Ein Seemann von Welt - P. Howard - E-Book

Ein Seemann von Welt E-Book

P. Howard

0,0

Beschreibung

Der satirische Hochseekrimi von P. Howard (i. e. Jenö Rejtö, 1905-1943) ist eine groteske Geschichte voller Verwicklungen und überraschender Wendungen. Die "Honolulu Star" befindet sich auf Fahrt nach Singapur. An Bord verdingt sich der Gangster Jimmy Reeperbahn als Kellner und treibt seinen Schabernack mit den Passagieren: Mit Morphium versetzt er die Leute an Bord in den Tiefschlaf. Da aber geschieht ein Mord: Mr. Gould, der Vormund des vornehmen Mr. Irving, wird mit einer Hutnadel erdolcht. Doch wer ist der Mörder?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 309

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Nachwort

P. Howard

Ein Seemann von Welt

Roman

Aus dem Ungarischen von Vilmos Csernohorszky jr.

Mit einem Nachwort von György Dalos

Elfenbein

Die Originalausgabe erschien 1940

unter dem Titel »Piszkos Fred, a kapitány«

bei Nova, Budapest.

»P. Howard« ist ein Pseudonym von Jenő Rejtő.

Die deutsche Übersetzung wurde unterstützt durch:

Fordítástámogatási Alap és Információs Iroda Magyar Könyv Alapítvány

© 2004 Elfenbein Verlag, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-941184-89-3 (E-Book)

ISBN 978-3-932245-64-0 (Druckausgabe)

Erstes Kapitel

1.

»Haben die Herren mein Messer gesehen?«

»Wo haben Sie’s zuletzt gehabt?«

»In irgendeinem Matrosen.«

»Was war das für ein Messer?«

»Stahl. Schmale Klinge, leicht gebogen. Haben Sie es nicht gesehen?«

»Nur mal langsam… einen Augenblick, bitte… wie war der Griff?«

»Muschel.«

»Aus wie vielen Teilen?«

»Aus einem Stück.«

»Dann gibt’s gar kein Problem. Das Messer ist da!«

»Wo?«

»In meinem Rücken.«

»Danke…«

»Bitte… Der Wirt hat schon erzählt, was für ein schönes Messer in meinem Rücken steckt. Eine Muschel von zwanzig Zentimetern ist eine Seltenheit.«

»Drehen Sie sich bitte mal um, damit ich es herausnehmen kann…«

»Durchhalten! Der Wirt sagte, solange kein Arzt kommt, soll ich das Messer drin lassen, weil ich sonst verblute. Der Wirt versteht was davon: Man hat hier auch schon Ärzte umgebracht. Es ist ein altes Restaurant.«

»Aber ich habe es eilig, bitte! Und wer weiß, wann der Arzt kommt? Ohne Messer kann ich doch nachts nicht nach ­Hau­se.«

»Der Arzt wohnt hier in der Nähe, und der Wirt holt ihn auf einem Dreirad. Wenn Sie schon an Stechereien teilnehmen, dann tragen Sie auch die Konsequenzen!«

»Oho! Nur weil man ein Messer in Sie hineinsticht, haben Sie noch kein Recht, es zu behalten. Das ist Selbstjustiz! Zum Glück gibt es noch Gerechtigkeit auf der Welt!«

»Ich berufe mich ja nicht auf die Gerechtigkeit, sondern auf die Medizin. Der Wirt sagt, das Messer muss drin bleiben. Ärztliche Vorschrift!«

»Der Arzt soll über seine eigenen Sachen verfügen, das Messer ist mein Werkzeug!«

»Hm… schwierige Sache…«

»Wissen Sie was? Ich habe auch ein Herz. Ich will Ihnen helfen. Ich ziehe mein Messer aus Ihnen raus und stecke dafür ein anderes hinein. Das tut’s auch, bis der Sanitäter kommt.«

»Also gut. Aber das Messer darf nicht kleiner sein, damit es die Wunde gut verschließt, denn die Gesundheit ist wichtiger als alles andere, und Rezept ist Rezept, da kann man nichts machen…«

»Sie können beruhigt sein. Ich nehme ein großes Küchenmesser.«

»Das geht in Ordnung.«

»Drehen Sie sich um… hopp… so…«

»Jetzt drücken Sie das andere hinein!… Schnell!«

»Dieses hier im Regal wird gerade recht sein, obwohl es nur einen Holzgriff hat.«

»Ist es drin?«

»Einen Dreck!… Ihre Wunde blutet ja kaum. Hier, neben den Knochen ist das Messer eingedrungen, mitten in die Knorpel… So ein Mist, jetzt ist die Spitze stumpf!«

»Hätten Sie’s ins Fleisch gedrückt, Sie Anfänger!«

»Warten Sie! Ich lege ein nasses Tuch darauf… Unter Ihrem Sweater wird es nicht verrutschen…«

»Glauben Sie doch endlich, dass ein Messer reingehört! Der Wirt weiß es. Hier werden täglich Leute umgelegt. Stecken Sie das Messer hinein! Was ist das schon für Sie?«

»Ich verstehe nichts davon. Für eine Messerstecherei übernehme ich die Verantwortung, aber nicht für eine Operation! Bitten Sie doch einen der Matrosen da um diesen Gefallen! Sie werden schon irgendwann zu sich kommen.«

»Gut, dass Sie’s erwähnen, mein Herr! Sie haben zwölf meiner Seeleute k.o. geschlagen.«

»Einen von ihnen hat das Regal mit den Likören unter sich begraben. Dafür kann ich nichts.«

»Das war der erste Heizer!«

»Was weiß ein Likörregal davon?«

»Und dort liegt der Schiffskellner. Wo findet man jetzt noch einen Kellner? Die ›Honolulu Star‹ läuft morgen früh aus, und es gibt keinen Heizer und keinen Kellner, weil Sie alle k.o. geschlagen haben!«

»Das Recht war auf meiner Seite. Man hat einen Krug nach mir geschmissen, und ein solches Verhalten kränkt mich.«

»Keiner von denen da hat mit dem Krug nach Ihnen geschmissen. Die sind unschuldig.«

»Wer war’s dann?«

»Ich.«

»Ihr Glück, dass Sie so schwer verletzt sind, sonst würde ich Ihnen den Schädel einschlagen… Guten Tag.«

»Warten Sie!«

»Keine Zeit, ich habe es eilig!«

»Schauen Sie nach, ob nicht doch ein Messer in die Wunde gehört. Einen solchen Stich darf man nicht vernachlässigen. Möglicherweise blutet’s nach innen.«

»Von innen hat Sie niemand stechen können. Warten Sie auf den Arzt, der hilft Ihnen, wenn er kann. Wenn nicht, dann ruhen Sie in Frieden.«

»Ich empfehle mich…«

»Ich bedauere, dass Sie eine so schwache Besatzung angeheuert haben…«

»Hallo! Junger Mann! Ich begleite Sie. Ich hätte eine Idee, wie Sie zu Geld kommen.«

»In Ordnung.«

»Warten Sie! He, Schankbursche! Wenn der Wirt kommt, sag ihm, dass ich mir die Beine vertrete! Er soll sich keine Sorgen machen! Wenn es Probleme gibt, stecke ich ein Mes­ser in die Wunde! Ich passe auf… Na, kommen Sie!«

2.

»Ich muss wegen meiner Verletzung vorsichtig sein. In welche Richtung wollen Sie?«

»Ich weiß nicht. Ich habe weder Geld noch Besorgungen.«

»Bleiben wir in der Nähe, wegen des Arztes. Zu dumm, jetzt hab ich den Wirt nicht gefragt, ob ich in meinem schlim­men Zustand rauchen darf. Soll ich’s riskieren?«

»Ganz ruhig. Was kann schon passieren?«

»Nichts?«

»Nichts auf der Welt. Schlimmstenfalls sterben Sie. Und das kann so und so vorkommen.«

»Da haben Sie völlig Recht. Also hören Sie zu! Ich bin Quar­tiermeister auf der ›Honolulu Star‹. Wie heißen Sie?«

»Jimmy Reeperbahn…«

»Das ist aber ein blöder Name. Wieso heißen Sie so?«

»Weil ich angeblich immer lächle und dabei den Mund bis über die Ohren ziehe, wie einer, der ständig ›Reeperbahn‹ sagt.«

»Na, sie sind ja auch ein richtiges Milchgesicht. Bei einem so großen, knochigen Mann ist das eine Seltenheit. Wie alt sind Sie?«

»Vierundzwanzig…«

»Knirps. Verstehen Sie was von Schiffen?«

»Blöde Frage… Mit Kapitän Byrd war ich zweimal auf Expedition, als ich noch ein junger Bursche war.«

»Was haben Sie für eine Schrift?«

»Eine flüssige. Nur kenne ich nicht alle Großbuchstaben. Ich habe von einem Quartiermeister schreiben gelernt!«

»Blödmann!«

»Das stimmt! Aber intelligente Quartiermeister sind Mangelware.«

»Was haben Sie für Dokumente?«

»Das verbitte ich mir!«

»Das heißt, Sie haben gar keine Dokumente?«

»Von der Polizei schon!«

»Das ist gut.«

»Dann gibt es ja kein Problem! In Valparaiso habe ich vom Kapitän ein Schreiben bekommen, dass ich mich täglich beim Herrn Inspektor melden muss und nach zwei Uhr nicht mehr auf die Straße darf.«

»Das ist nicht gut!«

»Das sagen Sie mir? Deshalb bin ich von Valparaiso weg.«

»Steht das im Seemannsbuch?«

»Das muss ich zurückweisen.«

»Hat man Sie gestrichen?«

»Und wenn? Was geht es mich an? Mich kennt jeder Schiffer der Welt ohne Buch!«

»Das befürchte ich auch. Wollen Sie arbeiten?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Ich habe meine Überzeugung verloren.«

»Und woher kommt das?«

»Voriges Jahr habe ich in Neapel einen karierten Überzieher gestohlen, und seitdem habe ich das Gefühl, dass ich der geborene Herr bin. Ich habe beschlossen, nicht mehr zu arbeiten.«

»Haben Sie vorher gearbeitet?«

»Nein. Aber mir fehlte die Überzeugung.«

»Hören Sie… ich brauche einen Heizer und einen Kellner, sonst schmeißt man mich raus, und ich steh ohne Arbeit da.«

»Macht nichts. Das können wir zusammen machen! Ich ver­stehe was davon.«

»Halten Sie den Mund… Hier in Suez finde ich bis zum Morgen weder einen Heizer noch einen Kellner. Die ›Honolulu Star‹ läuft aus. Wir sind mitten in der Saison. Also hören Sie zu: Hier sind die Papiere des Heizers und des Kellners. Sie können sie beide ersetzen. Einen Bären wie Sie hab ich selten gesehen.«

»Mit Schmeicheln erreichen Sie nichts!«

»Aber vielleicht mit was anderem. Eine doppelte Heuer von hier bis Tahiti ist ein kleines Vermögen. Sie können es ganz allein verdienen… Die eine Hälfte des Tages würden Sie heizen, die andere bedienen. Keiner würde wissen, dass der Heizer und der Kellner ein und dieselbe Person sind.«

»Und wann schlafe ich?«

»Nun, wenn wir in Tahiti ankommen. Wenn’s hochkommt, sind’s nur fünf Wochen, und Sie würden das doppelte Gehalt bekommen. Kommen Sie mit?… Schauen Sie, man lichtet schon den Anker.«

»In Ordnung! Ich nehme an!«

»Nachts sind Sie Wilson Hutchins, amerikanischer Heizer, tagsüber José Pombio, spanischer Kellner! Merken Sie sich das! Können Sie Spanisch?«

»Die Namen einiger Vorspeisen, aber das reicht, um mich durchzuschlagen.«

»Wo haben Sie die Vorspeisensprache gelernt?«

»Ich war lange in Barcelona tätig, als Transparent im Schaufenster eines Restaurants.«

»Was soll das sein?«

»Ich saß im Schaufenster, zwischen Würsten und Fladen, nickte hin und wieder mit dem Kopf, zeigte auf meinen Bauch, darauf folgte ein Grinsen, und das brachte einige Glühbirnen auf meinem Magen zum Leuchten.«

»Gute Anstellung.«

»Man braucht nur Verstand und ein vornehmes Auftreten. Und lächeln kann ich fantastisch!«

»Also?«

»Wir treten an – alle drei. José Pombio, Wilson Hutchins und Jimmy Reeperbahn!«

Und schon folgte er seinem Gefährten, der so flink zu den Docks eilte, wie man es bei einem Sterbenden nicht ­erwartet.

3.

Jimmy Reeperbahn war ein Mann von Welt vom Scheitel bis zur Sohle. Er gab viel auf sein Äußeres und sein Benehmen, er liebte Musik, besuchte ständig die Filmtheater und hatte saure Bonbons bei sich, wie sich das für Herren der besseren Gesellschaft gehört.

Sein besonderes Kennzeichen war, dass er sich gerne wusch, was niemand verstand. Zu seiner hageren, breitschultrigen Figur passte nicht das glatte Jungengesicht, das jedoch knochig und breit war, und in dessen Mitte ein beachtlicher Mund und riesige Zähne prangten. Nicht selten hat sein ständiges Grinsen Leute getäuscht, die ihre Mitmenschen leicht­fertig nach ihrem Äußeren beurteilten und den grinsenden Jimmy oberflächlich behandelten oder verspotteten.

Solche Menschen dachten, nachdem sie genesen waren, oft über die trügerischen Eindrücke des äußeren Scheins nach und beschlossen, in Zukunft nie mehr Folgerungen über jemanden anzustellen, bevor sie sich nicht gründlich informiert hatten.

Seine besondere Bekanntschaft mit dem Quartiermeister hat­te begonnen, als Jimmy Reeperbahn im »Besorger«, einem renommierten Restaurant von Port Said, sein Abendessen verzehrte und ein Groschenheftchen las. Entsprechend ­seiner Gewohnheit tat er das mit einem verhältnismäßig vornehmen Äußeren, was sich aber nicht auf die fehlenden Knöp­fe seines gelben Mantels, auf sein zerrissenes Wollhemd und auf seine Strümpfe bezieht. Auf die letzteren schon deshalb nicht, weil er einen von ihnen vor vier Jahren in Brüssel gelassen hatte. Dafür schaute aus seiner Brusttasche die Ecke eines seidenen Taschentuchs hervor, und um seinen Hals hing an einer tadellosen, feinmechanischen Fahrradtrans­mission eine Brille mit Griff, ein so genanntes Lorgnon, das nur sehr vornehme und betagte Damen der guten Gesellschaft tragen. Mit einer Hand aß er, mit der anderen hielt er das Lorgnon und das Buch, das er gegen den Krug gelehnt hatte: eine beachtenswerte Leistung, wenn man in Be­tracht zieht, dass Jimmy Reeperbahn ausgezeichnete Augen hatte, das Lorgnon dagegen sehr stark vergrößerte. Aber manch­mal ist man gezwungen, um des vornehmen Scheins wil­len das eine oder andere auf sich zu nehmen.

Inzwischen prügelten sich im »Besorger« schon seit gut zehn Minuten an die zwanzig Matrosen. Aber Jimmy wurde erst aufmerksam, als ein Krug direkt neben seinem Kopf an der Wand zerbrach. Da stand er auf und würdigte die Gesellschaft seiner kühlen Aufmerksamkeit, indem er durch seine stark vergrößernden Gläser umherblickte.

»Was meinen Kopf betrifft, bin ich ziemlich heikel, meine Herrn«, sagte er ernst und pedantisch, »ich bitte Sie daher, derartige Sticheleien möglichst zu unterlassen.«

Er hatte seine Ermahnungen noch gar nicht beendet, als der zweite Krug flog und diesmal seine Schulter streifte.

»Die Schlägerei ist hiermit zu Ende!«, erklärte er ­entschlossen.

Den Rest kennen wir… Jimmy Reeperbahn begann, die Streitenden hinauszuwerfen. Als er mit dem Großputz fertig war, lagen ungefähr zwanzig Männer auf dem Boden verstreut. Allein die Mannschaft des Luxusliners »Honolulu Star«, unterwegs nach Tahiti, ließ sich an jenem Tag mit zwölf Mann im Krankenhaus von Port Said vertreten. (Darunter José Pombio, spanischer Kellner, und Wilson Hut­chins, amerikanischer Heizer.)

Danach bezahlte er sein Abendessen, hob den ohnmächtigen Steuermann von seinem Heftchen hoch und ging. Nur wegen seines Messers war er zurückgekommen, und da traf er den Quartiermeister.

Und schon am Abend nahm er auf einem Schiff die Arbeit von zwei Männern auf, dafür aber bei doppeltem Gehalt. Er war glücklich.

Er arbeitete wieder!

So ergeht es einem, der sich prügelt.

4.

Die »Honolulu Star« war aus dem Hafen von New York ausgelaufen und fuhr über Gibraltar und den Suezkanal nach San Francisco, wobei sie Indien und die pazifische Inselwelt streifte. Dieser Luxusliner hatte die längste Route der Welt und verfügte über eine Einrichtung, die den Ansprüchen launischer Millionäre, weltberühmter Filmstars und verwöhnter Falschspieler entsprach.

Im Salon langweilten sich vornehme, feine Leute den ­ganzen Tag in kleinen Gruppen. Die Abendessen verdankten ihren Glanz dem Aufzug wunderbarer Abendroben und Brillan­ten. Zeremonielle Heiterkeit, höfliches Anfreunden, Bemerkungen über das Wetter, nautische Fachfragen, Maschinen, die Schifffahrt sowie alles, wovon man keine Ahnung hatte: Daraus bestand das gesellschaftliche Leben.

In der Bar gab es leise, diskrete Jazzmusik, Champagner, holländischen Gin und englischen Whisky. Von den indischen Plantagenbesitzern amüsierte sich zuweilen der eine oder andere Millionär roheren Charakters, das heißt, er brüllte Liedtexte und dirigierte mit einem Sektkübel auf dem Kopf die Kapelle.

Die anderen erlaubten sich ein negatives Urteil. Sie waren ein bisschen neidisch.

Dann erreichten sie das Rote Meer, wo die poetische Phase groß angelegter Seekrankheiten begann.

José, der Kellner, war immer entgegenkommend, stets zu einem kleinen Spaß bereit und liebte es, seine ausgefallene Geschicklichkeit vorzuführen. Dabei hatte er leider nicht immer eine glückliche Hand. Der böse Geist der Jongleure verfolgte ihn. Es kam vor, dass er eine der Damen anlächelte und ohne hinzublicken graziös den Tee eingoss und seltsamerweise nicht merkte, wie der heiße Strahl die Glatze eines älteren Herrn traf. Das gab einen großen Skandal, und einige Gäste verlangten vom Kapitän die sofortige Entlassung des spanischen Kellners. Aber die Familienväter setzten sich mit dem ganzen Gewicht ihrer Respektabilität für ihn ein, nachdem sich die Kinder sehr darüber amüsierten, dass Jimmy Reeperbahn die Passagiere begoss. Und was tun Eltern nicht alles für ihre lieben Kleinen?

Unten im Kesselraum hingegen schlief Wilson Hutchins (der amerikanische Heizer) manchmal im Stehen, wie die Pferde, und als er aufschreckte, zog er warme Fleischstücke aus seiner Innentasche hervor. Als sie die Bab-el-Mandeb-­Meerenge erreicht hatten, konnte er bereits im Schlafen essen.

Der Chefmaschinist fürchtete sich vor ihm, da er glaubte, er sei besessen. Ein arabischer Heizer wollte diesem Zustand ein Ende machen und versetzte Hutchins einen Schaufelstich, aber das wird er nicht mehr tun, da seine Nase seitdem wie eine komisch gewachsene Kartoffel aussieht.

So standen die Dinge, als sie bei Aden waren. Nach Aden war oben im Restaurant die Schläfrigkeit des Kellners José aufgefallen. Der Chefmaschinist, der beim Treppenaufgang des Kesselraumes stand, hörte, wie der erste Offizier dem Kapitän meldete, dass Kellner José ständig schläfrig war.

Der Maschinist bemerkte daraufhin bescheiden, dass auch Wilson Hutchins, einer der Heizer, ständig schlief, so dass er glaubt, irgendwo auf dem Schiff müsse eine Tsetsefliege sein und diese sporadischen Fälle von Schlafkrankheit verursachen.

Nach Ansicht des Kapitäns war der Maschinist vom Schnapstrinken blöde geworden, eine Annahme, die auch dem Offizier einleuchtete.

Mr. Irving, der sonderbarste Passagier des Schiffes, hatte José, den vom Schicksal verfolgten Jongleur und schlafkranken Kellner, aufrichtig ins Herz geschlossen. Mr. Irving konnte nicht älter sein als zwanzig, sah aber noch jünger aus. Und im Smoking hätte er fast ein Mädchen sein können. Seine schönen, runden Augenbrauen, seine staunenden, großen, schwarzen Augen und sein regelmäßiges, feines Gesicht wa­ren auf rührende Art jungenhaft. Er sprach kaum, und auch dann nur leise und höflich, und er verkehrte mit niemandem, außer anlässlich des ersten gemeinsamen Essens, als sich alle vorstellten.

Er zeigte sich nur in Gesellschaft von Mr. Gould. Diesen Gould hassten die Passagiere von Herzen. Er war ein dicker, riesiger, grauhaariger Mann, und alle hatten das Gefühl, dass er sich gegenüber dem zauberhaften jungen Mann wie ein Tyrann aufführte. Dabei war dieser Junge so still und so traurig vornehm, wie ein Priesterstudent oder ein Trauernder.

Vor Penang hatte José ein komisches Erlebnis mit ihm. Aus dem Hafen war ein malaiischer Riese an Bord gekommen. Für einige Cents zerbrach er Handschellen, aß Nägel und ließ seine gewaltigen Muskeln spielen. Später demonstrierte er den Matrosen die Griffe des japanischen Jiu-Jitsu. José rannte mit Erfrischungsgetränken und Torten die Treppen rauf und runter, aber dank einer seiner schlecht ­berechneten, in weitem Bogen graziös ausgeführten Bewegungen plumps­te vom Promenadendeck eine Sahnetorte genau auf den Kopf des Kraftakrobaten.

Röchelnd kratzte sich der Malaie die Schokosahne vom Schädel, fletschte seine riesigen Zähne, erstickte seine Wut mit einem ritterlichen Lächeln und verkündete, er würde José zermalmen, unterließe dieses jedoch aus Rücksicht auf die vornehme Umgebung.

Der spanische Kellner rief in einem ziemlich energischen Ton die Namen verschiedener Vorspeisen dem Eingeborenen zu, der davon verständlicherweise in Wut geriet.

»M’Bisung! Glonga! Bon-Bon!«, röchelte der Malaie.

»Omelette à la Sevilla!«, brüllte José.

»Schihungi! Misonga dsur bschefar!«

»Olla Potrida!«, zitierte der Kellner aus seiner Zeit als Transparent, und rannte hinunter. Da stand er keuchend vor dem Malaien, während die Passagiere, glücklich nach so viel Eintönigkeit, aus allen Richtungen zusammenströmten.

Oben an der Reling stand Mr. Irving in seiner gewohnten Traurigkeit und blickte mit gelangweiltem, gleichgültigem Gesicht nach unten.

Der Malaie ließ seine weißen Zähne blitzen. Er lächelte ­wieder.

»Was dieser schwache Weiße wollen… ich ihn fressen…«

»Nur mal zu«, sagte José.

»Ich nicht schlagen! Hindu Selbstverteidigung… Du hinhauen aus ganzer Kraft von dir. Ich nur abwehren.«

»Das geht nicht gut…«, beteuerte José.

»Du schlagen! Griff sicher, schnell, sowieso nicht treffen.«

»Na gut. Kann’s losgehen?«

»Nur zu!«

Jimmy Reeperbahn war gespannt auf den Griff. Es war sicher Jiu-Jitsu.

»Na schlagen!«, drängte der Malaie. »Überraschung wird!«

Und wirklich, die Sache verlief sehr überraschend. Dass näm­lich jemand von einer einzigen Ohrfeige einen richtigen Salto macht, dabei vier Passagiere und mehrere Tische mit Himbeersaft umwirft, das ist wirklich überraschend.

Das Blut strömte dem Malaien aus Nase, Mund und ­Ohren, und die Haut war ihm vom rechten Auge bis zum Mund­winkel geplatzt. So keuchte er auf dem Boden ausgestreckt, während ihm vier Passagiere keine Ruhe ließen: Sie wollten unbedingt, dass er endlich von ihnen aufstand.

Währenddessen schlief José ein wenig. Im Stehen. Wie ein altes Ross. Der Malaie sprang brüllend auf die Beine.

»Zählt nicht! Du sein Linkshänder! Ich warten Schlag von rechts.«

José zuckte die Achseln.

»Man kann nicht neben jede Ohrfeige einen Verkehrspolizisten stellen.«

»Ich dich schlagen tot…!«

Er nahm Anlauf. José trat einen Schritt zurück, da sein Kontrahent von Himbeersaft klebte und der Kellner um seine schöne Uniform mit den goldenen Knöpfen fürchtete. Er platzierte einen schnellen Kinnhaken, um die erste Heftigkeit des Angriffs abzubremsen. Dann wich er geschickt ­einer linken Geraden aus und schlug dem Eingeborenen ­mü­he­los das Kinn auf.

Da traf ihn ein Tritt.

Ein regelwidriger, frecher, unsportlicher Tritt. Jimmy Reeperbahn wurde von seinen Leidenschaften überwältigt, und es entfuhr ihm ein fürchterlicher Schrei:

»Insalada fritte à la Escorreal!«

Da erstarrte in allen Anwesenden das Blut. Es war ihnen klar, dass sie soeben den Fluch der alten maurischen Eroberer vernommen hatten; diesen Fluch verwenden die spanischen Jünglinge nur vor einem Kampf auf Leben oder Tod.

Und er sprang!

Er packte den Hals des Malaien mit seinem Ellenbogen und drückte ihn gegen seine Hüfte. Von der Anspannung traten dem Eingeborenen die büffelartigen, schwarzen Halsmuskeln hervor und…

Und da blickte Jimmy Reeperbahn zufällig hinauf zum Promenadendeck. Was er da sah, überraschte ihn so sehr, dass er beinahe den Hals des Malaien losgelassen hätte.

Mr. Irving, der gegen die Reling gelehnt zugeschaut hatte, sandte ihm aus den Augenwinkeln einen kameradschaftlich anfeuernden Blick zu, als ob er sagen wollte: »Los! Gib ihm eine Lektion!«

José versetzte seinem Gegner schweren Herzens eine so genannte Krawatte, was im Ringkampf nicht den gleichnamigen Selbstbinder meint, sondern einen am Kinn angesetzten Kopfgriff, sodann dem dicken Hals eine Drehung und dem Magen einen zarten Hub, der den vormals so selbstsicheren Ureinwohner in einem großzügigen Bogen davonfliegen ließ, was nicht anders enden konnte, als dass er mit seinem gewaltigen Leib der Länge nach wieder den Boden berührte, worauf das ganze Schiff erzitterte.

Bei den Zuschauern entlud sich ein spontaner Applaus. Der Malaie wurde wie ein besiegter Stier an den Füßen aus der Arena geschleppt.

José verneigte sich graziös wie ein müder Geigenvirtuose und streute lächelnd Küsse in die Menge, machte dabei einen zufälligen Schritt rückwärts und stürzte das ganze Bü­fett um, nicht ohne die halbe Gesellschaft mit Eisgetränken zu bespritzen.

Von oben erklang ein heiteres und angenehmes Lachen. Alle blickten in die Höhe. Mr. Irving lachte an der Reling. Da aber erschien die gewaltige Gestalt des Erziehers, und die reine Kinderstimme erstarb. Der junge Mann entfernte sich düster und vornehm.

»Dieser Kellner ist ein Wahnsinniger, aber ein echter Kerl«, bemerkte der Kapitän und wandte sich an den rundbärtigen, rotgesichtigen Quartiermeister: »Wissen Sie, was für eine harte Hand der Bursche hat?«

»Ich weiß es«, antwortete der Quartiermeister traurig, sagte aber nichts weiter darüber.

5.

»Sir, ich habe seit drei Wochen nicht geschlafen…«

»Halten Sie nur noch zwei Wochen durch«, flüsterte der Quartiermeister. »Mit der Zeit gewöhnt man sich an so was.«

Es war ein schöner, lauer Abend, aber ein bisschen schwül. Zwischen der malaiischen Halbinsel und Singapur glitt der Dampfer über schwarz glänzende Wellen, und Jimmy Reeperbahn saß neben dem Quartiermeister auf der obersten Stufe des Kesselraumes.

»Passen Sie aber auf«, flüsterte der Bärtige. »Es fällt auf, dass Sie immer schlafen. Niemand sonst steht wie ein Schlafwandler herum.«

»Was soll ich machen, wenn es hier so lebhafte Passagiere gibt?«

»Wenn man entdeckt, dass Kellner José und Heizer Hutchins ein und derselbe Mann sind, dann werden wir beide rausgeschmissen.«

»Keine Angst, es sind ja nur noch zwei Wochen. Die werde ich schon durchwachen.«

»Schlafen Sie jetzt eine halbe Stunde hier auf dem Treppenaufgang… Ich weck Sie beizeiten.«

Statt einer Antwort war der Kellner auch schon eingeschlafen.

Irgendwann schreckte er auf, als jemand seine Schulter berührte.

»Lassen Sie mich noch…«, murmelte er. »Sie Henker… Nur fünf Minuten…«

»Wachen Sie auf, Fremder!«

Er schreckte auf und war sehr überrascht, als er sah, wer neben ihm auf der Eisentreppe saß… Mr. Irving!

»Pst…«, flüsterte er. »Mr. Gould denkt, dass ich schlafe. Seien Sie meiner höchsten Anerkennung versichert, Kellner. Sie sind ein prächtiger Junge! Das war es, was ich Ihnen sagen wollte.«

Die in Gummi gelagerten Maschinen ratterten mit stumpfen Geräuschen unter ihnen. Sonst war es still. Mr. Irving saß neben ihm auf der Eisentreppe, aber in einer so feierlichen Haltung, als ob er eine Zeremonie durchführen würde.

»Sie haben es diesem Eingeborenen ganz schön gezeigt«, sagte er anerkennend. »Nicht wahr, Sie sind sehr stark? Erlauben Sie… dass ich Ihre Armmuskeln anfasse?«, fragte er beinahe andächtig.

»Na, machen Sie mal keinen Blödsinn!«

Die Augen des Jünglings leuchteten auf.

»Nicht wahr, das war eine Beleidigung?!«, fragte er glücklich.

»Hm… Mr. Irving, Sie tun so, als ob Sie betrunken wären.«

»Mich hat man noch nie beleidigt.«

»Was Sie nicht sagen. Sind Sie so stark?«

»Ich weiß nicht. Ich habe noch nie jemanden verprügelt. Sagen Sie, Fremder, wie führt man eine solche Aktion durch?«

»Hören Sie mal, wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Wissen Sie nicht, wie das ist, wenn man eine geklebt bekommt? Sie haben es doch oft genug auf der Straße gesehen.«

»Ich bin noch nie im Leben auf offener Straße spazieren gegangen.«

»Nie spazieren gegangen?… Ja… wer sind Sie denn… Mr. Irving? Sind Sie nicht Mr. Irving?«

»Ich reise inkognito.«

»Was ist das für eine Tracht?«

»Inkognito bedeutet, dass man einen falschen Namen annimmt…«

»Großartig! Dann reise ich auch inkognito! Sind Sie auch Hochstapler?«

»Haha! Sie sind wirklich ein netter Untergebener, Kellner José, aber jetzt gehe ich, sonst bemerkt Mr. Gould mein Fernbleiben.«

»Wieso fürchten Sie sich vor dem Kerl? Wenn Sie wollen, gieße ich ihm morgen eine Portion marinierten Fisch auf den Smoking. À la tournédo!«

»Nicht doch!… Ich bitte Sie inständig, lieber Herr Grobian! Mein lieber armer Vater hat Onkel Fernandez zu meinem Vormund ernannt. Er ist der Prinzregent, und damit müssen wir uns abfinden.«

»Das ist mir alles ein bisschen nebulös, was Sie da erzählen. So viel ist sicher: Der Kerl gefällt mir nicht, und ich hätte große Lust, seinen Kopf mit einem soliden, wulstigen Gegenstand zu bearbeiten…«

»Oh!… Mann! Wagen Sie es ja nicht! Sie sind ein braver Arbeiter und genießen unsere Gunst, aber so etwas würde eine schwere Bestrafung nach sich ziehen… Und nun, lieber Fremder, muss ich gehen… Irgendwann werden wir uns wieder unterhalten. Ich habe mich sehr gut mit Ihnen amüsiert. Dafür will ich Sie belohnen! Wollen Sie Geld?«

»Was?…«

»Ich kenne den Wert des Geldes nicht so gut. Ist es angemessen, wenn ich Ihnen fünfhundert Dollar gebe? Nein, nein! Das ist zu wenig, und ich beleidige Sie noch…«

»Was… wie?… Was ist das, bitte?«

»Ich hab’s! Einmal hat mein Onkel, der Prinzregent, einen seiner treuen Verehrer belohnt; er schenkte ihm zweitausend Dollar. Das kann also nicht so gering sein, als dass ich mich schämen müsste!… Bitte, guter Mann…«

Er zog seine Börse heraus und übereichte dem Kellner zweitausend Dollar, klopfte ihm dann auf die Schulter und ließ ihn stehen.

Er fragte sich, ob er schliefe, oder ob der Junge vielleicht wahnsinnig wäre. Dann aber musste der riesige, hässliche Kerl sein Pfleger sein.

Zwei… tausend Dollar! Es lohnt sich, über diesen Fall nachzudenken! Aber diese Einsicht half auch nicht, da er überfallartig einschlief.

Zweites Kapitel

1.

Kellner José schlief. Er schlief, während er für einen Moment mit der Suppe stehen blieb; er schlief, während der Koch das Fleisch auf die Platte legte; und er schlief, als er es in den Schoß eines schwedischen Privatdozenten servierte.

Das Gebrüll weckte ihn.

Auch Hutchins, der Heizer, schlief. Er schlief, während die Kohlen in den Kessel rollten; er schlief, während er die Schaufel hob; und er schlief, als er sie auf den Fuß des Chefma­schinisten fallen ließ.

Das Gebrüll weckte ihn.

Der erste Offizier teilte dem Kapitän mit, die ständige Schläfrigkeit des Kellners José hätte sich verschlimmert.

Der Maschinist teilte dem Kapitän mit, dass Hutchins, der amerikanische Heizer, nur noch für Augenblicke aufwacht, wenn er nämlich gerade jemanden verhaut.

Einige Matrosen tuschelten miteinander. Ein seltsames Symp­tom griff auf dem Schiff um sich. Zwei haben sich bereits angesteckt.

Der Quartiermeister teilte Jimmy Reeperbahn mit, es würde Ärger geben: Wenn man die Kranken beobachten will, wird man entdecken, dass beide eigentlich gar nicht da sind: Nur Jimmy Reeperbahn dient als Verwandlungskünstler auf dem Schiff.

Jimmy Reeperbahn wiederholte lediglich, dass nicht er, sondern die Passagiere schuld wären. Auf dem Schiff wäre jedermann viel zu lebhaft. Die Gemüter würden sich sofort beruhigen, sobald auch andere müde wären. Er versprach dem Quartiermeister, die Sache in Ordnung zu bringen. Anderntags sorgte er dann dafür, dass die lebhafte Stimmung der Passagiere gedämpft wurde.

Das hätte er nicht tun dürfen!

Es war Punkt vier Uhr nachmittags (asiatischer Zeit): Die »Honolulu Star« setzte ihren Weg fort. Bei völliger Windstille, mit achtzehn Knoten Geschwindigkeit Richtung Ma­lakka. Die Position entsprach sämtlichen Daten von Längen- und Breitengrad. Auf dem Promenadendeck spielte ein Salonorchester, und einer der Passagiere erzählte zwei Damen, auf dem Schiff wäre irgend etwas nicht in Ordnung. Angeblich gäbe es einen Fall von Schlafkrankheit, aber man verheimlichte dies den Passagieren.

Um vier Uhr zehn (asiatischer Zeit!) schickte der Schiffsarzt auf Anordnung des Kapitäns den Quartiermeister nach José Pombio, dem Kellner, und Wilson Hutchins, dem Heizer. Gleichzeitig!

Um vier Uhr zwölf (obiger Zeit) begab sich der Quartiermeister in seine Koje. Er war dem völligen Nervenzusammenbruch nahe, und zweifelte nicht daran, aus dem Ver­zeichnis der registrierten Matrosen gestrichen zu werden.

Um vier Uhr zwanzig erschien José, der Kellner, vor dem Arzt, der gerade aufgeregt in einem Buch blätterte.

Die besonderen Erscheinungsformen der Schlafkrankheit, wenn sie infolge sporadischer Erkrankungen auftritt, wobei ihre Be­gleit­symptome verschwimmen.

Als Beispiel schilderte die Beschreibung ein Schiff, auf dem eine einzige Tsetsefliege mit der Ladung an Bord geraten war und noch in gemäßigten Zonen fähig war, die Plage zu verbreiten.

Der Arzt blickte aus dem Buch auf. Vor ihm stand José, der Kellner, in entspannter Haltung und schnarchte bescheiden.

»Hallo!«

»Wer spricht?!«, schreckte José auf.

Der Arzt schaute ihn an. Hm… Verdächtig! Gequältes Gesicht, schlaffe Züge, tief sitzende Augen, idiotisch offen hängender Mund, unregelmäßige Atmung.

»Haben Sie Kopfweh?«

»Ja.«

»Rauchen Sie?«

»Ich würde lieber etwas trinken.«

»Ich habe Ihnen nichts angeboten.«

»Schlimm! Ich rauche nämlich.«

»Waren Sie schon mal in Afrika?«

»Vor zwei Jahren.«

»Leben Ihre Eltern?«

»Nein.«

»Tut Ihnen was weh?«

»Ja, es fährt mir hier durch die Rippen…«

Der Arzt steckte sich etwas in die Ohren: Es war ein Gerät mit Kabeln, an deren Ende eine runde Scheibe hing. Diese drückte er auf Jimmys Rippen.

»Atmen Sie tief ein.«

Jimmy Reeperbahn griff nach dem Metallstück auf seinen Rippen und schrie hinein:

»Ich bin kitzlig!«

Der Arzt sprang brüllend nach hinten: Er hatte das Gefühl, dass neben seinem Ohr schwere Artillerie abgefeuert wurde.

»Dummer Kerl!… Sie machen mich taub… Seit wann fühlen Sie diesen Schmerz in den Rippen?«

»Seit der Steuermann in der Dunkelheit über mich gestolpert ist.«

»Jetzt gehen Sie aber!«

»Bitte… könnte ich etwas gegen Kopfschmerzen haben?… Ich habe furchtbare Kopfschmerzen.«

Das war eine Lüge. Aber der Arzt glaubte ihm und ging sofort zum Schrank. Jimmy Reeperbahn folgte. Schon von fern sah er den kleinen Behälter mit der Aufschrift:»OPIUM«. In diesen Gegenden ist das eine häufig verwendete Arznei gegen Verdauungsbeschwerden, die wegen des anderen Klimas und der ungewohnten Speisen öfter als sonst auftreten. Der Arzt hatte bereits ein Kopfschmerzpulver aus dem Schrank genommen, als er ein Klirren hörte. Der dumme Kellner hatte ein Glas vom Tisch gestoßen.

»Verschwinden Sie!«

José eilte davon. Aber in seiner Tasche befanden sich sechs kleine Schachteln: die Hälfte des Opiumvorrats.

Das geschah um vier Uhr vierundvierzig. (Nach Greenwich Time war es vier Uhr, zwölf Minuten und acht Sekunden!) Unmittelbar vor dem Kaffee.

Um fünf Uhr fünfzehn rief der Kapitän die Passagiere auf, Ruhe zu bewahren: Das Schiff verfüge über alle Mittel, die für die Lokalisierung der Seuche notwendig seien.

Panik brach aus, als drei Herren, die nach dem Kaffee eingeschlafen waren, erst nach längerem Weckversuch wieder zu sich kamen. Einer von ihnen war Mr. Gould, Mr. Irvings riesenhafter Vormund. Er hatte am tiefsten geschlafen. Dabei war er zur Kaffeezeit noch recht lebhaft gewesen.

Am nächsten Tag nach dem Frühstück (um neun Uhr siebenundzwanzig, zwischen den entsprechenden Längen- und Breitengraden) versanken zwei andere Passagiere in Tiefschlaf, und mittags wies der Kapitän den Funker an, die Namen der in der Nähe befindlichen Schiffe zu ermitteln. Vielleicht wird man Hilfe brauchen.

Drama auf dem Hochseedampfer!

Die Mehrzahl der Passagiere ahnte nun bereits, dass sie eine jener schauerlichen Matrosengeschichten erlebten, die man sich so oft erzählte – das »Geisterschiff« zum Beispiel, ganz zu schweigen von den Meuterern auf der »Bounty«, die sogar Menschenfleisch gegessen hatten.

Sie waren sich alle im Klaren darüber, dass man noch in fünfzig Jahren rätseln würde über dieses Schiff, das lautlos auf den Hafen von Singapur zusteuerte und neben dem Damm zum Halten kam, ohne dass ein Passagier ausgestiegen oder auf Deck eine Stimme zu hören gewesen wäre: alle tot! Die Tragödie der »Honolulu Star« wird verfilmt, und die Männer setzen sich mit ihren hübschen Begleiterinnen ins Kino, um sich das schaurige Schauspiel anzusehen. Und wenn der Film zu Ende ist, sagen sie: »Schwachsinn!«

Ein Komponist aus Kopenhagen verlangte energisch vom Kapitän, die Rettungsboote klarzumachen, und alle sollten flüchten, wohin sie konnten. Als sich der Kapitän weigerte, wollte er ein Protokoll über den Fall aufnehmen, aber er schlief währenddessen ein. Tief und lange.

Die Menschen schlossen sich in ihren Kabinen ein. Alle wur­den von Entsetzen übermannt.

Aber ein Passagier fühlte sich endlich richtig wohl. Abends spielte er sogar Klavier in der Bar. Es war der angebliche Mr. Irving.

Sein Erzieher schlief nämlich nach jedem Essen auf der Stelle ein. Tief und lange.

Anfangs blieb der junge Mann nur ein Stündchen länger im Speisesaal sitzen. Anderntags aber (die Seuche wütete auf dem Höhepunkt, und zwar sowohl nach Greenwich Ti­me als auch nach asiatischer Zeit) schaute Mr. Irving in der Bar vorbei, wo die Kapelle im Halbschlaf Foxtrott spielte.

Gegen Mitternacht begann der junge Mann ein Lied zu sum­men. Sein Gesicht war gerötet, seine Augen glänzten, ­und insgeheim wünschte er sich zweifellos, dass die Epidemie möglichst lange dauerte.

Schon seit drei Tagen tobte die Schlafkrankheit. Nach einem kurzen Nachrichtenaustausch empfahl die Admiralität der »Honolulu Star«, ständig ihre Position und Fahrtrichtung anzugeben. Außerdem sei es ratsam, sämtliche Fliegen an Bord zu sammeln: Die Behörden würden wahrscheinlich prüfen wollen, ob sich Tsetsefliegen darunter befänden.

Ein armenischer Fabrikant von Briefumschlägen teilte dem Kapitän mit dramatisch anmutender Schlichtheit mit, er habe den Aussatz.

So etwas gab es bis dahin nur in Schauerdramen!

»Mann!«, flüsterte der Quartiermeister, der in kurzer Zeit auf die Hälfte seines Lebendgewichts abgemagert war. »Das ist Ihr Werk!«

»Ja«, antwortete Jimmy Reeperbahn aufrichtig. »Sie haben gesagt, es fällt auf, wenn auf einem Schiff zwei Leute ständig schlafen. Jetzt dagegen fällt nur noch auf, wenn jemand wach ist.«

»Wie haben Sie das gemacht?«

»Mit Opium. Es kann nichts passieren. Jeder bekommt nur so viel, wie es auf der Dosierungstabelle für Schwerkranke angegeben ist. Und diese Dosis kann ja wohl nicht gefährlich sein.«

»Wenn… das herauskommt… dann bin ich Ihr Komplize. Wir bekommen zehn Jahre.«

»Was wollen Sie? Einen Verdienstorden vielleicht? So etwas würde ich auch gar nicht annehmen.«

»He, Quartiermeister!«, rief einer der Offiziere. »Gehen Sie mit dem Burschen ins Lager und fangen Sie Fliegen! Und dann zum Arzt damit!«

»Werden die Fliegen auch behandelt?«, wunderte sich Jimmy Reeperbahn.

Die Besatzung befand sich bereits vollzählig auf der Fliegenjagd, und sie folgten dem Quartiermeister. Über dem In­dischen Ozean herrschte eine höllische Hitze. Besonders hier, neben dem Kesselraum, so dass Jimmy Reeperbahn als Heizer halb nackt arbeitete, außer der Hitze wegen vor allem deshalb, weil sein einziges Hemd von José, dem Kellner, benutzt wur­de.

»Mann! Machen Sie der Seuche ein Ende!«, flehte der Quar­tiermeister.

»Keiner wird draufkommen, seien Sie beruhigt!«

Sie liefen im Gepäckraum auf und ab. Jimmy Reeperbahn blieb neben einer riesigen Reisekiste stehen.

»Was ist denn das! Anständige Arbeit! Sehen Sie mal!«

Auf der Kiste hing umgekehrt ein Schild von gewaltigen Ausmaßen:

»Lauter Idioten!«, fluchte der Quartiermeister. »Kommen Sie! Wir müssen diese Kiste umdrehen.«

Sie wollten gerade beginnen, als jemand heftig gegen die Kistenwand klopfte und eine Stimme, die nach Wein schmeck­te, dröhnte:

»Lassen Sie nur. Bis Aden bin ich Kopf gestanden.«

»He, was ist denn das? Wer sind Sie?«

»Hauen Sie bloß ab!«

Also so etwas hat es noch nicht gegeben! Sie hatten soeben den unverschämtesten blinden Passagier der Welt entdeckt.

»He!«, schrie der Quartiermeister. »Wissen Sie, was einen blinden Passagier erwartet, wenn man uns in Quarantäne sperrt?«

»Warum sollte das Schiff unter Quarantäne kommen?«

»Wir haben eine Epidemie!«

»Hat sich jemand mit Blödheit angesteckt?«

»Lümmel!«

Er öffnete die Kiste, und… sie war leer! Die Kiste, aus der noch vor wenigen Sekunden jemand zu ihnen gesprochen hatte! Er war ganz benommen… Zauberei…

»Und solche Gestalten wollen mir drohen«, bemerkte die Stimme von vorhin hinter ihrem Rücken.

Sie drehten sich um.

Ein zerlumpter, alter Mann stand vor ihnen.

Jimmy Reeperbahn rief entsetzt:

»Fred Unrat!…«

2.

Der Alte war eine sonderbare Erscheinung. Mit seinen Fingern, die in langen Geierkrallen endeten, fummelte er in seinem ergrauten Spitzbart herum, der ihm bis zur Brust reichte. Seine kleinen Schlauheiten und großen Grübeleien begleitete er auf der stummen Harfe seiner Barthaare, ­diesem zer­zausten, schmutzig grauen, spärlichen Filz. Im Gesicht einige runde, große Warzen, die Charakternase eines Sperbers, breite, nach unten gezogene Mundwinkel und glän­zende, kluge, unruhige kleine Augen in rötlicher Flüssigkeit. Seine wirren, grauweißen Haare hingen ihm in die Stirn, und seine abgetragene, schmutzige Kapitänsmütze schob er sich mal in den Nacken, mal in die Stirn, je nachdem, wo er sich gerade kratzte.

Denn Fred Unrat war Kapitän.

So ging sein Name von Mund zu Mund, so kannte man ihn, sei es in den Hafenstädten großer Meeresbuchten oder in den kleinen Fischerdörfern, und so nannte man ihn, wenn man über seine Verbrechen sprach.

»Fred Unrat, der Kapitän!«

Wo und auf welchem Schiff, wann und in welcher Qualifikation er das Kapitänspatent erworben hatte, konnten nicht einmal die Strafanstalten und Polizeiregister klären. Zusammen mit so vielen anderen Umständen, die in Verbindung mit Fred Unrats Person von Zeit zu Zeit auftraten. Aber bezweifeln konnte niemand, dass Fred Unrat wirklich Kapi­tän war. Wer sonst hätte Kapitän sein sollen, wenn nicht er, der alle Lotsen der Welt dem Namen nach kannte, sich mit dem Zauberer des australischen Tscharung-Stammes duz­te und dessen Pfeife noch nie in einem Zyklon ausgegangen war?