Ein Sommer wie Limoneneis - Marie Matisek - E-Book
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Ein Sommer wie Limoneneis E-Book

Marie Matisek

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Beschreibung

Der perfekte Sommer-Roman von der Bestseller-Autorin Marie Matisek und ein Liebes-Roman, der an der schönen Amalfi-Küste spielt. Marco, erfolgreicher Immobilien-Anwalt, schaut lieber nach vorne als zurück. Er hat eine glanzvolle Karriere gemacht, und für seine Wurzeln, die in Amalfi liegen, bei seiner Familie, die seit Jahrhunderten eine Limonen-Plantage betreibt, interessiert er sich wenig. Doch dann will seine Frau plötzlich die Scheidung, und sein Vater im fernen Süditalien bricht sich die Hüfte. Marcos Weg führt ihn nach Amalfi – widerwillig und nur für kurze Zeit, wie er glaubt. Es dauert jedoch nicht lange und die zauberhafte Küste sowie das sinnliche Leben Süditaliens nehmen ihn gefangen. Und dann steht Lisabetta wieder vor ihm, die zauberhafte Liebe seiner Jugend. Kann und will Marco sein Leben noch einmal von Grund auf ändern?

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Seitenzahl: 338

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Marie Matisek

Ein Sommer wie Limoneneis

Knaur e-books

Über dieses Buch

Marco, erfolgreicher Immobilienanwalt, schaut lieber nach vorne als zurück. Er hat eine glanzvolle Karriere gemacht, und für seine Wurzeln, die in Amalfi liegen, bei seiner Familie, die seit Jahrhunderten eine Limonenplantage betreibt, interessiert er sich wenig.

Doch dann will seine Frau plötzlich die Scheidung, und sein Vater im fernen Süditalien bricht sich die Hüfte.

Marcos Weg führt ihn nach Amalfi – widerwillig und nur für kurze Zeit, wie er glaubt.

Es dauert jedoch nicht lange und die zauberhafte Küste sowie das sinnliche Leben Süditaliens nehmen ihn gefangen. Und dann steht Lisabetta wieder vor ihm, die wunderschöne Liebe seiner Jugend…

Inhaltsübersicht

WidmungProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. KapitelEpilogNachbemerkung
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Für dich, Kasper

Gelato al limon

 

Ti piace?

Mentre un’altra estate passerà

libertà e perline colorate

ecco quello che io ti darò

e la sensualità delle vite disperate

ecco il dono che io ti farò

donna che stai entrando nella mia vita

con una valigia di perplessità

ah, non avere paura che sia già finita

ancora tante cose quest’uomo ti darà.

Paolo Conte

 

Limoneneis,

ein Eis aus Limonen.

 

Magst du es?

Und während erneut ein Sommer sich verflüchtigt,

werden Freiheit und bunte Perlen

meine Gaben an dich sein

und die Sinnlichkeit verzagter Leben

mein Geschenk an dich.

Frau, die du mit einem Koffer voller Zweifel

in mein Leben trittst,

hab keine Angst, es könnte bereits zu Ende sein.

Es sind noch viele Dinge, die dieser Mann dir geben wird.

 

Die Hitze der Nacht wird schmelzen

wie ein Eis aus Limonen,

aus echten Limonen.

Übersetzung Gabriela Schönberger

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Prolog

Amalfi, August 1990

Rasch schnappte Marco sich ein paar von den frisch gebackenen sfogliatelle[1] vom Tisch. Seine Nonna war in der Küche beschäftigt und bekam hoffentlich nicht mit, dass er sich etwas stibitzte. Marco steckte die noch warmen Gebäckteilchen in seine kleine lederne Tasche, in der auch sein Messer, das Gehäuse eines getrockneten Seeigels, einige hübsche Steine und ein paar Lire verstaut waren, und sah zu, dass er schnell aus dem Zimmer kam.

Seine nackten Füße klatschten auf den Terrakottafliesen; er hatte die Tür zum Garten noch nicht ganz erreicht, da hörte er die strenge Stimme seiner Nonna hinter sich.

»Marco! Du Schlingel! Wirst du wohl die sfogliatelle wieder zurücklegen! Marco!!!«

Aber Marco dachte nicht daran. Er wetzte aus der Tür hinaus in den Garten. Machte einen großen Satz über die üppigen Rosmarinbüsche, duckte sich unter der weinumrankten Laube, wich mit einem geschickten Haken der schlafenden Katze aus und erreichte, die Rufe der Nonna noch immer im Rücken, die Treppe.

 

Zweihundertsechsundvierzig Stufen aus glattem Stein, steil in den Fels gehauen, führten von Marcos Zuhause durch den Zitronenhain seiner Familie hinunter in den Ort. Marco sprang behende hinab, dabei nahm er mal zwei, mal drei Stufen auf einmal. Er war mit der halsbrecherischen Treppe groß geworden, flitzte sie mehrmals am Tag hinauf und wieder hinunter.

Seine Nonna dagegen vermied diesen Weg nach Amalfi, sie war fast neunzig und die Mutter der Mutter seines Vaters. Sie ging gebeugt, hatte Probleme mit den Knien und dem Rücken und begnügte sich damit, im Haus nach dem Rechten zu sehen, ein strenges Regiment über die Küche zu führen und ansonsten auf ihrem Stuhl an der Hauswand in der Sonne zu sitzen, die Katze auf dem Schoß.

Einmal in der Woche jedoch sowie an bestimmten Feiertagen besuchte sie die Kirche. Dann wurde sie von Marcos Vater Raffaele in den Lastenaufzug gesetzt, der für die Zitronen benutzt wurde. Die Nonna war klein und dürr, leicht wie eine Feder und immer in Schwarz gekleidet. Sie sah aus wie ein großer Rabe. Wenn Raffaele sie aber auf seine Arme nahm – mit gebührendem Respekt! – und in den Korb aus Stahl setzte, dann kicherte sie wie ein junges Mädchen. Mit ihren Fingern, die Marco an Vogelkrallen erinnerten, klammerte sie sich fest, und sobald sich der Aufzug in Bewegung setzte, begann sie zu kreischen. Laut und vernehmlich, und Marco meinte, neben dem Entsetzen über die rasante Fahrt auch jubilierende Freude aus dem Schrei herauszuhören.

Zu gerne wäre auch er mit dem Aufzug in die Tiefe des Tals gerauscht! Aber sein Vater guckte streng, wann immer Marco diese Bitte äußerte, und schüttelte den Kopf. Es war zu gefährlich. Die fragile Stahlkonstruktion war für Zitronen gebaut und nicht für kleine Jungs!

Warum aber die Nonna dann damit in die Kirche transportiert werden durfte, blieb Marco ein ewiges Rätsel. Oder, so mutmaßte er manchmal, trachtete Raffaele der Alten nach dem Leben? Wollte er sie nicht etwa in die Kirche, sondern ins Jenseits befördern?

 

»Marco, was ist? Beeil dich! Sonst gehen sie ohne uns!« Unten am Fuß der Treppe stand Pippo, Marcos bester Freund. Er überragte Marco um einen Kopf, dafür war er dünn wie eine Zaunlatte. Was umso erstaunlicher war, da Pippo der »größte Fresssack auf Erden« war, wie Marcos Mutter Magdalena stets zu sagen pflegte.

Auch jetzt wartete Pippo mit gierig ausgestreckter Hand auf seinen Freund, und noch während Marco die letzten zehn Treppenstufen mit zwei großen Sätzen herunterstürmte, angelte er aus seiner Tasche eine sfogliatella, um sie Pippo zuzuwerfen. Das Teilchen wanderte von der Hand sofort in Pippos Mund und war – hast du nicht gesehen – noch schneller verschlungen.

Marco grinste und wollte gerade zum Sprint durch die Via Santa Aegidio ansetzen, da sah er aus dem Augenwinkel, dass am Fuß des Berges, keine fünf Meter von ihm entfernt, sein Vater stand. Raffaele hielt eine seiner Zitronen in der einen Hand und gestikulierte heftig mit der anderen. Ihm gegenüber stand Paolo Lamarttine mit hochrotem Kopf und fuchtelte ebenso mit seinen Armen. Es sah aus, als wären die beiden Männer in einen handfesten Streit verwickelt, aber Marco kannte diese Szene gut genug, um zu wissen, was los war. Er war damit groß geworden – mit dem Disput zwischen seinem Vater und dem einflussreichsten Zitronenhändler an der Küste. Es ging wie immer um die Zitrone – DIE Zitrone, die beste, die es nur gab, nämlich die der Familie Pantanella. Und, natürlich, um ihren Preis. Darüber konnten sich Raffaele und Paolo niemals einig werden. Wenn sie sich irgendwann, nach endlosen, hitzigen Diskussionen, endlich die Hände reichten und damit ihren Handel besiegelten, drehte sich der eine weg und murmelte »Verbrecher, Ganove«, und der andere tat es ihm gleich mit einem »Schlitzohr, vermaledeites« auf den Lippen.

Aber Woche für Woche, Monat für Monat und Jahr für Jahr kamen sie wieder ins Geschäft, Raffaele Pantanella und Paolo Lamarttine.

 

Marco riss Pippo am Arm. »Schnell, lass uns abhauen, bevor mein Vater mich sieht!«

Aber es war schon zu spät. Raffaele hatte seinen Sohn wohl bemerkt und winkte ihn zu sich. »Marco, komm her, mein Junge! Erklär diesem Esel hier doch mal, warum die Zitronenernte in diesem Monat besonders gut ist. Er begreift es nicht, dieser stupido[2]!«

Aber Marco tat, als hätte er nichts gehört, und suchte mit Pippo das Weite.

 

Während die beiden Jungen sich einen Weg durch die engen Gassen Amalfis bahnten, wischte sich Pippo die Krümel vom Mund und fragte Marco, ob dieser noch eine sfogliatella habe.

Marco war hin- und hergerissen. Eigentlich gab er seinem Kumpel immer von seinem Essen ab, auch weil er wusste, dass Pippo manchmal nur Ziegenmilch, einen Kanten Brot oder Feigen bekam und sonst den ganzen Tag nichts weiter. Sein Freund kam aus einem bitterarmen Haushalt.

Pippo und sein Vater Sergio, der Ziegenhirte, lebten in den Bergen, noch ein Stückchen oberhalb des Zitronenhains der Familie Pantanella. Niemand kannte die Mutter des Jungen, nicht einmal Pippo selbst. Die Nonna behauptete stets, sie sei eine Zigeunerin gewesen, dabei bekreuzigte sie sich rasch. Sergio zog den Jungen alleine auf, aber er hatte keinen Beruf, konnte weder lesen noch schreiben, sondern hauste mit den Ziegen, ein paar Hühnern und seinem Sohn in einer Hütte. Marco kam es vor, als lebten sein Freund und dessen Vater in einer Welt aus dem vorigen Jahrhundert. Sie hatten kein Telefon und kein fließendes Wasser – nur einen Brunnen und ein Plumpsklo. Strom immerhin gab es, Raffaele erlaubte den beiden, seine Stromleitung anzuzapfen. Er war es auch, der Sergio Arbeit gab, er ließ ihn auf der Zitronenplantage helfen. Pippos Vater trug die schweren Kisten mit den Zitronen zum Lastenaufzug. Er war krumm und bucklig, und obgleich er so alt war wie sein Chef, fünfundvierzig Jahre, sah er doppelt so alt aus.

Trotz der Armut, die bei Pippo und seinem Vater herrschte, war Marco gerne bei den beiden zu Besuch. Sergio war immer zu einem Scherz aufgelegt, er sang den lieben langen Tag und war seinem Sohn ein liebevoller Vater.

Marco stand zu Pippo ohne Wenn und Aber – auch oder gerade, wenn dieser wegen seiner ärmlichen Kleidung und des entbehrungsreichen Lebens von den Schulkameraden gehänselt wurde.

Marcos Mutter brachte einmal in der Woche einen Korb mit selbstgemachtem Essen und ausgemusterten oder von ihr geflickten Sachen zu Pippo und seinem Vater, obwohl die Pantanellas nicht zu den vermögenden Bürgern Amalfis gehörten. Aber man war in der Familie des Zitronenbauers Raffaele Pantanella der unbedingten Auffassung, dass es eine Pflicht des Herzens sei, großzügig zu teilen.

 

Deshalb war Marco jetzt auch in einem Gewissenskonflikt, als Pippo nach einer weiteren sfogliatella fragte. Er hatte in der Tat noch zwei weitere in seiner Tasche, aber eine davon wollte er selbst essen, und die andere … Nun, das andere Teilchen war für jemand ganz Besonderen. Für jemanden, an den Marco Tag und Nacht dachte, für jemanden, der aussah wie ein Engel und von dem Marco hoffte, dass er – oder besser sie – jetzt ebenfalls am Strand wäre und mit ihm schwimmen ging.

Lisabetta!

Augen wie Kohlenstücke, eine Haut wie Karamell, und aus ihren langen lockigen Haaren hätte man eine Decke weben können, in die sich Marco zur guten Nacht einkuscheln wollte.

Lisabetta war die Tochter des Fischers Nino, sie und Marco waren ebenso miteinander groß geworden wie Marco und Pippo. Alle drei gingen sie in dieselbe Schule, Marco saß schräg hinter Lisabetta, und er war nur darauf konzentriert, sie zu beobachten, wie sie mit ihrer Banknachbarin kicherte, ihre schwarze Lockenpracht schüttelte oder sich ab und an zu Marco umdrehte und ihm zuzwinkerte.

 

Während er an Lisabetta dachte, griff Marco in seine Tasche und holte eine der süßen Gebäcktaschen heraus, brach sie auseinander, reichte noch im Laufen seinem Kumpel Pippo die eine Hälfte und schob sich die andere in den Mund. Die Aromen explodierten förmlich auf der Zunge – die frische Butter, der cremige Ricotta, die Süße des Honigs und die Säure der Zitrone, mit der seine Urgroßmutter die sfogliatelle würzte, schmeckten einfach himmlisch!

 

Marco hatte sich den Mund vollgestopft, und als er und Pippo die Straße überquerten, die den Ort vom Strand trennte, kaute er noch immer. Lisabetta lachte ihm schon von weitem zu, und als er sie und die anderen erreicht hatte, rief sie: »Hey, ihr lahmen Schnecken, wer ist als Erster am Steg?«

Marco wollte antworten, aber als er den Mund öffnete, stob eine Wolke Blätterteig heraus, und er war nicht in der Lage, eine schlagfertige Antwort zu geben, weil die Ricotta-Mischung ihm den Mund verklebte.

Lisabetta bog sich den Bauch vor Lachen und rannte mit ihren Karamellbeinen in die Brandung. Mimmo, Salvatore, Pippo und Remo taten es ihr gleich, während Marco sich noch bemühte, die Reste der sfogliatella hinunterzuwürgen und gleichzeitig die Ledertasche abzulegen. Aber dann wetzte er hinter der Gruppe her, so schnell er konnte, und stürzte sich mit einem Hechtsprung in die Fluten. Kaum war er wieder hochgekommen, verfiel er in ein schnelles Kraulen.

Marco war stolz darauf, der beste Schwimmer unter den Jungen zu sein. Keiner konnte ihn schlagen – außer Lisabetta!

Während er sich darum bemühte, den Vorsprung, den die anderen hatten, aufzuholen, zog er an Pippo, Salvatore und Mimmo vorbei. Nur Remo und Lisabetta waren noch vor ihm. Marco legte verbissen einen Zacken zu, aber als er mit Remo auf gleicher Höhe war, spürte er plötzlich einen Tritt gegen seine rechte Seite. Er kam kurz aus dem Takt, kraulte dann aber unverdrossen weiter. Wieder ein Tritt! Das war Remo, dieser Mistkerl!

Marco wollte sich nicht beirren lassen, durch den Zwischenfall hatte Lisabetta vor ihm schon wieder ein paar Zentimeter zugelegt, aber da schnappte sich Remo von hinten plötzlich Marcos Fuß. Erst den rechten, dann den linken. Marco platschte hilflos mit den Armen, während der größere Junge seine Füße in eisernem Griff hielt und sie nach unten drückte.

Marco begann, nach Remo zu schlagen, und der ließ tatsächlich die Füße los, schlug aber zurück, traf Marco am Auge und nutzte dessen Verwirrung, um sich auf seine Schultern zu werfen und Marco mit seinem gesamten Körpergewicht unter Wasser zu drücken.

Aber Marco war auch unter Wasser flink wie ein Wiesel, geschmeidig wie eine Katze und schlau wie ein Fuchs. Er tauchte einfach von selbst noch weiter hinunter, so dass er sich aus der Umklammerung von Remo befreien konnte, und schwamm mit ein paar kräftigen Zügen unter Wasser von seinem Widersacher weg – dabei trat er heftig mit den Beinen und verfehlte sein Ziel nicht. Remo jaulte laut auf und hielt sich die empfindliche Stelle mit beiden Händen, was ihn daran hinderte, Marco schwimmend zu folgen.

 

Lisabetta hatte es inzwischen als Erste auf den Steg geschafft, und auch die drei anderen Jungen waren an den Kämpfenden vorbeigezogen. Prustend und außer Atem zog sich Marco an der hölzernen Konstruktion nach oben und ließ sich neben den Freunden auf die warmen Holzbohlen fallen.

Lisabetta schüttelte ihre Haare aus wie ein Hund seinen Pelz und lachte. »Ich hab gewonnen und einen Wunsch frei.«

Marco wollte ihr das Gebäckteil versprechen, das in seiner ledernen Tasche am Strand lag, aber Remo, der nun auch den Steg erreichte, kam ihm zuvor. »Ich spendiere dir ein Eis«, sagte er großspurig.

»Pah, wer will denn schon ein Eis?« Lisabetta machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Ich«, sagte Pippo und grinste.

»Keine Chance, Ziegenhirte.« Remo blickte Pippo verächtlich an und spuckte vor diesem aus.

»He! Nimm dich gefälligst zusammen!« In Marco kam sofort Wut hoch. Er konnte Remo nicht ausstehen. Nicht seine hochtrabende Art, seine andauernden Sticheleien gegen seinen besten Freund, und vor allem war es Marco ein Dorn im Auge, dass Remo sein Konkurrent um die Gunst von Lisabetta war.

Remo war zwei Jahre älter als sie, aber anstatt mit den Jungen in seinem Alter rumzuhängen, ging er ihnen auf die Nerven. Pippo und Marco waren sich einig: Remo war ein Feigling, der sich nur traute, gegenüber Jüngeren so große Töne zu spucken. Aber diese Erkenntnis half ihnen wenig, Remo hatte sich an ihre Fersen geheftet, und wann immer sie sich trafen, war er mit von der Partie.

»Marco, lass«, versuchte Pippo nun gutmütig zu schlichten. Aber Marco hatte sich schon aufgerichtet, die kleinen Fäuste zum Schlag bereit auf Remo gerichtet. Der ältere Junge war einen Kopf größer als er, hatte einen breiten Brustkorb und mehr Muckis – aber er war um einiges träger und weniger wendig als der kleine, drahtige Marco. Vor allem aber war Marco vollkommen furchtlos.

»Halt den Mund, Ziegenbock.« Remo schubste Pippo, so dass dieser um ein Haar vom Steg gefallen wäre. Anstatt sich zu wehren, drehte Pippo sich nur um und ging ein paar Schritte von Remo weg. Aber Marco sah rot. Er wollte Remo diese Schikane nicht durchgehen lassen! Doch bevor er zum Schlag ausholen konnte, stellte Lisabetta sich zwischen die beiden. Sie drehte Remo den Rücken zu und blickte Marco offen ins Gesicht.

»Ich will kein Eis, ich will, dass Marco mit mir zum Boot schwimmt. Auf die Plätze, fertig, los!«

Schon bei den letzten Worten rannte sie zum Ende des Stegs, und während Marco ihr perplex hinterherguckte, setzte sie zum Hechtsprung an. Als er das Platschen im Wasser hörte, gab es kein Halten mehr – Marco nahm die Beine unter die Arme und sah zu, dass er, so schnell wie es ging, hinter ihr herkam. Was Remo machte, war ihm völlig gleichgültig – er wusste, dass Lisabettas Wort auch für den Älteren Gesetz war, und wenn sie sagte, dass sie mit Marco zum Boot schwimmen wollte, dann tat selbst Remo gut daran, sich daran zu halten.

 

Mit dem Boot war das Fischerboot von Lisabettas Vater gemeint. Ein einfacher, blau lackierter Kahn mit dem Namen »Undine«. Es ankerte weiter draußen in der Bucht, Lisabettas Papa fuhr nicht jeden Tag in den Hafen zurück.

Marco fixierte Lisabettas Kopf, der dicht vor ihm schwamm und wie eine Boje auf den Wellen des türkisfarbenen Meeres auf und ab tanzte. Er schaffte es, sie noch einzuholen, bevor sie am Boot waren, und so schwammen sie beide nebeneinanderher. Ab und zu drehte Lisabetta ihm ihr Engelsgesicht zu und lachte. Dann nahm Marco einen Mund voll Meerwasser und spuckte ihn in hohem Bogen zu ihr hinüber. Lisabetta tauchte glucksend unter, ein paar Meter vor ihm wieder auf und zwinkerte ihm zu.

Marco konnte nicht genug davon kriegen, ihr zuzusehen, sie schwamm wie eine Nixe, und er stellte sich vor, dass sie, sobald sie das Boot erreichten, aus dem Wasser tauchen und ihre Beine und ihr Unterleib sich in den silbrig schimmernden Schwanz einer Meerjungfrau verwandelt haben würde. Er kannte die Geschichten, die ihm die Nonna immer erzählt hatte. Wie die Sirenen – Fabelwesen, die zur Hälfte Frau, zur Hälfte Fisch waren – Odysseus angelockt hatten. Von den Galli-Inseln aus, die direkt vor Amalfi lagen. Denn genau so fühlte Marco sich: von Lisabetta in einem Zauberbann gefangen.

 

Jetzt hatten sie beide den hölzernen Rumpf des Schiffes erreicht, und Lisabetta zog sich an einer Strickleiter vor ihm hoch. Ihr roter Badeanzug leuchtete in der Sonne, und Marco konnte den Blick nicht von den karamellfarbenen Beinen des Mädchens wenden. Er krabbelte hinter ihr auf das Deck des Bootes, und sie ließen sich nebeneinander in ein Gewirr von Tauen plumpsen. Es roch scharf nach Fisch und Muscheln, aber Marco störte der Geruch nicht, im Gegenteil. Die Taue waren rauh, aber dennoch gemütlich und von der Sonne aufgeheizt. Die Planken des Bootes ächzten leise im leichten Seegang, und neben ihm lag die Angebetete.

Marco und Lisabetta sprachen kein Wort. Sie lagen da in den sonnengetränkten Tauen und schwiegen, bis sich ihr Atem wieder beruhigt hatte. Marco merkte, dass er grinste, sicher sah er total dämlich aus, aber er konnte und wollte das Grinsen einfach nicht abstellen, so glücklich war er jetzt und hier. Da spürte er, dass Lisabetta nach seiner Hand tastete. Ihre weichen Mädchenhände fassten seine Finger und verschränkten sich mit ihnen.

Marco drehte den Kopf, und Lisabetta tat es ihm nach. Sie sahen einander in die Augen, wie lange, vermochte Marco nicht zu sagen, für ihn fühlte es sich an wie eine Ewigkeit. Irgendwann hörte er sich mit einem Kloß im Hals sprechen.

»Willst du mich heiraten?«

Und er sah, dass Lisabetta nickte.

Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und niemals war Marco glücklicher gewesen als in diesem Moment.

[home]

1.

München, Sommer 2018

Marco trank seinen Kaffee im Stehen und spürte, wie das schwarze Gebräu ihm schon Magenschmerzen verursachte, noch während es seine Kehle hinunterrann. Er war ein paar Minuten zu spät dran, im Geist ging er die Strecke ins Büro durch. Vor der Einfahrt in den Luise-Kiesselbach-Tunnel würde er im Stau stehen. So ein Mist.

»Papa, kannst du mich zur Schule mitnehmen?« Seine Tochter Sabrina sah ihn mit ihrem Hundeblick an. »Den Bus verpass ich bestimmt.«

»Sorry, aber wir haben heute ein wichtiges Meeting, Süße. Bin sowieso schon zu spät. Morgen, ich versprech’s.«

Marco gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und hörte sehr genau, wie die Sechzehnjährige »Du hast immer ein Meeting« murmelte, aber er wollte sich jetzt nicht auf fruchtlose Diskussionen einlassen.

Er strubbelte seinem Sohn Luis durch die Haare und war schon mit einem Bein aus der Wohnung.

»Menno!«, rief Luis ihm beleidigt hinterher. Der Elfjährige hatte seine Frisur sorgfältig mit »Professionel Styling Wax Matte« gestylt, und der blöde Papa machte mit seiner doofen Wuschelei alles zunichte!

 

»Was ist mit heute Abend?!«, hielt Gelis Stimme Marco auf. Heute Abend? Marco musste überlegen. Aber ihm fiel nichts dazu ein. Er hätte jetzt den Kalender im Blackberry checken können, aber dafür war er zu spät dran.

Seine Frau kam aus der Wohnküche zu ihm in den Flur. Sie sah wütend aus.

»Du hast es vergessen, richtig?«

»Nein!«, wehrte Marco sich halbherzig. »Absolut nicht. Geht alles klar mit heute Abend.«

»Was? Was geht klar?« Geli verschränkte die Arme vor der Brust und ging zum Angriff über. »Welcher Termin ist heute Abend? Komm, sag’s mir!«

Marco fühlte sich unwohl. Er wollte einfach schnell aus dem Haus, sich in sein Auto setzen und ins Büro fahren. Bei dem Meeting um neun ging es um einen sehr lukrativen Deal, da durfte nichts schiefgehen. Das Fiepen in seinem Ohr wurde wieder lauter.

»Geli, pass auf, ich hab’s grad nicht … aber ich check gleich meinen Kalender. Es klappt, okay?!«

Damit riss er die Tür auf, besann sich aber eines Besseren und machte noch einmal einen Schritt auf seine Frau zu, um ihr einen Besänftigungskuss zu geben. Aber Geli wich zurück. Marco machte, dass er aus dem Haus kam.

 

Mit Hilfe der Lichthupe, ein wenig Drängelei und rechts überholen schaffte es Marco gerade noch rechtzeitig, seinen Wagen in der Tiefgarage auf seinen persönlichen Parkplatz zu setzen. Im Lift nach oben ins Büro versuchte er, sich mental auf die Sitzung vorzubereiten, die in wenigen Minuten beginnen würde.

Ein Kasernengelände im Norden der Stadt wurde frei, und die Kanzlei Renke, Heinzmann & Cie., für die er als Immobilienanwalt tätig war, vertrat die Interessen eines saudischen Investors. Das Grundstück lag im heiß umkämpften Stadtrandgebiet von München – vor zwanzig Jahren hätte niemand in die Einöde dort ziehen wollen, aber mittlerweile waren die Ränder der Stadt immer weiter hinausgewandert, jetzt galt das, was früher »außerhalb« gewesen war, als attraktive Innenstadtlage. Das Gelände, um das es nachher gehen würde, war ein Sahneschnittchen.

Leider tendierte die Stadt dazu, diese Goldgrube Genossenschaften zu überlassen, die daraus sozialen Wohnraum schaffen wollten. So nett Marco diese Idee auch fand – das war völlig hirnrissig und sozialer Kitsch. Der Investor, für den er arbeitete, wollte auf dem Areal Büroräume und eine Shopping Mall bauen. Na gut, auch ein paar Luxusappartements, aber was zählte, war doch, dass die Gegend dadurch aufgewertet und vor allem Arbeitsplätze geschaffen wurden! Gewerbesteuern würden in die Kasse der Stadt fließen, und damit könnte man doch auch wieder soziale Projekte fördern.

Letzten Endes zählte für Marco allerdings vor allem eines: Bei einem erfolgreichen Abschluss würde sein Konto eine Null mehr vor dem Komma aufweisen.

 

Als er aus dem Lift in die lichtdurchflutete Eingangshalle der Kanzlei trat, wunderte er sich, dass der Empfang verwaist war. Es galt das ungeschriebene Gesetz, dass der Empfang immer besetzt zu sein hatte, und zwar von acht Uhr morgens bis Mitternacht. Solange hier Publikumsverkehr war. Tagsüber saßen immer zwei Empfangsdamen hinter dem gläsernen Tresen, Vroni und Aylin. Und jetzt war keine Menschenseele zu sehen. Das opulente Gesteck von Großblumen neben dem Empfang war wie immer frisch, irgendwo klingelte ein Telefon, aber kein Mensch war in der Nähe. Wenn Stefan das sieht, dachte Marco, dann rastet er aus.

Stefan Renke war der Seniorchef. Er war der Juniorpartner von Heinzmann gewesen und dann auf dessen Stuhl nachgerückt, als dieser im vergangenen Jahr mit knapp sechzig aus gesundheitlichen Gründen ausscheiden musste. Seitdem herrschte Stefan Renke allein über zwanzig angestellte Anwälte, und er tat das mit großer Autorität. Alle wussten, dass Renke an dieser Situation auch gerne weiterhin festgehalten hätte, aber die Statuten, die die Gründer der Kanzlei bei ihrer Entstehung vor vielen Jahren niedergelegt hatten, besagten, dass nach Ausscheiden eines der Chefs binnen eines Jahres eine zweite Führungskraft nachrücken musste.

So war es immer gewesen, und so sollte es auch jetzt gehandhabt werden.

In den Bürofluren wurde gemunkelt, dass der ausgeschiedene Heinzmann, den niemand mehr in der Kanzlei gesehen hatte, seit er mit einem Herzinfarkt von den Sanitätern aus der Kanzlei getragen worden war, diesbezüglich großen Druck auf Stefan Renke ausübte.

Marco hatte keine Ahnung, wann die Frist für die Besetzung des zweiten Chefsessels auslief. Er wollte den Job nicht geschenkt haben. Zwar hätte er deutlich mehr Geld, Macht und Ansehen bedeutet, aber mit Renke zusammenarbeiten, das konnte niemand ernsthaft wollen. Der Mann war ein autoritärer Choleriker. Wenn der seine Brüllattacken bekam, duckten sich alle in seiner näheren Umgebung unter den Tisch. Die ganze Kanzlei wusste, wem Ex-Chef Heinzmann seinen Infarkt zu verdanken hatte.

 

»Herzlichen Glückwunsch!«

Marco blieb fast das Herz stehen, als er die Tür zu seinem Büro öffnete. In dem kleinen Raum drängelten sich ausnahmslos alle Kollegen, ein Champagnerkorken flog knapp an seinem linken Ohr vorbei, und die Lautstärke des aus dreißig Kehlen geschmetterten Glückwunsches trieb ihn fast wieder rückwärts aus der Tür.

»Marco!« Stefan Renke stand vorne in der Mitte der Versammelten, er hatte die Arme ausgebreitet, die sprudelnde Champagnerflasche in der Hand, und grinste wie ein Wolf. Graue Kurzhaarfrisur, Hawaii-Bräune, weißes Hemd, Designer-Jeans, Rolex und irgendwelche supercoolen Sneakers – US-Import, versteht sich – komplettierten das Bild, das Stefan so gerne von sich zeichnen wollte. Der total lässige Chef, den alle duzen durften. Er hatte sich sein Image aus der Werbebranche abgeschaut. Tatsächlich war er hinter der blendenden Fassade ein furchtbarer Despot.

»Mein Lieber«, Marco blieb steif wie ein Stock, während sein Boss ihn umarmte, als wollte er ihn in einen Schraubstock zwingen, »ich gratuliere dir!«

Renke goss Champagner in ein Glas und reichte es Marco.

»Ich habe doch heute gar nicht Geburtstag.« Verdattert nahm Marco das Glas entgegen. Allein bei einem Blick auf die perlende Flüssigkeit am Morgen zog sich sein Magen zusammen. Marco hatte den Kaffee schon nicht vertragen, zu viel Säure, er würde gleich mal eine Tablette einschmeißen müssen. Stattdessen stieß er mit seinem Chef an und nippte brav an der perlenden Flüssigkeit. Er fragte sich, was hier eigentlich gefeiert werden sollte, er war auf das Meeting eingestellt, und ein Blick auf seine Kollegen verhieß irgendwie nichts Gutes. Sie lächelten ihn zwar alle an, aber aufrichtig erfreut schien keiner von ihnen.

Aber Stefan Renke ließ ihn nicht länger im Ungewissen. Er legte Marco den Arm um die Schulter und drehte sich mit ihm zu seinen Angestellten.

»Darf ich euch vorstellen – der neue Chef an meiner Seite, Marco Pantanella!«

Augenblicklich bekam Marco weiche Knie – er?! Warum ausgerechnet er?! Verdammter Mist!

»So eine Chance bekommt man nur einmal im Leben«, hörte er Stefan neben sich posaunen, »und ich bin sicher, dass die Wahl auf den richtigen Mann gefallen ist. Marco hat nicht nur die Kompetenz, er hat auch den Biss, den ein Anwalt in unserer Branche unbedingt braucht …«

Marco konnte kaum zuhören. Er ließ Stefans Rede an sich vorüberziehen, spürte das Sodbrennen in seiner Kehle, den lauten Ton im Ohr und überlegte, wie er, um Himmels willen, aus dieser Nummer herauskommen sollte. Wahrscheinlich gar nicht. Oder so wie Heinzmann, mit den Füßen voran.

Jetzt bemerkte er, dass seine Kollegin Nathalie, die Ehrgeizigste unter ihnen, ihn zuckersüß anlächelte und ihr Champagnerglas ein wenig hochhob. Marco nickte ihr zu. Aber dann, als Nathalie sicher sein konnte, dass Stefan Renke nichts davon bemerkte, streckte sie ihm die Zunge raus. Marco zuckte nur mit den Achseln.

»So, Kompagnon«, Renke haute ihm auf die Schulter, »jetzt wollen wir ein paar Worte von unserem zukünftigen Leader of the pack hören.«

Er trat einen Schritt von Marco weg, verschränkte die Arme und grinste wölfisch.

Marco räusperte sich und hob dann aus dem Stegreif zu einer Rede an. Für ihn als Anwalt war das kein Problem. Er war schnell im Kopf, eloquent und fand in jeder Situation die richtigen Worte. Marco sprach davon, wie sehr er sich geehrt fühlte, welch großartige Herausforderung die neue Position für ihn darstellte und dass es die Krönung seines noch jungen Lebens sei. Alles Lügen, gespickt mit ein paar netten Scherzen. Auch das beherrschte er als Anwalt aus dem Effeff.

Zum Schluss applaudierten alle, und dann machte Stefan Renke unmissverständlich klar, dass die Veranstaltung beendet war und jeder husch, husch an seinen Arbeitsplatz zurückkehren sollte.

Die Kollegen verließen das Büro und gaben Marco jeder noch einmal die Hand. Einige beglückwünschten ihn, aber er hörte durchaus heraus, dass man ihn eher bemitleidete als beneidete. Einzig Nathalie sprach offen aus, was alle, Marco inklusive, dachten: »Mein Beileid.« Dann zog sie mit einem süffisanten Lächeln an Marco vorbei.

Als alle Angestellten das Büro verlassen hatten, schloss Stefan Renke hinter ihnen die Tür und nahm auf Marcos Bürostuhl Platz. Er legte die Füße auf den Tisch, nahm das Familienfoto, auf dem Geli, Sabrina und Luis abgebildet waren, musterte es leicht spöttisch und sagte: »Jetzt hast du es geschafft, Marco.«

»Warum heute?« Marco nahm seinen Chef und neuen Partner ins Visier. Der grinste breit.

»Die Frist läuft morgen ab. Deshalb.«

»Nicht sehr schmeichelhaft.« Marco hatte so etwas schon geahnt. Stefan hatte also aus Not gehandelt und ihn nicht aus freien Stücken geadelt. »Warum ich? Und warum vor dem Meeting? Du hättest ja auch bis danach warten können. Was, wenn es nicht gut läuft? Und überhaupt: Wann ist das Treffen?«

Das Grinsen wich nicht aus Renkes Gesicht, aber er nahm die Beine vom Schreibtisch und erhob sich. »In einer Stunde.« Er zwinkerte Marco zu. »Ich wollte den Druck erhöhen. Als neuer Chef kannst du es dir einfach nicht leisten, es zu vermasseln.«

Damit ging er zur Tür. Als er das Büro schon fast verlassen hatte, drehte er sich in der offenen Tür noch einmal um. »Ach ja – ich habe gewürfelt. Ganz einfach. By the way, es werden 50000 Euro Einlage fällig. Das dürften ja Peanuts für dich sein.«

Damit schloss er die Tür hinter sich und ließ Marco allein zurück.

Marco ging zum Fenster. Es ließ sich nicht öffnen, sie befanden sich in der 13. Etage. Aber er blickte über die Silhouette der schönen Stadt, weit hinten am Horizont zeichnete sich die Bergkette der Alpen ab. Es war Föhn, und man konnte die Gipfel von Karwendel-, Rofan- und Wettersteingebirge gut erkennen.

Stefan hält sich für einen ganz harten Hund, dachte Marco. Aber er war fest entschlossen, noch härter zu sein. Er würde sich nicht aus der Position mobben lassen, falls Stefan das vorhatte. Klar, Marco hatte den Chefposten nicht gewollt. Aber jetzt war es so, und einen Job wie diesen zu verweigern wäre dem Ende seiner Karriere gleichgekommen. Er würde es packen, motivierte Marco sich. Er würde den Kampf aufnehmen und sich gegen Stefan Renke durchsetzen. Er würde das Meeting, das gleich anstand, zum Erfolg führen, sie sollten alle sehen, was er auf dem Kasten hatte.

Jetzt musste er Geli nur noch erklären, warum er 50000 Euro aus ihrem gemeinsamen Vermögen abziehen musste. Bei dem Gedanken daran, wie seine Frau darauf reagieren würde, zog sich sein gestresster Magen gleich noch mehr zusammen. Marco schmiss eine Tablette ein und nahm sich vor, einen Termin bei seiner Ärztin zu vereinbaren. Wenn der Stress nachließ.

 

Es war kurz nach sieben, als er das Bürogebäude durch die Tiefgarage verließ. Er war heute früher auf dem Heimweg als normalerweise, was einzig und allein an dem Meeting gelegen hatte. Obwohl er sein Bestes gegeben hatte, konnten die Vertreter der Stadt von den Plänen des Investors nicht richtig überzeugt werden. Die Stadträtin war eine Grüne, sie hatte sich über die Shopping Mall aufgeregt, obwohl die Architektin in vorauseilendem Gehorsam sehr schicke hängende Gärten in ihren Entwurf integriert hatte.

Der Stadtbaurat hatte weniger Bauchschmerzen als seine Kollegin gehabt, aber offensichtlich unter ihrer Fuchtel gestanden. Marco und sein Assistent hatten sie mit Zahlen bombardiert, sie konnten das Wirtschaftswachstum, die steigenden Gewerbeeinnahmen und die prognostizierten neuen Arbeitsstellen super belegen, aber es hatte nicht gereicht, um die Leute von der Stadt vollkommen zu überzeugen. Immer wieder hatte die Stadträtin darauf verwiesen, dass es ja nur ein Info-Gespräch sei, schließlich gab es eine offizielle Ausschreibung, da entschied man sich nicht off the record. Und so waren sie dann auch beim Abschied verblieben: Man würde voneinander hören, die Ausschreibung lief noch, die Stadt würde erst in zwei Monaten bekanntgeben, wer den Zuschlag für das Filetgrundstück bekommen würde.

 

Die Investoren waren damit ganz und gar nicht zufrieden. Ausschreibungen hatte es immer schon gegeben, aber man hatte früher doch auch Mittel und Wege gehabt, die entscheidenden Politiker zu »überzeugen«! Marco redete mit Engelszungen, um den Geschäftspartnern klarzumachen, dass diese Art der Überredungskunst allenfalls noch bei der Vergabe der Fußballweltmeisterschaft zum Tragen kam, andernorts aber eine neue Policy herrschte. Er gab sich felsenfest sicher, dass man in zwei Monaten den Zuschlag von der Stadt erhalten würde, und solchermaßen halb besänftigt zogen die Investoren von dannen. Marco indes glaubte kein Wort von dem, was er behauptet hatte.

 

Gemächlich glitt der Wagen über die Donnersbergerbrücke in die helle Sommerabendsonne, und Marco bekam urplötzlich Lust, in den Biergarten zu gehen. Wann war er das letzte Mal dort gewesen? Am Flaucher oder in der Waldwirtschaft? Das musste Jahre her sein. Er konnte sich nicht einmal daran erinnern. Als er noch im Studium gewesen war und Geli kennengelernt hatte, hatten sie fast jeden Abend auf den hellen warmen Steinen an der Isar gesessen. Mit Freunden gegrillt, Bier getrunken, manchmal nackt gebadet. Später, als sie beide im Referendariat waren, junge aufstrebende Anwälte, joggten sie abends nach dem Büro gemeinsam im Englischen Garten oder an der Isar entlang. Und dann wurde Sabrina geboren. Irgendwann um den Zeitraum musste es aufgehört haben. Geli blieb zu Hause, ihr Anwaltstraum war ausgeträumt. Und er, Marco, arbeitete für zwei.

 

Sechzehn Jahre, dachte Marco nun, während er durch die Tunnel in Richtung Garmischer Autobahn fuhr, sechzehn Jahre mehr oder weniger ohne Freizeit. Noch während er diesem traurigen Gedanken nachhing, begann sein Herz wieder heftig zu klopfen. Der Kaffee, dachte Marco. Ich sollte wirklich damit aufhören. Und wieder mit dem Joggen anfangen. Aber wann? Ob Geli noch lief? Er wusste es gar nicht. Auf der Autobahn beschleunigte er, drückte den Fuß auf dem Gaspedal bis zum Anschlag durch und nahm auf der linken Spur Kurs auf den Starnberger See.

Als er zu Hause ankam, lief der Fernseher. Sabrina und Luis saßen in stummer Eintracht vor irgendeiner amerikanischen Sitcom, der Kleinere wie hypnotisiert, die Ältere chattete auf ihrem Smartphone. Er begrüßte die Kinder, sie drehten sich nicht mal nach ihm um. Marco warf einen Blick in die offene Küchenzeile, Kartons von Tiefkühlpizza ließen keinen Zweifel daran, was die Kinder zum Abendbrot gehabt hatten.

Marco ärgerte sich. Wie oft hatte er Geli gesagt, dass er Wert auf gute Ernährung legte?! Dass sie so etwas überhaupt im Haus hatten! Verächtlich warf er die Kartons in den Papiermüll.

 

Beim Essen kamen seine italienischen Wurzeln, an die er sich sonst kaum noch erinnerte, durch. Wehmütig dachte er daran, was es zu Hause zu essen gegeben hatte. Auch nach dem Tod der Nonna. Seine Mutter war eine ebenso hervorragende Köchin gewesen, sie stand den Frauen der Familie Pantanella in nichts nach. Gnocchi mit Lammragout, gegrillte Auberginen auf Crostini, mit Hackfleisch gefüllte Zucchiniblüten, kräftige Brühe mit Kräuter-Crespelle, Risotto mit Erbsen – was immer Marco gerne aß, stand auf dem Tisch. Am liebsten hatte er es, wenn in der Erntesaison die langgestreckte Tafel inmitten der Zitronenbäume aufgestellt wurde. Weiße Bettlaken wurden zu Tischtüchern umfunktioniert und eine dampfende Schüssel mit Leckereien nach der anderen auf die Tische gestellt. Dann saßen sie alle zusammen, die Familie Pantanella, die Erntehelfer, Sergio und sein Sohn Pippo und natürlich auch der Zitronenhändler Paolo Lamarttine, den Vater Raffaele so lange als Esel und Geizhals beschimpfte, bis er und Paolo sich angetrunken in den Armen lagen und davon schwärmten, dass früher alles besser gewesen sei.

Diese Art der Gastfreundschaft und des Mit-Essen-verwöhnt-Werdens hatte Marco kaum noch erlebt, seit er von zu Hause weggegangen war. Als Student in WG-Zeiten hatten er und Geli manchmal versucht, diese schöne Tradition gemeinsam aufleben zu lassen, aber Geli verstand nichts vom Essen und noch weniger vom Kochen, so dass die Mahlzeiten jedes Mal damit endeten, dass sie irgendwo Pizza holten.

Dass Geli sich aber als Mutter kaum Mühe gegeben hatte, die Kinder mit Essen zu verwöhnen, brachte Marco zur Weißglut. Warum schaffte sie es nicht, den Kindern etwas Selbstgekochtes auf den Tisch zu stellen?! Etwas Richtiges, nicht Kartoffelbrei aus der Tüte und Fischstäbchen, Luis’ Lieblingsessen. Auch die Pasta, die Geli manchmal kochte, widerte ihn an. Schinken-Sahne-Soße, so ein Pampf. Sie war doch den ganzen Tag zu Hause!

In Marco kochte Wut hoch, im Ohr fiepte es, der Magen krampfte, und das Herz galoppierte.

»Wo ist die Mama?«, rief er zu den stummen Kindern hinüber.

»Weg.« Sabrina blickte nicht einmal von ihrem Handy hoch.

»Was heißt weg? Wo denn?«

»Keine Ahnung.« Sabrina tippte weiter. »Irgendwo hat sie ’nen Brief für dich hingelegt.«

Marco schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich war das der Termin, an den sie ihn heute früh erinnert hatte. Er sah sich um. Tatsächlich, auf der Kaffeemaschine lag ein Brief. Kein Zettel, sondern tatsächlich ein Brief in einem Umschlag. Seltsam.

Marco nahm den handgeschriebenen Brief aus dem Umschlag und begann zu lesen. Noch während seine Augen hastig die ersten Zeilen überflogen, schwante ihm, dass dies kein Liebesbrief war …

Marco,

ich nehme an, dass Du keinen Schimmer hast, wo ich bin. Du hast Dir den Termin zwar vor ein paar Wochen in Dein blödes Blackberry eingetragen, aber da es sich nicht um ein Meeting handelt, hast Du ihn bestimmt nicht als »wichtig« markiert. Und deshalb vergessen. Das habe ich Dir heute Morgen angesehen, als Du es nicht mal fertiggebracht hast, mir zu sagen, dass Du keine Ahnung hast, wovon ich rede. Sogar dazu bist Du zu feige!

Ich bin bei Anjas 40stem Geburtstag. Sie hat uns vor Wochen dazu eingeladen. Ich habe mir extra ein Kleid dafür gekauft. Ich habe es Dir gezeigt, aber Du hast kaum hingeguckt. Trotzdem hast Du »super« und »sehr schön« gesagt. Verlogen und feige.

Falls Du es vergessen hast: Anja ist meine beste Freundin. Ich war mit ihr in der Schule, und ihr runder Geburtstag ist mir wirklich wichtig. Ich habe mich seit langem darauf gefreut, ich habe zusammen mit Nina sogar einen Song für Anja gedichtet, den wir heute Abend für sie singen werden. Vielleicht jetzt, in dieser Minute, während Du den Brief liest.

Denn während ich den Brief schreibe, weiß ich schon, dass Du nicht an meiner Seite sein wirst. Ich werde alleine zu der Feier gehen, wie ich in den letzten Jahren überall alleine hingegangen bin. Und Dich immer entschuldigt habe.

Weil Du gearbeitet hast.

 

Aber heute wird alles anders sein. Heute werde ich an Anjas Geburtstag singen. Und ich werde tanzen und trinken und fröhlich sein. Und: Ich werde Dich nicht länger entschuldigen.

Denn ich will die Scheidung.

Es wird einmal so laufen, wie ich es mir vorstelle, und das wird so sein:

Ich übernachte hier in Schloss Berg, wo Anja feiert. Ich habe einen großen Koffer mitgenommen, weil ich morgen zusammen mit Anja und Nina nach Mallorca fliege. Für zwei Wochen. Einfach so, nur wir drei. Ich werde nicht an mein Telefon gehen, und die Adresse gebe ich Dir auch nicht.

Wenn ich zurückkomme, bist Du aus dem Haus verschwunden.

Unser Trennungsjahr beginnt.

Du wirst Dich in den nächsten vierzehn Tagen also um alles kümmern müssen: einkaufen, kochen, die Wäsche machen, die Katzen füttern, den Rasen mähen, den Müll rausbringen. Luis zum Kieferorthopäden fahren und ins Hockey-Training. Sabrina zum Reiten bringen und zum Klavierunterricht.

Dabei war ich noch gnädig – Luis geht auf Klassenfahrt, und dann sind Ferien.

Aber das weißt Du ja alles – oder etwa nicht???

Dann wird es Zeit, dass Du es lernst!

 

Angelika

Marco starrte auf den Brief. Er sah die Zeilen, erkannte die Buchstaben, aber er verstand ihren Sinn nicht. Geli wollte sich scheiden lassen? Aber warum, wieso so plötzlich? Wer hatte ihr denn diesen Floh ins Ohr gesetzt? Von alleine war sie bestimmt nicht auf die Idee gekommen – sie hatte doch alles!

Marco legte den Brief zur Seite und öffnete eine Flasche Rotwein. Er schenkte sich ein Glas ein und trank ein paar hastige Schlucke. Wie gerne hätte er jetzt geraucht, er hatte irgendwie das Gefühl, dass ihn das beruhigen würde – auch wenn er normalerweise gar nicht rauchte.

Er blickte zu den ahnungslosen Kindern hinüber, die noch immer gebannt auf den großen Bildschirm beziehungsweise das Handy starrten.

Tausend Gedanken auf einmal schwirrten durch Marcos Kopf, er war nicht in der Lage, auch nur einen von ihnen festzuhalten und in Ruhe darüber nachzudenken.

Hatte Geli einen anderen?

Liebte er seine Frau überhaupt noch?

Wie sollte er es den Kindern sagen?

Was sollte er in den nächsten zwei Wochen mit ihnen machen?