Ein Seemann - Pierre Loti - E-Book

Ein Seemann E-Book

Pierre Loti

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Beschreibung

Loti, selbst zu See gefahren, beschreibt in "Ein Seemann" den Lebensgang eines Matrosen von der Wiege bis zum Wellengrab.

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Ein Seemann

Pierre Loti

Inhalt:

Pierre Loti – Biografie und Bibliografie

Ein Seemann

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Achtundzwanzigstes Kapitel

Neunundzwanzigstes Kapitel

Dreißigstes Kapitel

Einunddreißigstes Kapitel

Zweiunddreißigstes Kapitel

Dreiunddreißigstes Kapitel

Vierunddreißigstes Kapitel

Fünfunddreißigstes Kapitel

Sechsunddreißigstes Kapitel

Siebenunddreißigstes Kapitel

Achtunddreißigstes Kapitel

Neununddreißigstes Kapitel

Vierzigstes Kapitel

Einundvierzigstes Kapitel

Zweiundvierzigstes Kapitel

Dreiundvierzigstes Kapitel

Vierundvierzigstes Kapitel

Fünfundvierzigstes Kapitel

Sechsundvierzigstes Kapitel

Siebenundvierzigstes Kapitel

Achtundvierzigstes Kapitel

Neunundvierzigstes Kapitel

Fünfzigstes Kapitel

Einfünfzigstes Kapitel

Zweiundfünfzigstes Kapitel

Dreiundfünfzigstes Kapitel

Vierundfünfzigstes Kapitel

Ein Seemann, Pierre Loti

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849624972

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Frontcover: © Vladislav Gansovsky - Fotolia.com

Pierre Loti – Biografie und Bibliografie

Eigentlich Julien Viaud, franz. Roman- und Reiseschriftsteller, geb. 14. Jan. 1850 in Rochefort, verstorben am 10. Juni 1923 in Hendaye. Einer Hugenottenfamilie entstammend. wurde er mit 17 Jahren Marineaspirant, bereiste als Seeoffizier fast alle Meere und nahm 1883 als Leutnant am Feldzug in Tongking teil. Allzu aufrichtige Berichte an den »Figaro« hatten damals seine zeitweise Enthebung zur Folge. Viaud nahm als Schriftsteller den Namen der indischen Blume L. an, den ihm seine Kameraden aus Spott über seine Schüchternheit gegeben hatten. Seine Romane, Novellen und Reisebeschreibungen zeichnen sich durch farbenprächtige, meist aber auch melancholisch angehauchte Schilderung exotischer Landschaften aus.Er veröffentlichte: »Aziyadé« (1879); »Le mariage de L.«, Liebesidyll mit einer Eingebornen von Tahiti (1882); »Le roman d'un Spahi« (1881); »Fleurs d'ennui« (1882); »Mon frère Yves« (1883); »Pêcheurs d'Islande«, sein bestes Werk (deutsch von Carmen Sylva, zuletzt Bonn 1902); »Madame Chrysanthème« (1887); »Au Maroc« (1890); »Le roman d'un enfant«, Selbstbiographie (1890); »Fantôme d'Orient« (1892); »Jérusalem« (1895); »Ramuntcho«, ein baskischer Bauernroman (1897); »Matelot« (1898); »Les derniers jour de Pékin« (1901);. »L'Inde (sans les Anglais)« (1903); »Vers Ispahan« (1904); »La troisième jeunesse de madame Prune« (1905).Die meisten dieser Schriften erschienen in deutschen Übersetzungen. Auf der Pariser Bühne Antoines debütierte er mit dem Hugenottendrama »Judith Renaudin« (1898) und lieferte ihm auch mit Vedel eine sehr getreue Prosaübertragung von Shakespeares »König Lear« (1904). L. ist seit 1891 Mitglied der französischen Akademie. Von seit,en »Œuvres complètes« erschienen bisher 8 Bde.(1893 bis 1903). Vgl. »Pages choisies de Pierre L.« (mit Biographie von Bonnemain, Par. 1896).

Ein Seemann

Erstes Kapitel

Ein Knabe im Engelskleid, das heißt halbnackt im durchsichtigen Hemdchen, zwei weiße Taubenflügel an den Schultern angeheftet, im Sonnenschein eines südlichen Junitags in der äußersten Ecke der Provence, da, wo sie an Italien angrenzt. In Begleitung von drei andern Kindern in gleichem Aufputz schritt er in einer Fronleichnamsprozession dahin.

Die drei andern "Engel" waren blond und gingen mit gesenkten Blicken einher, als ob sie vom Ernst ihrer Engelswürde durchdrungen wären, der kleine Jean jedoch mit seinem dunkelbraunen Krauskopf, der hübscheste und kräftigste von ihnen, sah die am Weg Niederknieenden mit drolliger Verwunderung an, war nichts weniger als andächtig, sondern schien sehr zur Lustigkeit aufgelegt. Er war ein derbes, kerngesundes Bürschchen mit regelmäßigen Zügen, einem warmen Hautton, der an einen reifen Apfel erinnerte, und dichten Brauen, die wie ein schwarzes Samtbändchen die weiße Stirn durchquerten. Sein offener, fröhlicher Blick war fast noch kindlicher, als es seinen sechs oder sieben Jahren zukam, und daß diese großen Augen unter den langen Wimpern leuchtend blau waren, war bei seinem fast arabischen Gesichtsschnitt verwunderlich. Seine Angehörigen, die Mutter, die noch Witwentrauer trug, den langen Kreppschleier indes abgelegt hatte, und ein ehrsamer alter Großpapa in altväterischem schwarzem Rock und weißer Halsbinde folgten ihm in einiger Entfernung unter den übrigen Zuschauern und lächelten glückselig, voll Stolz, daß ihr Junge so hübsch war und sie es aus der Leute Mund hören durften.

Sehr wohlhabend waren sie nicht, diese Mama und dieser Großvater. Ihre Besitztümer bestanden in einem bescheidenen kleinen Stadthaus und einem Landgütchen mit Orangenbäumen und Rosenfeldern. Daß sie in diesem Winkel von Frankreich mit einer Menge von reichen Leuten, Gutsbesitzern oder Parfümeriefabrikanten, verwandt waren, machte ihnen die Armut erst recht fühlbar, denn man sah sie in der Familie etwas über die Achsel an. Die Bernys waren ein weitverzweigtes, altansässiges Geschlecht, das sich seit der Sarazenenzeit nicht mehr mit fremdem Blut vermischt hatte und deshalb den Typus der Provençalen in großer Reinheit aufweisen konnte. Seit zwei Menschenaltern zählten sie in Antibes zu den "Honoratioren". Unter ihren Vorfahren hatten mehrere als Seeleute die Abenteuer der Bourbonen geteilt und Indien kennen gelernt, was mitunter bei den Knaben als erbliche Anlage hervortrat, die ihre Mütter mit Besorgnis erfüllte.

Langsam und feierlich dahinschreitend, ohne den braungelockten Engel mit den Taubenflügeln aus den Augen zu lassen, hing die verwitwete Mutter ihren Gedanken nach, und schon wurde die Freude an seinem Anblick von mancherlei Sorge getrübt. Ach, warum ist er denn unerfüllbar, der süße, thörichte Traum, den jede Mutter träumt, der Wunsch, ihn festzuhalten, wie er heute war, als kleinen Lockenkopf mit unschuldigen Kinderaugen? Warum steht denn die gefürchtete Zukunft schon vor der Thür? Wie viel Kämpfe und Mühsal mußten sich nicht bald um dieses reizende, unerzogene Geschöpf erheben, das trotz der Kindlichkeit im Blick hie und da schon den Knaben, den Mann ahnen ließ, der mitunter eine verblüffende Rücksichtslosigkeit zeigte, manchmal sogar durchging, um sich bis zum Abend, man wußte nicht wo, herumzutreiben!

Wo die Mittel hernehmen, um ihm die nämliche Schulbildung zu geben, wie seine reicheren Vettern sie genossen? Und wenn er am Ende trotz aller Opfer nicht lernen sollte, was dann?

Sie lächelte jetzt nicht mehr, sie sah auch die weißschimmernde Prozession nicht mehr, nicht den hellen Sonnenschein, nicht die freundliche Gegenwart, sie war einzig erfüllt von der vielleicht kurzsichtigen und doch so echt mütterlichen Sorge, die ihr ganzes Leben beherrschte, wie sie es dahin bringen sollte, aus ihrem kleinen Hans Guck-in-die-Luft ohne Vermögen einen Mann zu machen, der den anderen Söhnen aus der hochnasigen Familie Berny mindestens nicht nachstehen würde.

Zweites Kapitel

Ein Junge von ungefähr zehn Jahren, keck, frisch und lebendig in jeder Bewegung, fast schon ein großer Junge, wenn auch die hübschen, schwarz eingerahmten Augen immer noch kindlich und kinderrein blickten, ging mit sicherem, festem Schritt am Strand von Antibes entlang. Drei oder vier gleichaltrige Kameraden folgten ihm, von denen einer am Fronleichnamsfest vor vier Jahren sein "Mitengel" gewesen war.

Mit wichtigthuender, sachkundiger Miene, als ob es gälte, Hilfe zu bringen, gingen sie auf eine gestrandete Tartane zu, die unbeweglich auf der Seite lag, mitten zwischen den kurzen blauen Rudern, die am Mittelmeere gebräuchlich sind, während halbnackte Fischer, mit bloßen Beinen im Wasser watend, ringsum ihrer Arbeit nachgingen.

Es war ein schöner Ostersonntag, Jean hatte heute früh seinen ersten richtigen "Männeranzug" erhalten und trug das hellbraune Filzhütchen mit Samtband nach Matrosenart tief im Nacken. Morgens hatte er in diesem festlichen Anzug die Mutter in die Kirche begleitet und die große Ostermesse gehört, jetzt war die heißersehnte Stunde gekommen, wo er daheim entwischen und sich herumtreiben konnte.

Abends kam er zum Essen heim, wie immer mit einiger Verspätung, und wie immer hatte er im alten Hafen und auf alten Booten Entdeckungszüge gemacht. Trotz aller Ermahnungen der Mutter sah der neue Anzug ziemlich mitgenommen aus, und das Filzhütchen saß schief auf den verwirrten Locken, weit aus der schweißbedeckten Stirn gerückt. Er wurde zwar gezankt, aber wie gewöhnlich nur gelinde, fast zaghaft.

Weil es ein Festtag war und man nach der Mahlzeit noch etwas spazieren gehen wollte, durfte er sich in den Sonntagskleidern zu Tisch setzen, und es wandelte ihn die Laune an, auch den breitkrämpigen Filzhut, der seines Herzens Freude war, aufzubehalten. Wie jeden Sonntag, war auch heute der alte Großvater bei seiner Tochter zu Gast, wie immer in schwarzem Rock und weißer Halsbinde, die Dürftigkeit seiner Verhältnisse mit feierlicher Würde bemäntelnd. Das Dämmerlicht des klaren, rosigen Frühlingshimmels beleuchtete den Familientisch, an dem die alte Miette, die seit vielen Jahren im Dienst des Hauses stand, die Speisen auftrug und abräumte.

Trotz seines steten Verlangens nach Freiheit und Bewegung hatte Jean die Mama und den alten Großvater sehr lieb, sie hatten in dem thörichten, zuweilen vergeßlichen und wandelbaren Kinderherzen ein etwas verstecktes, aber sicheres Plätzchen inne. Und gerade jetzt in diesem Augenblick setzte sich trotz des zerstreuten, geistesabwesenden Ausdrucks, womit er dasaß, trotz der bei ihm immer wirksamen Anziehungskraft der Außenwelt ein neues Bild der anvertrauten Gestalten in ihm fest, ein Bild, das deutlicher und schärfer war als alle früheren, und das bei ihm in Zukunft am meisten Schmerz und Liebe wachrufen sollte. Auch die Züge der treuen alten Seele, die ihn "aufziehen" und erziehen geholfen hatte, prägten sich heute seinem Bewußtsein ein, ebenso die Einzelheiten dieses Häuschens, worin er geboren und das in Aussehen, Einrichtung, ja Geruch so ganz und gar provençalisch war. Gewisse Stunden, die anscheinend nichts Besonderes bringen, noch an sich haben, die nicht mehr und nicht weniger bedeuten als andre, die unbemerkt vorübergehen, werden zu unvergeßlichen Merkzeichen, die späterhin mitten aus den fliehenden Wogen der Zeit emporragen. Eine solche war diese Essensstunde am Osterfest für dieses kleine Wesen, das noch so ganz Kind war und sicher noch nie so eindringlich, so unbewußt gründlich nachgedacht hatte. Dieses sich tief einprägende Bild zeigte ihm später alles wieder, von dem zärtlichen, sorgenden Blicke der Mutter, dem milden, ergebungsvollen Zug im Gesicht des alten Mannes, bis zu den Einzelheiten, die nach Menschenart seine Stimmung beeinflußt hatten: seinem neuen, männlichen Anzug, der Freiheit und unbekannte Weiten verhieß, der Farbe einer neuen Tapete im Speisezimmer und andrer bescheidener Verschönerungen der Wohnung, die ihn mit Stolz erfüllten, dem Vorgefühl einer schulfreien Woche. Ferner gesellte sich noch der Eindruck dazu, daß der Sommer kommen würde, der Reiz der ersten Mahlzeit ohne Lampe im durchsichtigen, frühlingsfrohen Dämmerschein, und noch vieles andre, was unsagbar und unbewußt diesen glücklichen Abend umschwebte. Die Bilder, die sich scharf wie mit der Radiernadel in sein Gedächtnis einschrieben, hätten in ihrer unzertrennlichen Verschmelzung als Momentaufnahme eines schönen Osterabends bezeichnet werden können.

Und dabei wurde der Mutter, die ihn sorglich beobachtete, immer bänger, denn sie hielt ihn für zerstreut, mit seinen Gedanken abwesend! Schon seit lange hatte sie einen festen Plan, der beinah zur fixen Idee wurde und der zum Ziel hatte, diesen einzigen Sohn an die Provence zu fesseln, um in seiner Nähe altern zu können. Ein Onkel Berny, der einzige von den reichen Verwandten, der dem hübschen kleinen Neffen Beachtung schenkte, war "Parfümist", das heißt, er hatte im Gebirg eine Werkstatt, worin die ganze Rosen- und Geranienernte der Umgegend ausgesogen wurde, und er hatte davon gesprochen, Jeans Zukunft in die Hand zu nehmen, ihn vielleicht zu seinem Nachfolger zu machen, falls er sich willig und tüchtig zeigen würde.

Aber an diesem Osterabend wurde ihr das Herz schwer und schwerer. Hielt Jean doch sein Köpfchen unverwandt aufs offene Fenster gerichtet, durch das man den Hafen, die Segel und Wimpel und das weite blaue Meer blinken sah.

Drittes Kapitel

An einem schwülen Juniabend saß ein prächtiger Knabe, fast schon ein Jüngling, dem seine Schüleruniform zu kurz und zu eng geworden war, mit offenen Augen träumend in einer Schulstube, die von der Abendsonne durchflutet wurde.

Der Unterricht war zu Ende, die Stadtschüler nach Hause, die andern Pensionäre in einen entlegenen Hof gegangen, um Spiele zu machen. Er aber, Jean, der zu der kleinen Zahl der Hausschüler der provençalischen Lateinschule des Marienordens gehörte, kurzweg "Maristenschule" genannt, genoß heute abend die Vergünstigung, sein eigner Herr zu sein, denn sein Name hatte an diesem Tag im Amtsblatt gestanden: "Jean Berny, zur Aufnahmeprüfung der Marineschule zugelassen." Er hatte sich in dem jetzt einsamen Schulzimmer abgesondert, um ungestört die große Thatsache zu überdenken, die eine abenteuerreiche Zukunft vor ihm aufschloß.

Daß die Mutter all ihren lang und innig gehegten Plänen und Wünschen entsagt hatte, ist selbstverständlich. Weil er's wollte, hatte sie eingewilligt, ihn den gefürchtetsten Beruf ergreifen zu lassen, und sich die äußersten Entbehrungen auferlegt, nur daß ihm der Eintritt gelinge!

Zugelassen zur Marineschule! Und doch hatte er gehörig gefaulenzt und geschwänzt all die Schuljahre hindurch, seine Zeit mit Kindereien aller Art vergeudet, während die Mama und der alte Großvater, ja sogar die treue Miette gespart und geknausert, sich unsäglich eingeschränkt hatten, um das Schulgeld und die Nachhilfestunden zu erschwingen.

Jetzt natürlich, wo er zugelassen war, nahm er sich vor, die zwei Monate Gnadenfrist, die ihm vor der entscheidenden Aufnahmeprüfung blieben, tüchtig zu "büffeln", aber für heute abend und auch noch für morgen hatte er sich Ferien gegeben, um Luftschlösser zu bauen und seinen Gedanken nachzuhängen. Zuerst hatte er sich den Spaß gemacht, auf all seine Hefte unter den Namen das Datum dieses aufregenden Freudentags zu setzen, und jetzt sah er im Geist die fernen, märchenhaften Länder, die das Meer umspült ...

Um ihn her trat allmählich die abendliche Stille des Schulhauses ein; die leeren Säle, die verlassenen Gänge füllten sich mit dem klangvollen Schweigen der Sommernacht; das Gold der sinkenden Sonne, die durch weitgeöffnete Fenster breit hereinfiel, zerstreute sich rings, die kahlen, gelbgetünchten Wände in Glut tauchend, und durch die Luft schossen Schwärme von schwarzen Schwalben, die, von Licht und Bewegung trunken, hin und her schwirrten und im Vorüberfliegen ihre Schreie wie einen Lauf durch das stille Kloster tönen ließen.

Das war wieder eine der Stunden, wo persönliche Stimmung und die ganze Umgebung sich tief einprägten in Jeans Gemüt und Gedächtnis, gerade wie an jenem Ostersonntag. Seine Seele legte ein Kapital von Erinnerungen an, von dem sie später zehren konnte, nur daß dieses Mal noch mehr fremdartige Elemente und geheimnisvolle Schwermut, noch mehr Unbewußtes dazukam ...

Bis zu der Stunde, wo die ersten Fledermäuse sachte unter dem alten, ???sonndurchbähten Dach vorschwirrten, blieb er ruhig und ungestört in seiner Einsamkeit, von der Marine träumend, die ihm plötzlich so nahegerückt schien, als ob er nur die Hand danach hätte ausstrecken dürfen, und durch die leuchtende Abendluft gaukelten Bilder von sonnverbrannten und von nebeligen Ländern, von der Pracht des Orients, von unerforschten Gestaden, darunter auch noch ganz verschwommen von der Liebe.

Viertes Kapitel

Zwei Monate darauf, um die Mitte der Ferienzeit in Antibes.

Man erwartete die Veröffentlichung der Aufnahmen in die Marineschule. Eine qualvolle Spannung lastete auf dem von provençalischer Sonne durchglühten Vorstadthäuschen, wohin der alte Großvater jeden Tag seine Schritte lenkte, sobald das Amtsblatt erschienen war, wenn auch bisher nur, um zu melden, daß nichts darin stehe. Durch einen von den reichen Verwandten, der sich herabgelassen hatte, seine Verwendung anzubieten, hatte man Empfehlungen an die Prüfungskommission erlangt, und die Mutter war voll Hoffnung. Es war ja fast eine Entscheidung über Leben und Tod, die sie erwarteten, denn Jean stand nahe vor dem siebzehnten Geburtstag, und war er durchgefallen, so konnte er das Examen kein zweites Mal machen, und die Marineschule blieb unerbittlich verschlossen für ihn.

Er selbst befand sich in merkwürdiger Stimmung, und seine Sorglosigkeit war geradezu rätselhaft. Irgend eine neue Idee, der Mutter noch unbekannt, aber höchst beunruhigend, mußte in dem hübschen Kopf keimen, der so leichtsinnig und doch so eigenwillig und unlenksam sein konnte, denn sein unreifes, kindliches Wesen reichte nicht hin, diesen Grad von Gleichmut zu erklären. Fast mußte man denken, die heißersehnte Marine sei ihm im voraus entleidet! Aber Mutter und Großvater hatten nicht den Mut, ihn zu fragen, was er denke – es bangte ihnen vor der Antwort!

Uebrigens war er auch wenig zu Hause. Als erwachsener junger Mann mit keimendem Schnurrbart, der die Schüleruniform gegen einen englischen Sportanzug vertauscht hatte, trieb er sich in der Stadt herum, kam nachts spät nach Hause und machte verliebte Streiche.

Und doch blickten die großen, graublauen Augen immer noch lauter und unverdorben unter den dunkeln Wimpern hervor; es waren immer noch die Augen des kleinen Engels vom Fronleichnamsfest, die sein schon männliches und stolzes Gesicht erhellten. Diese Augen mit ihrer Kindlichkeit und Unbefangenheit, ihrer Sanftmut und wirklichen Güte wußten jeden Vorwurf zu entwaffnen, jede Strafpredigt abzuwehren.

Im Grunde war er auch wirklich so gut und sanft, als diese Augen behaupteten, obwohl er gar kein Musterknabe war. Er hing an Mutter und Großvater, denen er fast unausgesetzt Kummer bereitete, mit inniger, anbetender Zärtlichkeit. Wenn Jean im Verkehr mit ihnen oft barsch und harr war, so geschah's, weil sie ihm immer noch Gesetz und Zwang darstellten, wogegen seine unbändige Natur sich beharrlich auflehnte. Das beste Teil seines Herzens lernten nur die Geringen und Verschmähten kennen, hie und da die alte Miette, kleine Betteljungen oder hinfällige Greise und verunglückte Tiere – der Hausstand war schon mit drei oder vier häßlichen Katzen belastet, die er vom Ersäufen gerettet, sorglich getrocknet und in seinen Armen heimgetragen hatte.

Eines Tages kam der alte Großvater würdig und feierlich wie immer in seinem zugeknöpften schwarzen Rock – ein neuer war es in diesem Jahre nicht, darauf hatte er verzichtet, um eine weitere Nachhilfstunde für Jean zu erschwingen – später als sonst und mit einer Unsicherheit im Schritt, die an ihm ganz fremd war.

Miette, die ihn vom Küchenfenster aus beobachtete und ein Zeitungsblatt in seiner Hand sah, schloß rasch die Läden, nur um die Gewißheit noch einen Augenblick hinauszuschieben, und setzte sich mit wild klopfendem Herzen auf ihren Küchenstuhl.

Er trat ins Haus, ging die Treppe hinauf und rief, sobald er in das kleine Empfangszimmer getreten war, mit merkwürdig veränderter Stimme: "Henriette! Komm, mein Kind!"

Rasch, heftig atmend, eilte sie herbei.

"Was ist's? Durchgefallen, nicht wahr?"

"Nun, nun ... ja, siehst du ... es wird wohl so sein ... wir müssen es annehmen, denn ... denn im Amtsblatt steht sein Name nicht ..."

"O Herr, mein Gott!" war alles, was die Mutter mit gebrochener Stimme herausbrachte, indem sie die Hände rang.

Und schweigend saßen sie bei einander, die Witwe und der Greis, hilflos und vernichtet vom Zusammenbruch all ihrer irdischen Hoffnungen. Zu sagen hatten sie sich nichts: in den bangen Tagen der Erwartung hatten sie m sorgenvollen Gesprächen den Gegenstand erschöpft, ihn von allen Seiten beleuchtet, alle Folgen dieses unwiderruflichen Schlags erwogen und vorausgesehen. Was würde er thun, wozu würde er sich herbeilassen, ihr Jean, den sie nicht einmal zu fragen gewagt hatten, wie ihm zu Mut sei?

Um ihn ins Gymnasium schicken zu können und ihn in der Schule so gut zu halten als die andern, um dem kleinen Haus und seinen Bewohnern einen gewissen Anstand zu wahren, war es nötig gewesen, Geld aufzunehmen, das Gütchen, die ererbten Orangengärten und Rosenfelder, mit Hypotheken zu belasten. Und setzt, da der Zweck, dem sie alles geopfert hatten, vereitelt war, sahen sie keine Möglichkeit mehr vor sich, dem Sohn eine andre Laufbahn, andre Studien zu eröffnen, sie sahen überhaupt nichts mehr vor sich, alles schien zerstört zu sein, das Ende da. Die Ahnung unüberwindlichen Jammers stand vor ihren Seelen, und ohne daß sie zu sagen gewußt hätten, warum, hielten sie ihren Jean für verloren. Während sie lange schweigend bei einander saßen, dünkte es ihnen, sogar, als ob ein Hauch des Todes, des Verfalls und Zerbröckelns durch ihr geliebtes, so mühselig erhaltenes Haus ginge ...

Und nun kam er, dieser Jean, mit elastischem, fröhlichem Schritt, eine Rose im Knopfloch, die ihm ein hübsches, verliebtes Mädchen geschenkt hatte.

"O Herr Jean," sagte die alte Miette an der Hausthür, "kommen Sie nur schnell herein – gehen Sie gleich hinauf zu ihnen, die Aermsten warten auf Sie ..."

"Wieso? Was ist denn los?" fragte er leichthin, den überlegenen Mann hervorkehrend.

Miettes verstörtes Gesicht hatte ihm alles gesagt.

Er trat in den bescheidenen "Salon", wo man ihn richtig erwartete. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, hatten Mutter und Großvater ihn kommen hören. Mit der drollig verlegenen Miene eines Schülers, der sich einer verzeihlichen Unart bewußt ist, trat er vor sie, den Kopf halb abgewendet, ein halbes Lächeln kindischen Trotzes im Winkel seiner Samtaugen.

Ihr tiefes Elend sah er nicht. Was ihn betraf, so war er weder überrascht noch geknickt, denn er hatte sich längst keine Hoffnungen mehr gemacht, da er besser als andre wußte, daß er bis zur letzten Stunde gebummelt und sein mündliches Examen herzlich schlecht bestanden hatte. Sie waren ihrer fünf oder sechs Kindsköpfe gewesen, die sich in der Schule, in Voraussicht des höchstwahrscheinlichen Durchfallens den Schwur geleistet hatten, Matrosen zu werden. Der bloße Hals mit dem blauen Kragen schreckte sie nicht ab, im Gegenteil, er hatte für sie etwas besonders Anziehendes, wie für so viele, die nur der Uniform wegen zur Marine wollen, und während der Ferien hatte Jean vollauf Muße gehabt, seinen Zukunftsplan, der sogar einen Anstrich von Vernünftigkeit hatte, weiter auszuspinnen: erst als Matrose dienen, dann im Laufe der Zeit Kapitän eines Handelsschiffs werden! Kadett oder Matrose, Seemann war er ja doch, und dazu mit weniger Zwang und mehr Aussicht auf Abenteuer!

"So, basta!" machte er, als ihm der Großvater mit zitternder Hand die Zeitung hinhielt. "Was schere ich mich um die Marineschulmeisterei, Seemann werde ich ja so wie so!"

Seemann so wie so! Also Matrose – gerade das, wovor die Mutter den größten Abscheu hatte. Und er sagte es mit der Ruhe eigensinniger Entschlossenheit, woran nicht zu rütteln ist – das war das Geheimnis seiner unbekümmerten Gelassenheit, die ihr so viel zu denken gegeben hatte! In ihre schweigende Erschöpfung trug dies laute Kinderwort die Bestätigung all ihrer bangen Ahnungen, die Erfüllung der Vorgefühle von Verfall, Unheil und Tod.

Jetzt that er, was er zuerst nicht gewagt hatte, er sah Mutter und Großvater an. Er sah sie an, immer noch mit entschlossenem, aber doch zärtlichem Ausdruck, indes sein Blick mild und milder und mehr und mehr wehmütig wurde. Mit einemmal ward es klar in seinem kindischen, zerstreuten Sinn. Zum erstenmal dämmerte ihm auf, welche Opfer man ihm heimlich gebracht, wie viel Not und Entbehrung man vor ihm verhehlt und schweigend ertragen hatte. Ein neues Gefühl gesellte sich zu der Liebe für die Seinigen und erhöhte ihre Innigkeit, ein unendliches Mitleid, eine tiefe Rührung. Und als er nun noch plötzlich wahrnahm, wie abgetragen und fadenscheinig der tadellos saubere Rock des alten Großvaters war, da fühlte er sich besiegt und überwunden. Wenn die Mutter ihn in diesem Augenblick um Erbarmen angefleht hätte, er würde seinen Jugendträumen entsagt, würde unter Thränen und Küssen in alles gewilligt haben, was sie von ihm wollten.

Allein sie verstand ihn nicht in dieser Stunde. In ihrem mütterlichen Stolz verletzt, um all ihre Hoffnungen betrogen, zweifelte sie an ihm und seinem Herzen und gebrauchte gerade in dem entscheidenden Augenblick, wo dieses von Liebe überschwoll, harte Worte. Sofort wurde auch er hart. Die Augen des Fronleichnamengels, die vorhin in all ihrer süßen Lauterkeit zum Vorschein gekommen waren, wurden starr und stechend, und ohne ein Wort der Entgegnung verließ er sie, von nun an unerschütterlich entschlossen, seinen Weg zu gehen.

Unten blieb er im Vorübergehen bei der alten Magd stehen.

"Mach' dir nur keinen Kummer um mich, Alte!" sagte er, ihre Verstörung bemerkend. "Die Geschichte ist ja kein Aufhebens wert. Man kann auch ohne den Firlefanz Seemann werden."