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Dieses Buch ist als Roman aus der Zeit gefallen. Erzählungen brauchen eine Form. Was aussieht wie ein Buch, ist hier nur die Hülle einer komplexen Geschichte. Sie hält die Fragmente zusammen. Als Bruchstücke eines Lebens sind sie überhaupt nicht fiktiv, sie sind durch und durch wahr und somit autobiographisch. Im Gegensatz zu einem Tagebuch ist es ein Nachtbuch, denn es ist vor allem das Dokument vieler Nachtstunden. Ein wesentliches Merkmal dieser Geschichte ist jedoch, dass sie noch nicht zu Ende geschrieben ist, denn sie wird erst ganz zum Schluss von einem Anderen beendet! Lesen kann man die Fragmente dieser Lebensgeschichte der Reihe nach, man kann jedoch auch problemlos im Text springen, Teile auslassen oder gar von hinten beginnen!
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Seitenzahl: 240
Veröffentlichungsjahr: 2023
Engelchen flieg!
Roman
vonPeter Berg
1. Auflage 2023
Copyright © 2023 PETER BERG
ISBN
Hardcover:
978-3-347-96178-4
Softcover:
978-3-347-96177-7
E-Book:
978-3-347-96179-1
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH
Abteilung Impressumservive
An der Strusbek 10
22926 Ahrensburg, Germany
Eigentlich wollte er die Gegenwart beschreiben, doch da war sie schon vorüber. So fasste er sich ein Herz und tauchte ein in die Erinnerung.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Ein starker Auftakt
Prolog
Der Maler, der in seinem Bild verschwindet
Die Geburt der Uhrzeit
Mäandern
Eine traumhafte Begegnung
Gottfried Büttner, Samuel Beckett und Helmut Karasek
Ein Zeitforscher
Noch einmal Pieper und Karasek
Wer ist Sam?
Die Traumfahrt des Parmenides
Valdemossa
Bedingungslos auf Loyalität getrimmt
Das Nachtbuch
Illusion der fließenden Zeit
John Cage und die Bedeutung der Zeit
Das Reisen im Geist: Mindtraveling
Besuch bei John Cage
Meine Reise
Winter auf Mallorca
Irrsinn des ungebremsten Reisens
Oh wie schön ist Trinidad29
Der wahre Egon
PiTTo und die Documenta
Günthers Schuh
Noch einmal bei Hemingway
Gao Yingjin
Zeitallergie
Bemerkungen zum Umgang mit der Zeit im sogenannten Alter
Henning von Gierke
Im tiefsten Wald in der Sonne stehen
Jack McNeal
Das Geigenmartyrium
Zeitenwende
Heureux
Engelchen flieg!
Muttersprache
Prof. Dr. Hans Kilian
Dr. Lothar Arabin
Die Gretchenfrage
Abgesang: Ein Ort namens ICH
Angekommen
Epilog
Anmerkungen
Weitere Bücher des Autors Peter Berg
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Ein starker Auftakt
Epilog
Cover
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Ein starker Auftakt
2023
Leichten Schrittes, sozusagen behende, eilte Paul die Treppe vom fünften Stock zum Erdgeschoss hinab. Er wollte nur mal kurz… der Gedanke war schneller als seine Füße, immer schon ein paar Stufen voraus… den Parkschein wechseln, bevor es zu spät!
Fast war er, gedanklich, schon wieder auf dem Rückweg, da kam das Erdgeschoss ihm in den Blick. Dort stand eine junge Farbige vor der Tür, wartend. Er sah ihre bunte Kleidung, blickte kurz ihr ins Gesicht, wähnte sich schon angekommen und tat den alles entscheidenden Schritt… ins Leere.
Kurz schien es ihm, als könne er in der Luft laufen, sozusagen fliegen, da knallte er schon mit der ganzen Wucht seines Körpers zu Boden, genau ihr zu Füßen.
Sie lächelte kurz, doch da war es schon zu spät. Der Schmerz war riesengroß!
Im Reflex hatte er den Arm nach oben und vorn gerissen, um den Kopf vor dem Aufprall zu schützen. Das gelang wohl. Aber die Folgen waren unabsehbar.
Das Knacken des Oberarmknochens blieb für lang ihm im Ohr.
Sie reichte ihm ihre Hand, um ihm aufzuhelfen.
Er ergriff sie in seiner Not, war peinlich berührt ob des Schauspiels, das er bot.
Alle Kraft war ihm schlagartig entwichen. Noch konnte er nicht begreifen, was geschah. So schaffte er gerade, mit ihrer Hilfe, sich auf die unterste Treppenstufe zu setzen, die er gerade verfehlt.
Sie aber war ganz bei der Sache und fragte ihn, woher er denn käme und wohin er nun wolle. Aus der Praxis im fünften Stock und jetzt wieder dorthin zurück. Ja, die kenne sie, weil sie dort arbeite. Schon hatte sie den Fahrstuhlknopf gedrückt, führte ihn, den Wankenden, zum Lift und begleitete ihn nach oben, um ihn in die Obhut der Ärzte zu entlassen.
Röntgen, Untersuchung durch den Unfallchirurgen, Infusion mit Schmerzmitteln. Ärger über die eigene Schusseligkeit, und nun für einige Wochen außer Gefecht! Humeruskopffraktur, doppelter Bruch des rechten Oberarmknochens. Und so weiter und so weiter.
Und jetzt beschäftigt ihn die Frage, was es nun daraus zu lernen gäbe…
Prolog
2023
Das eigene Leben reflektieren heißt, sich einzugestehen, dass Verluste und Gewinne, tiefgreifende Kränkungen und Glücksmomente sich abwechseln. Auf der Suche nach Vorbildern für die Geschichte seines Lebens begegnete Paul zuerst das Tagebuch mit dem Titel „Aufräumen, zurückblicken, weitergehen“ von Ariane Garlichs. 1 Dieses Buch hatte er in einem Rutsch gelesen, denn es kam auf seine Art fesselnd daher. Ariane Garlichs, Autorin und Protagonistin zugleich, war dereinst eine seiner Hochschullehrerinnen, Professorin für Grundschulpädagogik. Offen und ehrlich beschreibt sie Begebenheiten aus dem Alltag einer 86-jährigen Frau. Sie gewährt einen Blick hinter die Kulissen ihres Altseins und macht dieses damit zum Thema. Dabei wird das Unspektakuläre spektakulär durch den Mut jener Frau, die es nicht nötig hat, das Schauspiel der Beschönigung und Schönfärberei des Alterns aufzuführen. Hier wird nichts versteckt, alle Gefahren und die vielfältigen Einschränkungen, die einem alten Menschen begegnen können, werden unmaskiert dargestellt. Dass sie zum Beispiel dem perfiden Enkeltrick eines Betrügers zum Opfer fiel, ist für sie eine schockierende Realität. Dass ihr an einem anderen Tag ein katastrophales Missgeschick mit dem Verschütten eines ganzen Kaffeebechers geschieht, liest sich so:
„Dann passierte das Malheur: Der Becher rutschte mir aus der Hand und der ganze Inhalt ergoss sich über Zeitung, iPhone, Laptop, Wochenkalender und Stapel von Papier mit aktuellen Notizen. Die braune Flut tropfte auf den Boden, bespritzte die Fächer des Unterschranks vom Schreibtisch und landete auf dem elektrischen Fußmassage-Gerät. Ich, total durcheinander, sprang auf, holte jede Menge Putztücher und wusste gar nicht, wo ich anfangen sollte. Nach einer Stunde aufgeregter Putzerei fühlte ich mich erschöpft, hatte aber das Wichtigste gesichert. Der Laptop hatte keinen Schaden erlitten, das iphone verhielt sich wie gewohnt. Auch das elektrische Fußmassage-Gerät funktionierte. Überall noch Kaffeespuren.“2
Garlichs beschreibt ihre Lage. Es ist die Situation vieler alter Menschen, vielleicht der meisten: Ausgeliefert einem unbeugsamen Schicksal. Ohne Hoffnung auf Entspannung passieren die größeren und kleineren Katastrophen des Alltags einfach so, schicksalhaft, unabwendbar. Die vielfältigen Einschränkungen, Gebrechen und Behinderungen summieren sich dabei Tag für Tag zu einem Gesamtbild, das man „das Alter“ nennt. So gesehen wird es auch zur Chronik einer Gemütslage, eines andauernden Seelenzustandes.
Aber Ariane Garlichs wehrt sich gegen die Zumutungen des Schicksals, und das verhilft ihr dazu, ihre Würde zu wahren. Sie handelt nach dem Grundsatz: Wer hinfällt, steht wieder auf! Sie kann zwar nicht verhindern, dass ihr dieses und noch viel mehr passiert, doch sie hat gelernt, damit umzugehen. Hat Strategien entwickelt. Netzwerke gebildet. Sie holt sich, wo nötig, Hilfe. Schließt sich mit anderen, die in gleicher oder ähnlicher Lage sind, zusammen. Die Einsamkeit im Leben alter Menschen wird zu einem zentralen Thema. So überbrückt sie zum Beispiel drohende Sinnleere durch zeiterfüllendes Gesellschaftsspielen (Rummikub) mit einer 92-jährigen Nachbarin. Sie ist beizeiten von dem Plan abgerückt, frühzeitig aus ihrer Wohnung in ein erstklassiges Altenheim zu ziehen. Zuvor wollte sie sich mit zwei Freundinnen gemeinsam dort einquartieren, ist aber rechtzeitig davon zurückgetreten. Beide sind inzwischen leider verstorben. Ariane kämpft weiter gegen ein übermächtiges Schicksal. Und sie schreibt alles auf. In der Dokumentation liegt die Kraft der Analyse. Nach wie vor bleibt sie Wissenschaftlerin. Damit behält sie den Prozess ihres Lebens in der Hand, solange es geht.
Paul wird klar: Es sind die Geschichten der kleinen oder größeren Bedeutsamkeiten, die unser Leben vor allem für uns selbst ausmachen. Wie klein oder wie groß die Katastrophen sein mögen, hängt von der Selbstwahrnehmung ab. Die große Offenheit und ungeschminkte Ehrlichkeit von Ariane Garlichs möchte er sich dabei vor allem abschauen. Das Kriterium lautet: Ehrlich bleiben und damit authentisch sein!
Wenig später las er ein anderes schmales Bändchen: Norberto Bobbio, „Vom Alter - De senectute“.3 Der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung 87–jährige Turiner Autor, Publizist und Professor für Rechts- und Staatsphilosophie spricht in unverblümter Klarheit über seine Erfahrungen als alter Mann. Die Grundstimmung ist Melancholie, die er als „das Bewusstsein um das Unerreichte und das nicht mehr Erreichbare“4 versteht. Das Nachlassen der geistigen Kräfte zwinge den alten Menschen irgendwann, keuchend anzuhalten, und das Alter „wird dann zu dem Moment, in dem du volle Klarheit darüber gewinnst, dass der Weg nicht nur nicht vollendet ist, sondern dass dir auch keine Zeit mehr bleibt, ihn zu vollenden, und dass du darauf verzichten musst, die letzte Etappe noch zu erreichen.“5
Norberto Bobbios Altersdarstellung ist auf einer philosophisch-intellektuellen Ebene der Beschreibung genauso deutlich wie die von Ariane Garlichs. Er analysiert und beklagt ganz offen, sie veranschaulicht detailreich, indem sie ihre Leserschaft in ihren Alltag mitnimmt. Beide betreiben eine teilweise hoffnungslose Gesamtschau. Am Ende bleiben Fragen wie: War das nun alles? Was bleibt von alledem, und wo liegt der Sinn in all dem Chaos?
Dann begegnete ihm die Autobiographie von Ulrich Parzany. 6
Er war der langjährige CVJM-Generalsekretär, Leiter des Vereins ProChrist und ist heute im gelebten Alter als 82-jähriger nach wie vor freudvoll als Evangelist unterwegs. Seine jüngsten Vorträge, die bei YouTube zu finden sind, zeugen von einem regen Arbeitspensum.
Viele Jahre hat Parzany überall auf der Welt gewirkt, gepredigt, ausgebildet. TV-Arbeit, Vorträge, Interviews, zahlreiche Bücher. Er denkt nicht daran, sich auf ein Altenteil zurückzuziehen. Als Paul ihn später am Park in Kassel-Wilhelmshöhe zum Spaziergang trifft, teilt er ihm gleich zu Beginn, so als dürfe da kein Missverständnis aufkommen, sein Lebensmotto mit: „Jesus ist mein Leben, Sterben mein Gewinn.“
Parzanys Autobiographie zeichnet das Bild eines gottgefälligen, rundum gelungenen Lebens. Es ist von der christlichen Botschaft durchdrungen wie alle Bücher des Autors. Auch seine Autobiographie kündet von der Größe Gottes. Dankbarkeit und Lob: All das, was er in seinem Leben an segensreichen Taten vollbringen durfte, wird beschrieben, und es bleibt kein Zweifel, dass es Geschenke Gottes sind.
Blicke hinter Parzanys Kulissen sind keine persönlichen Demaskierungen. Kraft und Würde kommen vom Schöpfer. Er ist das Zentrum. Auch hier sind es wundersame Geschichten vom Zustandekommen der Ereignisse. Auch hier sind es die Netzwerke menschlicher Akteure, die die Welt des Autors mit lenken und bestimmen. Doch wird bei Parzany glasklar, dass sein Leben vom christlichen Glauben getragen wird.
Von ihm möchte Paul die klare Orientierung auf eine zentrale, übergeordnete Thematik abschauen. „Mein Leben ist von beidem gleichermaßen durchdrungen,“ denkt er. „Da sind die vielen für sich genommen mehr oder weniger trivialen Ereignisse und Katastrophen, die nachvollziehbar den sogenannten Alltag ausmachen, und da sind die gleichsam verblüffenden, wundersamen Fügungen meines Lebens, die von Gottes Wirken Zeugnis ablegen.“
In der Zusammenschau der drei Bücher, die Paul in jenem Moment begegnen, wo er versucht, sein Leben an der Schwelle des Alters zu begreifen, wird ihm klar, dass ihm von allen Alternativen, die er sehen kann, der Weg der Hoffnung der liebste ist.
Doch er weiß zugleich, dass dieser Weg die Offenbarung Gottes voraussetzt. Ohne die Bereitschaft, sich auf den Glauben an Jesus einzulassen und zu bekennen, wird das fortschreitende Alter ein „Heulen und Zähneklappern“ geben (Norberto Bobbio).
Paul will sein Leben aufschreiben. Er weiß: Eine Autobiographie ist die verfasste Lebensgeschichte eines Menschen. Sie wird von der beschriebenen Person selbst erzählt und von der Leserschaft als weitgehend dem tatsächlichen Leben entnommen verstanden. Dabei stellt sich ihm die Frage, ob es möglich ist, die als bedeutsam angesehenen Ereignisse des eigenen Lebens frei von der Färbung subjektiver Interpretation darzustellen. Er denkt nein. Immer ist es die eigene Brille, die den Blick des Schreibenden auf das Leben färbt.
Garlichs beschreibt ihr Leben, indem sie eine Strecke ihres Weges dokumentiert. Es ist ein Jahr in der Corona-Abgeschiedenheit, und das Schreiben hatte für sie die Funktion der Selbstvergewisserung. Durch das Bild einer Teilstrecke entsteht ein exemplarischer Ausschnitt vom Ganzen. Da sie die Deutung dem unbekannten Leser überlässt, bleibt ihr Buch wertfrei.
Bobbio nimmt statt der Dokumentation von Ereignissen das Ergebnis seiner philosophischen Reflexionen und appelliert unausgesprochen an die Leserschaft, die in seinen Augen hoffnungslose Lage am Ende des Lebens so wie er zu sehen.
Je mehr Paul über dieses Vorhaben, die Essenz seines Lebens zu fassen, nachdenkt, um so klarer wird ihm, dass erst die Interpretation des Autors dem Text die Würze gibt. Erst die besondere Sicht des Schreibenden, nennen wir ihn Schriftsteller, seine Erzählkunst und Sprachkraft machen den Text lesenswert. Die Einordnung der Besonderheiten dieses Lebensweges in den Rahmen einer sinntragenden Interpretation erst rechtfertigt ein solches Vorhaben.
So möchte Paul auch nicht am Anfang beginnen. Geburt, Elternhaus und Kindheit als Fixpunkte einer Biografie stellt er zurück. Es ist nichts Spannendes daran und mithin austauschbar. Viel interessanter als die chronologische Abfolge der Lebensstufen, -schritte oder -phasen erscheint ihm der aktuelle Anlass und die daraus sich ergebende thematische Schwerpunktsetzung.
Die eingangs dargestellte Geschichte vom Treppensturz ist ihm kürzlich passiert. Das Missgeschick ist ihm paradigmatisch, ist Spiegel seiner augenblicklichen Lebenslage. Ein Mann im fortgeschrittenen Alter läuft wie ein Junger flott eine große Treppe hinunter, ohne das vorhandene Geländer zum Halten zu nutzen. Das heißt, er rechnet nicht mit einem solchen Unfall. Er ist leichtfüßig und dabei zugleich leicht-sinnig. Vor allem überschätzt er sowohl seine geistig-seelische als auch seine körperlich-physische Konstitution. Ihm passiert, folgenreich und schicksalhaft, genau ein solches Missgeschick wie von Ariane Garlichs mehrfach dargestellt. Anstatt nun mit dem Schicksal zu hadern oder zu sagen „so ist das nun mal und ich kann es nicht ändern“, sollte er wohl besser fragen, was ihm das Leben an dieser Stelle mitteilen will. Was ist es, das dieser Mann an der deutlichen Schwelle zum Alter lernen soll und muss, um künftig Ereignisse dieser Art zu vermeiden, aber auch um den Rückblick auf sein gelebtes Leben ungeschminkt zu wagen?
Menschliches Leben ist endlich. Paul weiß das. Sein Treppensturz ist ein Bild dafür, wie schnell und aus heiterem Himmel der Moment des individuellen Todes kommen kann. Und das Verschwinden des Malers in seinem eigenen Bild ist nichts anderes als ein Gleichnis hierfür.
Der Maler, der in seinem Bild verschwindet
2016
Paul stützt sich auf die Reling und schaut aufs gischtige Wasser am Bug der Princess Maria, die brav stampfend ihren Weg durch die nächtliche Ostsee nimmt, von Helsinki nach Sankt Petersburg. Er denkt: Was wäre, wenn alles gar nicht stimmt? Wenn dieses Bild von der sich wandelnden Zeit nur eine Illusion wäre, die den Menschen Gewissheit gibt, dass ihre Lebensgeschichte wahr ist? Was wäre, wenn statt dessen alles stets gleich bliebe, immer schon da gewesen und ewig verfügbar? Ist die Idee von der vergehenden Zeit nicht vielmehr an den Alltag gebunden, der seinen Tribut in Form von verronnenem Leben fordert? Kann es also sein, dass nichts so ist, wie es scheint und wir mit der Kraft unseres Geistes immer wieder umsteigen könnten in jenen mentalen Schwebezustand, den Paul beim Malen empfindet? Zeitlos, ewig? Auch das scheinbar vorüberziehende Wasser bleibt immer im riesigen Becken des Meeres vorhanden und ist Teil eines immer währenden Kosmos. Was gestern war, ist heute noch vorhanden, und was morgen geschehen wird, ist heute schon denkbar und damit real! Es kommt ihm vor, als sei die Zeit ein Meer, und wir schwimmen in ihr wie dieses Schiff, das treu seine Bahn zieht. Von A nach B. Nach einem festgelegten Fahrplan spuckt die Fähre ihre Ladung stets wieder aus. Doch für diesen Weg sind sie eng verbunden und aufeinander angewiesen. Das Schiff hat seine Berechtigung durch die Passagiere, die es zu ihrem Fortkommen brauchen. Gäbe es den Drang der Menschen nicht, ihren Standort in Raum und Zeit zu verändern, wären die Verkehrsmittel überflüssig. So pendelt das Schiff zwischen den Häfen und hilft immer wieder neuen Menschen in immer gleicher Weise, das Meer zu überqueren.
Bei dem französischen Medienphilosophen Jean Baudrillard hatte Paul gelesen: „Das Simulierte versteckt nicht die Wahrheit - es ist Wahrheit, die den Fakt versteckt, dass es sie nicht gibt. Das Simulierte ist wahr."
„Meine Wahrheit ist, dass es Grenzen eigentlich gar nicht gibt, alles ist eins.“ Paul schaut auf das nachtschwarze Wasser, das zwischen den Schären vorüberschäumt. „Auch die subjektiven Grenzen, an die wir zu stoßen scheinen, sind wahr in dem Sinne, dass sie sich im Ganzen befinden“.
Er muss an die Geschichte von dem Maler denken, der in seinem Bild verschwindet. Sie gefiel ihm besonders, denn die Allegorie thematisiert die Grenze, Grenzen der Wahrnehmung und Grenzen unseres Bewusstseins. Er mag dieses Bild vom Übergang. Machen wir uns doch klar, dass wir ständig über Grenzen gehen und dabei in etwas Neues eintreten! Vom Tag in die Nacht, von einem Lebensraum in den anderen, wir wechseln schnell oder langsam, von der Nacht wieder in den Tag. Paul macht die Nacht zum Tag, um hinter das Geheimnis zu kommen.
Die Luft ist kühl vom Fahrtwind. Nachdem sie alle in den Speisesälen den irdischen Freuden frönten, dann noch ein Cocktail an der Bar, haben sie ihre Kojen aufgesucht und sind, eingelullt vom monotonen Stampfen der Schiffsmaschinen, in den tiefen Schlaf der Seligen gesunken. Paul ist nun der Einzige, der an Deck steht und an der Reling auf das Wasser schaut, das scheinbar vorüberzieht. Würde ihn jetzt jemand dort sehen, er würde vielleicht auf falsche Gedanken kommen. Nein, er ist nicht lebensmüde, im Gegenteil.
Er versucht, hinter die Gedanken seines Gehirns zu gelangen, ihm Fallen zu stellen. Er versucht, hinter das Geheimnis der Zeit zu kommen. Er geht hierzu in die zeitlosen Räume seines Bewusstseins, schließt sich ein, holt das Vergangene in die Gegenwart seines Denkens und legt es sich zu Füßen.
Rüdiger Safranski erzählt das chinesische Märchen:
"Eine dieser träumerischen Geschichten kommt aus China und erzählt von einem Maler, der alt geworden war und einsam über der Arbeit an einem einzigen Bilde. Schließlich wurde es doch fertig. Er lud die verbliebenen Freunde ein. Sie umstanden das Bild: ein Park war darauf zu sehen, ein schmaler Weg zwischen Wiesen führte zu einem Haus auf der Anhöhe. Als die Freunde, fertig mit ihrem Urteil, sich dem Maler zuwenden wollen, ist der nicht mehr da. Sie blicken ins Bild. Dort geht er auf dem Weg die sanfte Anhöhe hinauf, öffnet die Tür des Hauses, steht einen Augenblick still, dreht sich um, lächelt, winkt noch einmal und verschwindet, sorgfältig die gemalte Tür hinter sich verschließend." 8
Paul ist der Maler. Der Maler verschwindet in seinem Bild. Da er die Bühne mit den Worten "die Ausstellung ist eröffnet" verlassen hat, ist er nun völlig befreit.
Wo ist der Maler jetzt?
Bei sich?
Wo ist das, bei sich?
Fortan lebt er in der Freiheit seines Geistes.
Der Ort der Freiheit ist der Geist. Sie ist nicht an einen Ort gebunden, und deshalb ist der geografische Ort unerheblich. Es ist ein Überall.
Auch seine Bezugspersonen sind künftig austauschbar, es sind keine Bindungen mehr nötig. Der Maler sitzt nicht mehr in dem imaginären Haus und malt. Er malt nicht mehr. Sein Leben als Maler ist gelebt. Das bedeutet für ihn, er beginnt neu zu leben!
Frei sein heißt neu leben.
Paul kehrt zurück in seine Geschichte, die er nun hinter sich sieht, so wie das Wasser unter dem Bug scheinbar zum Heck gleitet und dennoch da bleibt. Er lauscht dem Dröhnen der Maschinen, das ihn diese Nacht begleiten wird. "Alles ist im Kopf", hatte SAM gesagt und ihm geraten: "Schließ deine Augen und dann schau nach oben und denke an den schönsten Tag deines Lebens."
Die Geburt der Uhrzeit
1952
Da sitzt der noch nicht Zweijährige auf einem weißen Emailletopf mit Henkel in der Ecke der Küche auf den Holzdielen und versucht, seine Eingeweide zu entleeren. Papa hat gesagt "da bleibst du sitzen, bis du gemacht hast!"
Nun soll endlich Schluss sein, so hat er gemeint, mit der ganzen Scheiße des Windelwaschens. Immer muss mehr Wasser in den Eimern von ihm die vielen Treppen empor getragen, auf dem Feuerofen erhitzt und dann entsorgt werden, nur weil dieser Junge noch immer nicht gelernt hat, seinen Darm am rechten, dafür vorgesehenen Ort zu entleeren. Anfangs hat er, der Junge, geschrien vor Wut und lamentiert, aber es nützte nichts, Papa bestand darauf, dass er nun hier sitzen bleibt, bis die Lösung des Problems erfolgt ist. Die Folge war jedoch, dass der kleine Mann sich nach innen gekehrt hat und das, was nicht hinaus wollte, aufgestaut und angesammelt hat. Seine Protesthaltung war, es einfach nicht mehr herzugeben, was sie von ihm haben wollten. Unter heftigen Schmerzen lag er dann, wenn er den Machtkampf gewonnen zu haben glaubte, in seinem Bettchen und es zerriss ihm schier den Darm.
Alles hat seinen Ursprung und alles muss bezahlt werden. Derjenige, der nichts hergeben will, behält es für sich.
Und die Psychose oder manische Depression ist auch erst geworden in schwierigen Verhältnissen. Seine Mutter, jene Französin aus dem Elsass, die mit einem Vater aufwuchs, der ein deutscher Patriot im „Ländle“ war, der sich stets zurück ins Reich wünschte und schließlich als alter Mann noch in den Krieg fürs Vaterland zog, sie hat ihres Vaters höchsten Wunsch erfüllt und ist in jenes Land gezogen, in dem er so gern leben wollte. Helga wurde sie genannt, den Namen hat sie angenommen. Ihr französischer Geburtsname war nur ein Deckname gewesen, der als Schutzschild gegen Anfeindungen diente. Nein, Helga wollte sie gern sein, obwohl sie, das musste sie täglich spüren, mit ihrer Extravaganz und ihren gesitteten Ansprüchen auf Bildung und Kultur in jener deutschen Nachkriegswelt verdammt war, eine Fremde zu sein. Nicht ganz deutsch den Deutschen und nicht französisch genug, um in der Republique heimisch zu sein.
Seine Mutter auf der Schaukel zwischen den Welten, hin- und hergerissen zwischen ihrer französischen Jugend, der Schulsprache, den französisch sprechenden Freundinnen und den Ansprüchen des Elternhauses auf eine deutsche Zukunft.
Was sie nicht wissen konnte war, dass es immer erst die nächste Generation ist, die jene Ansprüche der Vorfahren einzulösen vermag.
In jenen Nächten schien die Zeit ihm endlos. Paul lebte als Kind in der Ewigkeit. Die Uhrzeit war noch nicht geboren. Nur das Rumoren im Darm machte die Unterschiede im Verlauf. Es gab auch das Denken noch nicht, nur die innere Empfindung. Mama hatte ihm schon sehr früh von dem Herrn Jesus Christus erzählt. Jesus war für sie, die gläubige Christin, Kirchgängerin, spätere Chorsängerin, die einzige Hoffnung, die sie trug. Jeden Abend leitete sie ihr Kind vor dem Einschlafen zum Beten an. Und so bat Paulchen IHN, ihm doch bitte zu helfen. Und schon hier bekam er eine Antwort. Nach stumm durchweinter Nacht konnte er endlich hergeben, was sie von ihm wollten.
Die Dreifaltigkeit war ihm nicht klar, jetzt weiß er, was sie bedeutet. Aber damals als Kind konnte er nicht verstehen, wieso "der liebe Gott" einen Sohn hat, zu dem man sprechen und ihn bitten kann. Mama hatte ihm das Gebet gesagt, welches lautete: "Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein." Immer wieder vor dem Einschlafen hat er es gebetet.
Allein war er ja selbst. Warum sollte Jesus also in seinem Herzen allein sein, wenn er doch einen Vater hatte? Und so formulierte er das Gebet um und sagte: "Soll niemand drin wohnen als Jesus und der liebe Gott allein!"
Gott hat ihn verstanden und sich ihm fortan offenbart.
Mäandern
2023
In der thüringischen Stadt Weimar steht den Besuchern das ehemalige Wohnhaus Goethes Am Frauenplan 1 offen. Man hat es zu diesem Zwecke so her- und eingerichtet, dass die Illusion erhalten bleibt, es befände sich in jenem Zustand wie vor mehr als zweihundert Jahren, als Goethe starb. Wenn man es heute auf einem vorgeschlagenen Rundweg durch die Räume mit einem akustischen Guide auf den Ohren durchschreitet, erfährt man einiges über die Lebensweise des städtischen Bürgertums im angehenden neunzehnten Jahrhundert. Zweifellos sind es die Häuser und Wohnungen, die uns im Laufe unseres Lebens Heimat geben. Jeder Mensch, umso mehr ein solch großer Geist, braucht eine angemessene Lebensbasis zu seiner Entfaltung. Und so kann man sich der Vorstellung hingeben, ins Innere jener unglaublichen Kraft einzudringen, an den Ort zu gelangen, wo der große deutsche Poet und Weltenmensch Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) viele Jahre Inspiration entwickelte und sein geistiges Zentrum entfaltete. Vor den Räumen in denen er lebte, …arbeitete, feierte, liebte, schlief…, bleiben heute Menschen andächtig stehen und hören gebannt die Worte, die eine kluge museale Vermarktung ihnen zur Erklärung bereitstellt.
Es sind die Geschichten, die ein Leben ausmachen. Und ungezählte Geschichten, die nie erzählt werden, versinken mit dem Sterben in dem Meer der Ewigkeit … Hätte Paul, als Egon ihn bat, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben, die Zeit in ihn investiert, sozusagen als Freundschaftsgabe, all die erlebten und erdachten Kuriositäten für ihn aufzuschreiben, von ihm diktiert, wäre gewiss ein lesenswertes Buch daraus entstanden. Er war noch nicht zum Schriftsteller bestimmt. Eine Möglichkeit mutig zu ergreifen, obwohl man doch schon auf einem, nämlich seinem eigenen, gedachten Weg schreitet und somit von ihm abzuweichen, ist sehr schwer, denn es sind jene Abweichungen, die, wenn man sie zulässt, schicksalhaft sein können. Lassen wir also einen ablenkenden Impuls zu oder widersetzen wir uns?
Unser kleines Ego, das uns immer wieder Fallen der Eitelkeit stellt, wird, wenn es gut läuft, uns erst im sogenannten Alter in die Schranken weisen.
Zu jener Zeit hatte er neben seinen vielfältigen Verpflichtungen aus der familiären und beruflichen