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Ein tragischer Verlust zerreißt Lenas Leben in zwei Hälften. Der plötzliche Tod ihrer Eltern bei einem Autounfall stürzt sie in tiefe Trauer und offenbart ihr zugleich die bittere Wahrheit über ihre Beziehung, die sich als Farce herausstellt. Haltlos und innerlich leer trifft sie eine impulsive Entscheidung: Sie flieht aus dem Alltag, sucht Abstand und kehrt zurück an einen Ort voller Kindheitserinnerungen - die teils raue, windumtoste Insel Norderney, an der Nordseeküste. Was als stiller Rückzug beginnt, wird schnell zu einer Reise voller Wendungen. Lena begegnet Menschen, die ihr zeigen, wie intensiv das Leben sein kann. Das Freundschaft sowie wahre Nähe weit mehr bedeutet als bloße Vertrautheit. Inmitten von salziger Meeresluft, nächtlichen Geständnissen und ungeahnten Verlockungen entdeckt sie eine neue Seite an sich: Lust, die unter die Haut geht. Begierde und Leidenschaft, die sie nie für möglich gehalten hätte. Und plötzlich steht nicht nur ihr Herz in Flammen - sondern auch ihr Körper verlangt nach mehr. Es ist der Beginn ihrer ganz eigenen Reise, die hier ihren Anfang nimmt.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Gewidmet all jenen, die Norderney kennen und die Insel lieben gelernt haben. Nicht wenige dieser Leute werden ihre ganz besonderen Erfahrungen auf der Insel gemacht haben.
Träumt nicht nur euer Leben, sondern lebt eure Träume aus!
1. Neue Optionen, Anfang Juni in Timmendorfer Strand
2. Mitte Juni, die Insel Norderney
3. Natascha, die letzte Woche im Juni
4. Mitte Juli, Anna und Tom
5. Ende Juli, Tom, Anna … und Lena
6. Anfang August, Begegnungen
7. Mitte August, die Insel webt ihren Zauber
8. Ende August, Anna, Lena … und Leif
9. Ende August, Abschied von Norderney
Der feine Nieselregen fühlte sich an wie unzählige Tränen, die vom grauen Himmel über der Ostsee fielen. Lena stand an menschenleeren Promenade und blickte schweigend auf das aufgewühlte Wasser. Die Hände tief in den Taschen ihres abgetragenen Ledermantels vergraben. Der Wind riss an ihren Haaren und peitschte die Regentropfen gegen ihre Wangen. Ihre Augen, die von einer tiefen Leere gezeichnet waren, folgten den Wellen, die unaufhörlich auf den Sand prallten und sich dann wieder zurückzogen. Es war ein unendliches Hin und Her, das ihre eigene innere Rastlosigkeit perfekt widerspiegelte. In der Ferne, kaum mehr als ein dunkler Fleck am Horizont, kämpfte sich ein einsamer Fischkutter durch die aufgewühlte See.
Die Schreie der Möwen klangen heute nicht nach dem gewohnten kreischenden Lebensruf, nicht wie das lebendige Pulsieren des Küstenlebens, sondern wie Klagen. Klagende, raue Stimmen, die sich mit dem Wind mischten und irgendwo über den Wellen verloren gingen. In der Ferne schob sich der alter Fischkutter weiterhin mühsam durch die aufgewühlte See, sein Rumpf war von Gischt umtost, Möwen flatterten wie Geister um ihn herum. Lena beobachtete, wie sich das Schiff langsam vorwärtskämpfte, ein einsamer Punkt in der Weite, trotzig gegen die Naturgewalt. Etwas daran berührte sie. Vielleicht war es das Bild von Ausdauer, von dem Willen, weiterzumachen, auch wenn alles um einen herum nur Widerstand war. Vielleicht sah sie in dem Kutter etwas von sich selbst. Die Schreie der allgegenwärtigen Möwen waren das einzige Geräusch, das sich gegen das dumpfe Rauschen des Meeres und des Windes behaupten konnte ... eine kakophonische Melodie aus Einsamkeit und Verlust.
Ihr langer, schwarzer Ledermantel klebte durch den Regen schwer an ihren Schultern, das lange weißblonde Haar, sonst in leichten Wellen bis über die Schultern fallend, war feucht und wirr vom Wind zerzaust. Sie trug keine Mütze, keine Kapuze. Erneut fand ein Rinnsal kalten Wassers seinen Weg am Mantelkragen entlang und rann über ihren Rücken. Der Nieselregen hatte sich längst in jede Faser ihrer Kleidung gearbeitet, aber sie spürte es kaum und beachtete es keineswegs. Ihre Gedanken waren in der Vergangenheit.
Am Ufer der Ostsee
Jede Welle, die das Ufer erreichte, schien eine Erinnerung mit sich zu bringen. Es war dieses Meer, das ihr vor sechs Monaten das Liebste genommen hatte. Die Seebestattung ihrer Eltern, deren Leben so abrupt durch einen Autounfall beendet worden war, nagte immer noch an ihr. Das Bild der beiden schlichten Urnen, die von der Reling eines Schiffes ins graue Wasser hinabgelassen wurden, brannte sich tief in ihr Gedächtnis. Das Wasser hatte ihre Eltern empfangen und sie in seine unendliche Tiefe mitgenommen. Seit diesem Tag war die Ostsee für Lena nicht mehr nur ein Ort der Kindheitserinnerungen, sondern auch eine Ruhestätte, die sie mit einem unerträglichen Schmerz verband. Sie fühlte sich, als wäre auch ein Teil von ihr in diesen Fluten versunken, und sie fand einfach keinen Weg, wieder an die Oberfläche zu kommen.
Seit sechs Monaten war alles anders. Sechs Monate, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten und doch war die Erinnerung an jenen Tag schneidend klar, schmerzhaft gegenwärtig. Der Anruf, das Schweigen am anderen Ende, das Kratzen in der Stimme des Polizisten, der Worte finden musste für das Unfassbare. Ihre Eltern waren beide tot. Ein Unfall auf regennasser Straße, ein LKW, der ins Schleudern geriet. Die Bilder, die sich in ihrem Kopf festsetzten, obwohl sie nie welche gesehen hatte. Nur das, was sie sich vorstellte. Es war nicht nur das Fehlen ihrer Eltern gewesen, das plötzlich entstand, sondern diese Lücke im Fundament ihres Lebens, als sei der Boden unter ihr weggebrochen. Sie fühlte sich einsam, verlassen und verraten vom unbarmherzigen Schicksal.
Die Seebestattung, die bereits kurz nach dem Unfall stattfand erlebte sie wie durch einen Schleier von Nebel. Zwei Urnen, schlicht, aber liebevoll verziert, wurden in einer kleinen Zeremonie dem Meer übergeben. Lena hatte sich damals gewünscht, dass es regnete. Dass die Welt weinte, weil sie selbst nicht mehr konnte. Und so war es auch gewesen. Graue See, dunkler Himmel und ein unendlich großes Nichts, das ihre Eltern in sich aufnahm. Sie erinnerte sich an den Moment, in dem die Urnen durch die Hände des Kapitäns ins Wasser glitten ... so leicht, so endgültig. Das leise Platschen, das Rauschen des Meeres. Und dann das Wegdriften. Ihre Eltern waren fort, ein für alle Mal. Das Meer hatte sie genommen, und nichts würde sie zurückbringen.
Der Schmerz war seitdem nicht verschwunden. Er hatte sich nur verändert. Anfangs war es ein stechender, beißender Schmerz gewesen, der sie schlaflos durch Nächte gehetzt hatte, ein Weinen ohne Tränen, weil sie innerlich wie ausgetrocknet war. Dann war es eine bleierne Schwere geworden, die sich in jeden ihrer Tage gelegt hatte, wie ein Gewicht, das jede Bewegung verlangsamte. Lachen fühlte sich falsch an, Gespräche belanglos, und die Welt drehte sich weiter, obwohl alles in ihr stillstand. Freunde hatten sie eingeladen, hatten Verständnis gezeigt, doch irgendwann begannen sie, sich von ihr abzuwenden. Wer trauert, wird irgendwann unbequem ... das wusste Lena jetzt. Trauer passt nicht in die heutige Welt, in der alles weitergehen muss.
Und dann war da noch dieser Mann gewesen. Damals, als ihre Eltern starben, hatte sie noch jemanden an ihrer Seite gehabt ... dachte sie. Er war weitaus älter gewesen, erfahren, gut aussehen, wohlhabend, gebildet und charmant, ein Mann, der zu wissen schien, was er wollte. Für einen Moment hatte sie sich sicher gefühlt bei ihm, geglaubt, vielleicht sogar gehofft, dass da mehr war als das übliche Spiel. Doch sie hatte sich getäuscht. Je tiefer sie gefallen war, desto klarer wurde ihr, dass er sie nicht auffing ... dass er nie vorhatte, es zu tun. Für ihn war sie jung, schön, lebendig ... ein Statussymbol, eine Trophäe, wie er sie gerne und mit Genuss seinen Freunden zeigte, wenn er es für nötig hielt. Aber ihre Tränen, ihre Wunden, ihre tiefe Trauer ... das interessierte ihn nicht. Für ihn war Lena nur ein Spielzeug gewesen, an dem er sein Verlangen befriedigen konnte und wollte. Damals hatte Lena die gemeinsamen Nächte genossen. Heute dachte sie mit Ekel daran zurück. Ekel deshalb, weil sie diesen Mann nun zutiefst hasste. Es hatte Lena erschüttert und zutiefst verletzt, als ihr dies mit grausamer Klarheit bewusst wurde. Der Seebestattung war der Mann ferngeblieben. Angeblich hatte er unaufschiebbare berufliche Termine. Später hatte sie erfahren, dass er sich mit einer anderen Frau vergnügt hatte, als Lena ihre Eltern zur letzten Reise begleitete. Das war der entscheidende Moment gewesen, um diesen Mann zu verlassen. Sie war wortlos von ihm gegangen. Aus seinem Haus, in dem sie sich ohnehin nur zeitweise und selten aufhielt.
Doch mit dem Weggehen kam keine Erleichterung. Nur noch mehr Einsamkeit. Es war, als habe sie einen Schleier vom Gesicht gezogen, nur um zu erkennen, dass darunter nur noch Leere war. Auch die Männer zuvor – sie waren nie geblieben. Immer war da ein Muster gewesen: Interesse, Begehrlichkeit, flüchtige Nähe. Und dann Enttäuschung. Lena fragte sich oft, ob etwas mit ihr nicht stimmte. Ob es an ihr lag, dass niemand sie aufrichtig lieben konnte. Dass alle nur sahen, was sie äußerlich war … nicht, was in ihr vorging. Nicht das verletzte, zarte Herz, das sich nach echtem Verstehen sehnte. Nach Liebe und Wärme. Nach jemandem, der nicht nur nehmen, sondern auch geben konnte.
Vor etwas mehr als drei Wochen hatte sie wie durch göttliche Fügung beim einkaufen Jan kennengelernt. Die ernüchternde Wahrheit kam bereits nach dem ersten gemeinsamen Abend, der in eine Nacht ausuferte, in der Lena von ihm äußerst ungeschickt gevögelt wurde. Jan selbst hielt sich wohl für unübertrefflich. Dem war nicht so. Das konnte Lena gut beurteilen, denn sie hatte bereits eine ansehnliche Anzahl von Männern mehr oder weniger genießen dürfen. Sie hatte die Wohnung von Jan hastig verlassen, nachdem dieser schnarchend eingeschlafen war. Die Autofahrt von Lübeck nach Timmendorfer Strand war mit ihrem Mini Cooper nur ein Katzensprung. Zuhause hatte sie lange geduscht, bemüht alles von ihm von sich abzuwaschen, während ihr die Tränen der Frust und Wut über das Gesicht liefen. Jan hatte keinen Kontakt mehr zu ihr gesucht. Sie noch nicht einmal angerufen … und Lena hatte seine Telefonnummer zwei Tage später gelöscht und auf ihrem Handy blockiert.
Es war eine weitere Enttäuschung in einer langen Reihe von unglücklichen Beziehungen, unterschiedlicher Dauer, in denen Lena sich letztlich immer nur als Objekt, nie als Mensch gefühlt hatte. Ihre attraktive äußere Erscheinung hatte sie oft zu einem Ziel für Männer gemacht, die nur an rein sexueller Nähe interessiert waren und keine echten Emotionen erwidern konnten. Das war Lena fast schlagartig aber endgültig klar geworden, als sie den Verlust ihrer Eltern erlitt. Diese Erkenntnis war schmerzhaft und hatte sie mit Wut und Frustration erfüllt. Auch Jan war nicht anders gewesen, wie sie feststellen musste. Die Einsamkeit und auch Hilflosigkeit, die sie jetzt verspürte, war das Produkt dieser kumulierten Enttäuschungen. Doch während sie auf das graue Meer blickte, keimte in ihr ein winziger, neuer Gedanke auf. Ein Gedanke an eine Flucht. Eine Idee, die sie von den Wogen der Trauer wegbringen könnte. In ihren Gedanken sah sie die Insel Norderney, die sie als kleines Mädchen einmal mit ihren Eltern besucht hatte. Ein Ort, der für eine kurze Zeit das Bild der schmerzvollen Ostsee durch eine Erinnerung an unbeschwerte glücklichere Tage ersetzte. Die Nordseeinsel kam ihr so fern und unbeschwert vor. Sie beschloss, dass sie von hier fort musste, um endlich wieder atmen zu können. Hier, in Timmendorfer Strand, hatte sie zwar ihr Heim aber es war ihr momentan zuwider. Sie wollte am liebsten einfach weglaufen und völlig neu beginnen.
Der Wind wurde stärker, riss an ihrem Mantel, und der Regen wurde dichter, als wollte auch das Wetter sie weiter fortspülen. Lena schloss die Augen. Spürte, wie die Tropfen über ihr Gesicht liefen, sich mit einer Träne vermischten, die sich aus einem ihrer geschlossenen Augenwinkel stahl. Kein Schluchzen, kein Weinen. Nur ein stiller, stummer Ausdruck einer Erschöpfung, die zu tief saß, um noch laut zu sein. Sie hörte das Meer rauschen, gleichmäßig, schwer und unbeirrbar. Und inmitten all der Unruhe lag etwas Tröstendes. Das Meer war da. Es veränderte sich, es tobte, es ruhte aber es verschwand nie. Es trug ihre Eltern, irgendwo, in seinen Tiefen, in seinen Bewegungen. Vielleicht war das die einzige Verbindung, die ihr geblieben war.
Sie wandte sich um und ging langsam in Richtung ihrer Wohnung. Menschen gingen an ihr vorüber doch Lena registrierte dies kaum. Sie war tief in Gedanken versunken. Was sollte sie tun?
In den letzten Wochen hatte sich in ihr ein Gedanke geformt ... zart, kaum greifbar, aber stetig wachsend. Der Wunsch, fortzugehen. Nicht, um zu fliehen. Sondern um zu atmen. Um Abstand zu gewinnen. Vielleicht, um etwas Neues zu finden, einen neuen Blick, einen anderen Horizont. Ein Urlaub, irgendwohin, wo die Erinnerungen nicht so laut schrien. Und doch kehrten ihre Gedanken immer wieder an einen Ort zurück: Norderney. Diese kleine, windumtoste Insel in der Nordsee, die sie einst mit ihren Eltern besucht hatte. Sie war damals vielleicht neun oder zehn gewesen. Ihre Mutter hatte einen dicken Schal getragen, ihr Vater hatte Drachen steigen lassen am Strand. Und sie war gerannt, barfuß über den Sand, hatte gelacht, hatte den Wind geatmet wie das Leben selbst. Es war eine Erinnerung wie aus einer anderen Welt. Eine, die nicht weh tat.
Die Nacht war über die Ostsee gekommen, ohne große Ankündigung, als hätte jemand das Licht gedimmt, langsam, aber unerbittlich. Die Wolken hatten sich zu einer dichten Decke zusammengezogen, unter der sich die letzten Farben des Tages wie ein verblassender Traum verloren. Lena saß nun auf einer Bank oberhalb der Dünen, eingehüllt in eine Decke, die sie sich aus dem Kofferraum ihres alten Wagens geholt hatte. Ihre Haare waren mittlerweile fast trocken, vom Wind zerzaust, und in ihren Händen hielt sie einen kleinen Thermobecher mit kaltem Tee, den sie sich am Morgen noch gemacht hatte. Er schmeckte nach nichts mehr, aber sie trank ihn trotzdem ... um sich zu erinnern, dass sie noch da war. Dass etwas in ihr noch funktionierte.
In ihrem Schoß lag ein altes Notizbuch, das sie seit Jahren besaß, aber kaum jemals beschrieben hatte. Die Seiten waren leicht vergilbt, der Einband war aus Leinen, dunkelblau, mit einem eingeprägten Kompass auf der Vorderseite. Es war ein Geschenk ihrer Mutter gewesen, damals zum Schulabschluss. “Damit du nie vergisst, wo du hinwillst“, hatte sie gesagt und dabei gelächelt, wie nur Mütter das können ... mit Liebe, Stolz und einem Hauch von Melancholie. Lena hatte es nie benutzt, weil sie sich nie sicher war, ob sie etwas zu sagen hatte. Heute öffnete sie es zum ersten Mal seit Jahren.
Ihre Gedanken kreisten unweigerlich zurück zu Norderney. Wie ein alter Film rollte die Erinnerung vor ihrem inneren Auge ab ... verblasst, stellenweise unscharf, aber voller Wärme. Sie sah sich selbst, vielleicht neun Jahre alt, mit roten Gummistiefeln, einem übergroßen gelben Regenmantel, in dem sie fast versank, und einem Lachen auf den Lippen, das sie kaum wiedererkannte. Ihre Eltern hatten eine kleine und einfache Ferienwohnung gemietet, mit knarrenden Holzdielen und Fenstern, durch die man bei Sturm das Salz gegen das Glas peitschen hören konnte. Es hatte nach Seeluft und Geborgenheit gerochen. Ihre Mutter hatte ihr abends Geschichten vorgelesen, während draußen der Wind um das Haus heulte. Geschichten von Meergeistern, von alten Leuchttürmen, von der Kraft der Elemente und dem Mut, den es braucht, um hinauszuziehen in die Welt.
Der Strand war damals endlos gewesen. Sie hatte mit ihrem Vater Muscheln gesammelt, Steine bemalt, war barfuß durch flaches Wasser gelaufen, hatte Sandburgen gebaut, als wäre das Leben nichts anderes als ein ewiges Spielen mit den Gezeiten. Und immer war da das Lachen ihrer Eltern gewesen. Leicht. Hell. Wie Musik. Es war ein Ort gewesen, an dem sie sich nicht erklären musste, an dem sie einfach sein durfte. Damals hatte sie geglaubt, dass diese Art von Geborgenheit nie vergehen konnte. Dass Eltern für immer bei einem blieben, dass Liebe etwas Unzerbrechliches war.
Sie merkte, wie sich Tränen in ihre Augen stahlen. Keine bitteren, keine verzweifelten. Es waren Tränen der Sehnsucht. Nach einem Gefühl, nicht nur nach einem Ort. Vielleicht war das, was sie jetzt brauchte, nicht einfach nur Abstand oder Tapetenwechsel. Vielleicht brauchte sie einen Anker. Einen Platz, an dem sie nicht verloren war. Norderney hatte damals diese Funktion erfüllt. Es war eine Insel, ein geschützter Raum, von Wasser umgeben. Als ob die Welt draußen bleiben müsste, solange man dort war. Vielleicht war es naiv, zu glauben, dass sie dort etwas von der alten Wärme wiederfinden würde. Aber es war ein Versuch. Und das war mehr, als sie in den letzten Monaten gehabt hatte.
Sie schrieb das Wort Norderney in das Notizbuch, mit zögerlicher Hand. Darunter setzte sie ein Fragezeichen. Dann zog sie eine Linie darunter, fest, entschlossen, fast trotzig. Das Meer rauschte noch immer im Hintergrund, eine ewige Stimme, die erzählte und schwieg zugleich. Es war, als würde es ihr sagen: “Komm, wenn du bereit bist.“
Am nächsten Morgen erwachte sie früh, noch bevor das Licht vollständig den Himmel erreicht hatte. Die Nacht war unruhig gewesen, gefüllt mit Träumen, in denen ihre Eltern ihr begegneten, nicht als Geister, sondern lebendig, in Szenen aus früheren Jahren. Ihre Mutter mit dem Sonnenhut, die sich nach ihr umdrehte, ihr Vater, der sie auf den Schultern trug. Als sie aufwachte, war da wieder diese Mischung aus Schmerz und Dankbarkeit. Der Verlust war da, ja ... aber auch das Geschenk, sie gehabt zu haben.
Lena stand am Fenster ihrer Wohnung in der Stadt und blickte hinaus auf die regennassen Wände der Nachbarhäuser. Den Morgen über hatte sie in dem gut eingerichteten Fitneßraum ihrer Wohnung zugebracht und bis fast zur Erschöpfung an den Geräten und mit den Hanteln gearbeitet. Nicht nur um ihren Körper in Form zu halten, sondern um sich abzulenken. Das tat sie nun bereits seit dem Tode ihrer Eltern jeden Tag. Danach legte sie sich eine Weile auf die Sonnenbank und döste vor sich hin. Die Erfolge waren gut sichtbar und so ziemlich das einzige, was Lena derzeit zufrieden machte.
Ihre Wohnung nahm die gesamte Fläche des Daches auf dem modernen dreigeschossigen Haus ein. Etwa zweihundertsiebzig Quadratmeter Wohnraum, aufgeteilt in großzügige Räume. Hinzu kamen zwei weite Dachterrassen an beiden Enden dieser Wohnung. Eine Luxuswohnung, wie nur wenige sie besaßen. Auch hier in Timmendorfer Strand nicht, unweit des Ostseeufers. Die Sonne schien derzeit anscheinend nur selten in diese Ecke der Stadt, und wenn, dann fühlte es sich an, als würde sie die Trostlosigkeit nur noch mehr betonen. Lena seufzte tief und strich sich eine Strähne ihrer weißblonden Haare aus dem Gesicht. Mit 22 Jahren hatte sie bereits mehrere enttäuschende Beziehungen hinter sich, die ihr Herz schwer und ihre Hoffnung auf wahre Liebe fast erlöschen ließen. Die Männer, die in ihr Leben traten, schienen immer nur an ihrer äußeren Schönheit interessiert zu sein – an ihren perlweißen Zähnen, an ihren strahlend blauen Augen, die sofort die Aufmerksamkeit auf sich zogen, und natürlich noch viel mehr an ihrem sportlichen Körper mit dem üppigen, festen Busen und den stark ausgeprägten Brustwarzen. Diese Brustwarzen, die schon bei der geringsten Erregung hart und groß wurden, wie Lena aus Erfahrung wusste. Doch hinter der Fassade der Bewunderung verbargen sich oft nur oberflächliche Absichten und flüchtige Vergnügungen. Das hatte sie mehrfach festgestellt, seitdem sie sich der körperlichen Liebe hingegeben hatte. Ein Akt, der ihr zwar eine gewisse Befriedigung brachte, sie aber niemals vollends befriedigt hatte. Es war fast so, als ob ihr irgendetwas dabei fehlen würde. Sie hatte lange gerätselt aber die Lösung nie gefunden. Zudem hatte sie endlich und endgültig erkannt, dass sie für ihre Männerbekanntschaften fast so etwas wie eine Trophäe war. Das wollte sie nicht.
Lena hatte genug. Sie hatte beschlossen, der Männerwelt den Rücken zu kehren und sich selbst eine Auszeit zu gönnen. Ein Ort, an dem sie zur Ruhe kommen und ihre Gedanken ordnen konnte, fernab von den Verpflichtungen und Enttäuschungen des Alltags. Ihre Wahl fiel dabei endgültig auf die Insel Norderney, ein Ort, der ihr immer wie ein Traum vorgekommen war. Sie buchte ein Hotel, das dicht an der Promenade lag, und freute sich auf die frische Meeresluft und die beruhigende Weite des Ozeans. Die Anreise sollte mit einer Fähre erfolgen, und Lena stellte sich vor, wie sie an Deck stehen würde, den Wind in den Haaren und die Gischt des Meeres auf der Haut. Es war ein Bild, das sie innerlich aufatmen ließ und ihr das Gefühl gab, endlich wieder frei zu atmen.
Am Tag ihrer Abreise wachte Lena früh auf, erfüllt von einer Mischung aus Aufregung und Vorfreude. Sie packte ihre Koffer sorgfältig, legte besondere Wert auf bequeme, aber stilvolle Kleidung, die ihr Selbstbewusstsein stärken sollte. Kleidung war ihr wichtig. Sie selbst trug am liebsten enge Kleider, die ihr bis zur Mitte der Oberschenkel reichten, dazu Overknee-Stiefel und einen langen Mantel. Mit dem Schmuck war sie sparsam. Nur ab und zu legte sie eine dünne Goldkette an, an der ein gefasster Diamant glitzerte. Ein Erbstück von ihrer Mutter. Ringe trug sie noch seltener und Armbanduhren waren ihr zuwider. Nur wenn sie einmal keine Stiefel trug, was jedoch selten vorkam, dann legte sie ein dünnes Goldkettchen um jedes ihrer Fußgelenke. Ebenfalls Erbstücke von ihrer Mutter. Ihre weißblonden Haare fielen ihr in weichen Wellen weit über die Schultern und sie trug ein leichtes Make-up, das ihre strahlenden blauen Augen noch deutlich mehr betonte.
Für die Reise selbst jedoch hatte sie sich anders gekleidet. Jeans, Sneakers an den bloßen Füßen, ein weiter Pullover und eine kurze Lederjacke. Mit einem letzten Blick auf ihre Wohnung verließ sie das Haus. Vor der Tür wartete bereits ein Taxi, welches sie zum Hafen bringen sollte. Ein Weg von etwa zwei Stunden, der wohl eine gewisse Summe kosten würde. Geld jedoch war Lena völlig egal. Ihre verstorbenen Eltern hatten ihr derart viel Kapital hinterlassen, dass sie es sich spielend leisten konnte und auch nicht darauf angewiesen war einer geregelten Arbeit nachzugehen. Das Haus, auf dessen Dachetage sich die extravagante Wohnung von Lena befand, war eines der Dinge, die sie geerbt hatte. Davon wussten jedoch nur die verschwiegenen Züricher Rechtsanwälte, die das Vermögen verwalteten und sich um alles kümmerten. Alle anderen Hausbewohner nahmen an, Lena wäre eine normale Mieterin. Lena hätte auch in München wohnen können. Dort besaß sie ebenfalls eine Wohnung, welche allerdings jetzt langfristig vermietet war. Eine Tatsache, über die Lena niemandem aufklärte. Ihre Eltern hatten ihr früh beigebracht, dass man schweigsam sein sollte, wenn es um das verfügbare Vermögen ging. Es gab zu viele Neider oder Menschen, die andere einfach des Geldes wegen ausnutzen wollten.
Vor allem das Gefühl von anderen Menschen ausgenutzt zu werden war Lena etwas, was sie zunehmend verabscheute. Nicht nur das Materielle Ausnutzen sondern vor allem das Ausnutzen wenn es um Sex ging. Sie selbst liebte es Sex zu haben. Jedoch hatte sie die bittere Erfahrung gemacht, dass kaum ein Mann sich darum gekümmert hatte, dass auch Lena vollends befriedigt wurde. Immer hatten die Männer in erster Hinsicht nur an sich selbst gedacht.
Sie stieg in das Taxi, ein Mercedes, der bereits in die Jahre gekommen war aber gut gepflegt erschien. Die Taxifahrerin grinste ihr fröhlich zu und das Taxi machte sich sogleich auf den weiten Weg zum Hafen in Norddeich-Mole, wie der Fährhafen hieß. Eine lange Fahrt, während der Lena zeitweise immer wieder eindöste, während sie auf dem Rücksitz saß. Die ältere Taxifahrerin schwieg und konzentrierte sich auf die Fahrt, was Lena durchaus recht war.
Die Fähre wartete bereits, als das Taxi sie im Hafen absetzte. Ein wenig imposantes, kleines Schiff, das sie über das Meer zu ihrem Ziel bringen würde, welches in der Ferne bereits sichtbar war. Sehr weit war die Insel Norderney vom Festland wahrlich nicht entfernt. Hauptsächlich wurden Urlauber transportiert, die sich auf die Fähre drängten. Jedoch auch Fahrzeuge wurden an Bord genommen. Zumeist Lieferfahrzeuge, wie es Lena auffiel. Lena stieg an Bord und fand einen Platz an Deck, von wo aus sie die Küste langsam verschwinden sah. Der Wind war kühl, aber erfrischend und sie schloss die Augen, um die Geräusche des Meeres und das sanfte Schaukeln des Schiffs zu genießen. Die Reise dauerte nicht lange und schon bald tauchte die Silhouette von Norderney am Horizont auf. Lena fühlte, wie ihre Anspannung langsam von ihr abfiel und sie konnte es kaum erwarten, ihren Urlaubsort zu erkunden.
Fast eine Stunde dauerte die langsame Überfahrt. Als die Fähre im Hafen von Norderney anlegte, nahm Lena ihren Koffer und stieg von Bord. Die Insel empfing sie mit Sonnenschein und einem warmen, einladenden Gefühl. Sie spürte, wie ihre Schritte leichter wurden, je näher sie ihrem Hotel kam. Ein Fußmarsch von beinahe einer halben Stunde, der sie durch das Zentrum der kleinen Insel führte. Sie passierte Cafés und kleine Geschäfte, die lokale Spezialitäten und Souvenirs anboten, und atmete tief die salzige Luft ein. Die Promenade, die sich entlang des sauberen Strandes erstreckte, war belebt, aber nicht überfüllt. Lena genoss die fast greifbare Atmosphäre, diese Mischung aus Entspannung und leiser Freude, die in der Luft lag und sie stumm willkommen hieß. Es war fast wie in einer anderen Welt. Eine Welt, die sorglos erschien.
Schließlich erreichte sie ihr Hotel, ein elegantes Gebäude, das sich harmonisch in die Umgebung einfügte. Die Fassade war in einem hellen Farbton gehalten und die Fenster glänzten im Sonnenlicht. Lena betrat die Lobby, die mit modernen Möbeln und maritimen Accessoires eingerichtet war. Der Empfangschef, ein freundlicher Mann mittleren Alters, begrüßte sie herzlich und half ihr mit ihrem Koffer. Er erklärte ihr die wichtigsten Einrichtungen des Hotels und gab ihr einige Tipps für ihren Aufenthalt auf der Insel. Lena fühlte sich sofort willkommen und sicher, als ob sie nach Hause gekommen wäre. Eine Wohltat nach den vergangenen Wochen, in denen sie sich zuhause förmlich verkrochen und ihre Wohnung nur selten für mehr als die Einkäufe von Lebensmitteln verlassen hatte.
Mit einem Lächeln auf den Lippen nahm sie den Schlüssel zu ihrem Zimmer entgegen und machte sich auf den Weg zu ihrem neuen Zuhause für die nächsten vierzehn Tage. Der Flur war ruhig und einladend, und als sie die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, war sie überwältigt von dem Anblick, der sich ihr bot. Das Zimmer war hell und geräumig, mit großen Fenstern, die den Blick auf das Meer freigaben. Die Einrichtung war modern und gemütlich, mit einem großen Bett, das zum Entspannen einlud, und einem Schreibtisch, an dem sie ihre Gedanken notieren konnte. Lena stellte ihren Koffer ab und trat ans Fenster, um den Ausblick zu genießen. Die Wellen rollten sanft ans Ufer, und die Sonne spiegelte sich auf der glatten Oberfläche des Wassers. Es war ein Moment der Ruhe und des Friedens und Lena wusste, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Hier, auf dieser Insel, konnte sie endlich zur Ruhe kommen und ihre Wunden heilen lassen.
Lena freute sich bereits darauf, den Sportbereich des Hotels zu besuchen, der auf der Webseite angepriesen wurde. Augenscheinlich fehlte es nicht an modernen Sportgeräten. Lena hatte nicht vor, ihr selbst auferlegtes Sportprogramm zu vernachlässigen, zumal ihr Körper ihr signalisierte, dass es ihr guttat. Sie hatte schon immer einen geschmeidigen Körper besessen und Sport betrieben. Seit dem Tode ihrer Eltern jedoch war der Sport für sie fast zu einer Obsession geworden. Mittlerweile waren ihre Muskeln gut sichtbar. Ein Anblick, der ihr gut gefiel. Gedankenlos griff Lena unter ihren Pullover und strich sich über ihren flachen Bauch. Die Muskulatur war gut zu ertasten. Sie schmunzelte zufrieden.
Der warme Sommerwind auf Norderney war anders. Nicht so hart und trotzig wie an der Ostsee, wo er gegen Körper und Seele anstürmte, als wolle er einem alles entreißen, was man festhielt ... sondern weicher, geduldiger, fast wie ein ständiges Flüstern und doch mit einer versteckten Kraft die weit stärker war, als der Wind an der Ostseeküste. Lena spürte ihn, als sie am frühen Vormittag ihr Hotel verließ, den Schlüssel in der Jackentasche, das Gesicht leicht erhoben, um die salzige Seeluft zu schmecken. Das Gebäude, in dem sie untergebracht war, lag etwas zurückgesetzt, jedoch dicht an der Promenade, nur wenige Gehminuten vom Stadtzentrum entfernt. Sie schlenderte durch die Straßen. Weiß verputzte Wände, ein geschwungenes Schild mit verschnörkeltem Schriftzug “Haus Möwenblick“, ein anderes “Kapitänskajüte“. Sie sog das alles in sich auf. Balkone mit Geranienkästen, deren Blüten sich vom Wind leicht neigten. Es war schlicht, freundlich, zurückhaltend. Wie ein Ort, der nicht viel verlangte, sondern einfach da war. Für die Insulaner mochte das wohl teilweise anders sein aber Lena war Touristin und suchte hier Entspannung.
Unterwegs auf dem Kopfsteinpflaster der Straße bemerkte sie schnell, dass sie sich mit ihrer Garderobe von den übrigen Inselgästen unterschied. Hier galt eine andere Mode als an der Ostseeküste. Ein Unterschied, der fast nicht deutlich war jedoch ins Auge fiel, wenn man darauf achtete. Die Menschen, die ihr entgegenkamen, wirkten wie mühelos arrangiert. Nichts wirklich auffällig Modisches, aber fast nahezu durchweg geschmackvoll. Es war dieser subtile, unaufdringliche Stil, der eher leise Klasse als laute Trends transportierte. Dünne Daunenjacken in gedeckten Farben, hochwertige Wollmäntel, grob gestrickte Schals in Erdtönen, schlichte Chelsea Boots oder saubere, helle Sneaker. Viele der Frauen trugen Sonnenbrillen und um ihre Schultern hingen Taschen aus robustem Leder, Leinen oder in nordisch-klaren Designs. Es war keine aufgesetzte Eleganz, sondern ein sicheres Selbstverständnis. Lena wurde sich plötzlich ihrer eigenen Kleidung unangenehm bewusst. Sie wirkte wie ein Fremdkörper und man sah ihr den Touristen deutlich an.
Das wollte sie ändern. Nicht, weil sie mit den anderen mithalten wollte, nicht aus Eitelkeit. Es war eher ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit, nach einem kleinen äußeren Wandel, der einen inneren Schritt begleiten konnte. Vielleicht war es auch der Wunsch, sich wieder einmal in der eigenen Haut wohlzufühlen, sich selbst eine Form von Aufmerksamkeit zu schenken, die in den letzten Monaten vollständig verlorengegangen war. Ihr Blick blieb an einem Schaufenster hängen. Eine kleine Boutique mit warmem Licht, einem minimalistischen, aber einladenden Inneren, und auf einer Kleiderstange hing eine weiche, cremefarbene Bluse aus Seidenstoff, deren feine Knöpfe im Morgenlicht leicht schimmerten. Daneben ein grober, marineblauer Hoodie mit aufgesticktem Schriftzug: inselzeit. Lena lächelte flüchtig. Vielleicht war genau das, was sie brauchte. Ein paar Dinge, die ihr halfen, sich selbst wieder als Mensch zu fühlen, nicht nur als Hülle einer Vergangenheit.
Sie bummelte weiter durch die engen Gassen, betrachtete dabei die ausgestellten Kleidungsstücke, in den Schaufenstern. Schließlich stand sie eine Weile vor einer kleinen und expuisiten Boutique und betrachtete deren Auslage. Sie trat in das Geschäft ein und blickte sich prüfend um. Es roch nach Holz, Stoff und einer feinen, blumigen Duftnote, die nicht aufdringlich war, sondern eher wie eine Erinnerung an Sommerwiesen. Die Verkäuferin, eine Frau Mitte fünfzig mit silbergrauen Haaren, die sie zu einem lockeren Dutt gebunden hatte, begrüßte sie mit einem freundlichen Nicken, sagte aber nichts weiter. Kein aufdringliches Verkaufsgeplänkel. Lena war dankbar dafür. Sie schlenderte durch die kleinen, liebevoll sortierten Bereiche des Ladens. Neben schlichten Jeans in angenehmen, weichen Waschungen hingen Hemdblusen, Pullover aus Kaschmirmischungen, luftige Stoffe in Pastell, daneben kräftigere Farben. Moosgrün, ziegelrot, tiefes Ozeanblau. Nichts zu grell, nichts zu laut. Lena probierte eine dunkle Jeans, aus feinem schwarzen Leder, die sich wie eine zweite Haut anfühlte. Dazu und eine hellere Stoffjeans, mit einem leicht verkürzten Bein. Perfekt für den Sommerwind auf der Insel. Zwei Seidenblusen, eine in Weiß, eine in einem warmen Roséton, schlossen sich an. Schließlich, nach kurzem Zögern, fiel ihr Blick auf eine Handtasche aus cognacfarbenem Leder. Zeitlos, formschön, elegant ... und sichtlich überteuert.
Lena stand lange vor dem Regal mit der Tasche. Ihre Finger fuhren über das glatte, feste Material, das sich fast lebendig anfühlte. Normalerweise hätte sie die Handtasche wegen des überzogenen Preises stehengelassen und nicht weiter beachtet. Heute jedoch war sie in Kauflaune. Sie brauchte ohnehin nicht auf das Geld achten. Sie dachte, Warum nicht? Warum nicht mir selbst etwas schenken, wenn es sonst niemand tut. Ich lebe nur einmal und kann es mir leisten. Verdammt, warum zögere ich eigentlich?
Beladen mit zwei Einkaufstüten verließ sie das Geschäft und grinste fröhlich. Sie schlug den Weg zum Hotel ein, als sie stutzte. Sie stand vor einem kleinen Geschäft mit dem Namen ADENAUER. Sie kannte diese Bekleidungskette und besaß bereits das eine oder andere Kleidungsstück dieser Firma. Sogar in ihrem Koffer, der sich im Hotel befand war ein Hemd dieser Firma eingepackt. Kurzentschlossen betrat sie das Geschäft und fühlte sich sofort wohl. Sie mochte diesen Kleidungsstil und die einzelnen Bekleidungsstücke hatten eine Stoffqualität, an der sie sich stets erfreute, wenn sie diese trug. Kurze zeit später verließ sie das Geschäft und hatte zwei Hoodies und eine Jeans gekauft.
Zurück im Hotelzimmer legte sie die Einkäufe sorgfältig aufs Bett, sortierte sie, faltete manches, hängte anderes auf. Die Tasche stellte sie auf den kleinen Holztisch am Fenster, neben die Teetasse vom Vortag. Sie sah aus, als gehöre sie dorthin. Und irgendwie auch zu Lena.
Der Nachmittag hatte sich mittlerweile in ein gedämpftes, silbriges Licht gehüllt, das vom Himmel herabsickerte wie durch dünnes Leinen. Die Sonne zeitweise war nur als fahler Kreis hinter den Wolken erkennbar, aber der Wind hatte nachgelassen und zwischen den leichten Böen lag eine sanfte Wärme, wie ein vergänglicher Hauch von Frühsommer. Lena hatte sich umgezogen. Die Adenauer-Jeans, die sie neu gekauft hatte, saß perfekt. Nicht zu eng, nicht zu locker. Der Hoodie, ebenfalls von Adenauer, mit dem Wort meerzeit auf der Brust, fühlte sich wie eine Umarmung an. Ihre neue Tasche trug sie über der Schulter, leicht schräg, wie zufällig. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass sie sich beim Gehen nicht beobachtete. Keine innere Stimme, die sie kritisierte, keine Gedanken über die Wahrnehmung anderer. Nur ihre Schritte, das rhythmische Knirschen des Kieses unter ihren Schuhen und das leichte Schwingen der Tasche an ihrer Seite.
Die Strandpromenade von Norderney war zu dieser Tageszeit belebt, aber nicht überfüllt. Familien mit Kindern, ältere Ehepaare Hand in Hand, einzelne Spaziergänger, Jogger mit Kopfhörern, Touristen mit Kameras. Ein buntes, doch ruhiges Treiben. Lena nahm alles in sich auf, als wäre sie Zuschauerin eines Stücks, das langsam und unaufdringlich vor ihr aufgeführt wurde. Die Promenade war gesäumt von weißen Bänken mit geschwungenen Armlehnen, flachen Mauern aus Naturstein, hinter denen Dünenbewuchs in sanften Wellen auf und ab ging. Der Blick auf die Nordsee war weit und offen. Möwen standen regungslos auf den Geländern, nur gelegentlich flatterte eine davon. Irgendwo spielte leise Musik aus einem offenen Fenster … eine jazzige Melodie, fast nostalgisch, die sich mit dem Wind vermischte.
Lena folgte der Promenade und bog dann irgendwann ab in die Stadt. Nach einer Weile stand sie vor einem Cafe und trat dort ein. Man hatte ihr dieses Cafe im Hotel empfohlen. “Ein bisschen retro, ein bisschen mondän, aber mit Blick, der die Zeit anhalten lässt“, hatte die junge Frau an der Rezeption gesagt und dabei vielsagend gelächelt. Und tatsächlich, es traf zu. Selbst an diesem leicht grauen Tag wirkte es, als habe jemand das Licht eigens für diesen Ort gemischt. Silber, weiß, ein Hauch von Bernstein.
Sie fand einen Platz direkt am Fenster. Eine niedrige Bank mit weichen Polstern in maritimen Farben. Der Raum war geschmackvoll eingerichtet, irgendwo zwischen skandinavischem Minimalismus und nostalgischem Seebad-Flair. Weiße Holzwände, warme Holztische, große, runde Lampen mit messingfarbenen Akzenten. Auf der Fensterbank standen kleine Vasen mit getrocknetem Strandhafer und stummelschmalen Kerzen, die flackerten, als hätten sie ein Eigenleben. Lena bestellte einen Milchkaffee ... aus alter Gewohnheit. Sie seufzte wohlig und lehnte sich zurück. Als der Kellner ihr das Getränk brachte, nickte sie dankbar. Der Kaffee war heiß, die Tasse schwer und angenehm warm in ihren Händen. Sie hob sie vorsichtig an die Lippen und atmete tief ein. Der Duft war mild, cremig, mit einem Hauch von Vanille. Es war ein Moment vollkommener Gegenwärtigkeit.
Stunden später besuchte sie die allseits bekannte Milchbar, direkt an der Promenade. Sie setzte sich in den Innenraum, direkt an die bodentiefen Scheiben und lümmelte sich dort in einen der bequemen Sessel.Von hier aus konnte sie das Geschehen auf der Promenade beobachten, ohne selbst Teil davon zu sein. Wie in einem sanften Film zog das Leben an ihr vorbei. Ein Vater, der seine Tochter auf den Schultern trug und ihr etwas ins Ohr flüsterte, woraufhin sie glucksend lachte. Eine ältere Dame mit einem kleinen weißen Hund, der mit überraschender Energie an der Leine zerrte. Zwei Teenagerinnen mit übergroßen Eistüten, die kichernd auf ihre Handys blickten. Ein Mann mittleren Alters mit einer Kamera um den Hals, der sich alle paar Meter bückte, um Muscheln zu fotografieren, als seien es Kunstwerke. Lena betrachtete sie alle mit einer stillen, sanften Neugier. Nicht aus Urteil, nicht aus Sehnsucht, sondern mit einem leisen Staunen. So also lebt die Welt weiter.
Sie trank ein Glas Weinschorle, in dem zwei Eiswürfel klimperten und genoss einfach den Moment. Mittlerweile hatten die Wolken sich verzogen und die Sonne stand wieder klar am Himmel. Ein Sommertag, wie Lena ihn sich wünschte. Lange saß sie hier und blickte auf das Meer. Schließlich stand sie auf und ging zurück in das Hotel. Sie würde dort noch eine Kleinigkeit essen und dann früh das Bett aufsuchen.
Die Tage auf Norderney vergingen wie im Flug, und Lena fand sich in einer Welt des Friedens und der Entspannung wieder. Sie verbrachte ihre Morgen mit langen Spaziergängen entlang der Promenade, genoss die frische Meeresluft und beobachtete die Wellen, die sanft ans sandige Ufer rollten. Die Sonne schien warm auf ihre Haut und sie fühlte, wie die Anspannung der letzten Monate von ihr abfiel. In den Nachmittagen erkundete sie die Insel, besuchte kleine Cafés und Boutiquen, und ließ sich von der entspannten Atmosphäre treiben. Nicht selten suchte sie gegen Mittag ein Lokal auf, dass sich Surf-Cafe nannte und direkt an der Promenade lag. Auch die allseits bekannte Milchbar, direkt an der Promenade gehörte schnell zu den Orten, die Lena öfter besuchte. Gegen Abend wurde es dort aber zu quirlig und Lena verlangte es noch nach Ruhe. Die Abende verbrachte sie oft auf ihrem Balkon, ein Glas Wein in der Hand, und beobachtete den Sonnenuntergang, der den Himmel in ein Meer von Farben tauchte. Es war, als ob die Zeit hier langsamer verging, und Lena fühlte sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder lebendig und frei.
Die ersten Tage vergingen und Lena lebte sich auf der Insel ein. Am Tage war es relativ ruhig auf den Straßen doch wenn die Nacht hereinbrach, entdeckte Lena eine ganz andere Seite der Insel. Norderney erwachte zum Leben, und die Straßen füllten sich mit Menschen, die das Nachtleben genießen wollten. Lena, die sich bisher nur tagsüber oder am frühen Abend auf der Insel bewegt hatte, war überrascht von der lebhaften Atmosphäre. Bars und Clubs öffneten ihre Türen, und die Musik drang bis auf die Straße. Lena, die sich zunächst zurückgezogen hatte, konnte der Neugier nicht widerstehen und beschloss, eines Abends einen Spaziergang durch die beleuchteten Straßen zu machen. Die Lichter der Bars und Restaurants spiegelten sich in den Fenstern, und die Geräusche von Gelächter und Musik erfüllten die Luft. Lena fühlte sich von der Energie angezogen und wanderte durch die Gassen, beobachtete die Menschen, die in kleinen Gruppen zusammenstanden und sich unterhielten. Es war eine Welt, die sie nicht erwartet hatte, und sie war fasziniert von der Vielfalt und dem Leben, das sich hier abspielte.
An einem der Abende, als Lena sich auf den Weg zu einem kleinen Restaurant machte, um dort zu Abend zu essen, wurde sie plötzlich von einer Gruppe junger Männer angesprochen. Sie waren gut gekleidet und hatten offensichtlich ein Auge für schöne Frauen. “Hallo, ich bin der Max,“ sagte einer von ihnen mit einem charmanten Lächeln. “Darf ich dir Gesellschaft leisten? Du siehst einsam aus.“ Lena, die sich auf einen ruhigen Abend gefreut hatte, fühlte sich überrascht, aber auch leicht genervt. Sie wollte keine Gesellschaft und das machte sie deutlich. “Danke, aber ich ziehe es vor, allein zu bleiben,“ antwortete sie freundlich, aber bestimmt. Max und seine Freunde tauschten Blicke aus, aber sie respektierten ihre Entscheidung und zogen lachend und sich unterhaltend weiter. Lena atmete erleichtert auf und setzte ihren Weg fort, froh, dass sie ihre Grenzen klar gesetzt hatte.
Doch diese Begegnung mit Männern, die ihre Aufmerksamkeit erregten, sollte nicht die letzte bleiben. An einem anderen Abend, als Lena nach einem langen Tag am Strand entspannt durch die Stadt schlenderte, wurde sie erneut angesprochen. Diesmal war es ein einzelner Mann, zudem anscheinend etwas angetrunken, der ihr folgte und versuchte, ein Gespräch zu beginnen. “Du siehst aus, als ob du hier fremd bist,“ sagte er mit einem Lächeln. “Ich könnte dir die Insel zeigen, wenn du möchtest.“ Lena, die keine Lust auf weitere Annäherungsversuche hatte, blieb stehen und sah ihn direkt an. “Danke, aber ich komme zurecht,“ erwiderte sie mit fester Stimme. “Ich möchte einfach nur meine Ruhe haben.“ Der Mann nickte gleichmütig, schien ihre Ablehnung zu akzeptieren und ging weiter. Lena fühlte sich erleichtert, dass sie ihre Position klar gemacht hatte, ohne wirklich unhöflich zu sein. Sie hasste Unhöflichkeit.
Trotz dieser Begegnungen ließ Lena sich ihre gute Laune nicht verderben. Sie genoss weiterhin die Abende auf ihrem Balkon, beobachtete die Sterne und lauschte dem sanften Rauschen des Meeres. Die Insel hatte eine magische Anziehungskraft, und Lena fühlte sich immer mehr zu ihr hingezogen. Sie begann, sich selbst zu entdecken, ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu erkennen, ohne sich von den Erwartungen anderer leiten zu lassen. Die Männer, die sie ansprachen, wurden für sie zu einer Art Test, ob sie ihre Grenzen wahren konnte. Und sie stellte fest, dass sie es konnte. Mit jedem Tag wuchs ihr Selbstbewusstsein, und sie fühlte sich stärker und unabhängiger. Allerdings spürte sie bisweilen, wie ihr Körper sich meldete und förmlich danach schrie endlich wieder Lust zu erfahren. Lena hatte sich bisher nur selber Erleichterung verschafft und war mit dem Ergebnis nicht völlig zufrieden. Zwar hatte sie ihre Orgasmen aber es sich lediglich selbst zu machen war etwas neues für sie. In der Vergangenheit hatte sie ihre Orgasmen von ihren verflossenen Beziehungen erhalten. Nicht immer war dies vollkommen erfüllend gewesen aber sie kannte es nicht anders. Auch dies war ein Grund, der Männerwelt den Rücken zu kehren. Die meisten Männer dachten nur an sich selbst. Dies alles schien Lena wie bereits sehr lange zurückzuliegen. Sie genoss ihre Freiheit und schlenderte nun jeden Abend durch das Nachtleben. Zumeist brachte eine Weile in der Milchbar zu, blickte auf das Meer und bewunderte den Sonnenuntergang, um dann noch irgendwo eine Kleinigkeit zu trinken, bevor sie in ihr Hotelzimmer zurückkehrte.
Es war einer dieser späten Abende auf Norderney, an denen die Luft sich mit einer sanften Kühle füllte, als würde die Insel selbst langsam zur Ruhe kommen ... und doch war unter der Oberfläche noch Leben. Die Gassen zwischen den kleinen Bars und Kneipen der Stadt waren vom warmen Licht der Laternen durchzogen, das sich auf den Pflastersteinen spiegelte. Der Himmel war dunkel, von wenigen dünnen Wolken durchzogen, zwischen denen gelegentlich Sterne aufblitzten, als müssten sie sich durchschlängeln. Lena ging langsam, die Hände in den Taschen ihres neuen Hoodie vergraben, den Kopf leicht geneigt, während ihre Schritte leise durch die Gasse hallten.
Sie hatte den Tag lesend am sonnigen Strand verbracht, in einem dieser überdachten Strandkörbe, die überall standen. Der Wind war schwächer geworden und die Sonne hatte sich immer wieder gezeigt. Es war nicht heiß gewesen aber angenehm warm. Ausreichend, um das Gesicht zu wärmen und leichte, luftige Kleidung zu tragen. Es war ein friedlicher Tag gewesen. Ein Tag, an dem sie nicht weinen musste. Ein Tag, an dem sie gegessen, gelächelt und sogar gelacht hatte, als ihr eine Möwe beinahe den Keks aus der Hand stahl.