Wir sehen uns gestern - Emma Straub - E-Book

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Emma Straub

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Beschreibung

Was würdest du tun, wenn du alles in deinem Leben noch einmal neu entscheiden könntest?

Morgen wird sie 40, und eigentlich ist Alice mit ihrem Leben recht zufrieden. Sie mag ihren Job, auch wenn es nicht ganz der ist, von dem sie geträumt hat, sie mag ihr kuschliges Apartment, sie kann seit Kindertagen auf ihre wunderbare beste Freundin zählen ... selbst ihr Beziehungsstatus ist ganz okay. Doch ihr Vater Leonard ist todkrank, und Alice fragt sich, ob das wirklich schon alles für sein Leben gewesen sein soll.
Als Alice am nächsten Morgen aufwacht, ist plötzlich alles anders. Es ist 1996, und Alice ist nicht etwa 40, sondern 16. Sie hat eine Menge zu verarbeiten, aber der größte Schock von allen ist ihr Dad: so lebenslustig, jung und charmant hat sie ihn noch nie erlebt. Ist ihre unverhoffte Reise in die Vergangenheit etwa die Chance, seine und ihre Zukunft völlig auf den Kopf zu stellen? Nur wie entscheidet sie dann, was für sie beide wirklich zählt?

Typisch Emma Straub: Geschickt verbindet sie 90er-Jahre-Nostalgie mit berührenden Momenten zwischen Vater und Tochter. Perfekte Lektüre für die kluge Frau!

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Seitenzahl: 387

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Buch

Morgen wird sie 40, und eigentlich ist Alice mit ihrem Leben recht zufrieden. Sie mag ihren Job, auch wenn es nicht ganz der ist, von dem sie geträumt hat, sie mag ihr kuschliges Apartment, sie kann seit Kindertagen auf ihre wunderbare beste Freundin zählen … selbst ihr Beziehungsstatus ist ganz okay. Doch ihr Vater Leonard ist todkrank, und Alice fragt sich, ob das wirklich schon alles für sein Leben gewesen sein soll.Als Alice am nächsten Morgen aufwacht, ist plötzlich alles anders. Es ist 1996, und Alice ist nicht etwa 40, sondern 16. Sie hat eine Menge zu verarbeiten, aber der größte Schock von allen ist ihr Dad: so lebenslustig, jung und charmant hat sie ihn noch nie erlebt. Ist ihre unverhoffte Reise in die Vergangenheit etwa die Chance, seine und ihre Zukunft völlig auf den Kopf zu stellen? Nur wie entscheidet sie dann, was für sie beide wirklich zählt?

Autorin

Emma Straub ist eine »New York Times«-Bestsellerautorin, die bislang fünf Romane geschrieben hat, die in 20 Sprachen übersetzt wurden. Außerdem verfasst sie Essays und Kurzgeschichten, unter anderem für »The Wall Street Journal«, »Vogue« und »Elle«. Zusammen mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen lebt Emma Straub in Brooklyn, New York City, wo sie auch den Buchladen »Books Are Magic« betreibt.

Von Emma Straub bereits erschienen

Die Launen des Lebens

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

EMMA STRAUB

WIR SEHEN UNS GESTERN

ROMAN

Deutsch von Juliane Zaubitzer

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »This Time Tomorrow« bei Riverhead Books, an imprint of Penguin Random House LLC, New York.

Das Zitat von Ian McEwan auf S. 7 stammt aus »Atonement«, zitiert nach »Abbitte«, übersetzt von Bernhard Robben, Diogenes Verlag, Zürich 2002.

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Copyright der Originalausgabe © 2022 by Emma Straub

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Limes in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Wibke Sawatzki

Umschlaggestaltung und -motiv: © buerosued.de

BSt · Herstellung: DiMo

Satz: Vornehm Mediengestaltung, München

ISBN 978-3-641-30072-2V001

www.limes-verlag.de

Für Putney Tyson Ridge

Erst wenn eine Geschichte fertig war, alle Schicksale besiegelt und alle Knoten gelöst, sodass sie zumindest in dieser Hinsicht jeder anderen fertigen Geschichte auf der Welt glich, fühlte sie sich gefeit und bereit, Löcher in die Ränder zu stanzen, die Kapitel mit einem Stück Schnur zu binden, das Deckblatt zu bemalen und das vollendete Werk ihrer Mutter zu zeigen, oder auch ihrem Vater, so er zu Hause war.

IANMCEWAN, Abbitte

This time tomorrowWhere will we be?

THEKINKS

Auf in die Zukunft!

LEONARDSTERN,Zeitbrüder

ERSTER TEIL

1

Zeit existierte nicht im Krankenhaus. Wie in den Kasinos von Las Vegas gab es nirgendwo Uhren, und das kalte Neonlicht blieb während der ganzen Besuchszeit gleich hell. Einmal hatte Alice gefragt, ob sie das Licht nachts ausmachten, doch die Schwester hatte sie anscheinend nicht gehört, oder vielleicht hatte sie es für einen Witz gehalten, jedenfalls hatte sie nicht reagiert, weshalb Alice die Antwort nicht kannte. Ihr Vater Leonard Stern lag in seinem Bett in der Mitte des Zimmers, angeschlossen an unzählige Schläuche und Maschinen, und hatte seit einer Woche kaum gesprochen, und so konnte auch er es ihr nicht sagen, obwohl seine Augen offen waren. Konnte er den Unterschied wahrnehmen? Alice dachte daran, wie sie als Jugendliche im Central Park im Gras gelegen und die Wärme der Sonne auf den geschlossenen Lidern genossen hatte, während sie mit ihren Freundinnen darauf wartete, dass JFK jr. sie aus Versehen mit einer Frisbeescheibe traf. Dieses Licht fühlte sich anders an als die Sonne. Es war zu hell und zu kalt.

Alice besuchte ihren Vater samstags und sonntags sowie dienstag- und donnerstagnachmittags, wenn sie früh genug Feierabend hatte, um im Krankenhaus zu sein, bevor die Besuchszeit endete. Von ihrer Wohnung in Brooklyn brauchte sie mit der U-Bahn von Tür zu Tür eine Stunde – mit der 2 oder 3 von Borough Hill zur 96th Street und von dort weiter bis zur 168th Street – , doch von der Arbeit brauchte sie mit der Linie C von der 86th und Central Park West nur eine halbe Stunde.

Im Sommer war Alice fast täglich zu Besuch gekommen, doch seit die Schule wieder angefangen hatte, schaffte sie es höchstens ein paarmal die Woche. Es fühlte sich an, als wäre es Jahrzehnte her, seit ihr Vater er selbst gewesen war, seit er so ausgesehen hatte wie praktisch Alice’ ganzes Leben, ein ironisches Lächeln, der Bart eher braun als grau; dabei war es in Wahrheit erst ein Monat. Damals hatte er noch in einem anderen Stockwerk gelegen, in einem Raum, der eher wie ein spartanisches Hotelzimmer wirkte, mit einem Bild vom Mars an der Wand, das er aus der New York Times gerissen hatte, neben einem Foto von seiner uralten, gewaltigen Katze Ursula. Sie fragte sich, ob jemand die Bilder abgenommen und zu seinen Habseligkeiten gelegt hatte – sein Portemonnaie, sein Handy, die Kleidungsstücke, die er am Tag seiner Einweisung getragen hatte, ein Stapel Taschenbücher – oder ob man sie einfach in einem der Abfalleimer mit Klappdeckel entsorgt hatte, die die sterilen Gänge säumten.

Wenn jemand sie fragte, wie es ihrem Vater ging – Emily, mit der sie sich in der Zulassungsstelle einen Schreibtisch teilte, oder Sam, ihre beste Freundin seit der Highschool, die drei Kinder hatte, einen Ehemann, ein Haus in Montclair sowie einen Schrank voller High Heels für ihren Job in einer furchteinflößenden Anwaltskanzlei, oder ihr Freund Matt – , wünschte Alice jedes Mal, sie hätte eine einfache Antwort parat. Je länger es dauerte, desto mehr wurde die Frage zu einer leeren Phrase, so wie man zu einem Bekannten im Vorbeigehen Wie geht’s? sagte. Es gab keine Tumore, die rausgeschnitten, keine Keime, die abgetötet werden mussten. Es war einfach nur so, dass diverse Organe in Leonards Körper gleichzeitig den Geist aufgaben: sein Herz, seine Nieren, seine Leber.

Alice verstand jetzt, dass der Körper eine Rube-Goldberg-Maschine war, und jedes Mal, wenn ein Dominostein oder ein Hebel hakte, hielt das ganze Ding an. Wenn die Ärzte die Köpfe zur Intensivstation hineinsteckten, fiel ständig das Wort Versagen. Alle warteten darauf, dass ihr Vater starb. Es ging um Tage, Wochen oder Monate, niemand konnte das so genau sagen. So ziemlich das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass die Ärzte fast immer nur Vermutungen anstellten. Sie waren schlaue Leute, und die Vermutungen stützten sich auf Tests und Untersuchungen und jahrelange Erfahrung, dennoch waren es Vermutungen.

Alice begriff es jetzt: Ihr ganzes Leben hatte sie sich den Tod als einen einzigen Moment vorgestellt, der Herzstillstand, der letzte Atemzug, doch jetzt wusste sie, dass Sterben eher einer Geburt glich, mit einer neunmonatigen Vorbereitungszeit. Ihr Vater war schwanger mit dem Tod, und man konnte wenig tun außer warten – seine Ärzte und Krankenschwestern, ihre Mutter in Kalifornien, seine Freunde und Nachbarn und vor allem sie beide. Es konnte nur auf eine Art enden, und es geschah nur einmal. Egal, wie oft man einen unruhigen Flug hatte oder einen Autounfall oder gerade noch rechtzeitig dem Verkehr auswich, egal, wie oft man fiel, ohne sich das Genick zu brechen. Für die meisten Menschen war Sterben ein Prozess. Überraschend war nur der Tag, an dem es tatsächlich geschah, und dann die Tage danach, wenn er nicht die Hand aus dem Sarg streckte oder den Grabstein beiseiteschob. Alice wusste all das, und manchmal konnte sie damit leben, weil es der Lauf der Dinge war, und manchmal war sie so traurig, dass sie die Augen nicht offen halten konnte. Er war erst dreiundsiebzig. In einer Woche wurde Alice vierzig. Sie würde sich unermesslich viel älter fühlen, wenn er nicht mehr war.

Alice kannte manche der Pflegekräfte aus dem fünften Stock und manche aus dem siebten: Esmeralda, deren Vater ebenfalls Leonard hieß. Iffie, die es lustig fand, wenn Leonard darauf hinwies, dass es im Krankenhaus oft dreierlei Apfel zu Mittag gab: Apfelsaft, Apfelmus und einen ganzen Apfel. George, der ihn am leichtesten heben konnte. Wenn sie jemanden wiedererkannte, der sich in einer früheren Phase um ihren Vater gekümmert hatte, fühlte es sich an, als würde sie sich an jemanden aus einem früheren Leben erinnern. Die drei Männer am Empfang waren die verlässlichsten Bezugspersonen, da sie stets freundlich waren und sich an die Namen von Leuten wie Alice erinnerten, die immer und immer wieder zu Besuch kamen, weil sie begriffen, was es bedeutete. Ihr Vorgesetzter war London, ein schwarzer Mann mittleren Alters mit einer Lücke zwischen den Vorderzähnen und Elefantengedächtnis. Er erinnerte sich an ihren Namen, den Namen ihres Vaters, den Beruf ihres Vaters, an alles. Sein Job war nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick wirkte. Er bestand nicht nur darin, die Menschen mit Luftballons anzulächeln, die frisch geborene Babys besuchen wollten. Nein, Besucher wie Alice kamen wieder und wieder und wieder, bis es keinen Grund mehr gab, nur eine lange Liste mit Telefonnummern, die man anrufen, Dingen, die man erledigen, Vorkehrungen, die man treffen musste.

Alice nahm ihr Handy aus der Tasche, um nach der Zeit zu sehen. Die Besuchszeit war fast vorbei.

»Dad«, sagte sie.

Ihr Vater rührte sich nicht, doch seine Augenlider flatterten. Sie stand auf und legte ihre Hand in seine. Sie war dünn und grün und blau – er nahm Blutverdünner, um einem Schlaganfall vorzubeugen, deshalb gab es jedes Mal einen kleinen blauen Fleck, wenn ihn die Ärzte oder Schwestern wieder mit einer Nadel pikten. Seine Augen blieben geschlossen. Ab und zu öffnete sich eins, und dann beobachtete Alice, wie er sich umsah, ohne etwas zu erkennen. Ohne Alice zu erkennen. Jedenfalls dachte sie das. Als es ihr gelang, ihre Mutter an die Strippe zu kriegen, sagte Serena, das Hörvermögen verliere man zuletzt, und deshalb sprach Alice mit ihm, ohne zu wissen, wo ihre Worte ankamen oder ob überhaupt etwas ankam. Wenigstens sie selbst konnte sie hören. Serena sagte auch, Leonard müsse sich von seinem Ego befreien, und solange er das nicht tue, sei er für immer und ewig an seinen irdischen Körper gekettet, und dass Kristalle halfen. Alice konnte sich nicht alles anhören, was ihre Mutter von sich gab.

»Dienstag komme ich wieder. Hab dich lieb.« Sie berührte ihn am Arm. Inzwischen hatte Alice sich daran gewöhnt, an die Zuwendung. Sie hatte ihrem Vater nie gesagt, dass sie ihn lieb hatte, bevor er ins Krankenhaus gekommen war. Einmal vielleicht, als sie noch zur Schule gegangen war und es Ärger gegeben hatte, weil sie zu spät nach Hause gekommen war, und damals hatte sie es durch die geschlossene Tür gebrüllt. Doch jetzt sagte sie es jedes Mal, wenn sie zu Besuch kam, und sie sah ihn dabei an. Eine der Maschinen hinter ihm antwortete mit einem Piepen. Die diensthabende Schwester nickte Alice auf dem Weg nach draußen zu, ihre Dreadlocks unter einer weißen Haube mit Snoopy-Muster. »Okay«, sagte Alice. Es fühlte sich an, als würde sie den Telefonhörer auflegen oder einen Fernseher umschalten.

2

Alice schrieb ihrer Mutter immer eine Nachricht, wenn sie aus dem Krankenhaus kam. Dad okay. Unverändert, was vermutlich gut ist? Serena schickte ein rotes Herz und ein Regenbogen-Emoji zurück, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie die Worte gelesen und nichts hinzuzufügen hatte. Es kam Alice ungerecht vor, dass man sich jeder Verantwortung entziehen konnte, nur weil man nicht mehr verheiratet war, obwohl eine Scheidung natürlich genau das bedeutete. Und sie waren wesentlich länger geschieden, als sie verheiratet gewesen waren – mehr als dreimal so lange. Alice war sechs gewesen, als ihre Mutter aufgewacht war und verkündet hatte, sie habe Besuch aus der Zukunft von ihrem selbstverwirklichten Ich bekommen, oder von Gaia selbst, da war Serena nicht sicher. Sie war jedoch sicher gewesen, dass sie in die Wüste ziehen musste, um sich der Kommune eines gewissen Demetrious anzuschließen. Der Richter hatte gemeint, es sei ungewöhnlich, dass Väter das alleinige Sorgerecht bekamen, doch nicht einmal er hatte etwas dagegen einwenden können. Serena war immer lieb zu ihr gewesen, wenn sie Kontakt zu ihr aufgenommen hatte, doch Alice hatte sich nie gewünscht, dass ihre Eltern zusammengeblieben wären. Hätte Leonard wieder geheiratet, gäbe es jemand anders, der seine Hand halten und den Schwestern Fragen stellen würde, doch das hatte er nicht, und so war es Alice. Sie ging die Stufen zur U-Bahn-Station hinunter, und als die Bahn kam, tat Alice nicht einmal so, als würde sie ein Buch rausholen und lesen, bevor sie einschlief, die Stirn an die zerkratzte, schmutzige Scheibe gelehnt.

3

Alice und Matt zogen nicht zusammen, weil es ihnen immer vorkam wie ein raffinierter Trick, zwei Wohnungen zu haben, wie eine geradezu revolutionäre Methode, in einer festen Beziehung zu leben, sofern man es sich leisten konnte. Alice wohnte schon seit dem College allein, und die Wohnung – Küche, Toilette und alles – tagtäglich mit einem anderen Erwachsenen zu teilen hätte ein Maß an Intimität erfordert, auf das sie keinen Wert legte. Sie hatte in einer Kolumne über die moderne Liebe von einem Pärchen gelesen, das zwei Wohnungen im selben Gebäude hatte, und das erschien ihr wie ein Traum. Alice wohnte in derselben Einzimmerwohnung, seit sie fünfundzwanzig war und mit Ach und Krach ihr Kunststudium abgeschlossen hatte, nachdem sie es so lange wie möglich ausgedehnt hatte. Sie lag im Souterrain eines Brownstone-Gebäudes am Cheever Place, einer kleinen Seitenstraße in Cobble Hill, wo man das Getöse des Brooklyn-Queens Expressway hörte, das Alice abends in den Schlaf lullte wie Meeresrauschen. Weil sie schon so lange dort wohnte, zahlte Alice weniger Miete als die Fünfundzwanzigjährigen aus ihrem Bekanntenkreis in Bushwick.

Matt lebte absurderweise in Manhattan auf der Upper West Side, dem Viertel, in dem Alice aufgewachsen war und wo sie arbeitete. Das erste Mal, als sie mit Matt essen gegangen war und er ihr erzählt hatte, wo er wohnte, hatte Alice geglaubt, er mache Witze. Dass es sich jemand in ihrem Alter – genauer gesagt fünf Jahre jünger – leisten konnte, in Manhattan zu wohnen, war unvorstellbar, obwohl Alice längst begriffen hatte, dass es oft wenig mit dem eigenen Gehalt zu tun hatte, wo man es sich leisten konnte zu wohnen, ganz besonders in Manhattan. Er wohnte in einem der gleißenden neuen Gebäude in der Nähe vom Columbus Circle mit Portier und Lagerraum mit Kühlregal für Lebensmittellieferungen. Seine Wohnung lag im achtzehnten Stock, und man konnte von dort bis New Jersey sehen. Wenn Alice in ihrer Wohnung aus dem Fenster schaute, sah sie einen Hydranten und die untere Körperhälfte der Leute, die vorbeigingen.

Obwohl Alice einen Schlüssel zu Matts Wohnung hatte, sagte sie immer am Empfang Bescheid, bevor sie zum Fahrstuhl ging, so wie es für Besucher vorgesehen war. Es war nicht viel anders als im Krankenhaus. Heute zeigte einer der Portiers, ein älterer Mann mit rasierter Glatze, der ihr immer zuzwinkerte, nur in Richtung Fahrstuhl, als sie reinkam, und Alice nickte. Ein Freifahrtschein.

Als sie um die glatte Marmorwand ging, wartete dort eine Frau mit zwei kleinen Kindern auf den Fahrstuhl. Alice erkannte die Frau sofort, presste jedoch die Lippen aufeinander und versuchte, sich unsichtbar zu machen. Die Kinder – zwei flachsblonde Jungs, vielleicht vier und acht, rannten im Kreis um die Beine ihrer Mutter und jagten einander mit Tennisschlägern. Sobald der Fahrstuhl da war, flitzten die Kinder hinein, und ihre Mutter trottete hinterher, die dünnen Knöchel ohne Socken in Halbschuhen. Als sie sich mit dem Gesicht zur Tür der kleinen Kabine drehte, blickte sie auf und bemerkte Alice, die sich in die Ecke neben den Knöpfen drückte.

»Oh, hi!«, sagte die Mutter. Sie war hübsch und blond, mit der natürlichen Sonnenbräune, die man auf Tennis- und Golfplätzen erwirbt. Alice kannte die Frau – Katherine oder so ähnlich? – und die beiden Kinder von der Zulassungsstelle der Belvedere School.

»Hi«, sagte Alice. »Wie geht es Ihnen? Hallo, Jungs.« Die Kinder hatten ihre Tennisschläger abgelegt, um sich gegenseitig in die Schienbeine zu treten. Ein Spiel.

Die Frau – Katherine Miller, fiel Alice jetzt ein, und die Jungs hießen Henrik und Zane – strich sich das Haar zurück. »Oh, uns geht es prima. Wir sind froh, dass die Schule wieder anfängt, wissen Sie. Wir waren den ganzen Sommer in Connecticut, und sie haben ihre Freunde so vermisst.«

»Schule ist scheiße«, sagte Henrik, der ältere Junge. Katherine packte ihn an den Schultern und drückte ihn fest an ihre Beine.

»Das meint er nicht so«, sagte sie.

»Doch, wohl! Schule ist scheiße!«

»Schule ist scheiße!«, plapperte Zane nach, seine Stimme dreimal so laut wie im Fahrstuhl angemessen. Katherines Wangen liefen rot an. Der Fahrstuhl hielt an, und sie schob beide Jungs hinaus. Der jüngere würde sich diesen Herbst um einen Kindergartenplatz bewerben, was bedeutete, dass Katherine Alice’ Büro bald wieder einen Besuch abstatten würde. Auf Katherines Gesicht zeichneten sich diverse Emotionen ab, die Alice allesamt gewissenhaft ignorierte.

»Einen wunderschönen Tag noch!«, flötete Katherine. Die Fahrstuhltür schloss sich wieder, und Alice hörte, wie sie im Flüsterton mit ihren Kindern schimpfte, während sie den Flur hinuntergingen.

Es gab so viele verschiedene Arten reicher Leute in New York. Alice war Expertin, aber nicht aus freien Stücken. Es war eher so, als wäre sie zweisprachig aufgewachsen, nur war eine der Sprachen Geld. Als Faustregel galt, dass es schwerer nachzuvollziehen war, woher das Geld kam, je mehr jemand hatte. Wenn beide Eltern Künstler oder Schriftsteller waren oder gar keinen erkennbaren Beruf hatten und immer Zeit, die Kinder zu bringen und abzuholen, rieselte das Geld aus einer sehr großen Quelle. Es gab viele unsichtbare Eltern, sowohl Mütter als auch Väter, die ständig arbeiten mussten, und wenn sie doch einmal in der Schule oder auf dem Spielplatz auftauchten, hingen sie die ganze Zeit am Telefon, einen Finger im anderen Ohr, um den Lärm des echten Lebens auszublenden. Das waren die Familien mit Hausangestellten. Die, die sich für ihren Reichtum schämten, nannten sie Au-pair, die anderen sagten Kindermädchen. Auch wenn die Kinder nicht immer alles verstanden, hatten sie Augen und Ohren und Eltern, die bei Verabredungen untereinander tratschten.

Das Geld in ihrer eigenen Familie war schnell erklärt: Als sie noch ein Kind war, hatte Leonard Zeitbrüder geschrieben, ein Roman über zwei Brüder, die durch die Zeit reisten. Dieser hatte sich millionenfach verkauft und als Vorlage für eine Fernsehserie gedient, die zwischen 1989 und 1995 alle mindestens zweimal wöchentlich sahen, entweder bewusst oder weil sie keine Lust hatten umzuschalten. Und so war Alice ab der fünften Klasse auf die Privatschule Belvedere gegangen, eine der angesehensten der Stadt. Auf der Skala von Blondinen-in-Uniform bis Keine-Noten-und-die-Lehrer-duzen befand sich Belvedere ziemlich genau in der Mitte. Es gab zu viele Juden für die weiße protestantische Oberschicht und zu viele bequeme Traditionen für die Marxisten.

Wenn man der Literatur glaubte, ähnelten sich alle Privatschulen in New York. Und obwohl das stimmte, kannte Alice die feinen Unterschiede: Diese war für Überflieger mit Essstörungen, jene für Einfaltspinsel mit Drogenproblemen, aber reichen Eltern. Es gab eine Schule für Sportler und eine für kleine Schnösel, die schon als Kind in Anzüge gesteckt wurden und später auf CEO-Posten landeten, eine für ganz normale, vielseitige Typen, aus denen Anwälte wurden, die Schule für künstlerisch begabte Weirdos und Eltern, die wollten, dass ihre Kinder künstlerisch begabte Weirdos wären. Belvedere war in den 1970ern auf der Upper West Side gegründet worden und voll von Sozialisten und Hippies, doch jetzt, fünfzig Jahre später, warteten die Mütter in Teslas vor der Schule, und die Kinder waren alle auf Ritalin. Nichts konnte Gold bleiben, aber es war immer noch ihre alte Schule, und sie fühlte sich hier wohl.

Alice nahm die verschiedenen Kategorien von Familien erst wahr, seit sie erwachsen war: die Blondinen mit den straffen Oberarmen und gut gefüllter Bar, die Schauspieler mit Fernsehserien und einem Haus in Los Angeles, falls es nicht mehr so lief, die Intellektuellen, Schriftsteller und dergleichen mit nebulösen Trustfonds und großen Häusern, die sie sich eigentlich nicht hätten leisten können sollen, die Finanzdrohnen mit ihren unberührten Küchentresen und leeren Bücherregalen. Es gab die mit Nachnamen aus Geschichtsbüchern, die keine Jobs nötig hatten, aber gern Innenarchitektur oder Fundraising betrieben. Manche dieser reichen Leute waren sehr gut – gut darin, Martinis zu mixen, gut darin, über andere herzuziehen, gut darin, sich zu beklagen, denn wer konnte ihnen schon böse sein? Jeder saß im Komitee irgendeiner kulturellen Institution. Und fast immer heiratete jemand aus dieser Gattung jemanden aus jener Gattung, und dann konnten sie so tun, als hätten sie jemanden außerhalb ihrer Bubble geheiratet, um weniger privilegiert zu erscheinen. Dasselbe galt auch für Alice.

Alice begegnete ihnen in der Zulassungsstelle der Belvedere School, wo sie, eine alleinstehende, kinderlose, ehemalige Kunststudentin darüber entschied, ob ihre kleinen Lieblinge angenommen wurden oder nicht. Es gab viele Arten reicher Leute, aber alle wollten ihre Kinder in die Schule ihrer Wahl bekommen, weil das Leben ihrer Kinder in ihrer Vorstellung wie auf Bahngleisen verlief, wo ein Halt auf den nächsten folgte: Auf Belvedere folgte Yale, dann Harvard, die Ehe, Kinder, ein Landhaus auf Long Island und ein großer Hund namens Huckleberry. Alice war nur ein Schritt auf diesem Weg, aber ein wichtiger. Im Laufe des Tages würde eine E-Mail von Katherine kommen, da war Alice sicher, in der stehen würde, wie sehr es sie gefreut hatte, dass sie sich heute zufällig begegnet waren. Im wahren Leben, in ihrem Leben, besaß Alice keinerlei Macht, doch im Königreich von Belvedere war sie ein Sith Lord oder ein Jedi, je nachdem, ob das jeweilige Kind angenommen wurde oder nicht.

4

Matts Wohnung war immer sauber. Er wohnte seit einem Jahr darin und hatte sich noch nie mehr als eine Mahlzeit am Tag zu Hause zubereitet – Matt machte so viel wie möglich per App. Als Stadtkind hatte Alice in ihrem Leben auch oft Essen bestellt, aber wenigstens hatte sie noch den Telefonhörer abgehoben und mit anderen Menschen gesprochen. Wie viele Zugezogene aus Kleinstädten in der ganzen Welt schien Matt New York als Kulisse zu betrachten, durch die man hindurchlief, ohne darüber nachzudenken, was sich dahinter tat. Alice stellte ihre Tasche auf den langen weißen Küchentresen und öffnete den Kühlschrank. Es befanden sich drei Sorten Energydrinks darin, eine halb leere Flasche Kombucha, die sie vor einem Monat dort vergessen hatte, eine Salami, ein offenes Stück Cheddar, das an den Rändern hart wurde, eine halbe Packung Butter, ein Glas Gewürzgurken, diverse Behälter mit bestelltem Essen, eine Flasche Sekt und vier Coronas. Kopfschüttelnd machte Alice den Kühlschrank wieder zu.

»Hallo? Bist du zu Hause?«, rief sie in Richtung von Matts Schlafzimmer. Es kam keine Antwort, und statt ihm eine Nachricht zu schreiben, beschloss Alice, die Schmutzwäsche zu waschen, die sie eingepackt hatte, bevor sie ins Krankenhaus gefahren war. Das Beste an Matts Wohnung war, dass es einen Geschirrspüler und eine Waschmaschine mit Trockner gab. Der Geschirrspüler war an ihn verschwendet, da er selten von richtigen Tellern aß, aber die Waschmaschine war Alice’ große Liebe. Normalerweise schleppte Alice ihre Schmutzwäsche zum Waschsalon um die Ecke von ihrer Wohnung, wofür sie nicht mal die Straße überqueren musste. Dort wusch man die Sachen für sie, legte sie zusammen und gab sie ihr in einem riesigen Wäschesack zurück, doch für sie war es etwas ganz Besonderes, einfach ihre Lieblingsjeans zu waschen sowie drei Garnituren Unterwäsche und das Shirt, das sie morgen zur Arbeit tragen wollte. Als sie vor der offenen Waschmaschine stand, beschloss Alice kurzerhand, auch das zu waschen, was sie am Leib trug, und so schälte sie sich aus Jeans und T-Shirt und warf sie ebenfalls hinein. Als die Trommel anfing sich zu drehen, schlitterte sie auf Strümpfen in Matts Schlafzimmer, um sich etwas überzuziehen. Die Wohnungstür ging, und Alice hörte, wie Matts Schlüssel auf dem Küchentresen landete.

»Hi! Ich bin hier hinten!«, rief sie.

Matt erschien in der Tür seines Schlafzimmers, mit hufeisenförmigen Schweißflecken am Ausschnitt und unter den Achseln. Er nahm seine Kopfhörer raus. »Ich schwör, ich wär fast gestorben. Heute war Mash Attack, das heißt drei Runden, mit Deadlifts und Burpees. Gestern Abend hab ich vier Bier getrunken, und ich dachte echt, ich muss kotzen.«

»Schön«, sagte Alice. Matt ging oft genug zum CrossFit, um einen kleineren Bierbauch zu haben, als er sonst gehabt hätte, aber nicht oft genug, um einen Kurs durchzuhalten, ohne sich fast zu übergeben. Er sagte jedes Mal dasselbe, wenn er zurückkam.

»Ich geh duschen.« Er sah sie an. »Warum bist du nackt?«

»Ich bin nicht nackt«, sagte Alice. »Ich wasche meine Wäsche.«

Matt öffnete den Mund und keuchte. »Ich glaube, ich nutze das trotzdem aus.«

Er ging um Alice herum zur Badezimmertür. Sie setzte sich aufs Bett und lauschte der Dusche.

Alice wusste, sie waren kein perfektes Paar, nicht wie manche ihrer Freunde und Bekannten, die zu jedem Geburts- und Jahrestag auf Instagram überschwängliche Lobeshymnen posteten. Sie mochten nicht die gleichen Dinge, hörten nicht dieselbe Musik, hatten nicht dieselben Hoffnungen und Träume, aber als sie sich über eine App (was sonst) kennengelernt und auf einen Drink verabredet hatten, war aus dem Drink ein Abendessen geworden und aus dem Abendessen noch ein Drink und aus diesem Drink Sex, und inzwischen war ein Jahr vergangen, und der Portier fragte nicht mehr nach ihrem Namen. Ein Jahr war schon eine beachtliche Zeitspanne. Sam – die verheiratet war und daher wusste, wie es lief – glaubte, dass Matt ihr bald einen Antrag machen würde. Falls er das tat, war Alice nicht sicher, was sie sagen würde. Sie inspizierte ihre Zehennägel, die dringend neu lackiert werden mussten und nur noch rote Tupfen an den Spitzen hatten. In einer Woche war ihr vierzigster Geburtstag. Sie und Matt hatten noch keine Pläne, doch sie hatte das Gefühl, falls es passierte, dann an dem Tag. Bei dem Gedanken drehte sich ihr der Magen um.

Die Ehe schien im Grunde ein guter Deal zu sein – es war immer jemand da, und wenn es Zeit war zu sterben, hielt dieser Jemand deine Hand. Das galt natürlich nicht für Ehen, die vorher geschieden wurden, oder für unglückliche Ehen, wo Händchenhalten nur noch eine Erinnerung war. Ebenso wenig für diejenigen, die bei Autounfällen starben oder unerwartet einen Herzinfarkt erlitten. Wie viel Prozent der Menschen erfuhren im Tod wohl tatsächlich die Liebe und Unterstützung ihres Ehepartners? Zehn? Natürlich machte nicht nur das Sterben die Ehe so verlockend, aber eben auch. Alice bedauerte ihren Vater, weil sie alles war, was er hatte, und befürchtete, dass sie ihm zu ähnlich war, um irgendwann mehr zu haben als er. Nein – sie würde sogar weniger haben. Leonard hatte ein Kind. Nicht nur ein Kind – eine Tochter. Wäre sie ein Junge gewesen und nicht von der Gesellschaft darauf abgerichtet, sich pflichtbewusst um andere zu kümmern, hätte es vielleicht anders ausgesehen. Sie waren so schnell vergangen, ihre Dreißiger. An ihre Zwanziger erinnerte sie sich nur noch verschwommen, und vor zehn Jahren hatten ihre Freundinnen angefangen, zu heiraten und Kinder zu kriegen. Die meisten hatten erst mit dreiunddreißig, vierunddreißig, fünfunddreißig Babys bekommen, und Alice hinkte gar nicht so viel hinterher, doch plötzlich ging sie auf die vierzig zu, und das war zu spät, oder? Sie hatte Freundinnen, die schon wieder geschieden waren, Freundinnen, die zum zweiten Mal verheiratet waren. Bei der zweiten Ehe ging meistens alles ganz schnell, sodass offensichtlich war, was bei der ersten nicht gestimmt hatte – wenn sich ein Paar scheiden ließ und zwei Jahre später einer von ihnen verheiratet war und ein Kind unterwegs, musste man nicht lange rätseln. Alice wusste nicht, ob sie Kinder wollte, doch sie wusste, dass ihre Unentschlossenheit sich irgendwann in naher Zukunft faktisch in eine Entscheidung verwandeln würde. Warum hatte sie nur so wenig Zeit?

Matt kam aus der Dusche, als sie noch immer wie ein besorgter Golem über ihre Füße gebeugt dasaß. »Wollen wir was zu essen bestellen? Ein bisschen rumvögeln, bis es kommt?« Er trug ein Handtuch um die Hüfte, doch es löste sich, und er bückte sich nicht, um es aufzuheben. Seine Erektion winkte ihr zu.

Alice nickte. »Pizza?«

Matt drückte ein paar Tasten auf seinem Handy, dann warf er es hinter sie aufs Bett. »Wir haben zweiunddreißig bis vierzig Minuten«, sagte er. Matt konnte vielleicht nicht gut kochen oder sonst irgendetwas, aber er war gut im Bett, und das war doch was.

5

Belvedere befand sich, wie viele Privatschulen in der City, nicht in einem einzelnen Gebäude, sondern hatte sich ausgebreitet wie ein Virus. Die ersten Jahrgänge und die Zulassungsstelle befanden sich im ursprünglichen Gebäude auf der Südseite der 85th Street zwischen Central Park West und Columbus – eine kompakte, sechsstöckige Bausünde mit exzellenter Klimaanlage, großen Fenstern, eingebauten Projektionsleinwänden und einer Bibliothek mit Teppichboden und bequemen, bunten Stühlen. Die größeren Kinder – von der siebten bis zur zwölften Klasse – waren im neuen Gebäude in der 86th Street untergebracht, gleich um die Ecke. Alice war froh, dass sie nicht tagtäglich mit Jugendlichen zu tun hatte. Im Herbst gingen die Zwölftklässler im benachbarten Büro ein und aus, und allein der Anblick der schlaksigen Körper und feinporigen Haut aus drei Meter Entfernung war schon zu viel.

Die Zulassungsstelle befand sich im zweiten Stock, und wenn Alice den Hals reckte, konnte sie durchs Fenster den Central Park sehen. Es gab ein geräumiges Wartezimmer mit teuren, aber abgenutzten Holzpuzzles auf den niedrigen Kindertischen, die darauf warteten, von nervösen Eltern bespielt zu werden, während deren Kinder mit Alice oder ihrer Kollegin Emily sprachen – oder mit ihrer Chefin Melinda, eine respekteinflößende Frau mit breiten Hüften und einer wechselnden Auswahl an dicken, langen Ketten, die bei den Kindern immer gut ankamen. »Berufsgeheimnis«, sagte sie immer, wenn eine Mutter sie drauf ansprach, während die Frau in ihren Sportklamotten zitterte wie ein Windhund. Dasselbe sagten Alice und Emily auch, wenn sie sich tagsüber zu ihren Zigarettenpausen rausschlichen. Emily steckte den Kopf um die Trennwand zwischen ihren Schreibtischen und sagte: »Berufsgeheimnis?«, und dann schlüpften sie zum Notausgang hinaus und rauchten in der kleinen Ecke hinter der Schule, wo die Mülltonnen wohnten.

»Hast du Fahrrad-Papa heute gesehen? Ich liebe Fahrrad-Papa«, sagte Emily. Sie war achtundzwanzig, und es war mitten in der Hochzeitssaison, was praktisch genauso war wie die Bar-Mizwa-Saison, nur dass man Kleid und Geschenk selbst bezahlen musste. Emily war im Lauf des Sommers auf acht Hochzeiten gewesen, was Alice wusste, weil Emily gern betrunkene Nachrichten schickte, vor allem wenn sie traurig war. »Ich wette, er ist Löwe. Meinst du nicht auch?«, sagte sie jetzt. »Er hat diese Löwen-Energie. Wie er das Rad mit beiden Kindern drauf auf den Gehweg schiebt? Das Ding muss locker neunzig Kilo wiegen, und er so … rrrrr.« Sie streckte die Krallen aus.

»Nein«, sagte Alice und nahm einen Zug. Es war Emilys Zigarette, eine Parliament. Sie schmeckte wie nasses Zeitungspapier, wenn man nasses Zeitungspapier hätte anzünden können. Alice hatte in den letzten zehn Jahren mehrfach aufgehört, aber irgendwie hielt es nie an, trotz des Kaugummis, der Bücher und der missbilligenden Blicke von Fremden und Freunden. Gott sei Dank gibt es Emily, dachte Alice. Von den Jüngeren im Team rauchte fast niemand – nicht mal E-Zigarette! Sie konsumierten Gras, konnten aber kaum Joints drehen. Sie aßen es. Sie waren Babys. Alice wusste, dass es gesünder war, klar, besser für die Lunge und wahrscheinlich auch für den Planeten, aber sie fühlte sich dadurch einsam.

»Er hatte ein gestreiftes T-Shirt an, wie Picasso, nur in heiß. Ich liebe ihn.« Emily schleifte ihre Schuhsohle über den Beton.

»Seine Frau holt die Kinder immer ab«, sagte Alice. »Was ist mit Ray? Hab ihn reinkommen sehen, wie läuft’s mit ihm?«

Ray Young war Vorschullehrer und spielte Ukulele, und er und Emily schliefen mehr oder weniger einmal im Monat miteinander. Emily schwor jedes Mal, dass es nie wieder vorkommen würde. Das Problem war nur, dass er auf seinem Hundespaziergang immer an ihrem Haus vorbeikam, was Alice für ein Melrose-Place-Problem hielt, allerdings hatte Emily Melrose Place nie gesehen, deshalb behielt sie diesen Gedanken für sich. Er war fünfundzwanzig und stets verfügbar, was ihn für Emily uninteressant machte.

»Ach, du weißt schon«, sagte Emily und verdrehte die Augen. »Er vögelt, als würden seine Eltern zusehen.«

Alice verschluckte sich am Rauch. »Du bist furchtbar.«

Emily zwinkerte ihr zu. »Lass uns wieder reingehen, bevor wir nachsitzen müssen.« Sie trat ihre Zigarette aus. »Ach, wie geht es übrigens deinem Vater?«

»Nicht so gut.« Alice schnipste die noch brennende Zigarette auf den Boden.

6

Melinda gab jedem von ihnen einen Stapel Ordner, jeder vorne mit dem Namen eines Kindes in Edding beschriftet. Es gab zweihundert Bewerber für fünfunddreißig Plätze, und das allein für die Vorschule. Alice, Emily und Melinda führten jeweils die Vorstellungsgespräche mit den Bewerbern in ihrem Stapel, dann trugen sie ihre Notizen in die gemeinsame Tabelle ein, in der alle Kinder eingestuft wurden – ob es Geschwisterkinder oder Sprösslinge von Ehemaligen waren, ob sie berühmte Eltern hatten, farbig waren oder aus einer internationalen Familie oder sich um ein Stipendium bewarben, alles, was bemerkenswert war. Manchmal dachte Alice an all die Kriterien, die diese kleinen Wesen schon zu erfüllen hatten, und fühlte sich schlecht. Sie kam sich vor wie die Jury bei einer Misswahl. Dieses hier konnte Klavier spielen. Jenes zweisprachig lesen! Dieses hatte eine Regatta gewonnen! Aber die Kinder waren natürlich meist wundervoll, seltsam, niedlich, unbeholfen und witzig, wie alle Kinder. Sie waren das Beste an ihrem Job. Manchmal dachte sie, dass sie gern Kinderpsychologin wäre, aber dafür war es wohl zu spät. Sie liebte es, die Kinder kennenzulernen und mit ihnen allein zu reden, sich ihre verrückten Gedanken anzuhören, ihren hohen Stimmen zu lauschen und zu sehen, wie die Schüchternheit von ihnen abfiel.

Es war nicht ihr Plan gewesen, für immer in ihrer Alma Mater zu arbeiten.

Der Plan war gewesen, Malerin zu werden. Jedenfalls irgendeine Art Künstlerin, die für ihre Kunst bezahlt wurde. Oder Kunstlehrerin, heißgeliebt von ihren Schülern, die Wände voll wundervoller Bilder von kleinen Kindern. Die Chancen, jetzt noch eine berühmte und erfolgreiche Künstlerin zu werden, standen schlecht, doch weil sie von Menschen umgeben war, die sie als künstlerisch begabte Jugendliche in Erinnerung hatten, trug sie noch immer dieses Image, obwohl sie seit über einem Jahr weder eine Leinwand noch einen Pinsel angefasst hatte. Ihre Freundinnen von der Belvedere, die wirklich Künstlerinnen geworden waren, hatten New York alle verlassen, weil es zu teuer war. Sie waren vor fünf Jahren weggezogen, vor zehn, vor fünfzehn. Alice hatte den Überblick verloren. Diejenigen, die sie am liebsten mochte, waren nicht einmal mehr auf den sozialen Medien unterwegs, bis auf gelegentliche verschwommene Landschaftsbilder oder lustige Schnappschüsse aus dem Lebensmittelladen. Alice vermisste sie.

»Erde an Alice«, sagte Melinda, nicht unfreundlich. Sie saßen mit ihren Bürostühlen auf Rollen in einem uneleganten Kreis.

»Tut mir leid, ich habe über etwas nachgedacht. Ich bin hier«, sagte Alice. Emily zwinkerte ihr zu.

»Ich würde gern in den nächsten zwei Wochen mit diesem Stapel durch sein. Wenn ihr euch mit den Familien auf eurer Liste in Verbindung setzen und Termine vereinbaren könntet – ich glaube, Emily hat schon eine Tabelle angelegt. Schön.« Melinda nickte ihnen zu.

Der Aktenstapel mit den Bewerbungsunterlagen war schwer, und auf jede war ein Foto des Kinds getackert. Alice konnte sich nicht vorstellen, dass es schon so gewesen war, als ihre Eltern sie angemeldet hatten – sie hätten niemals mehr als einen Bogen Papier ausgefüllt.

Alice blätterte durch den Stapel auf ihrem Schoß auf der Suche nach vertrauten Namen. Es gab immer ein paar. Die ehemaligen Klassenkameraden, die in New York geblieben waren, hatten sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit fortgepflanzt – manche hatten schon das dritte Kind, und so wurden die Privatschulen immer wieder neu bevölkert. Manchmal fand Alice es seltsam, wie viele Leute immer noch dieselbe Postleitzahl hatten wie früher, doch dann dachte sie an die vielen Leute in Kleinstädten, bei denen es nicht anders war. Es wirkte nur seltsam, weil es New York war, ein Ort, der sich alle paar Jahre neu erfand, bevölkert mit Neuankömmlingen und Zugezogenen. Für gewöhnlich freute sie sich über bekannte Gesichter – meist Frauen, die sie nicht besonders gut gekannt hatte, ihr aber sympathisch gewesen waren. Sehr viel seltener stolperte sie über einen Namen, der ihr vertrauter war.

Wie Raphael Joffey. Wie viele Joffeys konnte es geben? Der Junge auf dem Foto hatte olivfarbene Haut, dunkelbraunes Haar, dichte Augenbrauen und eine Zahnlücke. Er sah seinem Vater so ähnlich, dass Alice wusste, was sie finden würde, bevor sie den Ordner aufschlug. Da stand es, in der zweiten Zeile – Thomas Joffey. Die Adresse war Central Park West – das San Remo, wo Tommy aufgewachsen war. Er war fast zwei Jahre älter als sie und eine Klasse über ihr gewesen. Alice erinnerte sich nicht an die Nummer des Apartments, was beruhigend war, doch sie erinnerte sich an seine Festnetznummer. Wenn die Informationen stimmten, wohnte er nur wenige Straßenzüge von der Schule entfernt, noch immer in dem Viertel, in dem sie beide aufgewachsen waren. Es war seltsam, dass sie Tommy noch nie auf der Straße begegnet war, aber so war es manchmal. Es gab immer Leute, denen man aus irgendeinem Grund ständig über den Weg lief, egal ob sie um die Ecke wohnten oder am anderen Ende der Stadt. Und es gab Leute, die nebenan wohnten, aber einen anderen Rhythmus hatten. Andere Wege, andere U-Bahn-Linien, andere Zeitpläne. Alice fragte sich, womit Tommy sein Geld verdiente, falls ihn überhaupt noch jemand Tommy nannte. Ob er wieder hergezogen war oder ob er die ganze Zeit um die Ecke gewohnt hatte. Ob er und seine Familie in der Wohnung lebten, in der er aufgewachsen war, oder in einem anderen Stockwerk, sodass der kleine Raphael den Fahrstuhl nahm, um seine Großeltern zu besuchen. Sie fragte sich, wie Tommys Gesicht jetzt aussah, ob sein Haar schon grau wurde, ob sein Körper noch so schön war wie früher, groß und gertenschlank in seinen Kleidern, als könnte ihn eine Brise jederzeit umwehen. Seit dem zwanzigsten Klassentreffen im vorletzten Frühjahr hatte sie nicht einmal mehr seinen Namen gehört. Er war nicht dabei gewesen, doch Alice hatte gehört, wie andere nach ihm gefragt hatten. Ein echter Power Move – vermisst werden.

Alice klappte den Ordner zu und ließ ihn ganz oben auf dem Stapel. Sie fragte sich, wie der Junge genannt wurde – bei seinem vollen Namen oder Rafe oder Raffy oder Raf. Sie würde seine E-Mail als allererste verschicken, adressiert an beide Eltern. Alice würde sagen, was sie zu den Ehemaligen auf ihrem Stapel immer sagte: Hallo! Ich bin Alice Stern, Abschlussjahrgang ’98! Nach dem Standardtext zur Vereinbarung eines Termins mit dem entsprechenden Link tippte Alice ein Postskriptum und löschte es dann wieder. Hallo, schrieb sie. Hi! Nein. Hi – freue mich, Dich wiederzusehen und Deinen Sohn kennenzulernen. Es war besser, sich ganz auf die Kinder zu konzentrieren. Das hatte Melinda ihr eingetrichtert, als sie in der Zulassungsstelle angefangen hatte – manchmal waren die künftigen Eltern Filmstars oder Musiker, die im Madison Square Garden auftraten. Spielte keine Rolle. Sie wollten nicht, dass man schleimte oder rumstotterte. Sie wollten, dass man ihren Kindern in die Augen sah und staunte, wie alle anderen Eltern auch. Sie wollten, dass man erkannte, wie besonders ihre Blume war. Berühmte Leute konnten sie nicht aus der Fassung bringen, aber es gab Leute, die sie als Jugendliche gekannt hatte, bei deren Namen sich ihr noch immer der Magen zusammenzog. Alice wusste nicht, was sie zu Tommy sagen würde, wenn sie ihm auf der Straße begegnete oder in einer düsteren, überfüllten Bar – vielleicht gar nichts – , doch sie wusste, was sie in ihrem Büro zu ihm sagen würde. Sie würde die Tür aufmachen und lächeln, ganz Sonnenschein und Selbstbewusstsein. Und er würde auch lächeln.

7

Leonards Krankenhauszimmer war immer kalt, wie alle Krankenhauszimmer, um das Infektionsrisiko zu mindern. Erreger haben es gern warm, wenn sie von einem schwachen Patienten zum nächsten schwirren. Nur die Immunsysteme von Schwestern und Ärzten sind stark genug, um sie in ihre staubigen Ecken zurückzudrängen. Alice saß auf dem Besucherstuhl mit gepolsterter Sitzfläche aus Kunstleder – leicht zu reinigen – und zog die Hände in die Ärmel ihres Pullis. In letzter Zeit versuchte sie, sich an die Gespräche zu erinnern, die sie mit ihrem Vater geführt hatte. Eine ihrer Freundinnen, eine Frau, deren Mutter vor einigen Jahren gestorben war, hatte ihr geraten, die Gespräche mit ihrem Vater für später aufzuzeichnen, egal, worum es in diesen Gesprächen ging. Es war Alice peinlich gewesen, ihn darum zu bitten, aber letzten Monat hatte sie tatsächlich ein Gespräch im Krankenhaus aufgenommen, das Handy auf dem kleinen Tisch zwischen ihrem Stuhl und seinem Bett.

LEONARD: … und da kommt die Chefin, da ist die Königin vom ganzen Laden.

(Schwester, unverständlich)

LEONARD: Denise. Denise.

DENISE: Leonard. Ich habe zwei Tabletten, Ihre Nachmittagstabletten. Ein Geschenk für Sie.

(Schüttelgeräusche)

ALICE: Danke, Denise.

DENISE: Er ist mein Lieblingspatient. Verraten Sie es nicht den anderen. Ihr Vater ist der Beste.

LEONARD: Ich liebe Denise.

ALICE: Denise liebt dich.

LEONARD: Wir haben uns über die Philippinen unterhalten. Über Imelda Marcos. Viele Krankenschwestern kommen von den Philippinen.

ALICE: Ist das rassistisch?

LEONARD: Für dich ist immer alles rassistisch. Es gibt einfach viele Krankenschwestern von den Philippinen. Das ist alles.

(Eine Maschine piept)

ALICE: Arbeitest du an irgendetwas?

LEONARD: Ach, komm.

Warum hatte sie das gefragt? Wer wusste, wie viele Gespräche mit ihrem Vater ihr noch blieben, und das wollte sie wissen, dasselbe, was jeder Schmock ihn in jedem Interview in den letzten zwanzig Jahren gefragt hatte? Es war leichter, als ihn etwas Persönliches zu fragen oder ihm etwas von sich zu erzählen, und außerdem wollte sie es wirklich wissen.

Wenn Alice die Augen schloss und sich ihren Vater vorstellte, ihren Vater, wie er auf ewig in ihrem Kopf weiterleben würde, sah sie Leonard an dem runden Küchentisch im Pomander Walk sitzen. Es gab einige Straßen, die ähnlich waren: Patchin Place und Milligan Place im West Village und ein paar in Brooklyn in der Nähe von Alice’ Wohnung, aber der Pomander Walk war anders. Die meisten Hinterhausstraßen waren ehemalige Kutschenhäuser oder Arbeiterunterkünfte für irgendein großes Gebäude, das in der Nähe gebaut worden war – teuer, aber in Puppenstubengröße, umgebaut für reiche Leute, denen Exklusivität und Originalität wichtiger waren als Stauraum. Der Pomander Walk führte mitten durch einen Block zwischen Broadway und West End von der 94th zur 95th Street. Er war 1921 von einem Hotelier gebaut worden, und Leonard hatte daran immer besonders geliebt, dass es zwar eine echte Straße war, aber inspiriert von einem Roman beziehungsweise einem Theaterstück über eine englische Kleinstadt. Es war das Faksimile eines Faksimiles, die echte Version eines fiktiven Orts; zwei Häuserreihen, die aussahen wie aus Hänsel und Gretel, hinter einem verschlossenen Tor.

Die Häuser waren klein, jedes nur zwei Stockwerke hoch, und meistens in zwei Wohnungen unterteilt, die jeweils über eine ganze Etage gingen. Vor jeder Haustür lag ein winziger, gepflegter Garten, und am Ausgang zur 95th Street stand ein Wachhäuschen, nicht größer als eine Telefonzelle, das als Schuppen diente – mit Schneeschaufeln und Spinnweben und der gelegentlichen Kakerlake, die auf dem Rücken zappelte. Als Alice ein Kind gewesen war, hatte Reggie, der Hausmeister, ihr erzählt, dass Humphrey Bogart einst im Pomander Walk gewohnt hatte und dass sein Bodyguard im Wachhäuschen gesessen hatte, aber sie wusste nicht, ob das stimmte. Alice wusste allerdings, dass der Pomander Walk ein ganz besonderer Ort war, und obwohl die Fenster zur Straße hin nur drei Meter von den Nachbarn gegenüber entfernt waren und man nach hinten in die Apartments des riesigen Gebäudes nebenan blickte, fühlte es sich an wie ein eigenes Universum.

Das Bild war immer dasselbe: Leonard am Küchentisch, hinter ihm die Stehlampe, auf dem Tisch ein oder drei Bücher, ein Glas Wasser und noch ein Glas mit etwas anderem, das von den Eiswürfeln darin beschlug. Ein Block, ein Stift. Tagsüber schaute Leonard Seifenopern, ging im Central Park oder im Riverside Park spazieren, unternahm Ausflüge zur Post und zum Supermarkt, zum City Diner am Broadway Ecke 90th Street, telefonierte mit Freunden. Abends jedoch saß Leonard am Küchentisch und arbeitete. Alice versuchte, sich in diese Szene hineinzuversetzen, sich vorzustellen, wie sie zur Tür reinkam, die Tasche auf den Boden fallen ließ und sich auf den Stuhl gegenüber von ihrem Vater setzte. Was hatte sie nach der Schule zu ihm gesagt? Hatten sie sich über die Hausaufgaben unterhalten? Über Filme, über Fernsehsendungen? Über Fragen bei Jeopardy!, auf die sie die Antwort kannten? Alice wusste, dass sie über solche Dinge gesprochen hatten, doch ihre Erinnerungen hatten keinen Ton.

Eine Schwester kam herein – Denise, deren Stimme sie aufgenommen hatte. Alice rutschte auf ihrem Stuhl zurück und setzte sich gerade hin. Denise winkte ab. »Machen Sie es sich bequem.« Alice nickte und sah zu, wie Denise diverse Maschinen überprüfte und Beutel mit trüben Flüssigkeiten an den Stangen neben Leonards Bett auswechselte.

»Sie sind ein gutes Mädchen«, sagte Denise im Gehen und tätschelte Alice das Knie. »Ich habe es Ihrem Vater schon erzählt, ich liebe Zeitbrüder – auf der Schwesternschule sind meine Mitbewohnerin und ich zu Halloween als Scott und Jeff gegangen. Ich hab’s Ihrem Vater erzählt. Ich war Jeff, als er den Bart hatte. Sehr gutes Kostüm. Alle wussten, wer ich war. Auf in die Zukunft!« Das war ihre Losung. Vier Worte, die Leonard peinlich waren, die die Leute ihm jedoch häufig zuriefen, wenn sie ihn auf der Straße erkannten, oder die Kellner mit einem Stift auf seine Rechnung im Restaurant schrieben.

»Ich wette, Sie sahen toll aus«, sagte Alice. Die Figuren aus Zeitbrüder gaben gute Kostüme ab – nicht so eng wie eine Star-Trek-Uniform aus Elastan, nicht so akademisch wie ein Gryffindor-Umhang und leicht aus normalen Kleidungsstücken zusammenstellbar. Jeff trug enge Jeans, einen gelben Regenmantel und in späteren Staffeln einen blonden Schnurrbart. Und Scott, der jüngere Bruder, mit seinen langen Haaren, kariertem Hemd und Arbeiterstiefeln war zu einer lesbischen Mode-Ikone geworden. Ihr Vater hatte nicht gewusst, was passieren würde, als er den Roman veröffentlicht hatte. Es war nicht voraussehbar gewesen. Das Buch verkaufte sich immer noch, würde sich immer verkaufen. Es stand nicht mehr auf den Bestsellerlisten, doch es gab keinen Buchladen, der es nicht im Regal stehen hatte, keinen Jugendlichen, der kein Taschenbuchexemplar davon in seinem Zimmer hatte, keinen erwachsenen Nerd, der noch nie einen gelben Regenmantel und einen falschen Schnurrbart rausgekramt hatte wie Denise. Leonard hatte nichts mit der Fernsehserie zu tun, doch er bekam jedes Mal Geld, wenn sie ausgestrahlt wurde, und sein Name gehörte zum Repertoire des Kreuzworträtsels in der New York Times. Er hatte nie ein anderes Buch veröffentlicht, war jedoch immer am Schreiben.

Als Kind hatte Alice sich manchmal vorgestellt, die Zeitbrüder