aß ich, was ich in der Wohnung fand. Spinat. Tütensuppen. Toastbrot. Reis.

Den Spiegel mied ich. Wenn ich doch mal hineinschaute, war das Gesicht, das mir entgegensah, blass und bärtig. Die Augen die eines gehetzten Tieres.

Es gab Tage, da klingelte es an der Tür. Ich machte nicht auf. Wenn er käme, würde er aufsperren – spätestens dann, wenn ich ihn nicht reinließ. Und sonst? Sonst hatte niemand in meiner kleinen Welt etwas verloren – es war meine – die einzige, die mir geblieben war. Für die andere, die große, war ich nicht bereit.

März 1974

Wieder einmal weckte mich die Klingel. Jemand läutete Sturm. Ich stellte mich tot. Es würde aufhören. Tat es immer.

Geschlagene fünf Minuten lang schrillte ununterbrochen die Türglocke. Sollte ich mich geirrt haben?

Ich stopfte mir die Finger in die Ohren, aber der Stromkreislauf der Klingel schien mit meinen blank liegenden Nerven kurzgeschlossen zu sein.

Dann, endlich, Stille.

Welch eine Wohltat! Ich nahm mein Kopfkissen in den Arm und kauerte mich zusammen.

Meine Wohnung. Meine Wohnung. Das war meine Wohnung. Niemand hatte das Recht. Niemand.

Plötzlich hämmerte es an der Wohnungstür. Ma che cazzo?

Nein, nein, nein. Niemand. Nein, nein, nein. Das war nicht recht.

Dennoch drang eine Stimme zu mir durch.

„Max?!”

Diese Stimme. Aber nein –

„Max? Bist du da? Mach endlich die Tür auf!”

Ich war nicht bereit. Noch nicht.

„Max, das ist nicht lustig”, flatterte die Stimme. „Mach sofort auf.” Eine Faust schlug gegen die Tür. „Seit Tagen versuch ich, dich zu erreichen. Was ist mit deinem Telefon? Warum ist ständig besetzt?”

Ich musste mich schützen. Ich würde kaputt gehen. Ich –

„Max?”

Schwere Schritte polterten die Treppe herab. Dann: ein Murmeln, Herr Schmidt mit seinen Faustschlägen und der Drohung von wegen Feuerwehr.

„Max, nun mach schon!” Es war diese Angst in Marias Stimme, die mich letztlich dazu brachte, mich aufzusetzen. „Bitte!”

Ich schälte mich aus dem Bett und wankte zur Tür.

Draußen ein Tuscheln.

Ich drehte den Schlüssel um, der von innen im Schloss steckte.

„Um Gottes willen!” Maria fiel mir um den Hals, drückte mir die Luft ab. „Ich habe mir solche Sorgen gemacht.”

Herr Schmidt trat unversehens einen Schritt zurück und sah dabei so aus, als wäre es ihm lieber gewesen, mich im Zustand fortschreitender Verwesung aufzufinden.

„Nichts für ungut”, murmelte er und tippte sich mit der Handkante an die Stirn. „Ich geh dann wohl besser.”

Damit stieg er die Treppen hinauf.

Ich zog meine Schwester in die Wohnung und drehte den Schlüssel um, als wir drinnen waren.

Maria rümpfte die Nase. Sie lief ins Wohnzimmer, zog die Jalousien hoch und riss das Fenster auf. Das Tageslicht stach in meinen Augen.

Maria öffnete auch im Schlafzimmer und in der Küche die Fenster. Ein kalter Luftzug fuhr mir unter den Morgenmantel. Mit einem Mal zitterte ich am ganzen Leib.

Meine Schwester ließ ihren Blick durch die Wohnung schweifen. Dann drehte sie sich zu mir und deutete auf die leeren Whiskeyflaschen, die Zigarettenkippen, die über die Ränder der Aschenbecher quollen und auf dem Teppichboden verstreut lagen. Eine klebte auf einem Teller mit Spinatresten.

„Versuchst du, dich umzubringen?” Sie packte mich bei den Schultern. „Was ist los mit dir? Wo ist Luk?”

Ich schüttelte den Kopf. Nein, ich konnte nicht darüber reden.

„Gott, du bist nur noch Haut und Knochen!”

Ich schob sie von mir weg. Suchend blickte sie sich um, fand, wonach sie Ausschau gehalten hatte, steckte das Telefonkabel ein, nahm den Hörer ab und wählte eine Nummer.

„Ich bin’s”, sagte sie.

Gemurmel am anderen Ende der Leitung.

„Ja, alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen. Ich komme später nach Hause, dann erzähl ich dir alles.”

Sie lauschte.

„Ja, mach‘ ich. Bis später dann.”

Sie legte den Hörer auf die Gabel.

Dann ging sie in die Küche. Mit einer Plastiktüte in der Hand kam sie wieder. Sie runzelte die Stirn und begann, die Kippen aus den vollen Aschenbechern in die Tüte zu leeren.

„Du musst das nicht machen”, sagte ich, aber sie ignorierte mich.

Als nächstes sammelte sie die leeren Flaschen ein und stellte sie in einen Pappkarton vor die Tür. Ich saß mit dem Rücken an der Heizung auf dem Teppich und sah ihr zu. Ab und an fing ich einen ihrer Blicke auf.

Zwei Stunden später – sie hatte den Abwasch gemacht, mein Bett neu bezogen und die Wohnung durchgesaugt – setzte sie sich neben mich auf den Fußboden.

„Du musst etwas essen”, sagte sie.

Ich sagte nichts. Mir stand nicht der Sinn nach Essen. Einen Drink hätte ich vertragen können.

„Keine Widerrede.”

Konnte sie Gedanken lesen? Ich hatte den Mund nicht aufgemacht.

„Mein Schwesterchen.” Lächerlich, wie weinerlich meine Stimme klang.

„Hör zu, ich gehe jetzt einkaufen. Dann mache ich uns Spaghetti Bolognese. Und du –”, sie musterte mich, „du gehst jetzt ins Bad und wäschst dich. Eine Rasur könntest du auch vertragen. Du siehst aus wie Rübezahl.”

„Rübezahl.”

„Ist doch wahr.”

Sie stand auf, zog Schuhe und Mantel an.

„Du hast 15 Minuten, hörst du?” Sie schaute mir in die Augen. „Und ich nehme den Schlüssel mit.”

Minutenlang ließ ich mir den heißen Wasserstrahl über den Rücken laufen. Als ich mich rasiert hatte, war mir das Gesicht im Spiegel zwar vertrauter, aber ich sah aus wie jemand auf den Fotos von damals.

Im Schlafzimmer schlüpfte ich in meine Jeans. Den Gürtel musste ich ein Loch enger schnallen, damit sie mir nicht über die Hüften rutschte. Da stand auch schon Maria mit zwei vollen Einkaufstüten in der Tür.

Sie ging in die Küche und räumte Nudeln, Reis und Konserven ein. Ich setzte mich auf einen Stuhl und beobachtete sie. Das alles kam mir seltsam unwirklich vor. Ich wollte niemanden, der mich hätschelte. Wollte kein Licht in meiner Wohnung.

Nachdem sie alles verstaut hatte, zog sie eine Pfanne aus dem Unterschränkchen und stellte sie auf den Herd. Sie begann das Hackfleisch zu würzen. Kurz darauf hing der Geruch gebratener Zwiebeln in der Wohnung.

Ausgerechnet Bolognese. Sie meinte es gut, das wusste ich. Woher hätte sie wissen sollen, dass das unser letztes gemeinsames Essen gewesen war – am Tag, bevor das Telegramm kam?

Ich gab mir alle Mühe, ein paar Bissen hinunterzubekommen, doch mein Hals war wie zugeschnürt.

„Max!” Ihr Blick war auf meinen dreiviertelvollen Teller gerichtet.

„Entschuldige, aber –” Aber was eigentlich? Ich konnte den Satz nicht vollenden.

Sie legte ihre Hand auf meine. „Schon in Ordnung.”

Mir kamen die Tränen. Rasch senkte ich den Blick.

„Nun erzähl schon, was los ist”, sagte sie.

Ich schüttelte den Kopf und kam mir vor wie ein trotziges Kind.

„Ist etwas mit Luk?”

Diesmal nickte ich, bekam aber noch immer kein Wort heraus. Meine Schwester stand auf und umarmte mich.

„Aber was ist denn?”

„Er ist weg”, würgte ich hervor.

Maria wiegte mich in ihren Armen. Dasselbe hatte ich bei ihr früher getan, wenn sie mit blutigen Knien zu mir gelaufen kam. Tränen fielen auf meine Spaghetti. Ich versank in vollkommener Stille. Ich fühlte mich schwer, so unendlich schwer, als wolle die Schwerkraft mich in ein Loch hinabzerren, das sich eigens für mich aufgetan hatte.

Als sie mich losließ, sah sie auf die Uhr. „Ich muss jetzt gehen”, sagte sie. „Kann ich dich alleine lassen?”

Alleine. Was bedeutete das schon? Ich war die ganze Zeit alleine.

„Ich komme wieder. Versprochen. Und du –”, ihre Hand fuhr noch einmal durch mein Haar, „du musst essen, hörst du?”

Ich erwiderte nichts.

„Kann ich mich darauf verlassen?”, fragte sie. „Und auch darauf, dass du diese Teller abspülst?“

Widerwillig nickte ich.

Als sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, schloss ich ab. Ich wartete zwei Minuten, dann zog ich den Stecker des Telefons aus der Wand, ließ die Jalousien hinunter und kroch zurück in mein Bett.

Maria kam am Tag danach wieder. Sie ließ Licht in die Wohnung und kochte für mich. Ich aß ein paar Bissen, dann saßen wir schweigend nebeneinander. Als sie gegangen war, sperrte ich das Licht wieder aus.

Zwei Tage später stand sie erneut vor der Tür.

Da sie mich nicht zwang, ihr zu erklären, was ich nicht einmal mir selbst zu erklären vermochte, gewöhnte ich mich an ihre Gegenwart. So vergingen die nächsten zwei Wochen.

Einmal brachte sie mir ein Buch mit. Meine Fingerkuppen streichelten über den Einband. Es war ein Band mit Gedichten von Rilke.

Ich schlug ihn nicht auf, legte ihn stattdessen auf meinen Nachttisch.

Im Laufe des Abends schaute ich mehrmals zu dem schmalen Bändchen hinüber. Es war, als strecke eine verflossene Zeit ihre Finger nach mir aus.

Als meine Schwester die Tür hinter sich geschlossen hatte, warf ich das Buch in den Müll. Dann legte ich mich schlafen.

Nachts schrak ich aus einem Traum hoch. Ich konnte mich nur an Bruchstücke erinnern, aber Luk – er war da gewesen. Mein Körper vibrierte vor Traurigkeit. Luk – ich – und ein Spiegel.

So sehr ich mich bemühte, es gelang mir nicht, die Bilder zurückzuholen. Sie waren verloren – genau wie er.

Ich setzte mich auf und machte die Leselampe an. Mein Blick fiel auf das Nachttischchen. Ein feiner Abdruck zeichnete sich in der dünnen Staubschicht darauf ab.

Minutenlang blieben meine Gedanken halb in der Zwischenwelt des Traumes, halb im nächtlichen Schattenspiel meines Zimmers gefangen. Schließlich krabbelte ich aus dem Bett und ging zum Mülleimer hinüber.

Mit vorwurfsvollem Blick sah das Buch mich an.

Ich fischte den Band heraus, wischte mit meinem Handrücken darüber, presste ihn an meine Lippen und sog seinen Geruch ein.

Ich kroch ins Bett zurück und legte Rilke auf meinen Bauch. Mit meinem Atem wogte er auf und ab. So schlief ich ein und so erwachte ich am nächsten Morgen.

Ich stand auf und zog die Jalousien hoch. Draußen lag die Severinstraße im Morgenlicht. Heute konnte ich nicht mehr im Bett bleiben. Ich musste nachdenken. Noch wusste ich nicht recht über was.

Ich ging im Zimmer auf und ab. Bislang hatte Maria die nachwachsenden Bartstoppeln nicht bemängelt, aber das würde nicht lange auf sich warten lassen. Also konnte ich mich ebenso gut gleich rasieren.

Der Vormittag verging, doch meine Gedanken griffen ins Leere. Nichts. Was ich suchte, war nicht da.

Erschöpft legte ich mich schließlich aufs Bett. Draußen vor dem Fenster strich der Wind durch die Zweige des Ahorns. Es waren nicht die Gleichen, die ich ausgesperrt hatte: nicht der gleiche Ahorn, nicht der gleiche Wind.

Spiegel. Ich murmelte das Wort vor mich hin. Spiegel. Und plötzlich war es wieder da.

Ich, wie ich ins Badezimmer ging, um im Schränkchen nach einem Spiegel zu suchen – suchte und suchte, aber keinen fand. Bürsten fand ich, Cremes und Seifen. Ich wollte schon aufgeben, doch dann war er auf einmal da. Behutsam zog ich ihn heraus. Ich durfte ihn nicht zerbrechen, das wusste ich. Er war sehr kostbar. Schließlich sah ich hinein.

Aber nicht ich selbst war es, der mir aus dem Spiegel entgegensah. Nein. Es war Luk.

Kapitel 2 – Geschlechtermulde (Luk)

Februar 1974

Dieses Summen, es wollte nicht verstummen. Dabei war es Ruhe, die ich wollte. War das zu viel verlangt? Ein wenig Ruhe?

Ursprung des Geräuschs war eine Neonröhre. Deren Flackern tat mir in den Augen weh.

Ich wendete den Kopf ab.

Ein Fenster. Grauer Himmel. Bäume.

Das Bild verschwamm. Wo zum Geier war ich? Und was hatten sie mir eingeflößt? Wo auch immer. Hier wollte ich nicht sein. Ich musste weg. Sofort!

Ich versuchte, mich aufzusetzen. Ging nicht. Was war hier los?

Meine Erinnerung erschöpfte sich in pulsierendem Schmerz. Ansonsten nichts. Schwarze Leere.

Ich hob den Kopf, soweit meine Lage es zuließ. Meine rechte Hand steckte in einem klobigen Verband. Meine Hand war Matsch. Dafür hatte ich gesorgt.

Schlimmer aber, viel schlimmer: Ich war gefesselt. Lederschlaufen banden meine Arme an ein gottverdammtes Klinikbett!

„Hilfe!“

Das Echo prallte von den blanken Wänden zurück.

„Hilfe!“

Nichts. Bloß die verdammte Neonröhre summte weiter.

Tröpfchenweise kamen Erinnerungsfetzen zurück. Der Besucherraum B 3. Das Telegramm. Galiano, als die Tür hinter mir ins Schloss fiel. Der Steingraeber. Die Augen meiner Mutter. Die Szene vor dem Gut.

Wie hatte ich so dumm sein können?

Ich hatte alles zerstört. Alles.

Schritte. Jemand würde mich befreien!

„Hallo!“ Ich konnte die Tür nicht sehen, weil die verfluchten Schlaufen es nicht zuließen. „Bitte!“

Die Schritte verklangen.

„Bitte!“ Ich hörte mich hundserbärmlich an. Nicht, dass das eine Rolle gespielt hätte. Tiefer konnte ich nicht fallen.

Das Geräusch der Türklinke.

„Machen Sie mich los – ich bitte Sie!“ Wer auch immer den Raum betreten hatte, war meine einzige Chance.

„Aber, aber, wer wird denn da –“ Die Stimme brach abrupt ab. Sie kam mir irgendwie bekannt vor. „Lukas von Freystein. So begegnen wir uns also wieder. Nach all den Jahren. Wer hätte das gedacht?“

Ein weißer Kittel. Dann stand die Schwester vor mir.

„Du?“, fragte ich. „Das kann doch nicht wahr sein! Was machst du denn hier?“

„Meinst du nicht, dass es eher mein Part wäre, dich das zu fragen?“

Mein Mund war trocken. Sie wirkte nicht erfreut, mich zu sehen.

„Wie geht’s dir denn so?“, versuchte ich es trotzdem.

„Small-Talk? Dein Ernst? Nach damals?“

Damals? Mein Kopf war wie leergefegt. Außer den vereinzelten Bruchstücken aus den vergangenen Tagen war nichts mehr da.

„Wo bin ich hier?“

„Noch nicht mal das weißt du?“ Ihre Stimme lag unter Raumtemperatur.

„Sie haben mich hier festgebunden.“ Um meine Selbstachtung war es ohnehin geschehen. Aber dieses Talent hatte die rote Rosi schon immer gehabt. Gab also doch Dinge, an die ich mich erinnerte.

„Bedburg-Hau. Klingelt da was?“

Ich schloss die Augen. Nein. Das hatte der Vater nicht getan. Alles, bloß nicht das!

Plötzlich fiel mir wie Schuppen von den Augen, was Rosi mit damals meinte. Die Ermordung von Ohnesorg. Genau!

„Du – du warst damals einfach verschwunden! Keiner von uns wusste –“

„Papperlapapp.“ Unter der Schwesternhaube trug sie ihr Haar jetzt länger. „Hätte nur einer von euch wirklich versucht, mich zu finden, hättet ihr es auch geschafft.“

Womöglich kam deshalb die Erinnerung zurück. Auch bei ihr hatte ich versagt. Das musste meine Persönlichkeit sein: Ich machte alles kaputt.

Dabei hatte ich natürlich wissen wollen, was mit ihr passiert war. Aber hatte ich irgendwas getan, um es rauszufinden?

„Es tut mir leid.“

Rosi schwieg.

Ich war müde, so unendlich müde.

„Was hast du angestellt, dass sie dich fixiert haben?“

Sie trat ans Fußende des Bettes und nahm einen Hefter zur Hand. Während sie las, schüttelte sie den Kopf.

„Was steht da?“

Sie legte die Stirn in Falten und sah auf den verbundenen Klumpen hinab, der meine rechte Hand gewesen war. „Du hast dir das selbst zugefügt? Bist du bescheuert?“

„Bind mich los“, sagte ich. „Bitte.“

„Das könnte mich meinen Job kosten.“

Ich suchte nach den richtigen Worten, doch in meinem Kopf war nur Nebel.

„Ich bin nicht für dich zuständig, Lukas von Freystein. Ich habe nur dein Gewinsel gehört und wollte sehen, was hier los ist.“

Aus welchem Grund hätte sie mir helfen sollen? Es geschah mir recht; ich hatte sie im Stich gelassen.

„Aber ich werde sehen, dass du mir zugeteilt wirst. Mehr kann ich nicht tun.“

„Danke, Rosi, wirklich.“

„Ich werde den Doktor davon in Kenntnis setzen, dass du wieder bei Bewusstsein bist.“

„Welcher Tag ist heute?“, fragte ich.

Doch sie war schon weg. Die Tür fiel ins Schloss und ich war wieder allein.

„Herr von Freystein.“

Ich erschrak, musste noch einmal eingenickt sein.

„Biedenbruck mein Name – Doktor Biedenbruck.“ Die stahlgrauen Haare, die ihm verblieben waren, hatte der Doktor über die Platte auf seinem Schädel gekämmt. „Was machen wir denn für Sachen, Herr von Freystein?“

Er schnalzte mit der Zunge. Seine Zähne waren voller gelber Flecken. Arzt mochte er sein, aber Zahnärzte zählte er offenbar nicht zu seinen Bekannten.

„Sie können sich glücklich schätzen, dass ich ein alter Freund Ihres Vaters bin. In der Tat. Welch schicksalhafte Fügung!“ Er legte eine Hand auf meine Schulter. Ich wollte mich schütteln.

Natürlich. Deshalb war ich ausgerechnet hier gelandet! Ich hatte noch immer nicht gelernt, eins und eins zusammenzuzählen. Hoffnungsloser Fall.

„Ihr, wie soll ich sagen, Ihr kleines Problem ist bei mir in besten Händen.“

„Ich bestehe darauf, dass Sie mich augenblicklich losmachen.“

Sein Lachen klang wie Schluckauf. „Aber mein lieber Herr von Freystein! Ich muss doch sehr bitten. Sie stellen eine Gefahr für sich selbst dar, das müssen Sie doch zugeben.“

Wieder dieses Schnalzen.

„Binden Sie mich los.“

Er lächelte mich an, als wäre ich einer der Schwachsinnigen. Doch ich war nicht schwachsinnig – und wenn dieser Irrenarzt oder mein Vater glaubten, ich würde mir das einreden lassen, hatten sie sich geschnitten!

„Hören Sie. Ich bin ein erwachsener Mann. Sie haben kein Recht –“ Der Nebel in meinem Kopf erlaubte mir nicht, meinen Gedanken zu Ende zu führen.

„Sie müssen vor allem erst einmal zur Ruhe kommen. Sie, wie soll ich sagen, Sie erregen sich viel zu sehr! Da werden wir gleich Abhilfe schaffen, seien Sie unbesorgt.“

Er drückte einen Knopf neben dem Kopfende meines Bettes. Ein schriller Klingelton ertönte.

„Was tun Sie da?“

Ich versuchte, mich hochzustemmen, doch die Schlaufen hielten mich zurück. Die Tür ging auf.

„Unser Herr von Freystein müsste sediert werden.“

„Nein!“, schrie ich, „tun Sie das nicht. Es gibt keinerlei Grund!“

Ein Pfleger kam heran – ein Halbstarker in übergroßem Körper.

„Nein! Lassen Sie mich!“ Die Schlaufen schnitten mir ins Fleisch. „Das ist ein Missverständnis! Machen Sie mich los! Mein Vater! Er –“

Der Pfleger zog eine Spritze auf. Meine Hand pochte. Ich musste hier raus! Wie sollte ich ihnen das klarmachen, wenn – im nächsten Moment drang die Nadel in meinen Oberarm ein.

Wie viel Zeit verging auf diese Weise?

Es kam mir vor wie Wochen, doch zugleich verlor ich von Tag zu Tag mehr das Zeitgefühl. Wut vergiftete meine Träume. War ich wach, konnte ich nicht klar denken. Der Nebel verzog sich nicht, wenngleich er sich manchmal zu lichten schien. Über all dem summte und summte und summte diese verfluchte Neonröhre.

Galiano rief nach mir. Sein Schrei vibrierte durch jede Faser meines Körpers. Er war gefangen in einem Spiegel. Ich streckte die Hand aus, doch so sehr ich mich bemühte, ich konnte ihn nicht erreichen. Er verschwamm und löste sich auf. Gleichzeitig wurde meine Kehle enger und enger, ich bekam kaum noch Luft, bis ich –

Verwirrt sah ich mich um. Auf einem Stuhl neben meinem Bett saß Rosi. Sie betrachtete mich stumm. Dann kramte sie ein Taschentuch aus ihrem Kittel hervor und tupfte mir die Tränen vom Gesicht. Ihr Parfum duftete nach Maiglöckchen. Ich holte Luft, um etwas zu sagen, doch sie legte einen Finger auf ihre Lippen.

„Tu das nicht.“

Die Spannung in meinem Körper ließ langsam nach und ich konnte wieder atmen. Rosis Hand ruhte auf meinem Oberarm. So vergingen mehrere Minuten. Das Summen war das einzige Geräusch im Raum. Als ich es nicht mehr aushielt, fragte ich: „Seit wann bist du eigentlich zurück aus Hannover?“

„Hannover?“

„Aber warst du nicht? – Also damals, nachdem sie Ohnesorg umgebracht hatten. Es ist ja nicht so, dass ich nicht hätte wissen wollen, wo du abgeblieben warst – aber Willi meinte, du wärst mit deinem Vater –“

„Das hat man euch also glauben gemacht.“

Sie schaute hinaus auf die Geschlechtermulde und sagte nichts mehr.

Hätte ich das Thema besser gar nicht erst angeschnitten! Sie war noch immer die tickende Zeitbombe von damals. Ich hatte nichts zu gewinnen, aber sehr viel zu verlieren.

Als sie sich wieder zu mir drehte, bohrte sich ihr Blick mitten in mich hinein.

„Schon gut“, ruderte ich zurück. Immerhin konnte ich nicht weg. „Geht mich ja nichts an.“

„Wie sehr hätte ich mir damals gewünscht, dass einer – nur ein Einziger von euch – sich dafür interessiert hätte, was mit mir passiert ist.“

„Aber ich habe mich dafür interessiert!“

„Ich könnte mich nicht erinnern, dass du hier aufgetaucht wärst, um mich zu besuchen.“

„Hier?“ Was zum Geier?

„Die beste aller möglichen Welten, nicht wahr?“

„Ich verstehe nicht. Haben sie dich gezwungen, hier zu arbeiten, oder was?“

„Zu arbeiten? Oh nein!“

„Sondern?“

„Sagen wir, ich kann gut nachempfinden, wie du dich gerade fühlst.“

„Nicht dein Ernst! Sie haben dich einliefern lassen?“

Sie schob ihre Schwesternhaube zurecht. „Was spielt das jetzt noch für eine Rolle?“ Sie sah mich geradeheraus an. „Hör mir gut zu. Selbst, wenn ich es wollte – und bilde dir nicht ein, dass ich es will, weil ich dich von früher kenne. Ich schulde dir nichts, rein gar nichts, hörst du? Aber selbst, wenn ich es wollte: Ich kann dich hier nicht rausholen.“

„Dieser Ort, er, ausgerechnet hier –“ Es hatte keinen Sinn. Ich würde es niemals erklären können. Verschüttete Milch. Am besten vergessen.

„Tu, was sie von dir verlangen“, sagte sie, als klar war, dass von meiner Seite nichts mehr käme. Dann stand sie auf, strich sich den Kittel glatt und wendete sich zur Tür. „Ich muss jetzt gehen.“

„Sag mal, wie kommt es, dass du noch hier bist? Ich meine, sie haben dich offensichtlich nicht als Patientin behalten.“

„Ich habe gesehen, wie es hier zugeht. Naja, da dachte ich mir, ich muss etwas tun. Rudis langer Marsch durch die Institutionen – du erinnerst dich. Das hier ist meiner.“ Sie öffnete die Tür. „Ich schaue morgen wieder rein.“

„Rosi, warte!“

Das Rascheln ihres Kittels verstummte.

„Gut dich zu sehen.“

Sie banden mich los.

Ich hätte Dr. Biedenbruck das Blaue vom Himmel heruntergelogen, nur um mich endlich wieder bewegen zu können. Anscheinend hatte er mir geglaubt, als ich sagte, dass ich alles einsah. Wie einfach es war, wenn man wusste, was das Gegenüber hören wollte.

Selbst der Verband war inzwischen ab. Aber ich brachte es nicht über mich, meine Finger anzuschauen. Bereits ein kurzer Blick hatte mir Übelkeit verursacht. Selbst wenn Biedenbruck meinte, dass die Reha Wunder wirken würde: Meine Pianistenkarriere war vorbei.

Was blieb, war der Nebel.

Einige Tage später durfte ich zum ersten Mal meinen Trakt verlassen. Unter Aufsicht natürlich.

Als ich in meine Klamotten schlüpfte – jemand musste etwas vorbeigebracht haben, während ich vor mich hingedämmert hatte – begutachtete ich meinen Körper. Ich war nie muskulös gewesen, aber was von mir übrig war, war erbärmlich. Kein Wunder, dass selbst ein Gang zum Klo mich anstrengte. Aber immerhin: Die Zeit der Bettpfannen war vorbei.

Als Rosi die verriegelte Tür zum Außenbereich aufstieß, schlug mir der Geruch des Frühlings entgegen. Dabei war es erst April, so viel hatte ich inzwischen herausgefunden.

Ich lehnte mich an die Balustrade und machte die Augen zu. Diese Wärme auf meiner Haut, der Duft nach Flieder, der Wind ...

Rosi nahm meine gesunde Hand.

„Komm schon, lass uns ein wenig laufen“, sagte sie. „Wird Zeit, dass du wieder in Schwung kommst.“

Ich folgte ihr die Treppen hinab. Wir schlenderten durch die Grünanlage zwischen den Patiententrakten.

„Wenn man bedenkt, dass selbst dieser Ort den Nazis nicht schlimm genug erschien? Kaum vorstellbar, oder? Halbe Sachen haben die nicht gemacht – das kann ihnen niemand nachsagen.“

„Was meinst du?“ fragte ich.

„Die Aktion T4.“

T4. Das kam mir bekannt vor, aber ich konnte mich schon an die banalsten Dinge nicht erinnern.

„Bedburg-Hau war schon seit Anfang des Jahrhunderts eine Nervenheilanstalt für Menschen mit geistiger Behinderung. Aber alles außer der absoluten Vernichtung war den Nazis nicht genug. Dabei waren diese Menschen doch ohnehin weggesperrt. Von hier“, sie deutete mit dem Finger in die Ferne, „gingen Transporte direkt nach Grafeneck.“

Das Vernichtungslager.

„Und dann,“ sie sah mich an, „dann ist da der Frühling. Das ist das Schlimmste. An einem Tag wie heute könnte ich beinahe sagen, es ist schön hier.“

Der Ort, der alles in Vergessenheit sinken ließ. Selbst meine eigene Mama. Hier war sie gewesen und doch zugleich nicht, als hätte der Frühling auch ihr Bild überdeckt. Genau wie dieser Bruder, den es gegeben und doch nie gegeben hatte.

In der Ferne patrouillierte ein Wachmann vor dem Stacheldrahtzaun. Hinter der Absperrung erstreckte sich ein tiefblauer Himmel.

Rosi hatte recht: Es war paradox. Dieser Ort sollte schwarz-weiß sein, nicht sonnig, bunt und voll von Flieder.

Wir kamen zu einer Bank. „Kann ich mich einen Moment setzen, bitte?“

„Entschuldige, ich hatte ganz vergessen, dass du leicht aus der Puste kommst. Aber das gibt sich bald wieder.“

„Bald?“

„In ein, zwei Wochen solltest du wieder der Alte sein.“

Der Alte würde ich nie wieder sein. Aber das konnte sie nicht wissen.

„Ich muss dich um Verzeihung bitten“, sagte ich.

„Mich?“

„Wegen damals. Hätte ich gewusst, dass sie dich hierhergebracht haben – Gott, ich hätte alles getan, um dich hier rauszuholen!“

„Was genau hättest du wohl ausrichten können? Glaubst du ernsthaft, du wärst hier anmarschiert und hättest mich einfach mitnehmen können? Da täuschst du dich. Auf dieser Anti-Schah-Demo – du erinnerst dich – da bin ich mit einem Polizisten aneinandergeraten. War ja nicht unüblich damals. Aber er hat es mir ziemlich übelgenommen, dass ich ihm mit meinen Stiefeln ins Gemächt getreten habe.“

Das war so typisch.

„Meine große Klappe auf dem Revier hat es nicht besser gemacht – jedenfalls saß ich mir nichts dir nichts ein. Eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und nicht zurechnungsfähig.“

„Ich hätte es zumindest versuchen müssen.“

„Wer weiß? Vielleicht war das ja meine Berufung?“ Sie zuckte mit den Achseln.

„Meinst du?“, fragte ich, ohne meine Skepsis verbergen zu können.

Der Ausdruck in ihren Augen veränderte sich. Abrupt stand sie auf.

„Woher soll ich das wissen? Aber zumindest ist es mein Leben, ja? Und es ist das einzige gottverdammte Leben, das ich habe. Such dir also gefälligst ein anderes Thema, an dem du rumnörgeln kannst. Am besten fängst du bei dir selbst an!“

Scheiße, scheiße, scheiße. Rosi war nun wirklich der letzte Mensch, mit dem ich es mir in meiner Position verscherzen durfte.

„Aber so habe ich das doch gar nicht gemeint!“, sagte ich.

„Wir sollten zurückgehen“, sagte sie. „Es wäre ein Fehler, deine Rekonvaleszenz zu gefährden. Du musst dich schonen.“

Kapitel 3 – Eine Blume des Winters (Galiano)

November 1974

Die nächsten Monate zogen im Dämmerzustand an mir vorüber. Ich ging wieder aus dem Haus, wanderte stundenlang ziellos umher, aber nur, weil mein einziger Weg mich zu sortieren – das Schreiben – zu einer Sackgasse geworden war. Meist brachte ich gar nichts zu Papier. Fanden doch einmal Worte ihren Weg auf meine unbeschriebenen Bögen, waren sie blutleer und hohl.

Häufig führten meine Spaziergänge mich an den Aachener Weiher. Anfangs hatte ich unsere Bank gemieden. Nach einer Weile aber war ich dazu übergegangen, dort meinen Gedanken nachzuhängen. War ich naiv genug zu glauben, dass er eines Tages dort auftauchte? In jedem Falle kehrte ich Tag für Tag dorthin zurück.

Der Sommer kam und ging. Die Welt erblühte, bloß in mir blieb es öd. Nun, das entsprach nicht gänzlich der Wahrheit: Eine Blume blühte in mir, doch es war eine Blume des Winters. Wunderschön anzusehen – und doch stand sie kalt, einsam und verlassen.

Maria besuchte mich noch immer jeden zweiten Abend. Bisweilen schickte Johanna mir Kuchen oder frisch gebackenes Brot mit. Mein Vater aber war es, der bis auf Weiteres die Kosten für mein Leben übernommen hatte. Und das, obwohl ich noch nicht einmal im Stande gewesen war, ihn selbst darum zu bitten.

An jenen Abenden mit meiner Schwester hatte ich wenig zu erzählen. Doch trank ich weniger, wenn sie da war, und sie war es, die mir aus ihrem Leben erzählte.

Seit einigen Wochen traf sie sich mit einem jungen Mann namens Michael, den sie bei der Arbeit in der Bank kennengelernt hatte. Manchmal tat Maria mir leid. Sie opferte ihre Abende ihrem nicht zurechnungsfähigen Bruder. Da gab es Unterhaltsameres. Ich wollte gar nicht wissen, was dieser Michael davon hielt. Und trotz allem gelang es ihr nicht, mir zu helfen. Aber das war meine Schuld, nicht ihre. Und ihr zu sagen, dass sie nicht mehr kommen sollte, schaffte ich auch nicht.

Eines Abends verschlug es mich auf meinem Spaziergang in die Innenstadt. Die Sonne war bereits untergegangen und ich war seit Stunden unterwegs. Endlich fand ich eine öffentliche Toilette. Der Geruch nach Urin schwappte mir entgegen, als ich die Türe aufstieß. Ich stellte mich an eins der Pissoire und pinkelte. Hinter mir ging abermals die Tür auf. Ein Mann kam herein und stellte sich neben mich. Ich drehte mich ein wenig von ihm weg. Er begann an sich herumzuspielen. Ich erstarrte. Zwar hatte ich schon davon gehört, dass es so etwas gab, aber gesehen hatte ich es noch nie. Ich tat so, als würde ich ihn nicht bemerken, doch er blieb stehen. Irgendwann konnte ich nicht anders und schielte zu ihm herüber. Jetzt war er es, der sich drehte, allerdings zu mir hin, nicht von mir weg. Wie groß er war! Mein Mund wurde trocken. Zugleich hatte mein Schwanz ein eigenes Gewissen. Er regte sich in meiner Hand. Der Kerl bemerkte es ebenfalls und lächelte mich an.

Mit einem Mal wurde mir heiß. Unattraktiv war er nicht. Gut gebaut, schlank, in meinem Alter. Wieder grinste er mich an. Sein Schwanz lag in seiner linken Handfläche. Die andere Hand wanderte langsam in meine Richtung.

Oh mein Gott! Nein, das konnte ich unmöglich –

Ich packte meinen Ständer eilig in die Unterhose und zog noch im Gehen meinen Reißverschluss hoch. Dann stieß ich die Tür auf, hastete hinaus, die Treppen rauf.

Oben blies mir ein kühler Herbstwind entgegen. Der kalte Schweiß stand mir auf der Stirn. Mein Puls raste. Bloß schnell weg!

Meine Schritte trugen mich über den Neumarkt. Ringsum lag alles still da. Ich bog in die nächste Seitenstraße in Richtung Südstadt, achtete kaum auf den Weg. Mehrmals drehte ich mich um, aber niemand folgte mir.

Zu Hause schlug ich die Tür hinter mir ins Schloss und verriegelte sie von innen. Ich schenkte mir einen Whiskey ein. Ich kaufte mir das Zeug inzwischen sogar selbst. Die scharfe Flüssigkeit rann mir die Kehle hinunter. Ich füllte mein Glas noch einmal auf und setzte mich auf den Boden.

Luk. Luk. Luk. Das ging nur mit Luk! Niemand sonst sollte das je bekommen! Mit niemandem wollte ich das teilen!

Und doch sagte mein Schwanzgewissen etwas anderes, wenn ich an diese Begegnung zurückdachte. Etwas in mir war an diesem Abend erwacht, etwas, was zuvor geschlafen hatte.

Ein Leben nach Luk? Ohne Luk? Bislang hatte ich daran keinen Gedanken verschwendet. Doch wie lange wollte ich noch die Augen davor verschließen, dass er nicht mehr da war? Und auch nicht wiederkommen würde? Nicht ein einziges Mal hatte er angerufen in all den Monaten – oder gar vor meiner Tür gestanden!

Luk war weg.

Meine Hand glitt in meine Hose. Sofort hatte ich wieder eine Erektion.

Ich? Ich war offensichtlich noch da. Was aber sollte ich mit dieser Erkenntnis anfangen?

Um mich herum das graue Muster des Teppichbodens. Ich zog mir die Hose bis zu den Knien und holte mir einen runter. Ich kam innerhalb von Sekunden und krümmte mich danach auf dem Boden zusammen. Das Sperma lief mir über den Bauch und tropfte auf den Teppich.

---ENDE DER LESEPROBE---