Ein Sommer in Mytilene - Arvid Heubner - E-Book

Ein Sommer in Mytilene E-Book

Arvid Heubner

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Beschreibung

Es braucht nur einen Sommer, um alles zu verändern

Chloé Lambert ist sechzehn; ein unsicheres junges Mädchen, das vor lauter Schüchternheit nicht wagt, anderen Menschen in die Augen zu sehen. Sie ist sich ihrer Schönheit nicht bewusst, als sie die Sommerferien am Gutshof ihrer Großeltern im beschaulichen Mytilene – einer Stadt am Atlantik – verbringt. Erst der gutausehende, geheimnisvolle Daphnis scheint aus der viel zu ernsten Schülerin eine selbstbewusste Frau machen zu können …

Über booksnacks

Kennst du das auch? Die Straßenbahn kommt mal wieder nicht, du stehst gerade an oder sitzt im Wartezimmer und langweilst dich? Wie toll wäre es, da etwas Kurzweiliges lesen zu können. booksnacks liefert dir die Lösung: Knackige Kurzgeschichten für unterwegs und zuhause!

booksnacks – Jede Woche eine neue Story!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 138

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Kurz vorab

Liebe Leserin, lieber Leser,

wie schön, dass du dich für diesen booksnack entschieden hast! Wir möchten dich auch gar nicht lange aufhalten, denn sicher hibbelst du der folgenden Kurzgeschichte schon voller Freude entgegen.

Vorab möchten wir aber ganz kurz die wichtigsten Merkmale einer Kurzgeschichte in Erinnerung rufen:

Der Name ist Programm: Alle Kurzgeschichten haben ein gemeinsames Hauptmerkmal. Sie sind kurz.Kurz und knapp sind auch die Handlung und die erzählte Zeit (Zeitsprünge sind eher selten).Ganz nach dem Motto »Einleitungen werden total überbewertet« fallen Kurzgeschichten meist sofort mit der Tür ins Haus.Das zweite Motto lautet »Wer braucht schon ein Happy End?« Also bereite dich auf einen offenen Schluss und/oder eine Pointe am Ende der Geschichte vor. Das Geheimnis dahinter: Kurzgeschichten sollen dich zum Nachdenken anregen.Versuch deine Neugier zu zügeln, denn auch für die Beschreibung der Charaktere und Handlungsorte gilt »in der Kürze liegt die Würze«.Die Aussage des Textes ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Hier bist DU gefragt, um zwischen den Zeilen zu lesen und deine persönliche Botschaft aus der Geschichte zu ziehen.

Jetzt bist du gewappnet für unseren literarischen Snack. Und findest du nicht auch, dass man diesen gleich noch mehr genießen kann, wenn man weiß was drin ist?

Viel Spaß beim Booksnacken wünscht dir

Dein booksnack-Team

Über dieses E-Book

Chloé Lambert ist sechzehn; ein unsicheres junges Mädchen, das vor lauter Schüchternheit nicht wagt, anderen Menschen in die Augen zu sehen. Sie ist sich ihrer Schönheit nicht bewusst, als sie die Sommerferien am Gutshof ihrer Großeltern im beschaulichen Mytilene – einer Stadt am Atlantik – verbringt. Erst der gutausehende, geheimnisvolle Daphnis scheint aus der viel zu ernsten Schülerin eine selbstbewusste Frau machen zu können …

Impressum

Erstausgabe Juni 2021

Copyright © 2022 booksnacks, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96817-724-3

Covergestaltung: dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH unter Verwendung eines Motivs von shutterstock.com: © Georgios Kritsotakis Korrektorat: Daniela Pusch

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Ein Sommer in Mytilene

I dont’t know what’s right and what’s real anymore

I don’t know how I’m meant to feel anymore

When do you think it will all become clear

‘Cause I’m being taken over by the fear.

Lily Allen – The Fear

Lieutenant Chloé Lambert, ehemalige Ermittlerin bei der ›Brigade criminelle‹, stand am Wohnzimmerfenster ihres leergeräumten Apartments und sah hinaus zum wolkenverhangenen Himmel über Paris. Dicke Regentropfen prasselten gegen die Fensterscheiben. Das Wetter passte gut zu ihrer Stimmung. Sie stand vor einem Scheideweg.

Wieder einmal hatte sie sich mit ihrem Vater gestritten, der ihre Entscheidung nicht nachvollziehen wollte. Die Wahrheit war, dass Chloé sich hier nie richtig heimisch gefühlt, die Arbeit ihr kein Vergnügen bereitet hatte. Ihr ehemaliger Vorgesetzter – den sie hasste wie der Teufel das Weihwasser – hatte ihr nicht die Gelegenheit gegeben, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.

Zeit des Aufbruchs. Chloé Lambert bekam eine neue Chance, es sich und allen anderen zu beweisen. Sie konnte es noch nicht richtig glauben. Vielleicht hatte sie auch etwas Angst. Ihr neuer Vorgesetzter bei EUROPOL, ein deutscher Kriminalhauptkommissar namens Tinus Geving, stand in dem Ruf, brillant zu sein. Brillant, emotionslos, kalt. Ein Menschenschinder, wie ihr erzählt worden war. Würde sie dieser Herausforderung standhalten? Konnte sie dieser Herausforderung standhalten? Sie begann, an sich selbst zu zweifeln.

In vielerlei Hinsicht fühlte sie sich wie die kleine, schmächtige, schüchterne sechzehnjährige Schülerin, die sie einst gewesen war. Schwach und voller Selbstzweifel. Hatte sie ihr Leben unter Kontrolle, oder hatte ihr Leben sie unter Kontrolle?

Chloé sah sich in ihrer Wohnung um. Es gab nicht viel, was sie in Paris zurücklassen würde. Die meisten Sachen waren verkauft, einige eingelagert, die Wohnung vermietet, die Koffer gepackt. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Noch zwei Stunden bis zur Abfahrt.

Nur ein Stück – das liebste, was sie besaß – nahm mit ihr den Weg nach Den Haag. Sie hielt ein altes, in braunes Leder eingebundenes Buch in ihren Händen. Sie öffnete es, las die Widmung:

DIE KÖNIGINNEN UNSERER HERZEN, SIE WAGEN ES, ZU HERRSCHEN ÜBER UNSER SCHICKSAL UND UNSERE TAGE! – FÜR CHLOÉ IN EWIGER DANKBARKEIT, DAPHNIS.

Chloé schmunzelte. Sie hatte schon einmal an einem ähnlichen Scheideweg gestanden. Damals, im Sommer. Acht Wochen, die ihr Leben für immer verändert hatten. Ein Sommer, der aus einer einsamen, viel zu ernsten Schülerin eine junge, selbstbewusste Frau gemacht hatte. Ein Sommer in Mytilene …

***

Chloé war gerade sechzehn Jahre alt geworden und hatte ihr erstes Jahr am ziemlich vornehmen ›Lycée Eurydice‹ beendet.

Wäre es nach ihr gegangen, sie hätte lieber eine normale Schule besucht. Doch ihre Eltern, besonders ihr Vater – ein angesehener Richter in Bordeaux – bestanden darauf. Exzellente Bildung sei unerlässlich, wenn sie eine der einflussreichen Elitehochschulen besuchen solle, predigte er unentwegt. Ein Sollen, kein Wollen. Chloé hatte keine weiteren Geschwister, die Erwartungen an sie waren dementsprechend hoch. Die Tochter des Hauses Lambert musste sich in das ihr zugebilligte Schicksal fügen. Was blieb ihr anderes übrig? Sie tat es nicht mit Widerwillen, sie tat es brav. Sie tat es mit großer innerer Unsicherheit.

Chloé Lambert war ein unsicheres junges Mädchen. Ihre sechzehn Jahre nahm man ihr kaum ab, sie wirkte jünger, fast kindlich. Sie war mindestens einen halben Kopf kleiner als ihre Mitschülerinnen, obwohl sie immer noch wuchs. Eine »Spätentwicklerin«, wie man ihr oft genug bescheinigt hatte. Den Prêt-a-porter-Modetick ihrer Klassenkameradinnen ging sie nicht mit, konnte sie nicht mitgehen, selbst wenn sie gewollt hätte. Sicher hätte sie gern gewollt. Doch dafür hatte sie weder die entsprechende Taille noch adäquate Kurven, stattdessen aber dürre Ärmchen und Beinchen. In den lockeren Kleidern, die sie so gerne trug, ging das unvollendete Etwas – für das sie sich hielt – zusätzlich unter.

Sie war ein schüchternes Mädchen, das es kaum wagte, anderen Menschen in die Augen zu sehen. Dabei hätte sie keinen Grund dazu gehabt. Man konnte sie als wunderschön bezeichnen. Ihr schwarzes – stets zu einem Zopf geflochtenes – Haar, ihre mandelfarbenen Augen, ihr zauberhaftes, etwas schiefes Lächeln. Trotzdem gab es bisher keine Jungs in ihrem Alter, die Interesse an ihr bekundet und ihr genau das bescheinigt hätten. Folglich konnte sie es nicht wissen. Woher sollte sie es wissen, wenn niemand es ihr sagte? In einem Alter, in dem die allermeisten ihrer Klassenkameradinnen ihren ersten festen Freund, ihre erste Trennung, ihr erstes Drama schon hinter sich hatten, wartete Chloé noch auf den Richtigen. Sie kam sich vor wie eine Fremde. Unvollkommen und deplatziert.

Ihre Interessen unterschieden sich überdies stark von denen ihrer Altersgenossinnen. Musik und Literatur waren ihre großen Leidenschaften. Bis zu ihrem zwölften Lebensjahr hatte sie den kompletten Jules Verne förmlich verschlungen. Sie fieberte mit dem ›Kurier des Zaren‹ mit, wunderte sich über die Eigenheiten von ›Keraban, dem Starrkopf‹, tauchte ein in die Welt ›Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer‹, ging auf große Fahrt mit den ›Kindern des Kapitäns Grant‹. Ihren Jules Verne kannte sie in- und auswendig. Seine fantastische Welt war ihre Welt, eine bessere Welt.

Sicherlich stand ihr auch ihr irgendwie ungelenk wirkendes Auftreten im Wege. Ihr Vater beschwerte sich oft genug darüber, bei ihrer Mutter traf sie auf mehr Verständnis. Manchmal wunderte sie sich selbst, dass sie nicht ständig über ihre eigenen Füße stolperte. Woran es ihr im persönlichen Auftreten fehlte, das machte sie durch Intelligenz und Redegewandtheit wieder wett. Chloé konnte reden. Sie hatte ein ausgeprägtes Gespür für Recht oder Unrecht. Wenn ihr etwas nicht passte, machte sie ihren Mund auf. Sie machte sehr oft ihren Mund auf. Ebenfalls zum Leidwesen ihres Vaters.

Chloé mochte ihr Schuldasein nicht besonders. Für die Nicht-Probleme ihrer Mitschüler konnte sie kein Verständnis aufbringen. Und die Stadt im Allgemeinen, Bordeaux im Speziellen, hasste sie geradezu. Die Befindlichkeiten, die Hektik. Viel Lärm um nichts. Viel lieber wäre sie bei ihren Großeltern mütterlicherseits auf dem Lande aufgewachsen. Am Ort ihrer größten Sehnsucht. Mytilene.

Mytilene. Die strahlende Stadt am Atlantik. Von Kanälen durchschnitten, in die der Golf einströmte. Geschmückt durch Brücken und Häuser in glänzendem Weiß. Für Chloé eine Insel der Glückseligkeit. Immer stand ein azurblauer Himmel über dieser strahlenden Stadt. Nur vereinzelte Zirrostratus-Wolken verrieten, wo am Horizont der Himmel aufhörte und das Meer begann.

Etwa vier Kilometer außerhalb dieses Paradieses, an der Landstraße nach Pyla, lag das Paradies im Paradies: die Domaine de Dryas, der Gutshof ihrer Großeltern. Hinter einer verwilderten, von Efeu überwucherten Mauer, gut geschützt vor neugierigen Blicken von der Straße, erstreckte sich ein weitläufiges Areal. Man gelangte nur durch ein steinernes, majestätisches Torhaus auf das Gelände. Eine schnurgerade, von Zypressen gesäumte Allee, von der es in alle Richtungen zu Gehöften, Stallungen sowie einer kleinen Kapelle abging, führte direkt in den Rosengarten, aus dessen Mitte sich das Wohnhaus mit seinem leuchtend roten Dach erhob. Ein nicht allzu großes, trotzdem geräumiges zweigeschossiges Refugium aus dicken, hellen Feldsteinmauern, die den ganzen Sommer für eine angenehme Kühle im Innern sorgten. Die Front war mit wildem Wein bewachsen. Der Rosengarten erfüllte ihre Großmutter mit ganzem Stolz. Alba-Rosen, Damaszener Rosen, Noisetterosen, Bourbonrosen, dazu Hagebutten und Brombeeren standen zu dieser Jahreszeit in voller Pracht. Sie leuchteten in allen Schattierungen von Weiß über Rosa bis zu Blutrot. Dabei verströmten sie einen süßlichen orientalischen Duft, der sich Chloé schon im Kindesalter eingeprägt hatte. In den Rosenblüten gaben sich Bienen und Hummeln ein munteres Stelldichein. Die fleißigen Insekten erfüllten beim Sammeln des Nektars die Luft mit zufriedenem Summen. Sie schienen das schöne Wetter ebenso zu genießen wie Chloé.

Von ihrem Zimmer im zweiten Stock hatte sie einen guten Blick über die leicht abschüssige Obstbaumwiese – Apfel-, Quitten- und Aprikosenbäume sorgten hier für reiche Ernte –, die in ein wildes Blumenmeer aus Klatschmohn und Kamille überging. Dahinter die saftig grünen Pferdekoppeln.

Chloé betrachtete die Domaine de Dryas als eigentliche Heimat. Der Gutshof hatte sich schon vor der Revolution im Besitz der Familie Dryas befunden. Seitdem waren die Irrungen und Wirrungen der Zeitläufte, zwei napoleonische Kaiserreiche, vier Republiken, spurlos an ihm vorübergegangen. Der Hof stand unbeirrt und erlebte seine fünfte Republik. Er würde dann noch unbeirrt stehen, so nahm sie in ihrem jugendlichen Eifer an, wenn irgendein in Paris auserwählter »Jupiter« die sechste Republik ausrief.

Chloé war am Wochenende, direkt zu Beginn ihrer achtwöchigen Sommerferien, eingetroffen. Nach kaum drei Tagen hatte sie jenes Wohlsein und jene innere Ruhe wiedergefunden, die sie in Bordeaux verlorengeglaubt hatte.

Am Vormittag des vierten Tages fuhr sie mit dem Fahrrad durch die Weiten der aquitanischen Felder, um in Mytilene einige Besorgungen für ihre Großmama Joséphine zu erledigen. Ein sanfter Nordwest-Wind wehte von der Küste herüber. Der leicht salzige Geruch erfrischte die Sinne.

Auf halber Strecke war ihr, als ob der Nordwest Musik mit sich trüge. Nicht zum ersten Mal. Sie hatte sich schon bei vorangegangenen Aufenthalten gefragt, woher die sonderbaren Klänge – sie meinte, es wäre Flötenmusik – herkommen mochten. Jetzt wollte sie es genauer wissen. Also nahm sie eine Abzweigung und fuhr den Weg, den ihr Ohr ihr wies. Der Besitz ihrer Großeltern reichte weit. Jetzt aber überschritt sie die Gemarkungsgrenze zu den Ländereien der Familie Lamon, die ihren Hof am Stadtrand Mytilenes hatte.

Chloé kam der Musik immer näher, geriet in eine Schafherde, die im Schatten einer riesigen Eiche döste und wie hypnotisiert den über allen schwebenden Sphärenklängen zu lauschen schien. Sie stieg von ihrem Fahrrad. Dort, unter der Eiche, saß er. In schlichtes Leinen gekleidet, mit einem Strohhut auf dem Kopf. Und tatsächlich spielte er auf einer Blockflöte! Eine sehnsüchtig-träumerische Klage. Ungebunden und atemlos. Suggestiv. Mehr Farbe als Melodie. So violett wie Lavendel, so purpurrot wie Granatapfel. Dieselbe Melodie Debussys, so viel wusste sie, immer und immer wieder. Chloé verlor sich im sanften Rieseln des Flötenspiels.

Ihr wurde merkwürdig warm. Ein leichtes Kribbeln in ihren Fingerspitzen. Der Rest eines Traums … Bis er plötzlich abbrach.

Er hatte seine unverhoffte Zuhörerin bemerkt. Bisher blieb sein Gesicht im Schatten verborgen, nun offenbarte es sich ihr. Ein glattes Gesicht. Ein sanftes Gesicht. Kluge Augen, die sie herausfordernd betrachteten. Welche Kraft von ihnen ausging. Eine Kraft, die zu seiner ansonsten schmächtigen Erscheinung in krassem Gegensatz stand. So beobachteten sich beide einige Sekunden. Niemand wagte, ein Wort zu sagen, wartete darauf, dass der Andere den Auftakt machte. Chloé strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Für ihn scheinbar das Zeichen, mit dem Flötenspiel fortzufahren und sie nicht weiter zu beachten. Kopfschüttelnd kehrte Chloé um und fuhr in Richtung Mytilene davon. Ein komischer Vogel, dachte sie.

Die absonderliche Begegnung beschäftigte sie für den Rest des Vormittags. Wer mochte der Junge gewesen sein? War er der Lamon-Enkel, von dem sie stets gehört, den sie aber nie je zu Gesicht bekommen hatte? Die verflixte Melodie ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Mehr als ein Mal ertappte sie sich dabei, wie sie sie summte. Chloés Eltern waren der Auffassung, dass sie ganz gut singen könne, ihren Alt lobten sie über den grünen Klee. Doch wie in so vielen Dingen war die Heranwachsende und nach sich selbst Suchende darin nicht sicher.

Der Ohrwurm plagte sie auch am frühen Nachmittag noch. Chloé hatte sich an ihren ganz persönlichen Lieblingsplatz an die atlantischen Gestade zurückgezogen. In einer kleinen, stillen, steil abfallenden Bucht verbrachte sie gerne Zeit mit sich allein. Zeit zum Nachdenken, Zeit für ihre geliebten Bücher. Gerade hatte es ihr Marivaux‘ ›La Vie de Marianne‹ angetan. Es gehörte zur Pflichtlektüre im ersten Jahr. Von der Hauptprotagonistin war sie so begeistert, dass sie sich vorgenommen hatte, das Buch über die Ferien – abseits von schulischem Zwang und Klassenkameraden, die es ja doch nicht verstanden – noch einmal zu lesen. Allein Chloé hatte Mühe, sich auf den Inhalt zu konzentrieren. Der Text verschwamm vor ihren Augen. Sie döste für einige Sekunden weg. Ihr Kopf fiel nach vorne, wodurch sie aus ihrem Dämmerzustand gerissen wurde. Für wenige Augenblicke hellwach versuchte sie einen neuen Anlauf, mit ähnlichem Ausgang. Sie schlug die Seiten des Buches zu, drehte sich auf den Rücken. So lag sie, im Sand ruhend. Die Sonne hatte ihren Zenit überschritten. Chloé dachte nach, dazu die Melodie. Leicht drehte sie den Kopf zur Seite. Auf einem Felsen, wenige Meter entfernt ruhte ein stupsnasiges, unbekleidetes Wesen in der Hitze. Halb Mensch, halb Bock, ziegenbärtig, mit Hörnern auf dem Kopf und Hufen an den Füßen – nicht unbedingt eine Schönheit. Ungestüm lief er auf sie zu. Wollte er mit ihr spielen? Er versuchte, sie zu fassen. Sie lief lachend davon, wobei sie ihren Schleier verlor. Er sah ihr traurig nach, hob ihren Schleier auf, genoss dessen Duft, ihren Duft. Schließlich breitete er ihn aus, ließ sich darauf nieder und vollzog den Liebesakt. Hitzewallungen durchfuhren ihn. Sie erfassten schließlich auch Chloé, die sich von ihnen davontragen ließ. Lebt wohl! Der Schatten naht, darin ihr untergingt.

Als sie völlig außer Atem, mit schnellem Puls, aufwachte, hatten die Amseln bereits ihre Abendgesänge angestimmt. Kühle stieg aus der stillen Bucht empor. Sie war ganz aufgeregt, es hatte sich so echt angefühlt. Chloé wusste zwar nicht, wie sich »echt« anfühlte, trotzdem passte es irgendwie ins Reich ihrer Vorstellungskraft. Sie überkam eine leichte Gänsehaut. Diese Intensität! Langsam kam sie zur Besinnung und begriff. Du hast gerade deinen ersten erotischen Traum erlebt. Sachen gibt’s. Das also machte es mit ihr. Ziemlich verwirrend.

Chloé musste den Nachmittag verschlafen haben. Nur ein weiterer Beweis, wie dringend erholungsbedürftig sie war. Sie hatte ihren Charakter, der oft genug mit ihr durchging, sie reagierte schnell entnervt. Hier kam sie zur Ruhe.

Immer noch mit sich und ihrem Traum beschäftigt, wollte Chloé gerade ihre Sachen packen und den Heimweg antreten, als sie Geräusche vom Strand her vernahm. Das Spritzen des Wassers verriet, sie war hier nicht allein.

Neugierig und unauffällig schlich sie sich an die Böschung heran, hielt sich hinter ihr versteckt. Er! Wie er da so seine Bahnen zog – gleichmäßig, kraftvoll, ausdauernd – ging eine Faszination von ihm aus. Sie konnte gar nicht mehr wegsehen. Er tauchte auf, stieg aus dem Wasser an den steinigen Strand. Chloé hielt den Atem an, sie hörte ihren Herzschlag und hatte Angst, dass das starke Pochen sie verriet. Jetzt erst bemerkte sie sein dunkles lockiges Haar. Etwas blass im Gesicht war der Rest seines Körpers sonnengebräunt. Splitternackt stand er dort und fühlte sich vollkommen ungestört. Er konnte nicht ahnen, dass sie ihn heimlich beobachtete. Nicht von besonders kräftiger Statur, verfügte er über eine Anmut, die Chloé erröten ließ. Lächelnd schlich sie davon. Noch konnte sie die Begebenheit nicht einordnen, spürte aber das Verlangen, den brennenden Wunsch, die Hoffnung, ihn wieder baden zu sehen.