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Ein deutscher Kriminalkommissar, Jens Schneider aus Frankfurt, ist in der Lebenskrise. Sein Ziel: Erst einmal Urlaub machen, Abstand gewinnen. Der Roman beginnt vor seinem Urlaubshotel in Südfrankreich. Die Kleinstadt Cassis mit ihrer malerischen Hafenkulisse ist ein Sehnsuchtsort, der vor dem inneren Auge der Leserschaft entsteht. Doch auch im Urlaubsparadies holt ihn sein bisheriges Leben ein. Der Mord an einer jungen Kellnerin des Hotels eröffnet den Spannungsbogen mit einer Kette mysteriöser Ereignisse. Als der Kommissar wenig später das Opfer eines zweiten Mordes tot auffindet, wird er endgültig in das schicksalhafte Geschehen verwickelt. Er gerät selbst in Verdacht und wird irrtümlich in Marseille inhaftiert. Die Kriminalität hinter den Fassaden, Edelprostitution und die Beziehungslosigkeit der Figuren sind die Themen des Kriminalromans, der zugleich Liebes- und Reiseroman ist. Spannung und das Aufkeimen einer neuen Liebe, faszinierende Landschaften und die Hoffnung auf ein Happy End. PETER BERG, Maler (PiTTo) und Autor, geht nach seinem historischen Roman "NOAMI - Eine Reise nach Jerusalem" wieder auf Reisen und führt seine Leserschaft in die traumhafte Küstenlandschaft Südfrankreichs. Mit seinem dritten Roman folgt er der THESE VOM LESEN ALS DEM NEUEN REISEN zu Corona-Zeiten. www.Pitto.de
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Seitenzahl: 385
Veröffentlichungsjahr: 2020
www.tredition.de
PETER BERG
Ein Sommerin Cassis
Kriminalroman
© 2020 PETER BERG
Verlag & Druck: tredition GmbH,
Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-347-11355-8
Hardcover:
978-3-347-11356-5
e-Book:
978-3-347-11357-2
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Prolog
Es ist ruhig geworden in den Calanques. Der Skandal des vorigen Jahres ist noch nicht vergessen.
Jetzt sitzen wir auf der Terrasse ihres Hauses und schauen hinüber zu dem Schicksalsberg, auf dem ich fast zu Tode gekommen wäre.
Catherine meint, all das, was uns widerfuhr und was daraus wurde, sei „l'ironie du sort“, Ironie des Schicksals.
Ohne die Verkettungen der dramatischen Ereignisse hätten wir unsere Liebe nie entdeckt. So gesehen war es der entscheidende Sommer meines Lebens.
1
Niemand konnte sagen, warum Isabelle heute nicht wie immer den Weg durch den Ort zum Hotel genommen hatte, sondern offenbar direkt zum Hafen gegangen war. Die junge Kellnerin hatte mir jeden Morgen fröhlich zugezwinkert und gefragt „Comme toujours?“ („Dasselbe wie immer?“). Dann hatte sie mir das für deutsche Verhältnisse karge französische Frühstück gerichtet: Café au Lait, in zwei Kännchen getrennt, die größere Portion mit Milch, die kleinere mit Kaffee, Croissant mit Butter und Konfitüre und einem zusätzlichen Brötchen.
Nun lag sie auf dem hölzernen Bootssteg, die Augen weit geöffnet mit Schrecken im Blick. Als habe sie zuletzt einem Ungeheuer ins Auge geschaut. Das kurze, bunte Leinenkleid vorn zerrissen, die langen, blonden Haare zerzaust, triefend nass, wie man sie gerade aus dem Wasser des Hafenbeckens gezogen hatte. Zwei Fischer sahen sie an der Wasseroberfläche treiben, als sie von ihrer Fahrt zurückkehrten. Rasch hatten sie das Mädchen aus dem Wasser gefischt. Doch es war zu spät.
Ratlose Betroffenheit in den Gesichtern der Umstehenden: Fischer, Restaurantbedienstete, Hotelgäste und einige der älteren Frauen des Dorfes. In ihren verwaschenen, blauen und dunkelroten Küchenkitteln warteten sie jeden Morgen auf die Rückkehr der Boote, um den Fang zu begutachten. Wenn die Fische dann auf den Holztischen am Kai ausgebreitet liegen, mit offenen Mäulern, die eben noch vergebens nach Luft schnappten und mit weit aufgerissenen Augen, feilschen die Weiber eifrig und lauthals mit den Fischern um die besten Stücke. Dann tragen sie ihre Beute für wenig Geld zusammen mit dem typischen Geruch in ihren Basttaschen nach Hause.
Außer mir, dem Frühaufsteher, war noch kein Tourist zu sehen. Sie kommen erst gegen neun aus ihren Hotels. Müden Blickes, die Nacht mit ihren Freuden noch in den Gliedern. Bis weit nach Mitternacht geht das sommerliche Treiben in den Gassen und Lokalen von Cassis. Für viele Sommergäste, vor allem die von den prachtvollen Yachten, fängt das Leben erst am Nachmittag an.
Es war mir schon aufgefallen, dass mir Catherine, die Concierge, heute den Kaffee selbst brachte. Der kleine, tägliche Flirt mit der hübschen Isabelle fehlte mir an diesem Morgen. Aber ich hatte nicht weiter darüber nachgedacht. Auch sie hatte ein Anrecht auf einen freien Tag. Die Sonne knallte am siebten Tag meines Urlaubs wie schon alle Tage zuvor von einem Himmel, wie man ihn sich bei uns nur erträumt. Bis zuletzt hatten mich die rätselhaften Prostituiertenmorde, die seit Wochen die Frankfurter Halbwelt in Aufruhr brachten, auf Trab gehalten. Als Erster Kriminalhauptkommissar und Leiter des Kommissariats Tötungsdelikte, Leichen und Vermisstensachen konnte ich gerade in dieser Zeit meine Kollegen nicht im Stich lassen. Ich musste den geplanten Urlaub immer wieder verschieben. Doch dann hatten wir den erhofften Erfolg.
Die von mir inszenierte Lockvogelaktion wäre fast dramatisch ausgegangen. Eine unserer besten Nachwuchspolizistinnen hatte sich freiwillig zu diesem Einsatz gemeldet. Vier Frauen waren der Bestie in nur sechs Wochen zum Opfer gefallen. Dann endlich konnten wir sie kurz vor dem nächsten Mord ergreifen. Ich war ein hohes Risiko eingegangen, doch der Erfolg rechtfertigte die Mittel.
Gleich nach der Pressekonferenz mit dem Polizeipräsidenten war ich gestartet. Einfach losgefahren Richtung Süden, nichts wie weg! Fluchtartig, gewiss. Nach den letzten Tagen mit kaum hinreichendem Schlaf war auch die weite Fahrt eine Tortur. Ich habe aber schon oft festgestellt, dass ich gerade am Ende von Anstrengungsphasen zu Höchstleistungen in der Lage bin. Und da eignet sich eine lange Fahrt mit dem Auto besonders, weil sie spürbar Abstand schafft. Einfach abschalten wollte ich, eintauchen in eine andere Welt, fernab von Zwielicht und Gewalt.
Und nun holte mich das alles doch wieder ein. Was für ein Albtraum in dieser traumhaften Umgebung!
Zuerst hatte ich von meinem morgendlichen Stammplatz unter dem Platanendach vor dem ‚Hôtel du Port‘ nicht so recht erkennen können, was die Fischer da mit einer Stange im Wasser heranzogen. Als dann immer mehr Menschen zum Steg liefen, aufgeregtes Rufen herüber scholl, sie den schlanken, leblosen Körper aus dem Wasser hievten und hektische Versuche der Wiederbelebung die ansonsten so gemächliche Ruhe störten, kam es mir vor wie in einem Film aus lange vergangener Zeit.
So schnell kann man sich an das andere, süße Leben gewöhnen. Oh, ich könnte das alles ohne Probleme leicht hinter mir lassen! Seit ich fünfzig bin, denke ich öfter an die Möglichkeit, nochmal ein anderes Leben zu führen. Zu schnell waren all die Jahre in täglicher Routine versunken.
Sie versuchten es immer wieder, rollten sie auf alle Seiten, drückten und pressten den geschundenen Leib der jungen Frau auf unglaublich stümperhafte Weise. Rechtfertigen konnte man das nur durch den verzweifelten Versuch der Wiederbelebung. Ich hatte mich nach anfänglichem Zögern in Bewegung gesetzt und mich wie in Trance in den Film eingefunden. Ich war die paar Meter zum Steg gegangen und hatte es auf einen Blick gesehen.
„Il n‘y a plus de chance. Elle est morte“, hörte ich mich sagen, „Pech gehabt, sie ist tot.“
In den letzten Jahren nach meiner Scheidung war ich unregelmäßig immer mal wieder nach Südfrankreich gefahren. Wie damals, als die Kinder noch klein waren. Heute kommt es mir vor, als suchte ich die Spuren der verlorenen Jahre. Mein Französisch funktionierte jedenfalls noch immer recht gut.
Die Umstehenden sahen mich schweigend und betreten an, als hätte ich gerade das Todesurteil gesprochen. In diesem Moment kam eine beleibte Frau laut rufend und mit den Armen rudernd aus einer der schmalen Gassen, die hier im rechten Winkel auf die Hafenmole treffen. Sie stolperte in ihren Hauspantoffeln über den Platz. Schon von weitem rief sie immer wieder den Namen Isabelle. Sie musste die Mutter des Mädchens sein.
Schlechte Nachrichten verbreiten sich schnell.
Gleichzeitig mit ihr trafen die zwei örtlichen Gendarmen ein. Der Ältere, ein Glatzkopf, verschaffte sich sogleich mit gestrengem Ton Respekt: „Bitte zurücktreten, Mesdames et Messieurs!“ Der junge, schmächtige Kollege, den er im Gefolge hatte, unterstrich diese Aufforderung durch weit ausholende Gesten der Geschäftigkeit. Aber nur langsam wichen die versammelten Menschen vor der Obrigkeit zurück. Einzig die strohblonde Frau bahnte sich wild gestikulierend Raum durch die Menge. Sie stürzte sogleich auf die Tote und versank in der schmerzlichen Gewissheit des Erkennens schluchzend an der nackten Brust des Mädchens. Ein Bild des Jammers, die Polizisten ließen sie gewähren. Derweilen fragten sie die Umstehenden, wer die Frau aus dem Wasser zog. Der ältere Gendarme notierte die Namen der beiden Fischer. Nun traf auch der örtliche Doktor ein, noch im Morgenmantel. Seinen Arztkoffer auf den Planken geöffnet, musste auch er gleich erkennen, dass hier alle Mühe vergeblich war.
Nein, dies war hier jetzt wirklich nicht mein Geschäft! Langsam ging ich zu meinem verlassenen Frühstückstisch zurück, wo noch ein angebissenes Croissant neben der Tasse mit inzwischen kalt gewordenem Milchkaffee lag. Daneben der Roman und mein Tagebuch. Beides Versuche, in diesem Urlaub endlich mal wieder abzuschalten und mich auf Wesentliches zu besinnen. Schon kam das Geheul eines heranfahrenden Polizeifahrzeugs schrill um die Ecke. In knapp einer halben Stunde konnte man von Marseille herüberkommen. Ihm folgte ein ziviler Wagen der Mordkommission.
Nur zu gut kannte ich die Rituale, die jetzt einsetzten. Auch aus der Distanz konnte ich jeden einzelnen Schritt der Ermittlungen nachvollziehen. Ich zwang mich, mein Buch aufzuschlagen, um nicht hinüberschauen zu müssen. Doch ich ertappte mich, drei Seiten gelesen zu haben, ohne ein einziges Wort zu verstehen. Viel mehr kreisten meine Gedanken um diese Tätigkeit, die mir nun aus der Distanz so hoffnungslos, ja sinnlos vorkam. Nichts konnten sie mehr reparieren und wieder gut machen. Ein trauriges Geschäft. Mit der Zeit, so war mir schon lange klar, stumpft man ab in diesem Beruf. Man muss sich schützen vor all den grausamen Eindrücken. Leichen, die gerade noch beseelt im Leben waren, werden zu Objekten nüchterner Betrachtungen und Recherchen.
Zuerst deckten sie ein weißes Leinentuch über die Tote, um sie vor weiterer Neugier zu schützen. Und anstatt dem erbaulichen Gang meines Romanes zu folgen, sah ich für einen kurzen Moment nur das morgendliche Zwinkern Isabelles vor meinem inneren Auge. „Comme toujours?“
„Mein Gott, das junge Ding“, brachte Catherine hervor, als sie das Frühstücksgeschirr auf das silberne Tablett räumte. Sie war wie ich zum Steg hinübergelaufen, um einen Blick auf die ungewöhnliche Szene zu werfen. Dabei hatte sie voll Schreck feststellen müssen, dass die Tote ihre Kollegin war. Wie versteinert hatte sie an die zehn Minuten dort in der Menge gestanden. Dabei waren ihr die wildesten Mutmaßungen durch den Kopf geschossen. Dann regte sich ihr Pflichtbewusstsein und sie dachte daran, dass sie Hotel und Restaurant nicht zu lange unbeaufsichtigt lassen durfte und war zurückgeeilt.
„Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?“, fragte ich mit gewohnter Routine. Man kann seine Berufshaltung nicht so ohne weiteres abstreifen. Als ich es merkte, war die Frage schon heraus.
„Gestern am Mittag, sie hatte wie immer die Frühschicht von sieben bis fünfzehn Uhr.“
Catherine war eine auffallend hübsche Frau, Anfang bis Mitte dreißig, die tagsüber die Rezeption und morgens bei der Bewältigung des Frühstücks den Thekendienst versah. Da wir uns gleich sympathisch waren, hatten wir uns bei Gesprächen über belanglose Themen, Smalltalk übers Wetter und andere Befindlichkeiten, angefreundet.
„Ich habe sie gestern besonders fröhlich gesehen“, fuhr sie fort und war offenbar froh, mit jemandem über die schockierenden Ereignisse sprechen zu können. „Irgendwie war Isabelle verändert, in freudiger Erwartung, wenn ich es mir jetzt so überlege. Ich habe sie gefragt, ob sie in der Lotterie gewonnen hätte, aber sie hat nur ausweichend geantwortet, das könne man nie wissen geheimnisvoll die Augen nach oben gedreht. Dabei hat sie gelacht, wie sie es immer tat, um Fragen auszuweichen, die sie nicht beantworten wollte. Sie hatte ein so fröhliches Wesen. Dabei war es kein leichtes Leben, das sie führte. Und irgendetwas lag in der Luft.“
„Hatte sie einen Freund?“ fragte ich fast mechanisch weiter. Dass es sich nicht um Freitod oder einen Unfall handelte, war mir sofort klar gewesen, und auch Catherine schien dies zu wissen. Der starre Ausdruck des Grauens in den Augen des Mädchens hatte es mir gesagt. Wenn tote Augen sprechen könnten! Menschen, die ins Wasser gehen, um ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen, haben manchmal noch den Ausdruck der stillen Verzweiflung im Gesicht, oft aber auch einen Hauch von Ruhe, ja beinahe des friedlichen Einschlafens. Hier aber stand das Grauen mit solch unbarmherziger Deutlichkeit in dieses so schöne, junge Gesicht geschrieben, dass etwas Entsetzliches geschehen sein musste, bevor das Mädchen ins Wasser stürzte und ertrank. Auch das zerrissene Kleid sprach schon ohne nähere Untersuchung dafür, dass hier ein Verbrechen geschehen war. Zweifellos musste auch eine Obduktion angeordnet werden.
„Nicht dass ich wüsste“, entgegnete Catherine nach einer Weile des gedankenverlorenen Schweigens, „sie lebt bei ihrer Mutter und verdient für beide den Unterhalt. Die Frau bekommt wohl keine Rente, und ich glaube sie ist krank und kann nicht arbeiten. Der Mann ist früh gestorben, Isabelle hat nie von ihrem Vater gesprochen. Sie war meist von einem fröhlichen Wesen, aber auch sehr verschlossen, wenn es darum ging, Persönliches mitzuteilen. Sie sprach nicht gern über ihr Leben.“
„Weißt du, ob sie eine Freundin hatte, junge Mädchen sind doch selten allein, sie treffen sich, sie gehen zusammen aus?“
„Oh, was glauben Sie, Monsieur“, Catherine lachte kurz auf und vergaß für einen Moment das Drama, das sich ereignet hatte, „dafür gibt es überhaupt keine Zeit. Isabelle bedient doch abends noch bis Mitternacht in einem Fischrestaurant hier in einer der Seitenstraßen. Sie war so fleißig, mon Dieu, das arme Ding!“ Sie zuckte ratlos mit den Schultern und trug das Tablett davon.
Das Restaurant hatte sich inzwischen mit Hotelgästen gefüllt, meist Franzosen, die nun ihr Petit Déjeuner verlangten, einen Mocca und höchstens ein Croissant. Auch einige der Eigner von Luxusyachten, die hier vis à vis an der Mole ankerten, kamen gern auf eine Tasse des lebensspendenden Getränkes hierher. Nun, da sich das Ereignis im Hafen offenbar herumgesprochen hatte, bekam Catherine besonders viel zu tun, musste sie doch Isabelles Arbeit noch mit erledigen. Dennoch kehrte sie wenig später zu mir an den Tisch zurück und fügte wie in einem inneren Dialog, der sie in Rätseln gefangen hielt, hinzu: „Sie ist jeden Morgen auf direktem Wege von der Wohnung zur Arbeit gekommen, meist war sie spät dran und musste sich beeilen. Warum war sie heute so früh im Hafen? Ich verstehe das nicht. Und wer tut ihr so etwas an?“
Nein, ich wollte absolut nicht in diese Sache hineingeraten! Das war überhaupt nicht mein Fall, und indem ich mir dieses ins Bewusstsein rief, kam mir mein ursprünglicher Plan wieder in den Sinn, mich heute früh mit meinem Buch fernab der Strandgäste an den Leuchtturm zu setzen.
Tagebucheintrag:
Samstag, der 13. Juli
Wir schaffen uns unsere Welt, und unsere Welt schafft uns.
Mache ich mir doch endlich klar, dass ich irgendwann folgenreiche Entscheidungen getroffen habe, die dazu führten, dass ich dort angelangt bin, wo ich bin! Am Ende einer Sackgasse.
In meiner Frankfurter Tretmühle kann ich solche Gedanken nicht fassen. Hier aber, in dieser Oase, wird mir nun schlagartig klar, dass ich selbst der Mittelpunkt meiner Welt bin.
Da passiert ein aktueller Mordfall, und ich könnte doch ganz ruhig und gelassen auf meinem Kaffeehausstuhl sitzen bleiben, mich des schönen Tages erfreuen. Doch was tue ich? Die in meine Seele eingebrannten Muster lassen mich aufschrecken, als sei ich schon wieder an der Reihe, müsste auch hier wieder alle ungeklärten Mordfälle dieser Welt lösen.
Wenn man jung ist und aufstrebend, sucht man tragende Säulen.
Eine solche ist der Beruf. Ich habe mich, immer ehrgeizig, in der Hierarchie nach oben gedient. Niemand kann mir vorwerfen, ich sei jemals nachlässig und nicht genügend pflichtbewusst gewesen. Immer an vorderster Front, immer rund um die Uhr im Einsatz. Als Leiter der Abteilung schließlich ein Vorbild für alle.
Wirklich ein Vorbild?
Wir tun stets so, als wollten wir einen hohen Berg erklimmen, um irgendwann auf dem Gipfel zu stehen und dann in Ruhe den herrlichen Rundumblick zu genießen. Aber sind wir nicht eher wie hässliche Käfer, die an einem glatten Eisenrohr emporklettern, um, oben kaum angelangt, in die tiefe Dunkelheit hineinzustürzen? Oder, um in dem Bild vom Berg zu bleiben: Wir stürmen los und vergessen vor lauter Karrierestreben, oben inne zu halten. Wir rennen stattdessen am Gipfel weiter und stürzen in das dahinter liegende Tal.
Eine zweite Säule, die ich baute, die Familie, hat in meinem Leben schändlich gelitten. Viel zu spät habe ich gemerkt, dass man in meinem Beruf vielleicht gar keine Familie haben sollte. Es ist kein normaler Beruf, weil er keine geregelte Freizeit zulässt. Der Beruf hat mein Privatleben aufgefressen. Zuerst haben die Kinder ihren Vater immer weniger gesehen, dann hat Evelyn mich mit ihnen verlassen, als sie merkte, dass sich nichts ändern würde. Nun sind die Kinder erwachsen, Evelyn ist längst neu gebunden, sie hat rechtzeitig die Kurve gekriegt.
Wohin führt mein Weg?
Der runde, vielleicht nur fünfzehn Meter hohe Turm aus weißem Cassis-Stein hat eine umlaufende Bank. Sie macht seine besondere Attraktivität aus. Denn je nach dem Stand der Sonne und eigenem Wärmeempfinden kann man auf warmem oder kühlem Stein, im Sonnenschein oder Schatten sitzen.
Gemächlich war ich an den von ihren neuen Besitzern restaurierten Fischerhäusern am Kai entlang geschlendert. Vorbei an den Läden und Boutiquen, wo nun die Verkäuferinnen ihr Auslagen und Warenkörbe vor die Türen räumten. Der brünetten Brillenverkäuferin, die aus Neu-Isenburg stammte, hatte ich wie jeden Morgen freundlich zugewinkt, und sie hatte mir wie immer ein Lächeln geschenkt. Dann hatte ich den Platz am hinteren Hafenende überquert. Dort, wo jetzt unter Platanen die ersten Boule-Spieler ihre silber glänzenden Kugeln auspackten. Dann hatte ich mich, den Badestrand links liegen lassend, geradewegs auf mein Ziel am hinteren Ende der Mole zu bewegt.
Der weiße Kalkstein von Cassis, so las ich in einem Urlaubsführer, wurde bereits in der Antike genutzt. Die Kais des Hafens von Alexandria sollen aus ihm bestanden haben. Ganz sicher ist die Verwendung für den Sockel der Freiheitsstatue in New York. Ich setzte mich zuerst auf die dem Meer zugewandte Seite, um die warme Morgensonne zu genießen. Draußen kreuzten bereits zwei, drei der prachtvollen Jachten, die in den nahen Naturhäfen, den Calanques, ankern. Ein schnelles Boot jagte mit einem Wasserskiläufer am Horizont, die weiße Gischt hinter sich herziehend. Linker Hand ragt hier weithin sichtbar als Wahrzeichen des Ortes das gewaltige Felsmassiv des Cap Canaille fast senkrecht aus dem Meer. Mit seinen nahezu vierhundert Metern befindet sich hier die höchste, ins Meer abfallende Steilküste Europas. Davor, wie ein Adlernest, eine mittelalterliche Burganlage.
Am ersten Tag nach meiner Ankunft hatte ich die junge Kellnerin beim Frühstück danach gefragt.
„Nein, dort können Sie nicht hingehen, das ist privat!“ hatte sie mir geantwortet und mit deutlicher Ehrfurcht hinzugefügt „das sind die Michelins!“ Das hatte jedoch meine Neugier nur geweckt, und ich hatte mir vorgenommen, später zu versuchen, diesen geheimnisvollen Berg zu erkunden.
Vom Badestrand schallten nun die Stimmen der Sommergäste herüber. Lautes Kinderlachen und lustvolles Schreien, wenn eine Welle durch vorbeifahrende Motorboote verursacht, den flachen Strand bespülte.
Zuerst hatte ich in mein Tagebuch geschrieben, nun schloss ich die Augen, hielt mein Gesicht in die Sonne und genoss den leichten Wind, der von der See her wehte. Wenigstens etwas Bräune wollte ich mal wieder auffangen, um meine Frankfurter Büroblässe für ein paar Tage zu übertönen. Das hatte ich mir vorgenommen, und es war nach den paar Tagen schon gut gelungen. Dann wechselte ich die Turmseite und setzte mich, nun im angenehm kühlen Schatten, dem Hafen zugewandt. Dort drüben, vis-a-vis, lag mein Hotel, und daneben der Ort des grausigen Fundes von heute Morgen. Noch keine zwei Stunden waren es her, dass ich aus der trägen Urlaubslethargie aufgeschreckt und an meine berufliche Sphäre erinnert worden war. Von den Menschen, die sich versammelt hatten, war nichts mehr zu sehen, alles hatte sich verlaufen. Längst ging man wieder den Alltagsbeschäftigungen nach. War alles nur ein Spuk gewesen?
Mein Blick schweifte den Hang hinter den Häusern der vordersten Reihe am Hafen empor. Dort oben standen in auslaufenden Gärten prachtvolle Villen der Neureichen, die sich hier ein Sommerdomizil zugelegt hatten. Von dort musste man einen traumhaften Blick über die gesamte Bucht, auf das Cap Canaille, das mittelalterliche Schloss und den Hafen haben. Ich geriet ins Träumen.
Wie wäre es, wenn ich für immer hierbleiben könnte? Bevor ich diesen reizvollen Gedanken weiterspinnen konnte, zog ein Geschehen vor meinen Füßen meine Aufmerksamkeit auf sich. Zwei kleine Kinder, vielleicht um die Fünf, Junge und Mädchen, stritten immer lauter darum, wer einen Gegenstand, der dort im leise schwappenden Wasser bei der Hafeneinfahrt schwamm, zuerst mit einem Stock an Land ziehen durfte. Die Mütter der beiden waren derweil in einem Gespräch vertieft. Sie gönnten den Kleinen keinerlei Aufmerksamkeit. Meine Sorge galt den Kindern, die sich gefährlich weit auf einen der spitzkantigen Steine gewagt hatten und nun mit der nächsten Welle ins tiefe Wasser zu rutschen drohten. Instinktiv sprang ich auf und den Kindern zur Seite. Es war keine Sekunde zu früh, um den kleinen Mann, der sich mit dem Stock weit vorgelegt hatte, am Zipfel zu packen und vor dem Sturz ins Wasser zu retten. Der Stock entglitt ihm dabei, und er fing an, aus ganzer Seele zu schreien. Da erst hoben die Mütter ihre Augen und sahen einzig, wie ein fremder Mann den Jungen gepackt hatte. Sie stürzten herbei, nun selbst laut zeternd, und es dauerte eine Weile, bis ich ihnen den Ernst der Lage klargemacht hatte. Ob dieses wirklich gelang, konnte ich nicht feststellen, denn sie zogen schließlich mit ihren Kleinen von Dannen.
Nur der Stock, der inzwischen auf den Stein gespült worden war, blieb zurück und der im Wasser schwimmende Gegenstand. Dieser erregte nun auch mein Interesse, sah er doch aus wie eine Tasche aus schwarzem Leder, und als hätte diese noch nicht so lange Zeit im Wasser verbracht.
Für mich war es ein Leichtes, sie mit dem Stock aus den sanft dümpelnden Fluten zu angeln. Ich trug die Tasche zur Bank am Turm und leerte sie aus. Das Fundstück, das sich als bedeutsam erweisen sollte, trug außen eine silberfarbene Einstanzung, die es als Markentasche auswies. Ich kannte mich dabei nicht aus, hatte das Zeichen jedoch schon irgendwo gesehen. Ein Taschentuch mit kunstvollen Initialen I.V., ein Lippenstift, ein Schlüsselbund, fünfhundert Euro gerollt in Hunderterscheinen, ein paar lose Papierfetzen, geknüllt und mit Beschriftung, die deutlich in Gefahr war, durch die Nässe unlesbar zu wer-den, und, ich traute meinen Augen kaum, triefend nass aber entzückend, ein rosafarbener Spitzen-BH.
Mir schwante sogleich, was sich später bestätigen sollte. Ich packte alles schnell wieder ein, griff nach meinen Sachen und eilte die Mole mit mindestens dem doppelten Tempo als auf dem Herweg zurück. Hatte mich dieser ‚Fall‘ schon wieder eingeholt?
Als ich das Café bei meinem Hotel betrat, war es noch gut besucht von den Spätaufstehern und ersten Tagestouristen.
„Monsieur Schneider!“ rief Catherine, als ich am Empfang vorbei hastete, nur schnell meinen
Zimmerschlüssel greifend, „Ich muss Ihnen etwas berichten!“
„Später!“ entgegnete ich, „keine Zeit!“
2
Die Polizeipräfektur lag am oberen Ende der Rue César an einem kleinen Platz. Als ich eintrat, warteten bereits einige Menschen auf Bänken im Flur. Da ich diese Situation kenne, gab ich mir keine Mühe, mich in die Warteschlange einzureihen, sondern trat mit meinem berufsmäßigen Habitus sogleich an den Tresen, hinter dem ein Uniformierter saß, legte die Tasche, die inzwischen fast getrocknet war, darauf und sagte: „Monsieur, die Tasche gehört, glaube ich, zu Ihrem Kriminalfall.“
Der schreibende Beamte blickte kurz auf, musterte mich kritisch, stufte mich offenbar als Ausländer ein, überlegte kurz, ob er mich anweisen sollte, zu warten, merkte aber instinktiv an meiner bestimmten Haltung, dass es besser sein würde, sich mit mir nicht zu lange zu befassen und antwortete daher: „Welcher Fall?“„Der Fall des ermordeten Mädchens am Hafen“, entgegnete ich. Er lachte kurz auf, trat an den Tresen, sah die Tasche an und fragte: „Woher haben Sie diese?“
„Sie schwamm im Wasser am Leuchtturm.“
Derweil öffnete er den Reißverschluss, sah hinein und fragte: „Haben Sie irgend etwas herausgenommen?“
„Nein“, war meine schnelle aber nicht ganz richtige Antwort, hatte ich den Inhalt doch zweimal inspiziert, einmal auf der Steinbank am Leuchtturm und dann gründlicher in meinem Hotelzimmer. „Nein, es fehlt nichts“, fügte ich bestätigend hinzu, „auch die fünfhundert Euro habe ich darin gelassen!“
„Wissen Sie, wem die Tasche gehört?“ fragte der gar nicht unfreundlich wirkende Beamte.
„Nein, ich vermute es nur“, gab ich zurück, „heute Morgen sah ich aus der Ferne, wie man eine junge Frau aus dem Wasser zog, vielleicht ist es ihre Tasche.“
„Ist keine Carte d’Identité darin?“
Als ich dieses verneinte, hob er kurz die Augenbrauen, schaute mich prüfend an und sagte schließlich:
„Merçi Monsieur, wir werden das überprüfen!“ Dann nahm er das Stück, legte es ohne den Inhalt zu begutachten auf einen Tisch und wandte sich wieder seinen Schreibarbeiten zu.
Als ich anschließend durch die malerischen Gassen zum Hafen ging, war ich verwundert über diesen leichtfertigen Umgang mit Spuren. Er hatte offenbar gar nicht begriffen, dass hier wichtige Indizien vorlagen. Das waren dilettantische Unterlassungen, die, sollten sie Methode im gesamten Verfahren sein, dazu führen mussten, dass man diesen Mordfall kaum würde aufklären können! Er hatte sich im Übrigen weder nach meiner Identität erkundigt, noch sich auf einer Karte zeigen lassen, an welcher Stelle des Hafenbeckens ich die Tasche aus dem Wasser gefischt hatte. Auch das darf einem Polizisten, der immer und überall verpflichtet ist, Straftaten zu erkennen und aufzuklären, nicht passieren. Aber ich war nicht hier, um den französischen Kollegen ihre Arbeit zu erklären. Wieviele Chancen, begangene Verbrechen zu entdecken und aufzuklären, werden auch bei uns durch nachlässige Ermittlungen unfähiger Beamter vertan! Ich hatte einige Jahre an der Polizeischule gelehrt und konnte ein Lied davon singen, wie sehr uns die Probleme mit dem Nachwuchs zwangen, auch diejenigen noch einzustellen, die nach meiner Überzeugung kaum für den Beruf geeignet sind.
Catherine, die hübsche Empfangsdame, schaute mir mit verheißungsvollem Blick entgegen, als ich über den Vorplatz des Hotels kam, der bis auf den letzten Platz mit kleinen, runden Tischen und Stühlen ausgefüllt war, an denen nun Kaffeegäste saßen.
„Hallo Monsieur Schneider, hatten Sie einen angenehmen Tag nach dem schrecklichen Zwischenfall heute Morgen?“ Sie hauchte den Zischlaut ‚Sch‘ am Anfang meines Namens wie bei dem Wort ‚Chérie‘ und betonte die zweite Silbe.
„Merçi“, entgegnete ich lächelnd, „Sie wollten mir vorhin etwas sagen?“
„Die Polizei war hier, ich wollte Ihnen den Fortgang berichten, weil Sie doch heute früh alles miterlebt haben, als man die arme Isabelle aus dem Wasser zog.“ Sie war nun ins Deutsche gewechselt, das sie recht gut beherrschte und senkte etwas die Stimme, wie mir schien, um niemanden mithören zu lassen. Damit gab sie der Angelegenheit einen Hauch von Geheimnis.
„Was haben sie gefragt?“ forschte ich weiter.
„Sie glauben nicht an Mord. Sie haben nur die Fragen gestellt, die Sie mir auch schon heute früh stellten, seltsam, nicht? Wann ich sie zuletzt gesehen habe, wann ihre Arbeitszeiten waren, ob ich etwas von Freunden oder einer Freundin wüsste.“ Bedeutungsvoll verdrehte sie die Augen. Dann fuhr sie fort: „Ich habe den Commissaire gefragt, ‚wer tut einem jungen Menschen so etwas an‘? ‚aber er hat mich nur unverständig angeschaut und gebrummt: ‚Die Wasserleichen werden auch immer jünger‘. Und stellen Sie sich vor, was er dann wissen wollte!“
„Was denn?“ musste ich wegen der Kunstpause nachfragen, denn sie versuchte, ihre Entrüstung durch Theatralik hervorzukehren, „nun sagen Sie schon!“
„Er hat mich gefragt, ob ich in der letzten Zeit Depressionen bei ihr bemerkt habe! Nein, nicht im Entferntesten, habe ich geantwortet, aber es schien ihn nicht zu überzeugen, denn er blickte voll Zweifel.“
„So gehen sie also tatsächlich von einem Freitod aus?“
Sollten die französischen Kollegen die Indizien einer Gewalttat wirklich verkennen? Oder wollte man die beschauliche Atmosphäre des sommerlichen Ferienortes nicht stören, was gewiss fatale Folgen für den wichtigen Wirtschaftszweig des Tourismus haben könnte. Man lässt so lange nichts an die Öffentlichkeit, bis der Täter in einem überraschenden Akt schneller Aufklärung präsentiert werden kann. Dann entsteht schlagartig der Eindruck, die Polizei habe alles im Griff und man könne voller Vertrauen auf die Obrigkeit hier unbeschwert Urlaub genießen, auch wenn bedauerlicherweise mal ein solches Unglück passierte. Auch bei uns in Frankfurt hatten wir Ermittlungsergebnisse zur Messezeit nicht gleich an die Presse gegeben, um die weiteren Nachforschungen nicht zu gefährden. Manchmal ist es klüger, ohne die Öffentlichkeit zu ermitteln.
„Genau das habe ich auch gefragt“, fügte Catherine hinzu, „Sie glauben doch nicht etwa, dass dieses fröhliche Ding lebensmüde war!“
„Aber Madame“, habe der Commissaire nur lapidar geantwortet, „da ist mal wieder eine junge Frau ins Wasser gegangen, Liebeskummer, sie werden immer verrückter. Es ist schon das dritte Mal in diesem Sommer, immer war es Liebeskummer.“
„Warum, meine Liebe, sagen Sie, erzählen Sie mir das alles?“ wollte ich nun wissen, und es regte sich ein bestimmter Verdacht in mir. Sie aber lachte spitzbübisch und etwas verlegen, denn sie war eher eine Meisterin der indirekten Andeutungen:
„Monsieur, haben Sie für heute Abend schon ein Restaurant gewählt?“ Einige gute Tipps hatte ich diesbezüglich von ihr in den letzten Tagen bekommen, denn ich hatte mir schnell angewöhnt, jeweils abends in einem der hervorragenden Restaurants zu speisen, die es hier in den Straßen und an allen Plätzen zu Dutzenden gibt. Außerdem wollte ich wieder etwas abspek- ken. Kripoleute verfallen früher oder später dem Alkohol oder fressen sich
Kummerspeck an, sonst können sie diesen Job nicht ertragen. Das war jedenfalls meine Theorie, und mich zählte ich zu der zweiten Kategorie.
„Wollen Sie mir wieder eines empfehlen?“
„Ja gern. Es gibt ein exzellentes Fischrestaurant an der Rue de l’Arène. Ich habe es Ihnen aus einem bestimmten Grund nicht empfohlen“. Sie lächelte vielsagend und schaute mir dabei ins Gesicht, als wolle sie testen, ob ich den Grund herausfinde. Ich hatte schon eine Vermutung, ich tat ihr nicht den Gefallen, diese mitzuteilen und ging statt dessen aufs Ganze:
„Madame, darf ich Sie heute zum Abendessen einladen? Ich hoffe, Sie geben mir keinen Korb!“ Und bevor sie antworten konnte, fügte ich hinzu: „Sie wissen doch sicher so manches, was uns beiden in dieser mysteriösen Geschichte weiterhelfen könnte?“
„Oui, Monsieur le Commissaire“, lautete die Antwort.
„Oui? Zu welcher der beiden Fragen sagen Sie ja?“
„Zu beiden, mein Herr“, lachte sie verschmitzt, „ja, ich weiß einiges, was uns weiterhilft, und ja, ich nehme Ihre Einladung gern an. Treffen wir uns um acht?“
Sie hatte sich hübsch gemacht, fast hätte ich Catherine ohne ihre Arbeitskluft nicht wiedererkannt. Sie trug nun eine knallenge, schwarze Jeans, die ihre Figur betonte, und eine ebenso anliegende, weiße Satinbluse mit halbem Arm und atemberaubendem Ausschnitt. Mit dem dezenten Goldschmuck und der gebräunten Haut an Hals und Armen kam ihre gereifte Weiblichkeit besonders gut zur Wirkung.
Wir hatten uns bei der Bar Cap Canaille verabredet, einem zentralen Punkt der Hafenpromenade. Dort trafen deren beide Schenkel fast im rechten Winkel zusammen.
Ihr brünettes Haar trug sie nun schulterlang offen, was ihr sehr gut zu Gesicht stand.
„Wie wäre es mit einem Aperitif?“ fragte ich direkt. Es war, wenn ich recht überlegte, das erste Rendezvous mit einer Frau seit Jahren, das nicht in einem beruflichen Zusammenhang stand. Die sommerliche Stimmung, die Ferne von meiner Arbeitsumgebung, die mir seit Langem kaum noch Luft für Privates ließ, aber auch das frische, offene Wesen dieser Frau, bei der ich spürte, dass auch sie das Leben mit all seinen Facetten schon erfahren hatte, gaben mir den Mut, so etwas zu beginnen.
Gewiss, einige kurze Beziehungen waren schon gewesen nach meiner Scheidung, alle waren nach wenigen Wochen in die Brüche gegangen. Immer wieder hatten sich auch Zweifel eingeschlichen, ob es nicht auch an mir läge, vielleicht wirklich eine Beziehungsunfähigkeit eine Rolle spielte, wie Evelyn sie mir in den letzten Wochen unserer Ehe vorgeworfen hatte.
„Ja gern“, hatte sie geantwortet und dann einen Moment gewartet, denn sie spürte meine Unsicherheit, als mir all dies durch den Kopf schoss. Da war er wieder, jener Zweifel.
„Kommen Sie, hier gibt es einen hervorragenden Vin de Cassis“, lachte sie und ich bemerkte, dass sich, wenn sie nur herzlich genug lachte, ein kleines Grübchen auf der linken Wange zeigte. Zugleich stellte ich fest, dass sie, was ich zuvor noch nicht bemerkt hatte, eine winzige Nuance an Farbunterschied in ihren beiden Augen hatte, was ihrem Blick einen besonderen Reiz gab. Ihr rechtes Auge war hellblau, während das linke eine Spur nur zum Grünen tendierte. Schnell schaute ich mich nach einem Platz um, denn die Bar war bis auf die Promenade hinaus gut besetzt. Aber Catherine erwies sich als Kennerin der Szene und steuerte gleich auf eine der gepolsterten Lederbänke im hinteren, überdachten Bereich der Bar zu. Gleichzeitig winkte sie dem Wirt freundlich, gab Signale einer Bestellung. Dort hinten waren gerade zwei Plätze mit dem Rücken zur Wand frei geworden, sodass wir einen schönen Überblick über die besetzten Tische bis hinaus zur Promenade mit den flanierenden Menschen und den dahinter im Wasser ankernden, bereits beleuchteten Jachten bekamen.
Catherine begrüßte noch zwei ihr offenbar bekannte Gäste, die schon an dem Tisch saßen, vor sich ein Anisgetränk. Sie tat es auf jene mir typische Art und Weise der Südländer, bei der man kurz links und rechts Wange an Wange schmiegt, den zugehörigen Kuss in der Luft aber nur kurz gehaucht andeutet. Ein schönes
Freundschaftsritual, das in unserer oft eher feindlichen Alltagswelt kaum einzuführen wäre
„Monsieur Grippa und sein Sekretär Marcel“, stellte sie mir die beiden vor und fügte erklärend hinzu: „Monsieur Grippa führt hier das größte Importgeschäft für Modeschmuck aus Ostasien.“
Dieser lächelte mir zu und sagte in reinem Deutsch: „Wie geht’s? Gefällt es Ihnen hier?“
„Merci, j’aime la France!“ antwortete ich dafür auf Französisch und fügte hinzu: „Woher sprechen sie so gut Deutsch?“
„Berlin drei Jahre“, antwortete der groß gewachsene Mann und wandte sich dem ‚Sekretär‘ wieder zu, mit dem er zuvor schon in angeregter Unterhaltung gewesen war, und es schien mir nun, als sei es eher ein Streitgespräch, von dem ich aber keine Einzelheiten mitbekam, denn meine Aufmerksamkeit wurde ganz von der Frau an meiner Seite beansprucht.
„Die Geschäftsleute gehen nach der Arbeit gern mit ihren Angestellten oder Kollegen auf einen Drink hierher“, erklärte Catherine, „diese Sitte hebt das Klima und die Stimmung!“
Vielleicht sollten wir davon lernen, dachte ich und ich nahm mir vor, ähnliche Rituale einzuführen. In Gedanken an meinen Job fiel mir wieder ein, wie Catherine mich am Nachmittag genannt hatte, Monsieur le Commissaire, und stellte sie nun zur Rede: „Wie haben Sie das gemeint vorhin mit dem Commissaire?“ Sie lachte wieder auf ihre herzliche und sympathische Weise, und das Grübchen war zu sehen.
„Sind Sie es nicht?“
„Leugnen hat wohl bei Ihnen wenig Sinn, denn Sie scheinen das Handwerk einer Detektivin zu verstehen!“ entgegnete ich und fasste sie dabei leicht beim Arm. Zugleich trafen sich unsere Blicke und ich versuchte, meine flüchtige Beobachtung von zuvor noch einmal zu überprüfen: Tatsächlich, beide Pupillen waren eine Spur unterschiedlich in der Farbe.
Sie hielt meinem Blick stand. Sie lächelte. Wir sahen uns, nahe beieinandersitzend und uns zugewandt, vielleicht eine Viertelminute nur schweigend in die Augen. Zu lange, um es bedeutungslos finden zu können. In solchen Augenblicken werden Momente zu Ewigkeiten. Ich könnte sie jetzt küssen? Wie würde sie reagieren? Einen Moment lang dachte ich, es gäbe keine andere Lösung. Doch da erinnerte sie sich wieder an ihr unnachahmliches Lachen, mit dem sie jede Verlegenheit zu überspielen vermochte. Griff zum Weinglas, um mir zuzuprosten: „Das ist ein echter Wein, wie er hier in der Nähe wächst, und hier ist er besonders gut“, bemerkte sie, als wäre dies nun die wichtigste Feststellung der Welt. „Dieser trockene Wein schmeckt nach Myrte und Rosmarin. Die Touristen in den anderen Restaurants bekommen meist das, was minderwertig ist und sogar aus anderen Gebieten importiert. Was glauben Sie, welche Mengen hier in den Sommermonaten konsumiert werden?“
Das gab mir Gelegenheit, auch nach meinem Glas zu greifen, und ich wusste in diesem Moment nicht, ob ich eher die verpasste Gelegenheit bedauern oder mich über die verhinderte Peinlichkeit einer schallenden Ohrfeige erfreuen sollte. Gewiss war sie nicht die Frau, die man einfach unvermittelt in der Öffentlichkeit küsst. Da gibt es doch wohl noch Unterschiede, die mit einem feinen Gefühl von Nähe und Distanz zu tun haben, die gesellschaftlich definiert sind. So hatte ich zum Beispiel beobachtet, wie ein deutsches Paar in unserem Hotel ankam, freundlich begrüßt wurde, weil es bereits, wie stolz erzählt wurde, das achte oder neunte Mal hier Urlaub machte. Man erkannte sich wieder, sprach sich mit Vornamen an, doch umarmte man sich nicht. Distanz war trotz Bekanntheit vorhanden. Zwei andere, französische Paare, die in Lederkluft mit Motorrädern reisend Zwischenstation machten, wurden ganz anders empfangen. Catherine war hinter ihrem Tresen hervorgekommen, hatte sie alle umarmt und in der beschriebenen Weise mit Luftküssen begrüßt. Man gehört eben dazu oder nicht.
Nein, so einfach küssen durfte ich sie nicht! Und schon gar nicht auf den Mund. Das hätte alles verderben können. Erst wenn man bei der Begrüßung umarmt wird, verstand ich jetzt, ist man aufgenommen in den inneren Zirkel der wirklichen Freunde.
„Monsieur le Commissaire, Sie haben sicher bemerkt, dass hier, wie sagt man, - etwas stinkt?“ sie kam ohne Umschweife zum Thema. „Sie haben die letzten Tage schon sehr genau die Menschen beobachtet. Ich habe zuerst gedacht, sie wären ein Psychologe, oder ein, verzeihen sie, Kleiderverkäufer, denn auch diese schauen die Leute genau an. Aber als Sie mir dann heute diese Fragen nach dem Mord gestellt haben, so professionell, habe ich plötzlich gewusst, dass dieses Ihr Beruf sein muss!“
„Beachtlich!“ fuhr es mir heraus, „Sie liegen gar nicht ganz verkehrt, Madame. Aber sagen Sie, wieso bemerken Sie so etwas?“
„Nun, ich beobachte auch sehr genau, und dabei bemerkt man vieles, was anderen entgeht“, lachte sie wieder und schaute mir dabei erneut in die Augen. Und nun kam es mir vor, als provoziere sie in vollem Bewusstsein mit ihrer Weiblichkeit, man nennt das einen Flirt. Dann hob sie wieder das Glas.
Ich hielt ihr meine Packung Zigaretten hin, sie lehnte dankend ab, und ich steckte mir einen Stengel an. Bisher hatte ich es geschafft, während des Urlaubs dieses Laster wenigstens etwas zu reduzieren.
Gern hätte ich das Thema noch weiter vertieft, um auf die Frage zu kommen, was sie wirklich wusste von all den mysteriösen Ereignissen hier im Hafen. Jetzt aber wurde die Aufmerksamkeit der Menschen ringsum von einem besonderen Auftritt angezogen, der außerdem durch seine Lautstärke einem Gespräch den Boden entzog.
Zwei Frauen in mittlerem Alter, streng frisiert, mit Haarknoten und Dunkelrandbrillen, rollten auf einem kleinen, hölzernen Handwagen ein winziges Schlagzeug heran, dazu einen kleinen Musikverstärker mit Mikrofon, das sie auf einem Ständer vor den Gästen der ersten Reihe an der Promenade platzierten. Beide Frauen trugen knallenge, graue Kostüme mit superkurzen Röcken, die figurbetont ihre weiblichen Rundungen und makellosen Beine zur Geltung brachten. Die skurrile Szene wirkte durch den Kontrast von scheinbar sexualfeindlicher Gestrigkeit und aufreizender Hervorhebung ihrer Weiblichkeit: Altmodische Frisuren, die an die Mitte des vorigen Jahrhunderts erinnerten, dazu die unmodernen Kostüme, jedoch knalleng und minikurz, die dunkel umrandeten Hornbrillen, hochhackige Stöckelschuhe, dazu das lächerliche Gefährt, mit dem das Ganze daher kam, darauf ein Instrument, dem man keine Kraft zutraute, - all das erweckte bereits Aufmerksamkeit, bevor sie ihre Musikshow begannen.
Zunächst spielten sie ein züchtiges Chanson im Stil frommer Betschwestern. Beide sangen, und die vordere begleitete dazu mit der Gitarre. Die hintere saß auf einem Schemel an dem Schlagzeug. Einige der Zuschauer amüsierten sich, verdrehten abfällig die Augen: Was wird einem denn hier zugemutet?
Doch schlagartig setzte ein knallharter Beat ein. Die jungen Frauen entpuppten sich als hervorragende Schauspielerinnen und Musikerinnen, die moderne Rhythmen mit erstaunlicher Schärfe und Präzision aus diesen Miniinstrumenten herausholen konnten. Dazu eine einstudierte Show aus Gestik und Mimik, die alle Gäste der Bar zu begeistertem Mitklatschen verführte. Der Kontrast hatte höchste Wirkung. Auf der Flaniermeile stauten sich die Menschen.
Catherine ließ sich nicht mitreißen, wiegte nur leicht den Kopf hin und her, sie kannte, so schien es, die Show bereits. Leider verstand ich den Text nicht so recht, ab und zu lachten die Leute bei den Pointen, es schien mir sozialkritisch, irgendetwas von verbotener Liebe, Sex und Drogen.
Dann wieder der schnelle, laute Beat mit Tanzschritten der vorderen, und alle Leute nun in Bewegung auf ihren Stühlen.
Catherine winkte der Kellnerin um zu bezahlen.
„Lassen Sie uns gehen, bevor sie jetzt betteln kommen!“ sie kannte das Spiel der Musikantinnen, die nun gleich mit dem Hut herumgehen würden und dabei, so erklärte sie mir, sich mit dieser Masche bereits ein prachtvolles Haus in einer Vorortstraße finanziert hatten.
„Absahnerei nennt man das in Deutschland, glaube ich“, sagte Catherine.
„Woher können Sie eigentlich so gut Deutsch?“ fragte ich, doch meine Frage ging unter in dem gerade wiedereinsetzenden Beat.
Wir verließen das Lokal und ließen uns in der Menge treiben, denn die Lieblingsbeschäftigung der zehntausend Sommergäste, die täglich hier flanieren, ist das allabendliche Suchen nach einem Sitzplatz in einem der zahllosen Restaurants, die vor den ehemaligen Fischerhäusern eingerichtet sind. Jedes nur denkbare Eckchen wird für einen Tisch mit Stühlen genutzt. So findet ein ständiger Perspektivenwechsel statt, bei dem beide Seiten sich für die Beobachter halten: Diejenigen, die glücklich sind, einen Stuhl ergattert zu haben, zahlen für überteuerte Getränke, um in Ruhe die Vorbeiziehenden anschauen zu können. Die Vorbeiziehenden betrachten das Anschauen der Sitzenden als schönstes und durch nichts zu ersetzendes Abendprogramm, höchstens durch das Glück, selbst einen Sitzplatz zu erwischen.
Nun war es höchste Zeit, das Fischrestaurant aufzusuchen, bevor dort ebenfalls alle Plätze besetzt waren. Catherine zog zielstrebig zu einer der Seitenstraßen, und über wenige Gassen und Plätze erreichten wir ‚Chez Gustave‘, ein Restaurant, dessen Küche offenbar im Obergeschoss des Hauses lag, während die dazu gehörenden Tische und Stühle der Speisegaststätte auf der Straße standen. Viele Restaurants dieser Art sparen den notwendigen Gastraum, indem sie auf das gute, mediterrane Wetter vertrauen und den Gästen das beschriebene Vergnügen gönnen, beim Essen die Vorbeiziehenden betrachten zu können und von diesen gleichzeitig beim Essen begutachtet zu werden. Sehen und gesehen werden!
„Lassen Sie uns diesen Tisch hier nehmen, gleich bei der Treppe“, legte Catherine sich fest, und ich hatte das Gefühl, sie tat es mit Bedacht. Es gab Tische für zwei und Tische für vier Personen. Wir nahmen an einem freien Zweiertisch platz. So hatten wir, nahm ich an, für unsere Gespräche keine Mithörer.
Der Wirt, dessen Aufgabe es war, zu Beginn des allabendlichen Rituals die Vorbeiziehenden zum Platznehmen zu animieren, war von unserer Entschlussfreude angetan, andere Suchende standen noch unschlüssig an den in der Gasse aufgestellten Speisekarten, die auf bunten Schautafeln die zahlreichen Menüvorschläge und -kombinationen mit Pauschalpreisen in allen Preisklassen enthielten.
„Mögen Sie Muscheln oder Fisch?“
Catherine war absolut überzeugt, dass die hier angebotenen Muscheln bar jeden Verdachts genießbar waren. Seit ich von Muscheln mit hoher Schadstoffkonzentration gelesen hatte, kann man mich mit Muscheln jagen. Wohl um mich von deren Unbedenklichkeit zu überzeugen, bestellte sie sogleich die schwarzen Schalentiere.
Der Wirt brachte zunächst ungefragt wunderbar frisches Weißbrot in leicht angerösteten Scheiben mit einem Dip zum Bestreichen. Der zuvor in der Bar genossene Wein hatte meinen Hunger geweckt, sodass ich, noch bevor der erste Gang kam, ordentlich zulangte.
„Sie beherrschen die deutsche Sprache erstaunlich gut“, stellte ich nun erneut fest, um die Conversation in Gang zu bringen, „wo haben Sie das so gut gelernt?“
„Ich habe eine bewegte Vergangenheit, die mich auch einige Jahre nach Deutschland führte“, entgegnete meine schöne Begleiterin. Sie saß mir nun vis-à-vis und spielte bei diesen Worten mit dem Brotstück, die Augen nach unten geschlagen, als wolle sie eigentlich über dieses Thema nicht sprechen.
„Die Musik vorhin“, hob ich von neuem an, „wovon haben sie gesungen?“
„Eine kritische Geschichte, die hier jeder versteht“, sprudelte sie nun, offenbar dankbar für den Themenwechsel, hervor.
„Ein junger Mann liebt ein Mädchen, doch er ist arm und kann ihr nichts bieten. Sie aber hat hohe Ansprüche an das Leben. Dann trifft sie den reichen, älteren Mann, der ihr ein Leben in Luxus verspricht. Er, wie sagt man, ködert sie mit Geld, bietet ihr alles, was ihr Herz begehrt. Doch er nutzt sie nur aus, verbraucht ihre junge Liebe, und zurück bleibt eine ausgebrannte Seele.“
„Wann setzt der Beat ein, das Stück verbindet doch Melancholie mit Protest, oder?“
„Ja, der Schlag kommt mit dem Refrain, der sagt, dass das junge Mädchen sich auf ihre Liebe besinnen und zu dem jungen Mann zurückkehren soll. Liebe ist mehr wert als alles, was man mit Geld kaufen kann, auch wenn du glaubst, mit Geld Liebe kaufen zu können. So jedenfalls ist das Fazit der Geschichte.“
„Wie wahr“, sinnierte ich und dachte nur kurz an mein Frankfurter Mordszenario, das ich vor einer Woche hinter mir gelassen hatte. Hier unter südlichem Himmel kam es mir wie Jahre entfernt vor.
„Sie wissen natürlich längst, warum ich mit Ihnen heute hier essen gehen wollte?“ fragte sie nun unvermittelt.
„Sie wollten mit mir essen gehen, ich dachte, ich hätte Sie eingeladen?“ entgegnete ich mit gespieltem Erstaunen.
„Mit einem charmanten Herrn gehe ich jederzeit gern essen, Monsieur Commissaire“, lachte sie nun spitzbübisch, „doch reizvoller ist es, wenn dazu noch ein gemeinsames Projekt kommt.“
„Nun, ich denke, es ist wohl das Fischrestaurant, in dem die junge Kellnerin aus unserem Hotel abends noch bediente“, sprach ich meine Vermutung aus. „Aber was das gemeinsame Projekt betrifft, weiß ich nicht, was Sie meinen, liebe Catherine!“ Erstmals sprach ich sie beim Vornamen an, um zu sehen, wie sie darauf reagieren würde. Sie tat ungerührt: „Ja, sie muss bis gegen Mitternacht hier gewesen sein. Wenn man die Spur aufnehmen will, muss man hier beginnen.“
Was in aller Welt dachte sie sich? Glaubte sie ernsthaft an ein Interesse bei mir, meine Berufstätigkeit hier im Urlaub fortsetzen zu wollen? Und warum hatte sie ein Interesse daran, die Arbeit der hiesigen Polizei in Zweifel zu ziehen? Und dabei hatte ich mich schon in der Illusion gewähnt, ihre Aufmerksamkeit gelte ausschließlich mir als attraktivem Fünfziger! Waren die schönen, blaugrünen Augen, die sie mir machte, nur berechnendes Mittel zum Zweck? Welches Ziel hatte sie im Sinn, und welches waren ihre Motive?
„Also gut“, gab ich zu, „mein Beruf ist das Kriminalhandwerk. Ihnen kann ich nichts verheimlichen. Aber ich bin hier im Urlaub und deswegen eher an den Reizen lebendiger Wesen interessiert. Warum sollte ich nicht jenseits aller Greueltaten einfach mit einer attraktiven Frau hier essen gehen?“ Das Kompliment kam an. Sie griff nach meiner Hand, drückte sie und sagte: „Nenn mich bei meinem Vornamen, ich heiße Catherine, wie du weißt. Und warum sollte nicht das eine mit dem anderen vereinbar sein?“
In diesem Moment brachte eine junge Frau eine große Terrine mit Bouillabaisse, der bekannten Fischsuppe, platzierte die Teller, schöpfte mit einer Kelle auf und wünschte „Bon appétit!“
„Glaub mir, Jens,“ mein Name hörte sich wie gehaucht aus ihrem Munde an, „ich habe einen Verdacht, was hier zum Himmel stinkt, und es ist nicht das erste Mal, dass eine junge Frau umgebracht wird. Das muss aufhören, bevor noch mehr Morde passieren!“ Sie schaute mich mit ihrem Katzenblick an, der ihre Erregung sichtbar werden ließ. Nun senkte sie wieder die Stimme, die bei den letzten Worten unvermeidbar lauter geworden war und fügte appellierend hinzu: „Es geht hier um mehr als ein flüchtiges Abenteuer, glaube mir. Dich hat der Himmel geschickt, damit endlich Licht in das Dunkel kommt und jemand mit Kompetenz die richtigen Fragen stellt!“
Ich blickte sie nur ungläubig an, denn ich konnte mir kaum ernsthaft vorstellen, mich in die Arbeit der französischen Kollegen unbefugt einzumischen. Warum sollte ich an der Ernsthaftigkeit ihrer Ermittlungen zweifeln? Welchen Grund sollte es geben, Morde unter den Teppich zu kehren? Wahrscheinlich waren meine Augen an dieser Stelle blind, und ich ging einer hysterischen Frau auf den Leim, die sich etwas zusammenreimte, nur weil ich lange keine Gelegenheit zu einer ordentlichen Beziehung gehabt hatte. Vorsicht, Jens, sagte ich mir, pass auf, dass du der netten Catherine nicht auf den Leim gehst!