Ein Sommer wie kein anderer - Emma Straub - E-Book
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Ein Sommer wie kein anderer E-Book

Emma Straub

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Beschreibung

Ein Familiensommerurlaub und gleichzeitig ein Wendepunkt im Leben aller Beteiligten: ein humorvoller, liebenswerter Familien-Roman Franny und Jim Post begehen ihren 35. Hochzeitstag, Tochter Sylvia hat gerade erfolgreich ihren Highschool-Abschluss gemacht, und Sohn Bobby steht kurz vor der Verlobung mit seiner Langzeitfreundin. Nun freut sich die Familie auf ihren gemeinsamen zweiwöchigen Urlaub mit Freunden auf Mallorca. Denn Sommer, Sonne, Strand und gutes Essen sind perfekt, um die Ereignisse der letzten Wochen gebührend zu feiern und sich gleichzeitig vom stressigen Alltag in Manhattan zu erholen. Doch lange verdrängte Konflikte drohen Harmonie und Entspannung zu zerstören …

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Seitenzahl: 428

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Emma Straub

Ein Sommer wie kein anderer

Roman

Aus dem Amerikanischen von Sonja Rebernik-Heidegger

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

WidmungMottoTag einsTag zweiTag dreiTag vierTag fünfTag sechsTag siebenTag achtTag neunTag zehnTag elfTag zwölfTag dreizehnTag vierzehnDanksagungLeseprobe Frauen, die lieben
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Für River – und ein Leben voller zukünftiger Familienurlaube.

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Es geht nicht so sehr ums Reisen als vielmehr ums Fortfahren. Wer von uns hat nie einen Schmerz gekannt, den es zu vertreiben galt, oder ein Joch, das abzuschütteln gewesen wäre?

 

George Sand, Winter auf Mallorca

 

 

I’ll be the desert island

where you can be free

I’ll be the vulture

you can catch and eat

 

The Magnetic Fields, Desert Island

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Tag eins

Der Tag der Abreise kam wie immer vollkommen unerwartet, egal, wie lang sich das Datum schon drohend auf dem Kalender abzeichnete. Jim hatte seinen Koffer bereits am Vorabend gepackt, doch nun, kurz vor ihrem geplanten Aufbruch, wurde er plötzlich nervös. Hatte er genügend Bücher eingepackt? Er wanderte vor dem Bücherregal in seinem Büro auf und ab, zog mehrere Romane an den Buchrücken heraus und schob sie schließlich wieder zurück an ihren Platz. Hatte er seine Laufschuhe eingepackt? Und den Rasierschaum? Jim hörte, wie seine Frau und seine Tochter ebenfalls in letzter Minute panisch durchs Haus hetzten und mit einem letzten wichtigen Gegenstand, der noch zu den Gepäckstücken neben der Tür gehörte, die Treppe herunterstürzten.

Es gab Dinge, die Jim, wenn möglich, am liebsten zurückgelassen hätte: das ganze letzte Jahr und die fünf Jahre davor, als sein Leben begonnen hatte, den Bach hinunterzugehen. Die Art, wie Franny ihn abends über den Esszimmertisch hinweg ansah. Das Gefühl, nach drei Jahrzehnten zum ersten Mal fremde Lippen zu küssen. Und wie sehr er sich gewünscht hatte, dieses Gefühl würde nie enden. Die Leere, die ihn nach der Rückkehr erwartete. Die Tage, die er irgendwie hinter sich bringen musste. Einen nach dem anderen. Jim setzte sich an seinen Schreibtisch und wartete darauf, dass jemand ihm sagte, er werde anderswo gebraucht.

 

Sylvia wartete vor dem Haus und starrte die 75th Street hinunter in Richtung Central Park. Ihre Eltern gehörten beide zu jenen Menschen, die davon überzeugt waren, dass immer genau im richtigen Moment ein Taxi vorbeikam, vor allem an den Sommerwochenenden, wo in der ganzen Stadt kaum Verkehr herrschte. Sylvias Meinung nach war das absoluter Schwachsinn. Das Einzige, was noch schlimmer war als die Tatsache, dass sie zwei der noch verbleibenden sechs Wochen ihrer letzten Sommerferien, bevor sie ins College ging, mit ihren Eltern verbringen sollte, war die Aussicht, den Flug zu verpassen und eine ihrer letzten Nächte sitzend und an den verdreckten Sitz gekuschelt in der Abflughalle des Flughafens zu verbringen. Sie würde sich selbst um das Taxi kümmern.

Es war ja nicht so, dass sie lieber den ganzen Sommer in Manhattan verbracht hätte, das sich immer in eine kochend heiße Betonhölle verwandelte. Der Gedanke an einen Urlaub auf Mallorca war durchaus verlockend. Theoretisch. Die Insel, sanfte Wellen, eine angenehme Brise. Und sie konnte ihr Spanisch verbessern, eine Sprache, in der sie während ihrer Highschool-Zeit immer gute Noten bekommen hatte. Alle ihre Mitschüler aus der Abschlussklasse – und zwar wirklich alle – hatten den Sommer über praktisch nichts vor. Sie würden bloß abwechselnd Partys veranstalten, während ihre Eltern in Wainscott, Woodstock oder irgendwo sonst waren, wo es Häuser mit Holzdächern gab, die absichtlich heruntergekommen aussahen. Sylvia hatte in den letzten achtzehn Jahren wahrlich genug Zeit mit diesen Leuten verbracht und konnte es kaum erwarten, endlich zu verschwinden. Klar, es würden auch vier weitere Schüler ihrer Klasse an der Brown University studieren, aber wenn sie nicht wollte, musste sie kein Wort mehr mit ihnen wechseln, und genau das hatte sie vor. Sie wollte neue Freunde finden, ein neues Leben beginnen. Endlich irgendwo leben, wo der Name Sylvia Post nicht sofort Erinnerungen an das Mädchen wachrief, das sie mit sechzehn, zwölf oder fünf Jahren gewesen war; wo sie sich von ihren Eltern und ihrem Bruder loslösen und endlich einfach bloß sein konnte – wie ein Astronaut, der durchs Weltall schwebt, unbelastet von jeglicher Schwerkraft. Jetzt, da sie darüber nachdachte, wünschte sich Sylvia plötzlich, sie würden den ganzen Sommer im Ausland verbringen. So musste sie immer noch den August zu Hause überstehen, wenn die Partys sicherlich ihren rührseligen, verzweifelten Höhepunkt erreichten. Sylvia hatte nicht vor, auch nur eine Träne zu vergießen.

Ein freies Taxi bog um die Ecke und fuhr langsam und über die Schlaglöcher holpernd auf sie zu. Sylvia hob einen Arm, während sie mit der anderen Hand das Handy herausholte, um im Haus anzurufen. Es klingelte und klingelte, und als das Taxi schließlich vor ihr hielt, klingelte es noch immer. Ihre Eltern waren noch im Haus und taten weiß Gott was. Sylvia öffnete die Taxitür und beugte sich hinein.

»Es dauert noch einen Moment«, sagte sie. »Tut mir leid. Meine Eltern sind schon auf dem Weg.« Sie zögerte. »Sie sind einfach furchtbar.« Das war nicht immer der Fall gewesen, doch nun war es eine Tatsache, und sie hatte kein Problem damit, es laut auszusprechen.

Der Taxifahrer nickte und schaltete das Taxameter ein. Er war offensichtlich recht zufrieden damit, wenn nötig auch den ganzen Tag zu warten. Üblicherweise hätte das Taxi den ganzen Verkehr blockiert, doch heute war ohnehin nichts los. Sylvia schien der einzige Mensch in der ganzen Stadt zu sein, der es eilig hatte. Sie drückte auf die Wahlwiederholung, und dieses Mal hob ihr Vater nach dem ersten Klingeln ab.

»Los geht’s«, sagte sie, ohne seine Antwort abzuwarten. »Das Taxi ist hier.«

»Deine Mutter ist noch nicht so weit«, erwiderte Jim. »Wir sind in fünf Minuten da.«

Sylvia legte auf und rutschte auf den Rücksitz.

»Sie sind schon unterwegs«, erklärte sie. Dann lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. Ihre Haare verfingen sich an einem Stück Klebeband, das den Bezug der Lehne zusammenhielt. Sie überlegte, wie es wohl wäre, wenn nur ihr Vater oder ihre Mutter aus dem Haus kommen würde, und das war’s dann. Ein Ende wie in einer dieser verdammten Seifenopern, ohne zufriedenstellende Erklärung.

Das Taxameter lief, während Sylvia und der Taxifahrer zehn Minuten schweigend warteten. Als Franny und Jimmy schließlich aus dem Haus eilten, wurden sie von dem wütenden und epochalen Hupen der Autos zum Wagen begleitet, die sich mittlerweile hinter dem Taxi gestaut hatten. Franny glitt neben ihrer Tochter auf den Rücksitz, während Jim vorn Platz nahm. Seine Knie in den Khakihosen wurden gegen das Armaturenbrett gedrückt. Sylvia war weder glücklich noch unglücklich, dass nun beide Eltern im Taxi saßen, trotzdem war sie irgendwie erleichtert, auch wenn sie dies niemals zugegeben hätte.

»On y va!«, erklärte Franny und zog die Tür hinter sich zu.

»Das ist Französisch«, erwiderte Sylvia. »Wir fliegen nach Spanien.«

»Andale!« Franny schwitzte bereits und fächelte sich mit den Reisepässen Luft unter die Achseln. Sie trug ihr Reiseoutfit, das sie im Laufe zahlreicher Flüge und Zugfahrten in alle Ecken der Welt sorgfältig kultiviert hatte: schwarze Leggins, eine schwarze, knielange Baumwolltunika und einen hauchdünnen Schal, damit sie im Flugzeug nicht fror. Als Sylvia ihre Mutter einmal auf ihre unabänderlichen Reisegewohnheiten angesprochen hatte, hatte diese schroff erwidert: »Zumindest reise ich nicht mit einer Flasche Whiskey im Gepäck wie Joan Didion.« Wenn sie gefragt wurde, welche Art von Schriftstellerin ihre Mutter denn sei, antwortete Sylvia normalerweise, dass sie wie Joan Didion war, bloß mit mehr Appetit, oder aber wie Ruth Reichl, bloß durchgeknallter. Ihrer Mutter gegenüber erwähnte sie nichts davon.

Das Taxi fuhr an.

»Nein, nein, nein«, rief Franny und beugte sich ruckartig in Richtung der Plexiglastrennscheibe. »Biegen Sie hier links ab und vorn in der Central Park West noch einmal links. Wir wollen zum Flughafen, nicht nach New Jersey. Vielen Dank auch.« Sie ließ sich in ihren Sitz zurücksinken. »Also wirklich …«, flüsterte sie, dann sagte sie nichts mehr. Sie alle schwiegen den Rest der Fahrt über, abgesehen von der einen Gelegenheit, als der Fahrer sie fragte, mit welcher Fluglinie sie nach Madrid fliegen würden.

Sylvia fuhr gern zum Flughafen, denn die Fahrt führte durch einen vollkommen fremden Teil der Stadt, der sich von der Gegend, die sie kannte, so sehr unterschied wie Hawaii vom Rest der Vereinigten Staaten. Hier gab es Einfamilienhäuser, Maschendrahtzäune, brachliegende Grundstücke und auf der Straße Fahrrad fahrende Kinder. Es schien eine Gegend zu sein, in der die Leute noch selbst mit dem Auto fuhren, was Sylvia wahnsinnig aufregend fand. Ein Auto zu besitzen klang wie eine Geschichte aus einem Hollywoodfilm. Ihre Eltern hatten ein Auto besessen, als sie noch klein gewesen war, doch es war in der Garage verrostet und hatte viel Geld gekostet, weshalb sie es schließlich verkauft hatten, bevor Sylvia alt genug gewesen war, um verstehen zu können, was für einen Luxus es bedeutete. Wenn Franny und Jim nun mit jemandem sprachen, der in Manhattan wohnte und ein eigenes Auto besaß, reagierten sie immer mit stillem Entsetzen, gerade so, als hätte sich ein verwirrter Gast auf einer Cocktailparty in ihrer Gegenwart danebenbenommen.

 

Jim absolvierte seine tägliche Trainingseinheit, indem er zügig den Terminal 7 entlangeilte. Er lief jeden Morgen eine Stunde oder ging zumindest spazieren, und er sah nicht ein, warum er an diesem Morgen eine Ausnahme machen sollte. Das war etwas, das er und sein Sohn gemeinsam hatten: das Bedürfnis, sich zu bewegen und sich stark zu fühlen. Franny und Sylvia gaben sich durchaus zufrieden damit, der Faulheit zu frönen und wie versteinert mit einem Buch auf der Couch oder vor diesem gottverdammten, brüllend lauten Fernseher zu hocken. Er konnte beinahe sehen, wie ihre Muskeln dabei verkümmerten, doch wie durch ein Wunder konnten sie trotzdem noch gehen und taten es auch, wenn man sie genügend motivierte. Jims übliche Route führte ihn in den Central Park, hinauf bis zum Reservoir, quer durch den Park und an der östlichen Seite wieder zurück, wobei er auf dem Heimweg ein Mal das Boat-House umrundete. Hier im Terminal gab es keine ähnlich herrliche Kulisse und auch keine Wildtiere, abgesehen von den wenigen verwirrten Vögeln, die sich irgendwie eingeschlichen hatten und nun für immer am Flughafen JFK festsaßen, wo sie sich gegenseitig Liedchen über die Flugzeuge und ihr Elend vorzwitscherten. Jim hatte die Arme angewinkelt und schritt zügig voran. Es verwunderte ihn immer wieder, wie langsam sich die Menschen in einem Flughafengebäude fortbewegten – es war, als säße man in einem Einkaufszentrum fest. Überall fette Hintern und verhaltensgestörte Kinder. Manche Kinder hingen an einer Leine, was Jim insgeheim gefiel, obwohl er offiziell mit Franny einer Meinung war, die es als menschenunwürdig bezeichnete. Tatsächlich konnten die Eltern ihre Kinder auf diese Weise aus dem Weg ziehen, wenn Jim vorbeikam, und er lief ungestört weiter, vorbei am Zeitschriftenladen und der Sportbar bis zur Snackbar und wieder zurück. Die Förderbänder waren voller Gepäckstücke, also ging Jim nebenher und war mit seinen langen Beinen beinahe schneller als die motorbetriebenen Bänder.

Jim war bereits drei Mal in Spanien gewesen: 1970 nach dem Highschool-Abschluss, als er sich gemeinsam mit seinem besten Freund einen Sommer lang durch Europa geschnorrt hatte. 1977, als er und Franny noch frisch verheiratet gewesen waren, es sich kaum leisten konnten, überhaupt zu fahren, und nichts zu essen hatten, außer den besten Schinkensandwiches der Welt. Und schließlich 1992, als Bobby acht Jahre alt gewesen war und sie jeden Abend früh zu Bett gehen mussten, was bedeutete, dass sie eine Woche lang kein ordentliches Abendessen zu sich genommen hatten, außer dem, was der Zimmerservice gebracht hatte, das in etwa so spanisch gewesen war wie diese spanischen Hamburger namens Hamburguesa. Aber wer wusste schon, wie die Dinge in Spanien mittlerweile standen, wo doch die finanzielle Situation im Land in etwa so angespannt war wie in Griechenland. Jim ging an ihrem Gate vorbei, und sein Blick fiel auf Franny und Sylvia, die in ihre Bücher versunken waren. Sie saßen schweigend nebeneinander und schienen sich dabei so wohl zu fühlen, wie es nur Familienmitglieder konnten. Obwohl vieles dagegensprach, war es gut, dass sie diesen Urlaub antraten, da waren sich er und Franny einig. Im Herbst würde Sylvia ihr Studium in Providence beginnen, mit den Jungen aus ihrer Vorlesung zum Thema »Französisches Kino« Nelkenzigaretten rauchen und sich schließlich so weit von ihren Eltern entfernt haben, als lebe sie in einer anderen Galaxie. Bei ihrem älteren Bruder Bobby, der mittlerweile hüfthoch im Immobiliensumpf von Florida steckte, war es genauso gewesen. Zuerst war ihnen die Trennung von ihm so unmöglich erschienen, als würden sie einen Arm oder ein Bein verlieren, doch schließlich war er fort gewesen, und die Distanz zu ihnen wurde immer größer, und alles lief gut. Und nun konnte sich Jim kaum noch daran erinnern, wie es gewesen war, als Bobby noch unter seinem Dach gelebt hatte. Er hoffte, dass er dieses Gefühl nicht auch bei Sylvia entwickeln würde, doch er nahm an, dass genau das der Fall sein würde, und zwar früher, als er es vielleicht zugeben wollte. Seine größte Angst war jedoch, dass seine ganze Welt zusammenbrach, wenn Sylvia erst einmal fort war. Stein um Stein. Und dass die Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, ihm wie ein Traum erscheinen würde, wie das angenehm unvollkommene Leben eines Fremden.

Sie würden alle gemeinsam den Urlaub auf Mallorca verbringen: Jim und Franny, Sylvia, Bobby und seine Freundin Carmen sowie Frannys guter Freund Charles und sein Lebensgefährte Lawrence. Sein Ehemann. Jim vergaß manchmal, dass die beiden mittlerweile verheiratet waren. Sie hatten gemeinsam ein Haus von Gemma Wie-auch-immer gemietet, einer Britin und alten Freundin von Charles, die auch Franny flüchtig kannte. Das Haus lag etwa dreißig Minuten außerhalb von Palma und hatte auf den Fotos, die Gemma per E-Mail geschickt hatte, sauber und gepflegt ausgesehen. Es war spartanisch, aber geschmackvoll eingerichtet: weiße Wände, seltsame Steinklumpen auf dem Kaminsims, niedrige Ledersofas. Gemma war wie Charles im Kunstbereich tätig und sah der Tatsache, dass sich Fremde in ihrem Haus aufhielten, so entspannt entgegen, wie es nur Europäer konnten, was die ganze Sache außerordentlich einfach gestaltet hatte. Jim und Franny mussten lediglich das Geld überweisen, und schon war alles geregelt: das Haus, der Garten, der Swimmingpool und ein einheimischer Spanischlehrer für Sylvia. Charles hatte ihnen verraten, dass Gemma ihnen das Haus wohl auch ohne finanzielle Gegenleistung überlassen hätte, aber so war es besser und eine Million Mal einfacher, als Sylvia zu einem dieser Sommercamps anzumelden, wie sie es in der Vergangenheit getan hatten.

Zwei Wochen waren lang genug, ein ordentlicher Brocken. Mittlerweile lag Jims letzter Tag beim Gallant einen Monat zurück, und die Tage vergingen seither furchtbar langsam und zogen sich wie Zuckersirup, der auf jeder erdenklichen Fläche kleben blieb und den man einfach nicht mehr loswurde. Zwei Wochen in einem anderen Land würden Jim das Gefühl geben, als hätte er selbst eine Veränderung angestrebt und sich tatsächlich für dieses neue, freie Leben entschieden, wie es so viele Menschen in seinem Alter taten. Mit seinen sechzig Jahren war er immer noch schlank, und seine blassblonden Haare sahen noch relativ gut aus, auch wenn sie ein wenig schütter waren. Franny meinte jedoch, dass sie das immer schon gewesen waren, wenn sie Jim wieder einmal dabei erwischte, wie er sich vor dem Spiegel über die Haare strich. Er lief immer noch genauso viele Kilometer wie mit vierzig, und er schaffte es, eine Fliege in weniger als einer Minute zu binden. Im Großen und Ganzen war er also ziemlich gut in Form. Zwei Wochen Urlaub waren genau das, was er jetzt brauchte.

Jimmy drehte eine Runde und ging zurück zum Gate, wo er sich auf den Stuhl neben Franny sinken ließ. Sie rückte leicht zur Seite und drehte ihre Hüfte, so dass ihre übereinandergeschlagenen Beine in Sylvias Richtung zeigten. Franny las Don Quijote für ihren Buchclub, eine Gruppe von Frauen, die sie eigentlich verachtete, und gluckste während des Lesens immer wieder leise vor sich hin. Vielleicht dachte sie bereits an die ermüdenden Diskussionen über die Geschichte.

»Hast du das Buch wirklich noch nie gelesen?«, fragte Jim.

»Auf dem College. Aber wer kann sich nach so langer Zeit noch daran erinnern?«, erwiderte Franny und schlug die nächste Seite auf.

»Ich fand es lustig«, sagte Sylvia, und ihre Eltern drehten sich zu ihr um, um sie anzusehen. »Wir haben es erst im Herbst durchgenommen. Es ist lustig und pathetisch. Irgendwie wie Warten auf Godot, wisst ihr.«

»Mm-hm«, murmelte Franny und widmete sich wieder ihrem Buch.

Jim warf Sylvia über Frannys Kopf hinweg einen Blick zu und verdrehte die Augen. Das Boarding würde bald beginnen, und dann befänden sie sich in der Luft. Die Tatsache, dass er eine Tochter hatte, deren Gesellschaft er tatsächlich genoss, war eine seiner Leistungen, die Jim am meisten freuten. Was die Familienplanung betraf, war das Glück ja oftmals nicht gerade auf der Seite der Eltern. Man konnte sich nicht aussuchen, ob man einen Jungen oder ein Mädchen bekam. Man hatte keinen Einfluss darauf, ob das Kind einen selbst lieber hatte als den anderen Elternteil. Man konnte sich lediglich mit dem abfinden, was einem die Natur schenkte, und genauso war es zehn Jahre nach ihrem Bruder schließlich mit Sylvia gewesen. Bobby bezeichnete sie gern als Unfall, während Jim und Franny das Wort Überraschung bevorzugten und dabei an eine Geburtstagsparty mit Unmengen von Luftballons dachten. Und es war tatsächlich eine Überraschung gewesen, so viel stand fest. Die Frau am Gate nahm ihr Mikrofon und gab bekannt, dass das Boarding bald beginnen würde.

Franny klappte ihr Buch zu und sammelte eilig ihre Habseligkeiten zusammen. Sie war gern eine der Ersten an Bord, als würde ihr sonst jemand den reservierten Sitzplatz wegschnappen. Ein Prinzip, wie Franny selbst erklärte. Sie wollte so schnell wie möglich ans Ziel, nicht wie all die anderen Trödler, die sich anscheinend damit zufriedengaben, ewig am Flughafen herumzusitzen und überteuerte Mineralwasserflaschen und Magazine zu kaufen, die sie schließlich auf ihrem Sitzplatz zurückließen.

 

Jim und Franny saßen nebeneinander in ihren Sitzen, deren Lehnen sich beinahe vollständig nach hinten klappen ließen. Franny hatte den Fensterplatz bekommen, während Jim am Gang saß. Franny reiste oft genug, um einen Vorrat an Vielfliegermeilen anzuhäufen, der anderen, weniger erfolgreichen Frauen Tränen der Eifersucht in die Augen getrieben hätte. Doch selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätte sie gern einen Aufpreis für die geräumigeren Sitzplätze bezahlt. Sylvia saß dreißig Reihen hinter ihnen in der Touristenklasse. Teenager und Kinder brauchten nicht in der Business-Class zu fliegen und schon gar nicht in der ersten Klasse – das war Frannys Philosophie. Die zusätzliche Beinfreiheit war Menschen vorbehalten, die sie auch zu würdigen wussten, wirklich zu würdigen, und das tat sie auf jeden Fall. Sylvias Knochen waren noch biegsam – sie konnte sich durchaus noch halbwegs gemütlich zusammenrollen, um ein wenig schlafen zu können. Franny verschwendete keinen weiteren Gedanken daran.

Das Flugzeug befand sich irgendwo über dem Meer, und der dramatische Sonnenuntergang hatte sein Farbenspiel in Rosarot und Orange beendet. Mittlerweile war es dunkel. Jim starrte über Frannys Schulter hinweg hinaus in die unendliche Leere. Franny nahm immer Schlaftabletten, damit sie ausgeruht erwachte und dem unausweichlichen Jetlag zuvorkam. Dieses Mal hatte sie die Pillen bereits früher als üblich, sofort nach dem Abflug, geschluckt, und nun schlief sie tief und fest. Sie schnarchte, hatte die leicht geöffneten Lippen in Richtung Fenster gedreht und ihre seidene Schlafmaske mit einem straffen Gummiband um ihren Kopf festgezurrt.

Jim öffnete seinen Sicherheitsgurt und stand auf, um sich die Beine zu vertreten. Er ging bis zum Ende der ersten Klasse und schob den Vorhang zur Seite, um einen Blick in den Passagierraum zu werfen. Sylvia saß so weit hinten, dass er sie nicht einmal sehen konnte, also ging er einfach weiter, bis er sie entdeckte. Ihr Leselicht war das einzige in den letzten Reihen, das noch brannte. Jim stieg über die bestrumpften Füße der schlafenden Passagiere hinweg, um zu seiner Tochter zu gelangen.

»Hey«, sagte er und legte eine Hand auf die Lehne vor Sylvia. Sie trug Ohrstöpsel und wippte mit dem Kopf im Takt der Musik, während ihr Schatten auf die Seiten ihres geöffneten Notizbuches fiel. Sie schrieb gerade und hatte ihn nicht kommen hören.

Jim berührte ihre Schulter. Sie fuhr erschrocken hoch und zog an dem weißen Kabel, um ihre Ohrstöpsel herauszuziehen. Die leise Musik, die ihm unbekannt war, drang nun aus ihrem Schoß. Sylvia drückte einen unsichtbaren Knopf, und die Musik verstummte. Sie schlug ihr Notizbuch zu und verschränkte die Arme darüber, um ihrem Vater nicht einen einzigen Blick auf ihre intimsten Gedanken zu ermöglichen.

»Hey«, antwortete sie, »was gibt’s?«

»Nicht viel«, erwiderte Jim und ließ sich in eine unbequeme Hocke nieder, wobei er den Rücken gegen den Sitz auf der anderen Seite des Ganges drückte. Sylvia gefiel der Anblick des Körpers ihres Vaters in ungewöhnlichen Positionen nicht. Eigentlich gefiel ihr bereits der Gedanke nicht, dass ihr Vater überhaupt einen Körper besaß. Nicht zum ersten Mal in den letzten paar Monaten wünschte sich Sylvia, ihr wundervoller Vater, den sie sehr liebte, säße im Rollstuhl und könnte sich nur fortbewegen, wenn jemand anders so freundlich war, ihn herumzuschieben.

»Schläft Mum?«

»Klar.«

»Sind wir bald da?«

Jim lächelte. »Nur noch ein paar Stunden. Halb so wild. Vielleicht solltest du versuchen, etwas zu schlafen.«

»Ja«, erwiderte Sylvia, »du aber auch.«

Jim legte ihr erneut die Hand auf die Schulter und umfasste sie dabei mit seinen langen, flachen Fingern. Sylvia zuckte zusammen. Er wandte sich ab, um zu seinem Sitzplatz zurückzukehren, doch Sylvia rief ihm nach. Vielleicht war es eine Art Entschuldigung, obwohl sie sich nicht sicher war, ob ihr tatsächlich etwas leidtat.

»Es wird schon wieder, Dad. Wir haben sicher viel Spaß.«

Jim nickte ihr zu und ging langsam zurück zu seinem Sitzplatz.

Als er in sicherer Entfernung war, klappte Sylvia ihr Notizbuch erneut auf und widmete sich wieder der Liste, an der sie gearbeitet hatte. Dinge, die ich vor dem College noch erledigen muss. Bis jetzt umfasste die Liste vier Punkte: 1. extra-große Laken kaufen; 2. Kühlschrank?; 3. braun werden (Selbstbräuner?), (Ha, nur über meine Leiche), (Nein, wohl eher über die Leichen meiner Eltern.); 4. meine Jungfräulichkeit verlieren. Sylvia unterstrich den letzten Punkt auf ihrer Liste und malte einige Schnörkel an den Rand. Das war so ziemlich alles.

[home]

Tag zwei

Die meisten anderen Passagiere in dem kleinen Flugzeug, das sie von Madrid nach Mallorca brachte, waren adrett gekleidete, weißhaarige Spanier oder Briten mit rahmenlosen Brillen auf dem Weg in ihre Ferienhäuser. Dazu kamen noch zahllose lautstarke Deutsche, die anscheinend der Meinung waren, sie wären auf Abi-Reise. Gegenüber von Jim und Franny, auf der anderen Seite des Ganges, saßen zwei Männer in schweren schwarzen Lederjacken, die sich immer wieder umdrehten, um ihrem ebenfalls lederjackentragenden Freund in der Reihe hinter ihnen in ihrem mit Obszönitäten gespickten Slang etwas zuzurufen. Ihre Jacken waren mit Aufnähern verschiedener Organisationen übersät, von denen Franny vermutete, dass sie etwas mit Motorrädern zu tun hatten. Sie erkannte einen Schraubenzieher, das Logo des Motorradherstellers Triumph und zahlreiche Aufnäher mit dem Gesicht von Elvis. Franny kniff die Augen zusammen und warf den Männern einen bösen Blick zu, um ihnen zu verstehen zu geben, dass es für derart laute Gespräche noch zu früh am Morgen war. Der Ausgelassenste der drei saß am Fenster. Er war ein mondgesichtiger Typ mit roten Haaren, dessen Gesichtsfarbe der eines Marathonläufers nach fünfundzwanzig Kilometern entsprach.

»Hey, Terry«, sagte er und griff über die Sitzlehne nach hinten, um seinem dösenden Freund eine zu verpassen. »Schlafen tun hier nur Babys!«

»Hey, Mann, dann kennst du dich sicher bestens damit aus, nicht wahr?« Der verschlafene Freund hob seinen Kopf von der Hand, auf die er ihn gestützt hatte, wobei eine zerknitterte Wange zum Vorschein kam. Er wandte sich an Franny und sah sie finster an. »Morgen«, sagte er. »Ich hoffe, Ihnen gefällt die bordeigene Unterhaltungsshow.«

»Seid ihr wirklich eine Motorradgang?«, fragte Jim und beugte sich über den Mittelgang. Die jüngeren Redakteure beim Gallant schrieben ständig Sonderartikel, für die sie ebenso teure wie schnelle Maschinen Probe fuhren, doch Jim war noch nie selbst auf einem Motorrad gesessen.

»Das kann man wohl sagen«, erwiderte der verschlafene Kerl namens Terry.

»Ich wollte immer schon ein Motorrad haben. Aber es hat sich nicht ergeben.«

»Dafür ist es nie zu spät«, antwortete Terry, bevor er seinen Kopf wieder auf seiner Hand abstützte und zu schnarchen begann.

Franny verdrehte verärgert die Augen, doch das schien niemandem aufzufallen.

Der Flug verging schnell, und nicht einmal eine Stunde später landeten sie im sonnendurchfluteten Palma. Franny setzte ihre Sonnenbrille auf und watschelte über das Rollfeld zur Gepäckausgabe wie ein Filmstar, der sich in seinem stämmigen Körper fortgeschrittenen Alters überaus wohl fühlte. Kommerzielle Fluglinien waren zwar ähnlich glamourös wie Linienbusse, aber sie konnte zumindest so tun als ob. Franny war zwei Mal mit der Concorde unterwegs gewesen, nach Paris und wieder zurück, und sie trauerte der Überschallgeschwindigkeit und der kunstvoll arrangierten Bordverpflegung immer noch nach. In Palma schienen alle nur deutsch zu sprechen, und einen Augenblick lang befürchtete Franny, dass sie den falschen Flug erwischt hatten. Es war, als wäre sie in der U-Bahn eingeschlafen und hätte ihre Haltestelle verpasst. Dennoch war es ein angemessener Morgen für ein Land am Mittelmeer: sonnig und warm und mit einem Hauch des Dufts von Olivenöl in der Luft. Franny war zufrieden mit der Wahl ihres Urlaubsortes. Mallorca war weniger klischeehaft als Südfrankreich und weniger von Amerikanern überlaufen als die Toskana. Natürlich gab es auch hier zu dicht bebaute Küstenabschnitte und genügend furchtbare Touristenrestaurants, doch davon würden sie nichts mitbekommen. Und da eine Insel naturgemäß schwerer zu erreichen war, trennte sich hier zumindest ein wenig Spreu vom Weizen, was auch die Philosophie von Orten wie etwa Nantucket ausmachte, wo Kinder aufwuchsen, die Privatstrände und bunte Hosen als selbstverständlich erachteten. Franny wollte jedoch nicht allzu viel mit diesem elitären Schwachsinn zu tun haben – sie wollte es lediglich allen recht machen, auch den Kindern, was bedeutete, dass eine angemessen große Stadt in der Nähe sein musste, in der sie sich auf Spanisch synchronisierte Kinofilme ansehen konnten, wenn sie einmal für ein paar Stunden ausbrechen wollten. Jim war in Connecticut aufgewachsen und es demnach gewohnt, mitsamt seiner furchtbaren Familie von der Außenwelt abgeschnitten zu sein, doch der Rest von ihnen stammte aus New York, was bedeutete, dass eine Fluchtmöglichkeit unerlässlich für ihr geistiges Wohlbefinden war.

Das Haus, das sie gemietet hatten, lag gute zwanzig Minuten außerhalb von Palma »auf einem Hügel«, wie Gemma gemeint hatte, was Franny mit einem Stöhnen quittierte, denn sie hatte etwas gegen Herz-Kreislauf-Übungen, die ihr von der Umgebung aufgezwungen wurden. Aber wer musste schon zu Fuß irgendwohin, wenn es so viele Schlafzimmer und einen Swimmingpool gab und das Meer nur ein paar Minuten entfernt war? Die Idee dahinter war gewesen, dass sie als Familie zusammen waren, alle wunderbar eingeschlossen mit Kartenspielen, Wein und allem, was zu einem angenehmen Sommer dazugehörte. In den letzten paar Monaten hatte sich vieles verändert, aber Franny wollte dennoch, dass es keine Strafe darstellte, Zeit mit der Familie zu verbringen. Nicht so, wie es bei ihren oder Jims Eltern der Fall gewesen war. Franny war der Meinung, dass es ihre größte Leistung im Leben war, zwei Kinder auf die Welt gebracht zu haben, die einander auch dann zu mögen schienen, wenn niemand sie beobachtete, und das, obwohl zehn Jahre zwischen Sylvia und Bobby lagen und sie ihre Kindheit daher mehr oder weniger getrennt voneinander verbracht hatten. Vielleicht war das das Geheimnis einer perfekten Beziehung: die Tatsache, dass man nicht ständig Zeit miteinander verbrachte. Aber vielleicht stimmte es auch gar nicht mehr. Die Kinder sahen einander bloß noch im Urlaub und während Bobbys unregelmäßigen Besuchen bei ihnen zu Hause. Franny hoffte es dennoch.

Jim kümmerte sich um den Mietwagen, während Franny und Sylvia auf das Gepäck warteten. Selbst im Urlaub legte Franny Wert auf Effizienz. Und Jim musste ohnehin fahren, denn die europäischen Mietautos hatten allesamt Gangschaltungen, und Franny war seit ihrer Führerscheinausbildung 1971 nur ab und zu einmal mit einem Auto mit Gangschaltung gefahren. Abgesehen davon, sah sie keinen Grund, mehr Zeit als notwendig am Flughafen zu verbringen. Franny wollte sich in Ruhe das Haus anschauen, einkaufen, die Schlafzimmer aufteilen, einen Platz finden, an dem sie schreiben konnte, und herausfinden, in welchem Schrank sich die zusätzlichen Badetücher befanden. Sie wollte Haarshampoo, Toilettenpapier und Käse kaufen. Der Urlaub würde für sie erst dann offiziell beginnen, nachdem sie geduscht und einige Oliven gegessen hatte.

»Mum«, sagte Sylvia und deutete auf einen schwarzen Koffer von der Größe eines kleinen Sarges, »ist das deiner?«

»Nein«, erwiderte Franny und richtete den Blick auf einen noch größeren Koffer, der gerade das Gepäckband entlangkam. »Der da drüben.«

»Ich verstehe echt nicht, warum du so viel eingepackt hast«, erklärte Sylvia. »Es sind doch bloß zwei Wochen.«

»Das sind alles Geschenke für dich und deinen Bruder«, sagte Franny und kniff Sylvia in den schmalen Oberarm. »Ich habe nur noch ein zweites Tuch dabei, das ich mir überwerfen kann. Mehr brauchen Mütter doch nicht, oder?«

Sylvia schnaubte wie ein Pferd und machte sich daran, den Koffer ihrer Mutter zu holen.

»Mein Gott, diese Kerle«, erklärte Sylvia und deutete in Richtung der lautstarken Motorradfahrer. »Sie gefallen mir irgendwie.«

»Sie sind wie große Kinder«, erwiderte Franny und seufzte laut und mit geöffnetem Mund. »Sie hätten besser nach Ibiza gepasst.«

»Hey, Mum, sie nennen sich die Die wilden Kerle, siehst du?«

Der verschlafene Terry hatte sich umgedreht, um seinen Koffer – einen eher unpassenden orangefarbenen Trolley – hochzuheben, wobei er nicht nur den oberen Teil seines blassen Hinterns offenbarte, sondern auch die Rückenansicht seiner Lederjacke, auf der in riesigen Lettern der Name der Gang stand.

»Das ist ja ein furchtbarer Name«, sagte Franny. »Ich wette, sie sind die ganze Woche betrunken und jagen sich auf den schmalen Straßen gegenseitig in den Tod.«

Sylvia hatte jedoch bereits das Interesse verloren und eilte auf ihren eigenen Koffer zu, der gerade auf dem Gepäckförderband gelandet war.

Die Familie Post hatte schon seit Jahren nicht mehr gemeinsam Urlaub gemacht. Zumindest nicht auf diese Weise. Früher hatten sie sich im Sommer in Sag Harbour eingemietet, das sich durchaus von den Hamptons unterschied, worauf Franny immer wieder beharrt hatte, bis es schließlich nicht mehr der Wahrheit entsprach. Danach waren sie einen Monat lang in Santa Barbara gewesen, als Sylvia fünf und Bobby fünfzehn Jahre alt gewesen war. Es waren zwei vollkommen verschiedene Urlaube in einem gewesen und ein Horror zu den Essenszeiten. Schließlich hatte Franny beschlossen, dass es zu anstrengend war, wenn sie alle gemeinsam verreisten. Sie war mit dem sechzehnjährigen Bobby allein nach Miami gefahren und hatte ihm mehrere mutterfreie Nachmittage am South Beach gegönnt. Später behauptete er immer wieder, dieser Urlaub hätte ihn dazu veranlasst, sich an der Universität von Miami einzuschreiben, eine zweifelhafte Ehre für seine Mutter, die sich wünschte, sie hätte ihn stattdessen nach Cambridge mitgenommen. Jim, Franny und Sylvia verbrachten einmal ein Wochenende in Austin, Texas, wo sie nichts anderes getan hatten, als Barbecue zu essen und darauf zu warten, dass die berühmten Fledermäuse unter der Brücke hervorkamen. Natürlich reiste Franny oft allein und beschäftigte sich für das eine Magazin mit den Trends der südkalifornischen Küche oder berichtete für ein anderes über das New Mexican Chili Festival. Oder aber sie aß sich quer durch Frankreich und verdrückte dabei ein Blätterteig-Croissant nach dem anderen. Die meiste Zeit des Jahres verbrachten Jim und Sylvia allein zu Hause, stellten sich ein sorgfältig durchdachtes Abendessen aus den Resten im Kühlschrank zusammen oder bestellten etwas in einem der Restaurants auf der Columbus Avenue, während sie so taten, als würden sie sich um die Fernbedienung streiten. Frannys Eltern, die Familie Gold, wohnhaft im Eastern Parkway 41, Brooklyn, New York, hatten mit ihr nicht einen einzigen Urlaub im Ausland verbracht, und sie sah es als ihre Pflicht an, ihren Kindern neue Eindrücke zu ermöglichen. Sylvias Spanisch würde weicher werden und nicht mehr nach dem puerto-ricanischen Spanisch klingen, das in New York gesprochen wurde, sondern nach dem richtigen, spanischen Spanisch. Und eines Tages, in dreißig oder vierzig Jahren, wenn sie in Madrid oder Barcelona war und ihr die Sprache einfach so wieder in den Sinn kam wie ihr erster Liebhaber, dann wusste Franny, dass Sylvia ihr für diesen Urlaub danken würde, auch wenn sie selbst zu diesem Zeitpunkt bereits tot wäre.

 

Das Haus lag am Fuß der Gebirgskette von Tramuntana, außerhalb des Städtchens Puigpunyent, an einer kurvenreichen Straße, die schließlich nach Valldemossa führte. Keiner von ihnen schaffte es, Puigpunyent richtig auszusprechen. Der Mann bei der Autovermietung hatte es als Puch-pun-yen bezeichnet, oder so ähnlich, auf jeden Fall war es für Amerikaner unmöglich, dieses Wort nachzusprechen. Und als Sylvia schließlich darauf bestand, den Ort Pigpen zu nennen, korrigierten sie weder Jim noch Franny, und es blieb bei diesem Namen. Das mallorquinische Spanisch unterschied sich von dem richtigen Spanisch, das sich wiederum vom katalanischen Spanisch unterschied. Franny hatte jedoch vor, nicht weiter auf die Unterschiede einzugehen und einfach drauflos zu plappern. Auf diese Art schlug sie sich in den meisten Ländern ganz gut durch. Abgesehen von den Franzosen, sahen es die meisten Leute gern, wenn man versuchte, die richtigen Worte in ihrer Sprache zu finden, und dabei scheiterte. Franny und Sylvia starrten auf ihrer Seite aus dem Autofenster, wobei Franny vorn und Sylvia hinten saß und Jim das Auto lenkte. Laut Gemma lag das Haus nur etwa fünfundzwanzig Minuten vom Flughafen entfernt, doch diese Zeitangabe schien nur dann zutreffend, wenn man den Weg kannte. Gemma war eine der Personen auf diesem Planeten, die Franny am allerwenigsten leiden konnte, und dafür gab es mehrere Gründe:

 

Sie war Charles’ zweitbeste weibliche Freundin

Sie war groß und schlank und blond – ein echter Dreifachjackpot

Man hatte sie als Jugendliche in ein Internat außerhalb von Paris abgeschoben, weshalb sie perfekt Französisch sprach, was Franny furchtbar angeberisch erschien, in etwa so, als würde jemand auf dem Eislaufplatz vor dem Rockefeller Center einen dreifachen Axel zum Besten geben.

 

Während ihrer Fahrt den Berg hinauf nahm Jim mehrere falsche Abzweigungen, und die Straßen erschienen zu schmal, um tatsächlich eine Straße und nicht bloß eine sorgfältig asphaltierte Auffahrt zu einem Privathaus zu sein, aber niemand störte sich daran, denn so bekamen sie wenigstens einen besseren Eindruck von der Insel. Mallorca erschien ihnen vielschichtig und wunderschön – die knorrigen Olivenbäume, die stacheligen Palmen, die grün-grauen Berge, die Kalksteinwände zu beiden Seiten der Straße und der wolkenlose, blassblaue Himmel über ihren Köpfen. Obwohl es ein heißer Tag war, war es nicht so schwül wie in New York City. Stattdessen herrschte ungetrübter Sonnenschein, und es wehte ein leichter Wind, der die Hoffnung nahelegte, dass einem hier nie allzu lang zu heiß sein würde. Auf Mallorca zeigte sich der Sommer von seiner besten Seite. Es war warm genug, um schwimmen gehen zu können, aber nicht so heiß, dass einem die Klamotten am Körper klebten.

Franny musste lachen, als sie schließlich in die kieselbestreute Einfahrt bogen, denn Gemma hatte furchtbar untertrieben, was das Haus betraf. Das war ein weiterer Grund, sie zu hassen: ihre Bescheidenheit. In der Ferne waren richtige Berge zu sehen, an denen sich uralte Bäume wie Weihnachtsgirlanden entlangschlängelten, und das Haus selbst sah aus wie ein hübsches Weihnachtspäckchen. Es war ein solides, zwei Stockwerke hohes Gebäude und doppelt so breit wie ihr Kalksteinhaus zu Hause. Der blasse, rosarote Verputz leuchtete im Licht der Vormittagssonne, und die schwarz lackierten Fensterläden zu beiden Seiten der geöffneten Fenster wirkten wie Wimpern in einem wunderschönen Gesicht. Ein gutes Drittel der Vorderseite des Hauses wurde von saftig grünen Weinreben bedeckt, die sich von einer Seite zur anderen erstreckten und drohten durch die Fenster bis ins Innere des Hauses zu dringen und es zu verschlingen. Große, schlanke Kiefern wuchsen entlang der Grundstücksgrenze, und ihre Spitzen ragten in den weiten, wolkenlosen Himmel. Das Haus selbst wirkte wie die Zeichnung eines Kindes, ein großes Quadrat mit einem schrägen, terrakottafarbenen Dach, das wie von einem Buntstift bemalt aussah. Franny klatschte in die Hände.

Die Rückseite des Hauses war sogar noch besser. Der Swimmingpool, der auf dem einzigen Foto, das sie von der Rückseite bekommen hatten, kaum erwähnenswert schien, war in Wirklichkeit einfach himmlisch. Ein großes, blaues Viereck, das sich an den Hang schmiegte. Mehrere Chaiselonguen aus Holz standen auf der gegenüberliegenden Seite zusammen, als hätten sie auf die Familie Post gewartet. Sylvia eilte hinter ihrer Mutter her und umklammerte dabei die Seiten ihrer Tunika wie die Zügel eines Pferdes. Vom Rand des Swimmingpools aus sahen sie andere Häuser, die sich an den Berghang schmiegten. Sie waren so perfekt geformt wie Spielzeughäuschen, und ihre glänzenden Fassaden stachen leuchtend aus den verschiedenen Grüntönen der Wälder und zwischen den zerklüfteten Felsen hervor. Das Meer lag irgendwo jenseits der Berge, etwa zehn Minuten weiter westlich, und Sylvia sog die frische Luft ein in der Hoffnung, den salzigen Geruch zu riechen. Vermutlich gab es auf Mallorca eine eigene Universität oder zumindest eine Schwimm- oder Tennisakademie. Vielleicht würde sie einfach hierbleiben und ihre Eltern allein nach Hause zurückschicken, um zu tun, was auch immer getan werden musste. Was spielte es schon für eine Rolle, wenn sie sich auf der anderen Seite der Welt befand? Zum ersten Mal in ihrem Leben beneidete Sylvia ihren Bruder um die Tatsache, dass er so weit fort von zu Hause lebte.

Jim ließ die Koffer im Auto und ging auf die riesig große, schwere und unversperrte Haustür zu. Es dauerte einen Moment, bis sich seine Augen an die Düsternis im Haus gewöhnt hatten. Der Eingangsbereich des Hauses war leer, abgesehen von einem Beistelltisch auf der linken Seite der Tür, einem großen Spiegel an der Wand und einem etwa kindsgroßen Keramiktopf auf der rechten Seite.

»Hallo?«, rief Jim, obwohl das Haus vermutlich leer war und er auch keine Antwort erwartete. Vor ihm lag ein schmaler Flur, an dessen Ende sich eine Tür befand, die hinaus in den Garten führte. Er sah einen Teil des Swimmingpools und dahinter die Berge. Im Haus roch es nach Blumen und Erde und einem Hauch Reinigungsmittel. Das würde Bobby sicher gefallen, wenn er schließlich eintraf. Schon als Kind hatte er eine Abneigung gegenüber schmutzigen Orten entwickelt, wenn Jim und Franny ihn auf ihren Ausflügen nach Maine oder New Orleans oder wohin auch immer mitgeschleppt und in halb verfallenen Ferienhäusern übernachtet hatten, wo keine Gabel zur anderen passte. Bobby verabscheute alte Möbel und Vintage-Klamotten, einfach alles, was eine Vorgeschichte hatte. Jim glaubte, dass er deshalb so gern als Immobilienmakler in Florida arbeitete, denn dort war so ziemlich alles nagelneu. Selbst die riesigen Wohntürme in Palm Beach wurden alle paar Jahre ausgeräumt und ihr Innenleben durch etwas Neueres, Glänzenderes ersetzt. Florida entsprach Bobby auf eine Art, wie es New York nie getan hatte. Doch auch darüber würde sich Jim keine weiteren Gedanken machen. Zumindest nicht in den kommenden beiden Wochen.

Jim trat durch den Torbogen zu seiner Linken ins Wohnzimmer. Wie auf den Fotos bereits zu erkennen gewesen war, war es auf stilvolle Art äußerst spartanisch möbliert. Es gab zwei niedrige Sofas, einen hübschen Teppich und einige Gemälde an jenen Stellen an der Wand, die nicht der direkten Sonneneinstrahlung ausgesetzt waren. Gemma war Kunsthändlerin, Galeristin oder so etwas in der Art. Jim vermutete, dass sie wohl genug Geld hatte, um eine genauere Berufsbezeichnung überflüssig zu machen. Vom Wohnzimmer gelangte man ins Esszimmer, in dem ein langer Holztisch und zwei rustikal wirkende Sitzbänke standen, und von dort aus weiter in die weitläufige Küche. Durch das Fenster über der Spüle hatte man einen direkten Blick auf den Swimmingpool, und Jim blieb davor stehen. Sylvia und Franny lagen nebeneinander auf jeweils einer Chaiselongue. Franny hatte sich ihren Schal von den Schultern gewickelt und ihn sich übers Gesicht gebreitet. Sie hatte die Ärmel aufgekrempelt und die Beine ausgestreckt – sie nahm ein Sonnenbad, auch wenn sie die meisten ihrer Klamotten noch anhatte. Jim seufzte zufrieden – Franny schien den Urlaub bereits zu genießen.

Zu behaupten, Franny hätte sich im letzten Monat ein wenig zickig verhalten, wäre wohl äußerst feinfühlig und definitiv untertrieben gewesen. Sie herrschte über den Haushalt der Familie Post mit eiserner Verklemmtheit. Obwohl sie den Urlaub bereits im Februar akribisch geplant hatten, also Monate bevor Jim der Job bei dem Magazin Gallant abhandengekommen war, passt nun alles perfekt zusammen, und Franny bekam zumindest ein Mal pro Tag einen Schreianfall, so dass ihr Gesicht stets hochrot anlief. Der Reißverschluss ihres Koffers war defekt. Bobbys und Carmens Flug, den sie über ihr Vielfliegermeilenkonto gebucht hatten, würde sie Hunderte Dollar an zusätzlichen Gebühren kosten, weil sie ihn um einen Tag verschieben mussten. Und Jim stand ihr ständig im Weg und hatte immer unrecht. Franny war Expertin darin, der Öffentlichkeit eine heile Welt vorzuspielen, und sobald Charles bei ihnen war, war sie freundlich und schmeichelte ihm ständig. Doch wenn Jim und Franny allein waren, konnte Franny ein richtiggehender Teufel sein. Jim war dankbar dafür, dass Franny ihre Hörner zumindest für den Moment wieder eingefahren hatte.

Er durchquerte die Küche und gelangte schließlich in den schmalen Flur gegenüber der Eingangstür. Auf der anderen Seite des Eingangsbereiches befanden sich ein kleines Badezimmer mit einer Toilette und einer Duschkabine, ein Wäschezimmer, ein Büro und ein Schlafzimmer mit privatem Badezimmer. In Amerika nannte man solche Räume »Schwiegermutterzimmer«, denn hier wurde üblicherweise die Person untergebracht, die alle im Haus am wenigsten gern zu Gesicht bekamen. Normalerweise hätte Jim das Büro sofort für sich beansprucht oder es Franny zumindest nicht kampflos überlassen, doch dieses Mal fiel ihm ein, dass er dort eigentlich nichts verloren hatte. Es standen keine Abgabetermine bevor, er musste keine Texte verfassen oder überarbeiten, keine Recherchen erledigen und keine Bücher lesen, außer zu seinem Privatvergnügen und zur Erweiterung des eigenen Horizontes. Er brauchte den Schreibtisch genauso dringend wie ein Fisch ein Fahrrad. Der Gallant würde ohne ihn weiterbestehen und dem intelligenten amerikanischen Mann erklären, welche Bücher er kaufen und welche Seife er verwenden sollte und wie er den Unterschied zwischen einem Scotch und einem irischen Whiskey erkennen konnte. Jim versuchte, das unbehagliche Gefühl abzuschütteln, das ihn jedes Mal überkam, wenn er daran dachte, doch es verfolgte ihn auch noch auf seinem Weg ins Schlafzimmer.

Der Raum wirkte gemütlich. Auf dem Bett lag eine Steppdecke, und es gab eine große Kommode und einen Schreibtisch vor dem Fenster, das auf die Rückseite des Hauses führte. Jim fragte sich ohne große Gefühlsregung, ob sie vielleicht Bobby und Carmen in diesem Zimmer unterbringen konnten und nicht im oberen Stockwerk, wo sich vermutlich die restlichen Schlafzimmer befanden. Doch nein, natürlich würden sie Charles und Lawrence die meiste Privatsphäre gewähren. Im Schloss der Schlafzimmertür steckte ein altmodischer Schlüssel, um sie von innen versperren zu können. Der Anblick erfreute Jim. Wenn sie schon alle zusammen in diesem Haus untergebracht waren, dann gab es zumindest die Möglichkeit, die Türen zu versperren. Jim spielte kurz mit dem Gedanken, sich einzuschließen und sich für den Rest des Tages tot zu stellen wie eine faule Version des Tagträumers Walter Mitty in der Kurzgeschichte von James Thurber.

Gerade als Jim die Tür zuziehen wollte, stürzten Sylvia und Franny ins Haus.

»Der Pool ist herrlich«, verkündete Sylvia, obwohl sie ihn noch nicht einmal ausprobiert hatte. »Wie spät ist es?« Sie hatte den verwirrten Gesichtsausdruck eines Menschen, der seit vierundzwanzig Stunden nicht mehr geschlafen hatte, und dunkle Schatten unter den Augen. Achtzehn Jahre alt zu sein, das war, als bestünde man lediglich aus Gummi und Koks. Sylvia hätte vermutlich ohne weiteres noch drei weitere Tage ohne Schlaf überstanden.

»Wollen wir die Schlafzimmer aufteilen?«, fragte Jim, obwohl er wusste, dass Franny ihr Schlafzimmer vermutlich selbst aussuchen wollte. »Ich dachte, Charles und Lawrence …«, begann Jim, doch Franny befand sich bereits auf halbem Weg die Treppe hoch.

 

Wie vermutet schliefen Jim und Sylvia sofort ein, nachdem sie ein geeignetes Bett gefunden hatten. Franny schleppte ihren Koffer vom Wagen in den Eingangsbereich. Gemma hatte einen kleinen Leitfaden mit Informationen über das Haus, den Pool und die Städtchen der näheren Umgebung hinterlassen. Die rote Mappe lag auf der Anrichte in der Küche, und Franny blätterte sie eilig durch. Am Fuß des Berges gab es einige Restaurants – Tapas-Bars, Sandwichläden und die eine oder andere Pizzeria – sowie einen brauchbaren Lebensmittelladen und einen Gemüsemarkt. In Palma, der größten Stadt der Insel, die sie gerade auf dem Weg vom Flughafen zum Haus umfahren hatten, gab es alles, was sie möglicherweise sonst noch brauchten – Kaufhäuser, um Badeanzüge, mallorquinische Camper-Schuhe und dergleichen zu besorgen. In Gemmas Haus gab es jedenfalls genügend Strandtücher, Sonnencreme, Luftmatratzen und Schwimmbrillen. Die Betten waren frisch bezogen, im Wäschekasten lagen frische Laken, und am darauffolgenden Wochenende würde jemand vorbeikommen, um sich um den Pool und den Garten zu kümmern. Sie mussten keinen Finger rühren. Franny schloss die Mappe und klopfte mit den Fingerknöcheln auf die steinerne Anrichte.

Es war einfach nicht fair, dass sich die Frauen ständig um alles kümmern mussten. Franny wusste, dass Gemma bereits einige Male verheiratet gewesen war. Zwei Mal mit einem Italiener, der sich auf den globalen Finanzmärkten herumtrieb, und ein Mal mit dem Erben eines saudi-arabischen Ölkonzerns, aber es war ausgeschlossen, dass ein Mann eine Liste an Hinweisen und allgemeinen Informationen über sein Zuhause zusammenstellte, es sei denn natürlich, er wurde dafür bezahlt. Es war eine Art Umsicht, zu der tief in ihrem Inneren nur Frauen fähig waren, egal, was die Quacksalber von Fernsehpsychologen auch sagten. Jims Schnarchen drang aus dem Obergeschoss – seine Nasennebenhöhlen wurden bei Transatlantikflügen immer in Mitleidenschaft gezogen –, und Franny schüttelte den Kopf. Sie machte einige meditative Atemzüge und klang dabei wie ein verschwitzter Russe in der Sauna, wie Jim stets betonte. Als hätte gerade er das Recht, über sie zu urteilen. Sie schaffte es dennoch nicht, einen klaren Kopf zu bekommen.

Weil der Rest der Familie im Flugzeug nicht geschlafen und anscheinend aus Faulheit beschlossen hatte, den Tag wie die Vampire zu verbringen, bedeutete das nicht, dass Franny es ihnen gleichtun musste. Sie holte ihre Sonnenbrille aus der Tasche und machte sich auf den Weg in die Welt hinaus, wobei sie ihre schlafenden Familienmitglieder den örtlichen Gefahren gegenüber ungeschützt zurückließ, was auch immer hier passieren mochte. Sie zog die schwere Eingangstür hinter sich ins Schloss und wanderte, Gemmas sorgfältiger Wegbeschreibung folgend, den Hügel hinunter in Richtung Laden. Jemand musste immerhin fürs Abendessen einkaufen, und Sylvias Spanischlehrer würde um halb vier Uhr vorbeikommen. Franny vermutete, dass er zuvor noch zur Kirche ging, denn immerhin befanden sie sich ja in einem katholischen Land. Doch das alles spielte ohnehin keine Rolle für sie, solange er mehr oder weniger pünktlich erschien und Sylvias Spanisch sich durch ihn nicht noch verschlechterte. Kinder mussten einfach beschäftigt werden, egal, ob sie in Manhattan oder auf Mallorca oder – Gott bewahre! – auf dem Festland aufwuchsen.

Sie konnten später noch in einen größeren Supermarkt fahren. Vielleicht auch erst morgen. Im Moment brauchten sie einfach einige Dinge fürs Abendessen. Franny war die Mutter, was bedeutete, dass ihr die gesamte Planung zufiel, auch wenn alle anderen gerade einmal nicht schliefen. Es war unerheblich, dass Jim mittlerweile keinen Job mehr hatte. Manche Männer im Ruhestand wurden zu Hobbyköchen, verwandelten ihre Küchen in kleine Feinschmeckerlokale und horteten Karamellisiereisen und lang vergessene Eismaschinen in den Schubladen, doch Franny konnte sich nicht vorstellen, dass das passieren würde. Die meisten Männer entschieden sich nach Jahrzehnten der Arbeit für Unternehmen und wiederholten stressbedingten Belastungssyndromen aus eigenen Stücken dafür, in den Ruhestand zu treten, doch in Jims Fall sah die Sache anders aus. In Jims Fall. Franny trat nach einem losen Stein. Die Familie Post hatte ihre Urlaube immer genossen, und dieser Ort hier war so gut wie jeder andere. Lange Tage am Strand und eine herrliche Aussicht. Franny wünschte sich etwas herbei, das sie kurz und klein schlagen könnte. Sie bückte sich, hob einen Ast hoch und schleuderte ihn über die Klippen.

Die Straße, die in das kleine Städtchen führte, das eigentlich kaum mehr war als eine kleine Ansammlung von Restaurants und Läden entlang dieser Straße, war schmal, wie ihr schon bei ihrer Fahrt den Hügel hinauf aufgefallen war. Als Franny jetzt jedoch am Straßenrand entlangging, hatte sie das Gefühl, als wäre sie noch weiter geschrumpft. Es war kaum genügend Platz für die Gruppe von Fahrradfahrern, die an ihr vorbeiraste, ganz zu schweigen von einem Auto oder – um Gottes willen! – zwei entgegenkommenden Autos, doch auch diese rasten einfach an ihr vorbei. Sie tastete sich am äußersten linken Straßenrand entlang und wünschte sich, sie hätte reflektierende Klamotten eingepackt, obwohl es noch immer helllichter Tag war und die Fahrer sie auf jeden Fall sehen konnten. Franny war nicht gerade groß, aber sie war auch nicht so winzig wie ihre Mutter oder ihre Schwester. Sie bezeichnete sich selbst gern als durchschnittlich groß, wobei sich die durchschnittliche Größe einer Frau im Laufe der Zeit natürlich verändert hatte. Es war unbestritten, dass Franny in den letzten zehn Jahren dicker geworden war, doch das kam nun mal vor, es sei denn, man war eine hoch-funktionale Irre, doch sie hatte andere Dinge, über die sie sich Gedanken machen musste. Franny kannte zahlreiche Frauen, die sich dafür entschieden hatten, der ewigen Jugend alles unterzuordnen, und es waren allesamt jämmerliche Gestalten, deren straffe Oberarme nicht darüber hinwegtäuschen konnten, wie unzufrieden sie mit ihrem leeren Magen und ihrem unerfüllten Leben waren. Franny liebte es, zu essen und andere Menschen zu bekochen, und sie schämte sich nicht dafür, dass man ihrem Körper diese Leidenschaft auch ansah. Mit Anfang vierzig hatte sie einmal eine dieser furchtbaren Selbsthilfegruppen für leidenschaftliche Esser besucht. Das Treffen fand in einem muffigen Raum im Keller einer Kirche statt, und die Tatsache, dass sie sich sofort in den anderen Frauen und Männern wiedererkannt hatte, die dort auf den Klappstühlen saßen, verdarb ihr ein für alle Mal die Lust daran. Vielleicht hatte sie ein Problem, aber das war ihr Problem, vielen Dank auch. Manche Leute rauchten in dunklen Gassen Crack, Franny aß Schokolade. Im Großen und Ganzen gesehen schien es vollkommen angemessen.

Der Lebensmittelladen entpuppte sich als eine Art umgebauter Marktstand mit drei festen Wänden und zwei kleinen Reihen offener Regale voller Konservendosen und anderen Grundnahrungsmitteln. Eine Handvoll Menschen befand sich in dem Laden, manche waren mit Fahrrädern gekommen, andere parkten ihre Autos vor dem nicht existenten Randstein. Franny wischte sich den Schweiß von den Wangen und begann, Lebensmittel aus den schmalen Regalen zu holen. In einer Ecke stand ein Kühlschrank voller in Papier gewickeltem Schafkäse, und von den Dachsparren auf der anderen Seite des Raumes hingen getrocknete Würste. Eine Frau mit Schürze legte die Lebensmittel auf eine Waage und verrechnete sie. Hätte sich Franny ein anderes Leben abseits von New York City aussuchen können, hätte sie sich für das hier entschieden. Ein Leben umgeben von Oliven, Zitronen und Sonne und mit sauberen Stränden in Reichweite. Sie nahm zumindest an, dass die Strände auf Mallorca sauber waren, nicht wie der verdreckte Strand auf Coney Island, wo sie ihre Jugend verbracht hatte. Franny kaufte einige Sardellen, eine Packung Nudeln, zwei Paar dicke Würste und Käse. Außerdem erstand sie noch ein Säckchen Mandeln und drei Orangen. Das reichte für den Anfang. Sie konnte bereits schmecken, wie sich der salzige, geschmolzene Käse über den Nudeln verteilte, und dazu Sardellen. Sicher gab es im Haus irgendwo Olivenöl, sie hatte jedoch noch nicht nachgesehen. Es schien ihr unmöglich, dass Gemma nicht daran gedacht hatte. Vermutlich ließ sie sogar selbst Öl aus den Bäumen auf ihrem Grundstück pressen.

»Buenos días«,