Ein Spiegel aus Gold und Blut - Yola Stahl - E-Book

Ein Spiegel aus Gold und Blut E-Book

Yola Stahl

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Beschreibung

Ihr wurde die Krone genommen – und sie wird alles tun, um sie zurückzuholen. Ewiges Eis hat sich über das Land der Rosen gelegt und Blut mit Schnee bedeckt. Gewaltsam herrscht die Kristallkönigin Mirall über das unterworfene Volk der Rosen. Während Prinzessin Neviri von einem friedlichen Leben an der Seite ihres Geliebten träumt, versinkt die gefallene Thronfolgerin Ankáthia in Rachegelüsten gegen die Königin. Nur eine geheimnisvolle Stimme in ihrem Kopf schenkt ihr seltene Momente der Ruhe. Als Neviri und Ankáthia einen verbotenen Hexen-Zirkel zerschlagen sollen, geraten sie in eine Falle, die all ihre Pläne zerstört. Im Hungrigen Hain liegt die Lösung ihrer Probleme, doch der verzauberte Wald birgt ein Geheimnis, das alles verändern kann. Die beiden Schwestern müssen sich entscheiden: Krone oder Schicksal? “Schneeweißchen und Rosenrot” als märchenhafte Dark Fantasy Adaption mit fantastischem Worldbuilding, poetischem Spice und Tarot-Magie. Für Fans von “Snowwhite And The Huntsman”, “Frozen”, “Maleficent”, “Loki” & “Agatha All Along”. Inhalte und Tropes - Dark Fantasy - Casual Queer - Bi- & Poly-Repräsentation - Tarot - Beautiful Spice - Verwunschener Wald - Zwei unterschiedliche Schwestern - Schneeweißchen und Rosenrot - Shadow Daddy - Böse Königin - Stimme im Kopf - Hohes Re-Read Potenzial - Prolog und Epilog

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum

Impressum

© 2025 Yola Stahl

ISBN

9783819423062

Lektorat

Mina Bekker

Korrektorat

Ricarda Seidl

Cover, Illustrationen und Buchsatz

Yola Stahl

Stockbilder

Shutterstock

Kontakt GSPR

Yola Stahl

Obere Gartenstraße 14

64646 Heppenheim

Ausschluss KI-Nutzung

Dieses Buch ist ohne den Einsatz von generativer KI entstanden.

Es ist ausdrücklich untersagt, dieses Werk oder Teile davon ohne vorherige schriftliche Genehmigung der Autorin für folgende Zwecke zu nutzen:

Automatisiertes Text- und Datamining (einschließlich KI-Training und maschinellem Lernen)

Erstellung von Datenbanken oder Modellen

Jegliche Form der automatisierten Verarbeitung oder Analyse

Für alle, die den Bären wählen.

Vorwort

Liebe Leserin,

es freut mich sehr, dass du »Ein Spiegel aus Gold und Blut« lesen willst.

Du hältst hier nicht nur ein Buch in den Händen, sondern den Auftakt der »Bizarre Magie und verzauberte Herzen«-Reihe. Dieses Buch ist eine Landkarte, ein Fahrplan, ein Rätsel und manche Antworten wird es erst in einigen Jahren geben. Falls du ganz tief in meine Welt eintauchen willst, findst du am Ende des Buchs eine Tafel, mit der du einige der Texte im Buch übersetzen kannst.

»Ein Spiegel aus Gold und Blut« ist eine düstere Geschichte und taucht in die Abgründe einer gequälten Seele hinab. Auf diesen Seiten lege ich eine schmerzende Wahrheit offen: Manchmal sind wir selbst unser schlimmster Feind und tun die falschen Dinge aus der richtigen Motivation heraus.

Das zu erkennen, tut weh. Es reißt neue und alte Wunden auf. Lies »Ein Spiegel aus Gold und Blut« bitte nur, wenn du dich dazu in der Lage fühlst. Mach Pausen und leg das Buch zur Seite, wenn es dich zu sehr belastet.

Falls dir die Geschichte gefallen hat, würde ich um eine Bewertung auf den gängigen Portalen bitten. Du unterstützt mich damit sehr.

Dann wünsche ich dir eine spannende, wendungsreiche und heilsame Zeit mit »Ein Spiegel aus Gold und Blut«.

Deine

Yola Stahl

Content Notes

Achtung, die Content Notes spoilern!

»Ein Spiegel aus Gold und Blut« enthält folgende Themenkomplexe und Handlungen, die eventuell bedrückend und/oder retraumatisierend wirken können. Bitte achte auf dich und lies das Buch nur, wenn du dich dafür bereit fühlst.

- Blut, Gewalt und Tod

- ermordete Eltern

- Sekte

- Drogenkonsum

- Rituale

- Trauma / Panikattacke

- Machtmissbrauch

- Demütigung

- Folter

- toxische Beziehung mit sexuellem Missbrauch

- Geiselnahme

- Sex

- ableistischer Begriff (Krüppel)

Sollten dir noch weitere Inhalte auffallen, die als Content Notes gelistet werden sollten, schreib mir gerne eine Mail an kontakt(at)birkenherz.de.

EIN TROPFEN BLUT IM ASCHEMEER

ES BLÜHT DIE ROSE FOLGENSCHWER

DER SPIEGEL BRICHT, DAS HERZ ERBEBT

WENN SICH DIE HERRSCHERIN ERHEBT

Prolog: Blutmond – Ankáthia

In der Nacht, in der Prinzessin Ankáthia alles verlor, stand ein Blutmond am Himmel.

Sie wartete mit ihrer Schwester am Eingang des Tempels der Sehenden Göttin und trat von einem Fuß auf den anderen. Das letzte Sonnenlicht verblasste und die heilige Nacht des Mondes brach herein.

Ankáthia sah auf. Aus dem roten Auge strömte Rubinlicht, das die Welt mit seinem Rost überschwemmte. Ein magisches Schauspiel, das sich alle zehn Jahre wiederholte und überall im Land mit großen Festen voller Freudenfeuer und gutem Essen gefeiert wurde. Doch Ankáthia erwartete ihre eigene Feierlichkeit.

Die glatten Tempelwände strahlten die Hitze des Tages ab und in der Luft lag der Geruch von herannahendem Regen. Der Wind frischte auf und ließ die roten Federn ihres Ritualgewandes um Ankáthias Beine flattern. In der Ferne kündigten Wetterleuchten und dumpfes Grollen ein Sommergewitter an. Klagend rief ein Uhu aus dem Wald.

Ihr magisches Herz flatterte aufgeregt auf.

Ankáthia presste ihre Lippen fest aufeinander und legte kurz eine Hand auf das klopfende Solcridh in ihrer Brust. Unter ihren Fingerspitzen pulsierte Magie.

Das Herz im Herz …

“Du schaffst das.” Die Stimme ihrer Schwester wurde von einem kühlen Händedruck begleitet.

Ankáthia erschauderte.

“Ja, ich weiß, Neviri.” Sie zog sich aus der tröstenden Berührung, streckte das Kinn vor und funkelte ihre Schwester durch die Maske des Gehörnten Rabe an. “Ich wurde dafür geboren.” Die Federn des Kragens kitzelten sie im Nacken und die schwarze Schminke brannte in ihren Augen, aber sie blinzelte die Tränen weg. “Der Hohepriester verkündete es: Ich sehe.”

Neviri verschränkte die Finger ineinander und runzelte die Stirn. “Ich erinnere mich daran, was Vater gesagt hat. Ich war dabei.” Sie sah zu der angelehnten Tür. “Aber ich weiß auch, dass er gesagt hat, dass du sehr jung erwählt wurdest. Es geschieht einen Blutmond zu früh. Deine Zeit ist erst in zehn Jahren.”

Ankáthia schnaubte leise. “Denkst du, dass ich mit sechzehn Jahren zu jung für die Weihe bin? Bist du etwa neidisch?” Ihre Stimme klang schärfer, als beabsichtigt.

“Nein, natürlich nicht.” Neviri seufzte leise. “Aber fühlst du dich dafür bereit?”

“Andere in unserem Alter tragen bereits Fürstenkronen.” Ankáthia wich dem Blick ihrer Schwester aus. “Nach dieser Nacht werde ich eine Priesterin der Sehenden Göttin sein. Und wenn ich mich würdig erweise, kann mir Mutter den Thron nicht länger vorenthalten. Ich werde die erste Priesterkönigin seit Jahrhunderten sein!” Ihre eigene Stimme hörte sich so entfernt und fremd an.

Ankáthia dachte an die Königin, an den strengen Gesichtsausdruck ihrer Mutter, als sie ihr gestern überraschend die Weihe verkündet hatte.

Der erste Schritt zu deiner Krone, Prinzessin Ankáthia.

Der erste Schritt zu deinem Thron.

Zeige dich deinem Schicksal würdig.

Sie ballte die Hände zu Fäusten.

Schicksal ...

Das war so ein großes Wort, beängstigend wie ein dunkler Wald, in dem sie sich verlaufen hatte. Es machte ihr Angst. Neviri hingegen schien es nicht zu bedrücken.

Weil sie es nie verstehen wird.

Unbekümmert und naiv tanzt sie an Bären und giftigen Dornen vorbei, während ich mich um einen sicheren Weg für uns beide sorge.

Aber das ist die Bürde der Erstgeborenen.

Genauso wie die Krone.

Ankáthia sah auf ihre Hände nieder, fuhr mit dem Blick jedes geschwungene Symbol nach, das die Rosenhexen auf ihre Haut aufgemalt hatten. Es waren Gebete an die Sehende Göttin, gute Wünsche und Segenssprüche.

“Du wirst bestimmt eine gute Königin“, sagte Neviri leise. “Und ich werde dich dabei immer unterstützen und versuchen, dir eine Hilfe zu sein.”

Ankáthia hob den Blick und sah ihrer jüngeren Zwillingsschwester in das bleiche Gesicht. Neviri trug ein weißes Kleid, bestickt mit weißen Kristallen. Ihr silbernes Haar fiel in mehreren kunstvoll geflochtenen Zöpfen um das schmale Gesicht und flutete über ihre Schultern. Stirn und Ohren waren mit Schmuck in Form von Mondsicheln und Sternen geschmückt. Es wirkte, als hätte sich Neviri in ein Stück Sternenlicht gehüllt. An jedem anderen hätte die Kleidung kühl und distanziert gewirkt, aber Neviri schaffte es, mit ihrem Lächeln selbst die Nacht zum Strahlen zu bringen.

Ankáthia würde es niemals zugeben, aber um diese Fähigkeit beneidete sie ihre Schwester zutiefst.

Ihr fliegen die Herzen der Menschen einfach so zu.

Ich hingegen muss um jede Zuneigung kämpfen.

Ankáthia sah an sich hinab. Mit dem roten Federkleid und der schwarzen Maske des Gehörnten Raben verkörperte sie diese Blutmondnacht. Granat-Rosen in ihrem schwarzen Haar verströmten einen süßlich-schweren Duft.

Neviri ist hinreißend.

Ich bin unheimlich.

Aber vielleicht muss ich das auch sein.

“Du siehst wunderschön aus”, sagte Neviri, als hätte sie die zweifelnden Gedanken gehört. “Geheimnisvoll und mystisch, wie die Sehende selbst.”

Im Tempel erhob sich der Klang von Trommeln und die ferne Ahnung eines Gesangs.

Neviri starrte gebannt auf das Portal. “Es hat begonnen. Sie holen uns bestimmt bald.” Die Stimme ihrer Schwester zitterte. Unentwegt spielten ihre Finger mit den silbernen Ketten, die sich um ihre Handgelenke schlangen.

Ankáthia holte tief Luft. “Du musst nicht mitkommen.”

“Wirklich nicht?”

Die Erleichterung in ihrer Stimme verletzte Ankáthia mehr, als sie erwartet hatte, aber sie konnte ihre Kühle bewahren. “Ja, es ist in Ordnung. Ich kann allein gehen.”

Neviri fingerte an ihrem Schmuck herum. “Ich wollte dich schon begleiten, es ist nur  … Alamyr hat mich gewarnt, dass das Ritual anders wird.”

Ankáthia wusste, was sie meinte. Terniv und Alamyr waren Tag und Nacht. Genauso wie ihre Töchter. Sie fragte sich immer wieder, warum sich ausgerechnet diese zwei unterschiedlichen Männer in Königin Levka – und ineinander – verlieben konnten.

“Wollte er kommen?”

“Ich weiß es nicht.” Neviri zuckte mit den Schultern. “Alamyr sagt, diese Dinge sind nicht für unsere Augen bestimmt. Ich glaube, er wollte nicht, dass ich hierherkomme. Aber Mamá hat es mir erlaubt. Sie meinte, es ist wichtig, dass ich verstehe, warum du die Weihe der Sehenden Göttin empfängst.”

“So kompliziert ist das nicht, oder?” Ankáthia zog eine Augenbraue hoch. “Wir haben unterschiedliche Väter aus unterschiedlichen Häusern. Ich gehöre zum Volk der Rosen, du zum Haus des Kristalls. Aber das wissen wir doch beide.”

“Ja.” Neviri lächelte schwach. “Und doch hat Mamá uns in der gleichen Nacht geboren.”

Ankáthia grinste. “Du wirst trotzdem immer meine kleine Zwillingsschwester sein, egal, wie sehr du noch wächst.”

Neviri lächelte. Sie überragte Ankáthia bereits um gut einen halben Kopf. Die Prinzessinnen kicherten. Wieder schrie der Uhu. Schlagartig verstummten beide und starrten in die Dunkelheit des Waldes. Das Rauschen der Bäume wurde immer lauter, der Sturm rückte unaufhaltsam näher. Ankáthia fröstelte.

“Hat Terniv dir erzählt, was passieren wird?”, fragte Neviri leise.

Ankáthia schüttelte den Kopf und rückte sich die schwere Vogelmaske zurecht. “Er nimmt seine Rolle als Hohepriester der Sehenden Göttin sehr ernst.” Sie verdrehte die Augen. “Alles zu seiner Zeit!”, äffte sie ihren Vater nach und winkte dann ab. “Aber du kennst die Magie der Rosenhexen ja. Karten und Pendel, Blut und Fäden. Ich werde mich wahrscheinlich mit einem Messer schneiden und einen Knoten knüpfen. Vielleicht muss ich ein Orakel legen, um mich zu beweisen. Also nichts Wildes.”

Neviri starrte sie mit großen Augen an. Für sie schien es sehr wohl etwas Wildes zu sein. “Hast du wirklich keine Angst?”

“Nein”, log Ankáthia. “Ich wurde dafür geboren.”

“Ja, das wurdest du.” Neviri klang seltsam traurig und unvermittelt fasste Ankáthia nach ihren kalten Händen.

“Du findest noch deine Magie, Viri. Ich war sehr früh dran, was die Erweckung meiner Blutlinie angeht. Du hast noch Zeit.”

“Tante Mirall sagt, dass sie und Mamá schon mit zehn Jahren erwacht sind. Du mit elf. Jetzt sind wir sechzehn. Und bei mir ist … nichts. Was ist … Was ist, wenn ich gar keine Magie in mir trage?!” Die Verzweiflung in Neviris Stimme traf Ankáthia unerwartet hart.

Du machst dir nicht nur Sorgen, du hast Angst.

“Es gibt verschiedene Wege, um Magie zu lenken.” Sie versuchte, ihre Schwester zu trösten. “Magnisia-Tattoos, Ringe, Artefakte. Aber …” Ankáthia verstärkte den Griff um die zitternden Finger ihrer Schwester. “Du wirst das alles nicht brauchen, denn ich weiß, dass in dir Magie schlummert. Sie muss nur aufgeweckt werden. Und dann wirst du die größte Blutlinien-Magierin aller Zeiten!”

Neviri lächelte schuldbewusst. “Es tut mir leid. Das hier ist deine große Nacht. Und ich jammere über meine Magie.”

“Du bist hier. Das ist, was ich mir gewünscht habe.”

Und dass du mich auf meinem Weg begleitest.

Du hast es mir versprochen.

Aber dann werde ich allein gehen.

Wie immer.

Neviri presste zerknirscht die Lippen zusammen und Ankáthia taten ihre harschen Gedanken leid.

Du hast einfach nur Angst. Und ich kann dich verstehen.

Sie ließ ihre Schwester los und hob eine Hand an. “Bist du bei mir, Viri?”

Ohne zu zögern, legte Neviri ihre Handfläche auf Ankáthias. Sie erschauderte kurz, so kalt waren Neviris Finger.

“Ich bin bei dir, Thia.”

Wieder rief der Uhu und beide zuckten zusammen.

“Verdammter Vogel!”, zischte Ankáthia. “Wie lange muss ich noch hier warten?” Sie trat zu der angelehnten Tür und spähte in den Tempel hinein. Unter die Trommeln webten sich träge Gesänge.

“Bleib hier!”, flüsterte Neviri. “Du darfst erst rein, wenn die Hexen dich holen!”

Ankáthia drehte sich ihrer Schwester zu, um sie für ihre Furcht zu verspotten, aber dann öffnete sich ihr drittes Auge. Ankáthia erstarrte, als die Vision sie überrollte.

Die Kristalle auf Neviris Kleid schimmerten im rötlichen Mondlicht, breiteten sich aus, krochen über ihren weißen Körper, hüllten ihre Gestalt ein. Eine kalte Windböe fuhr durch die Rosen, die an der Wand des Tempels blühten. Die Blumen erbebten. Etwas Feuchtes traf sie im Gesicht. Verwirrt wischte sich Ankáthia über die Wange und starrte auf ihre blutverschmierte Hand. Dann setzte der rote Regen ein. Entsetzt blickte sie auf. Aus tausend Rosen ergoss sich eine Flut aus Blut, strömte in Bächen hinab. Und dazwischen stand Neviri, strahlend wie ein Kristall aus Licht, eine silberne Flamme in einem Meer aus Blut, gekrönt mit einer goldenen Krone, in der Rubine hell wie tausend Blutmonde schimmerten. Die Welt ertrank in Rot und drei goldene Türen öffneten sich.

In der linken stand eine schwarze Gestalt, gehüllt in Schatten und alles verschlingender Dunkelheit, in der rechten eine goldene Königin, mit einem Gesicht wie ein Spiegel. In der Mitte stand sich Ankáthia selbst gegenüber. Ihr Spiegelbild öffnete den Mund, doch bevor sie hören konnte, was sie sagen wollte, zerbrach die Welt in goldene Spiegelscherben.

Als Ankáthia wieder zu sich kam, kniete sie auf dem Boden, die Finger in die Fugen zwischen den Steinplatten gekrallt.

“Thia!” Neviri rüttelte an ihrer Schulter. “Thia, komm zu dir!”

Langsam richtete sich Ankáthia auf und funkelte Neviri an.

Ihre Schwester zuckte unter ihrem bösen Blick zusammen. “Was hast du gesehen?”

“Rosenblut wird fließen!”, stieß Ankáthia atemlos aus. “Der Kristall wird kommen und dann … dann wirst du mir meine Krone nehmen!” Energisch stieß sie Neviri von sich fort und kam taumelnd auf die Füße. Ihre Schwester starrte sie mit großen Augen an. Dann erwachte Wut in den sonst so sanften Augen.

“Das kannst du nicht gesehen haben! Sowas würde ich niemals tun!”

Ankáthia öffnete den Mund zu einer erbosten Antwort, aber ein Räuspern unterbrach sie.

Eine Rosenhexe stand in der Tempeltür. Sie trug wie Ankáthia dunkle Sigillen auf der Haut, aber ihr Federkleid schillerte dunkelgrün, während ihre Maske den schwarz-weiß gefleckten Kopf eines Eichelhähers nachahmte. “Es ist so weit.” Die Rosenhexe sah zwischen den Schwestern hin und her. “Ihr könnt jetzt kommen.”

“Ich gehe allein!” Ankáthia trat auf die Rosenhexe zu. Die Frau zögerte kurz, aber nickte dann. “Wie Ihr wünscht, Prinzessin.”

“Viel Glück”, nuschelte Neviri und Ankáthia betrat den Tempel der Sehenden Göttin, ohne zurückzusehen. Mit einem Knirschen schloss sich die Tür hinter ihr. Der Sturm und das klagende Geschrei des Uhus verklangen.

Für einen Augenblick vernahm Ankáthia nur ihren eigenen hastigen Atem unter der schweren Maske. Die Aufregung schnürte ihr fast die Kehle zu.

“Geht”, sagte die Rosenhexe hinter ihr. “Wählt Euren Weg, Prinzessin Ankáthia. Ihr werdet im inneren Kreis erwartet.”

Die Prüfung beginnt jetzt schon, dachte Ankáthia.

Der Tempel war in vier versetzten Säulenringen aufgebaut. Es gab unzählige Wege, um in den inneren Kreis zu gelangen. Doch Ankáthia war oft genug mit Terniv hier gewesen, um einen Pfad durch das Labyrinth zu kennen.

Ankáthia lief los und entschied sich für einen direkten Weg. Sie bog nach links ab und folgte dem gewundenen Gang in den Tempel hinein. Der äußere Bereich war überdacht und sperrte das rote Licht des Mondes aus. Tausende Kerzen erhellten das Innere und flackerten auf, als Ankáthia mit ihrem wallenden Gewand an ihnen vorbeischritt. Auf jeder Wegkreuzung war ein rundes Mosaik in den Boden eingelassen. Die geometrischen Muster aus Spiegelscherben wirkten im Kerzenlicht wie zerbrochene Wasserpfützen.

Durch die Gänge waberten noch immer die Trommeln und Gesänge, aber Ankáthia begegnete niemandem. Sie ließ Nebenaltäre und abgetrennte Orakel-Bereiche zwischen den hohen Säulen hinter sich.

Mit pochendem Herzen betrat Ankáthia die Mitte des Tempels. Es war alles so, wie sie es kannte. Das Herz des Heiligtums lag unter freiem Himmel und der Boden war mit winzigen Spiegeln belegt. Schimmernd reflektierte er den Mond. Durch das rote Licht wirkten der runde Altar in der Mitte und der goldene Spiegel dahinter fast so, als wären sie in Blut getränkt.

Auf dem Altar lag eine Samtdecke, auf der goldene Tarot-Karten funkelten. Daneben entdeckte sie ein Messer und einen Kelch. Der würzige Geruch von Wein strömte aus ihm empor.

Ankáthia lächelte.

Also doch ein Orakel. Das wird einfach.

Sie sah sich um, aber konnte niemanden entdecken. Ein dumpfes Gefühl von Vorsicht regte sich in Ankáthia.

Soll ich das Ritual etwa allein vollführen? Aber das ist doch seltsam. Der Hohepriester und die Königin müssen bezeugen, dass ich die Prüfung bestehe.

Ankáthia trat an den Altar heran. Die Tarot-Karten und der Dolch glitzerten geradezu unwirklich im Mondlicht. Langsam streckte sie die Hand nach der Klinge aus.

Ist das …?

Ankáthias Finger zuckten zurück, als sie in klebrige Feuchtigkeit griffen.

Blut! Das ist alles Blut.

Sie machte einen Schritt zurück, trat in eine Pfütze und warme Flüssigkeit drückte sich durch ihre dünnen Schuhe. Ankáthia taumelte zur Seite und dann sah sie eine bleiche Hand hinter dem Altar hervorragen. Langsam umrundete sie den steinernen Orakeltisch und erstarrte.

Auf dem Boden lagen zwei weiß gekleidete Gestalten.

Die Frau trug die goldene Krone der Königin.

Der Mann den Ring des ersten königlichen Gemahls.

Sie waren tot.

Die Erkenntnis, dass sie Leichen anstarrte, rann wie flüssiges Blei durch Ankáthias Wahrnehmung. Glühend heiß und gleichzeitig erstickend.

Ein heiseres Stöhnen ließ sie herumfahren.

Hohepriester Terniv stand hinter ihr, über ihm die rote Mondscheibe wie ein düsteres Omen. Sein Gesicht lag im Schatten verborgen, er presste eine Hand auf seine Brust.

“Ankáthia.”

Sie erkannte die Stimme ihres Vaters kaum, so rau und fremd.

“Warum?” Sie spuckte das schreckliche Wort wie Blut aus.

“Weil es sein musste.” Terniv taumelte näher, erreichte den Altar und riss den Dolch an sich. Die Samtdecke mit dem Kartenspiel fiel zu Boden, der Kelch mit dem Wein kippte klirrend um und ergoss sich über den Spiegelboden. Alles versank in einer roten Mischung aus Mondlicht, Wein und Blut.

Terniv sah auf und kam auf Ankáthia zu.

“Warum musste es sein?” Langsam wich sie von ihrem Vater zurück. Sein Gesichtsausdruck war in Schmerz verzerrt. Ein seltsamer Glanz bedeckte seine Haut.

“Es war … Es war …” Der Hohepriester lallte, stockte, keuchte schmerzerfüllt auf und presste eine Hand gegen seine Schläfe. “Ich habe sie geliebt, sie beide”, flüsterte er dann. “Ich … Ich habe es dir und deiner Schwester zuliebe getan, Ankáthia. Das musst du mir glauben.” Seine Hände zitterten. “Genauso wie das.” Er machte einen großen Schritt auf sie zu, trat in das frisch vergossene Blut und streckte die Hand mit dem Dolch vor.

Mit einem Aufschrei sprang Ankáthia zurück und stieß mit dem Rücken gegen den riesigen Spiegel. Magie zischte leise und der Rahmen erwachte zum Leben. Goldene Rosen schossen auf Ankáthia zu.

Sie keuchte auf, wollte wegrennen, aber den metallischen Ranken konnte sie nicht entkommen. Die magischen Blumen wickelten sich um Ankáthias Arm und hielten sie fest. Wie betäubt sah sie dabei zu, wie weitere Blüten im göttlichen Glanz erblühten. Magie prickelte auf ihrer Haut. Etwas geschah, aber sie wusste nicht was. Bilder flackerten vor ihren Augen auf, ihre eigene Magie erhob sich, drängte danach, freigelassen zu werden. Alles an dieser unheilvollen Situation kam ihr plötzlich auf eine schreckliche, abscheuliche Weise bekannt vor, als hätte sie diese Szene bereits in einem Albtraum gesehen.

“Nein!”, brüllte Ankáthia. Es war das Einzige, zu dem sie noch fähig war.

Terniv stand neben ihr vor dem Spiegel und flüsterte, schien aufgeregt mit jemandem zu reden. Goldenes Licht flutete durch die Nacht und Ankáthia musste die Augen zukneifen. Etwas drängte in ihre Gedanken, zerwühlte ihre Magie.

“Lass es geschehen”, sagte Terniv.

“Nein!” Ankáthia schrie, riss einen Arm los. Die Dornen der Rosen kratzten durch ihre Haut, zerfetzten ihr Kleid, ihr Blut versickerte ungesehen im roten Stoff. Sie konnte nicht entkommen. Rasender Schmerz entfachte sich hinter ihrer Stirn. Ankáthia schrie und etwas brüllte, grollte wie ein wildes Tier. Goldene Rosen rankten sich vom Spiegel aus über den Altar, krochen durch das Blut, überwucherten die Wände des Tempels.

Alles drehte sich um Ankáthia. In ihrem Kopf herrschten nur Schmerz und Verwirrung, ein Mahlstrom aus Stimmen und Emotionen, die sie nicht kontrollieren konnte. Mit aller Kraft hob sie den Kopf. Und wünschte sich augenblicklich, sie hätte es nicht getan.

Terniv stand vor dem goldenen Spiegel, zusammengesunken und zitternd. In einer Hand hielt er eine Spindel, in der anderen eine goldene Schere mit Obsidian-Blättern. Ein goldener Faden zuckte um die Gestalt ihres Vaters, dann zerfaserte sich der Strang, verblasste und verging.

Die Möglichkeiten eines Schicksals.

Doch zuletzt zuckte ein einzelner, dünner Faden in der Luft und wickelte sich um die Spindel.

Ankáthia war vor Entsetzen wie gelähmt.

Er hat sich seinen Schicksalsfaden selbst herausgeschnitten.

Terniv sah auf und seine Augen weiteten sich.

Ankáthia schnappte nach Luft, denn sein Spiegelbild zeigte nicht seine Gestalt. Dort erhob sich eine goldene Silhouette, eine Frau in einem prächtigen Kleid, über und über mit glänzenden Facetten bedeckt. Ihr Gesicht aber war leer. Eine blanke Spiegelfläche, aus der Ankáthia ihr eigenes angstverzerrtes Gesicht entgegenstarrte.

Die spiegelnde Gestalt hob eine Hand und in Ankáthias Kopf zerbrach etwas. Wieder schrie sie und eine andere Stimme fügte sich in den Schrei mit ein. Schemenhafte Schatten tanzten vor ihren Augen, als würde jemand einen schwarzen Mantel aus Nacht über ihr Gesicht ziehen.

Zitternd hob Ankáthia den Blick. Die Schatten und die goldene Frau waren fort. Für einen Wimpernschlag sah sie noch eine Gestalt dort im Spiegel stehen, eine schwarze Königin, umtanzt von Sternen aus Nichts. Sie öffnete den Mund, doch Ankáthia konnte nicht verstehen, was sie sprach.

“Versprich es mir!”, flehte Terniv den Spiegel an. Ankáthia blinzelte durch einen Schleier aus Tränen und als sie wieder klar sah, war der Spiegel leer.

Ihr Vater schluchzte, bebte am ganzen Körper, dann holte er in einer weiten Bewegung aus und rammte die schwarze Klinge des Dolches in den goldenen Spiegel. Erst dachte Ankáthia, dass die Waffe an der glatten Oberfläche einfach abgeglitten war. Aber dann erklang das singende Brechen der Magie. Schwarze Risse schossen durch den Glanz und zerrissen die göttliche Farbe. Der Spiegel erbebte und seine Scherben fielen zu Boden.

Augenblicklich gaben die goldenen Rosen Ankáthia frei und sie stürzte. Zu ihrem Entsetzen landete sie in einer Mischung aus Wein und Blut. Schluchzend rappelte sie sich wieder auf.

Wieder schrie jemand. Eine Gruppe von Rosenhexen rannte in das Innere des Tempels.

“Hilfe!”, flüsterte Ankáthia. “Helft mir!”

Aber die Hexen liefen an ihr vorbei und ignorierten auch ihren Hohepriester. Einige der Frauen griffen sich goldene Scherben, andere die Karten und den Kelch und sie verschwanden wieder im Labyrinth des Tempels. Sie waren so schnell wieder fort, wie sie gekommen waren, so dass sich Ankáthia nicht einmal sicher war, ob sie sich die Hexen nicht eingebildet hatte.

Terniv wandte sich ihr zu, die Augen glasig und der Mund zu einem stummen Schrei verzerrt.

“Nein, nein, nein, helft mir!”, wimmerte Ankáthia.

Dann stürzte plötzlich Neviri in das rötliche Mondlicht. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Blick unstet.

“Nein!” Ankáthia schaffte es, sich aus ihrer Starre zu reißen. Sie taumelte auf Neviri zu und zog sie in eine feste Umarmung, drehte sie von den Leichen weg. “Sieh nicht hin, Viri. Sieh nicht hin!”

“Mamá! Papás!” Neviri klammerte sich in Ankáthias Schulter.

“Es … tut … mir … leid …” Terniv kam auf sie zu gestolpert, die Bewegungen starr und abgehackt. Der silbrige Glanz auf seiner Haut war mittlerweile kaum mehr zu leugnen.

Panisch zerrte Ankáthia Neviri mit sich, doch die weiße Prinzessin war vor Angst wie gelähmt, während der Hohepriester immer näher kam.

“Halt! Du wirst Neviri nicht anrühren, Terniv!”

Ankáthia erkannte die Stimme sofort.

“Tante?” Aber die Schwester der Königin gab Neviri keine Antwort.

Mirall war das absolute Ebenbild ihrer Schwester und sie zu sehen stieß einen Dolch tief in Ankáthias Herz. Fast war sie versucht zu glauben, dass alles nur ein Albtraum war, dass diese Frau dort ihre Mutter war. Aber der eiskalte Blick, den Mirall ihr zuwarf, ließ Ankáthias Traum sofort zerplatzen.

Die Königin ist tot.

Miralls Hände tanzten, Magie entfaltete sich und aus dem Gestein des Tempels lösten sich glänzende Kristalle, spitz und glatt. Miralls Magie war makellos, perfekt und unzerstörbar. Sie war die mächtigste Terragi am Hofe, die Heerführerin dieses Landes.

Ankáthia sah nicht hin, als ihre Tante die Kristall-Klingen mit aller Kraft in Richtung ihres Vaters schleuderte. Sie hörte nur das Aufkeuchen und den Sturz eines Körpers in Blut. Alles drehte sich um Ankáthia, wurde zu Feuer, Soldaten und rotem Mondlicht. Eine krallenähnliche Hand griff nach ihrer Schulter, zerrte sie herum. Vor ihr stand Mirall, mit nichts als Schmerz und Hass im Blick.

“Elende Mörderin!”

Ankáthia wollte sich losreißen, aber Miralls spitze Finger bohrten sich in ihren Arm und ließen sie nicht gehen. Verzweifelt riss Ankáthia ihre Hände hoch, als die Terragi ihre Bergkristalle zum Angriff erhob.

“Nein!”

Eis traf auf Kristall und ein Regen aus Splittern ging auf Ankáthia nieder. Neviri war bei ihr, klammerte sich an sie. Ihr Griff war kalt.

Eiskalt.

Ihre Magie ist erwacht, weil sie mich beschützen wollte.

Was für ein schlimmes Omen.

“Nein!”, wiederholte Neviri und um sie herum wuchsen glänzende Eiskristalle. ”Sie ist meine Schwester, sie ist unschuldig!”

“Ihr Vater ist ein Verräter, Neviri! Er und diese Hexenbrut haben deine Mutter und deinen Vater ermordet! Sie gehört zu ihnen!”

“Es war auch ihre Mutter!”, schluchzte Neviri. “Und sie ist meine Schwester! Sie ist unschuldig! Du darfst ihr nichts tun!”

Die ganze Bedeutung der Ereignisse traf Ankáthia erst jetzt ins Herz.

Mirall zögerte einen Moment, dann zerrte sie Ankáthia die Rabenmaske vom Gesicht und schleuderte sie auf den Boden. Mit einem grässlichen Geräusch zersplitterte die Maske in tausend Stücke.

Entsetzt sah Ankáthia auf die Splitter nieder. Die Maske des Gehörnten Raben war ein Relikt gewesen, ein uraltes Artefakt zur Weihe von Seherinnen. Mit Tränen in den Augen sah sie auf. Flammen umrahmten Miralls glänzende Gestalt. In den Händen der Terragi lag die goldene Krone der Königin, blutbefleckt. Erst jetzt hörte Ankáthia die Schreie und begriff, was die Soldaten im Tempel taten. Sie verstand plötzlich, warum die Hexen so schnell weggelaufen waren. Sie waren geflohen.

Ankáthia war vor Entsetzen gelähmt.

“Schwörst du der Sehenden Göttin ab, Ankáthia?”, fragte Mirall drohend. “Schwörst du, auf die Krone und alle deine Rechte zu verzichten, Tochter des Mörders Terniv? Schwörst du das oder stirbst du diese Nacht mit den Verrätern an der Krone?”

Ankáthia blinzelte langsam, als jemand überschlagend schrie. Ein Teil des äußeren Tempeldaches brach hinter Mirall zusammen, schickte einen Schwall an Funken hoch in den Himmel und entzündete den Blutmond endgültig. Und dann sah sie die Kristalle, die rot schimmernd auf ihr Herz zeigten.

“Ich schwöre es”, flüsterte sie.

Neviri schluchzte auf und sank weinend in ihre Arme. Die Kälte, die von ihr ausging, war unerträglich und doch klammerte sich Ankáthia mit aller Kraft an ihre Schwester. Wolken schoben sich vor den Blutmond, ließen nur das Licht der Flammen und die Schreie der Sterbenden zurück. Doch es kam kein Regen, es war Schnee, der auf sie niedersank und sich mit dem Blut der Toten vollsog.

Ankáthia schloss die Augen, um all das nicht mehr sehen zu müssen. Aber die Bilder hatten sich bereits unentrinnbar in ihren Geist gebrannt.

In dieser Nacht träumte sie zum ersten Mal von der goldenen Stimme.

Kapitel 1: Sternensee – Ankáthia

Ankáthia lief durch den Wald. Die dunkelroten Blätter der Blutbuchen waren unverkennbar.

Der Hungrige Hain.

“Ja, so nennt man ihn.”

Sie wirbelte herum, aber da war niemand. Nur knorrige Bäume, die mit ihrem dichten Geäst das Licht aussperrten, und deren Wurzeln sich über moosbedeckte Steine ausbreiteten. Und trotzdem konnte sie den Mond sehen, eine glühende Scheibe des Verderbens, die am Himmel hing und ihr Licht in die Welt blutete. Sterne tanzten zwischen den Blättern, aber manchmal waren es auch leuchtende Falter mit grinsenden Totenköpfen auf den Flügeln.

Ankáthia war sich sicher, dass sie schlief. Sie wandelte oft in ihren Träumen, halb bewusst, halb im Schlaf verfangen. Doch diesmal war es anders, präsenter. Wie eine Vision, die sich um all ihre Sinne geschlossen hatte.

Ihre Fingerspitzen strichen über Blätter, ertasteten Feuchtigkeit. Ankáthia erschauderte. Es roch nach frischem Regen und Nacht.

Ein Kichern aus dem Unterholz. Wieder drehte sich Ankáthia um sich selbst. Die Kronen der Bäume rauschten, kurz spritzte das Blut des Mondes über den gesamten Himmel, zerlief im Rot der Bäume.

“Wer bist du?”, fragte Ankáthia leise.

Statt einer Antwort öffnete sich das Unterholz, gab einen gewundenen Weg durch den Wald frei.

“Komm!”, forderte die Stimme. Sie war warm und voll, erinnerte Ankáthia an den Glanz von Gold.

Sie lief weiter, folgte langsam dem Pfad. Der Wald wurde lichter, öffnete sich und mit dem düsteren Blätterdach verschwand auch das Blut vom Himmel. Ein Teppich aus Sternen breitete sich aus, floss in Kaskaden über das Dunkelblau und tropfte in Wellen hinab. Himmel und Wasser gingen ineinander über.

Ankáthia blieb am Ufer stehen. “Was ist das für ein Ort?”

“Eines Tages werde ich ihn dir zeigen”, flüsterte die goldene Stimme.

Ankáthia wollte sich umdrehen, doch zwei warme Hände hielten sie von hinten fest.

“Nein!”, sagte die Stimme bestimmt. “Wenn du mich ansiehst oder mir einen Namen gibst, werde ich sterben. Kein Gesicht und kein Name für mich, Ankáthia. Nur so kann ich sein.”

Ankáthia starrte auf den Tanz der Sterne, der den Horizont verschwimmen ließ. In der Ferne glänzten verlockend drei goldene Türen, spiegelten sich im Wasser.

“Was ist dort hinten?”

“Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Mehr kann ich dir nicht sagen.”

“Bist du verflucht?”

“Wir beide, Ankáthia.” Die Stimme seufzte schwer. “Wir beide.”

Die Hände ließen sie los. Angst wallte in Akáthia hoch, doch sie wagte es nicht, sich zu bewegen oder gar umzudrehen.

“Von wem?”

“Ich kann es dir nicht sagen. Auch das verbietet mir der Fluch. Aber ich weiß, dass ich ab jetzt bei dir bleiben werde. Du trägst seit deiner Geburt ein düsteres Schicksal auf deinen jungen Schultern, Ankáthia.”

Eine Hand fasste vorsichtig nach ihr und ohne nachzudenken verschränkte Ankáthia ihre Finger in dem angebotenen Trost.

“Aber du wirst dieses Schicksal nicht mehr allein tragen. Ich bin jetzt bei dir.”

“Ich habe Angst”, flüsterte Ankáthia. Der Himmel wölbte sich, schien zu kippen. Alles versank in Sternenlicht und Wasserspiel, wurde zu Glanz und Bewegung.

“Ich bin bei dir”, versprach die goldene Stimme. “Ich bin bei dir.”

Kapitel 2: Omenauge – Ankáthia

Magie zerschnitt die Luft, hinterließ den Geruch von glühendem Eisen. Ankáthia hatte den Angriff kommen sehen.

Ihre Finger lagen längst verschränkt ineinander, die silbernen Runenringe knirschten auf dem Leder ihrer Handschuhe. Den richtigen Zeitpunkt der magischen Entladung zu erwischen, war essenziell. Es gelang ihr. Sie riss ihre Hände auseinander und rammte die rechte Faust mit einem Aufschrei in den Boden. Funken aus Magie stoben durch ihre Adern, hinterließen ein scharfes Brennen in ihren Muskeln, als die Magie ihren Körper verließ und in die gewünschte Form floss. Die Schockwelle bahnte sich ihren Weg durch den kleinen Innenhof, zerschmetterte Pflastersteine, die als Geschosse zur Seite flogen. Metallische Wurzeln pflügten sich aus der Erde, verzweigten sich in Triebe, formten Muster und Symbole. Ankáthia ignorierte die Zeichen, während sie ihre Drähte weiter angreifen ließ.

Ein peitschender Birkenzweig zerfetzte die erste Schlinge, doch der zweiten und dritten konnte die Rosenhexe nicht ausweichen. Trotzdem gab sie nicht auf, verschränkte ihre Finger zu einem erneuten Angriff.

Ankáthia schnaubte und ballte ihre Hände zu Fäusten. Die geladenen Ringe schickten einen zweiten Sturm aus Magie durch ihre Adern. Sie spürte den Schmerz im Rausch des Kampfes kaum, als sie dem nächsten Angriff aus verdrehten Birkengeäst auswich und einen neuen Schwall an Metallschnüren durch die Erde jagte.

Mit Gewalt hielt sie ihre eigene Magie zurück, erlaubte ihr nicht, ihren natürlichen Weg zu nehmen. Sie verweilte in der Phase des grenzenlosen Wachstums, ließ immer mehr und mehr metallische Schlingen aus der Erde wuchern und sich um ihr Opfer wickeln.

“Nein!” Die Hexe zerrte an den Ranken, die sich um ihre Beine schlangen und bedrohlich schnell ihren Körper überwucherten.

Ich habe sie!

Doch dann befreite sich ihre eigene Magie zornig aus Ankáthias Griff. Aus Wurzeln wurden Knoten, aus Knoten wurden Gesichter, aus den Gesichtern wurden anklagende Fratzen, die sie geifernd anstarrten.

Verräterin!

Ankáthia hielt die Luft an, versuchte verzweifelt, ihre Magie wieder einzufangen. Die Rosenhexe zerrte an den Drähten und schaffte es, ihre Hände aufeinander zu legen. Grüne Magie explodierte in Birkenzweige. Ankáthia wich gerade noch einem peitschenden Ast aus, aber der nächste traf sie gegen die Brust. Der Schlag presste ihr die Luft aus den Lungen. Sie taumelte, stolperte zurück.

Die gefangene Magie befreite sich aus ihren Händen, schlagartig und überwältigend wie der Aufprall auf dem harten Grund, als der tobende Baum sie niederriss.

Der Hexe entkam ein triumphierender Schrei, der abrupt unterbrochen wurde, als messerscharfe Eiskristalle auf sie niedergingen. Birkenholz splitterte, zerbrach und gab dem wütenden Ansturm nach. Die Hände der Hexe tanzten, verzweifelt versuchte sie einen neuen Angriff zu formieren, doch Neviri setzte sofort nach. Eisspitzen zischten durch die Luft, hinterließen den scharfen Geruch von frisch gefallenem Schnee und Blut, als sie sich in die Hände der Hexe bohrten. Die Frau schrie auf und blieb dann wimmernd liegen. Ihr blieb auch kaum eine andere Wahl: Neviri hatten ihre Eiskristalle durch die Hände der Hexe hindurch tief im Erdboden versenkt.

“Gefangene sichern!”, brüllte Tarjun, der Hauptmann der Wache. Soldaten eilten herbei. Schwer atmend lag Ankáthia noch immer auf dem Rücken und ließ die letzten Fäden der zerrissenen Magie los. Die magischen Ranken verwehten, während Ankáthia in den verhangenen Himmel starrte. Schneeflocken sanken aus dem Grau, puderten die Welt mit Weiß. Neben ihr ging Neviri auf die Knie.

“Hat sie dich verletzt?” Die Prinzessin packte Ankáthia am Arm und zog sie auf die Beine.

“Nein.” Ankáthia klopfte sich die Mischung aus magischem Staub und Schnee von der Rüstung, aber es war vergebliche Mühe. Die Spuren ihres Kontrollverlustes hatten sich als verästelte Furchen in das graue Leder gebrannt und einige der schützenden Sigillen zerstört.

Neviri runzelte die Stirn. “Was war denn los?”, zischte sie unterdrückt. “Du hattest die Hexe doch bereits!”

Ankáthia gab Neviri keine Antwort. Ihr Blick wanderte über die anwesenden Soldaten und Heiler und blieb schließlich an Savas hängen. Der königliche Berater stand mit verschränkten Armen inmitten des Chaos und beobachtete das Geschehen, als würde es ihn nicht berühren. Der hohe Aufschlag des dunkelgrünen Mantels betonte sein markant geschnittenes Gesicht. Als zwei Soldaten die Eiskristalle aus den Händen der Rosenhexe herausrissen und sie aufschrie, strich sich Savas eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelte kühl.

Ankáthia runzelte die Stirn.

Gutaussehender Mistkerl.

Als hätte er sie gehört, wandte er sich ihr zu. Ihre Blicke trafen sich und Ankáthia sah schnell weg.

Ob ihm mein Fehler im Kampf aufgefallen ist? Wahrscheinlich.

“Du hast etwas gesehen, oder?” Neviri riss Ankáthia aus ihren Gedanken. Sie schwieg, aber ihre Schwester ließ nicht nach. “War es etwas aus der Zukunft? Ein Omen?”

“Ich war abgelenkt, mehr nicht.”

“Ja, von etwas in den Ranken. Ich habe deine Augen gesehen.”

Ankáthia schwieg und ballte die Hände mehrmals zusammen. Neviri runzelte die Stirn. “Wie schlimm sind deine Schmerzen?”

Ankáthia zog die Handschuhe energisch fest. “Nicht der Rede wert.” Das war eine Lüge, es schmerzte schrecklich. Die silbernen Runenringe hatten rauchende Spuren auf den Handschuhen hinterlassen und ihr graute es schon davor, was sie an ihren Fingern vorfinden würde, wenn sie später die Rüstung ablegte.

Narben und schwarze Adern, als hätte man Gift in mein Blut gepumpt …

“Mir geht es gut”, zwang sie sich zu sagen.

Neviris Mundwinkel zuckten, kurz presste sie die silbernen Lippen zusammen, als müsste sie sich einen spitzen Kommentar verkneifen, dann wurden ihre bleichen Gesichtszüge weich.

“Lass die Magie wenigstens heute Abend zu”, flüsterte Neviri. “Es ist bald Vollmond. Du weißt …”

“Ja, ich weiß!”, unterbrach Ankáthia sie scharf.

Wie könnte ich es auch nicht wissen? Das Drängen in meinem Blut beschert mir seit Tagen Kopfschmerzen. Meine Magie will sich befreien.

“Und du weißt, was mir blüht, wenn sie davon erfährt.”

Neviri zuckte mit den Schultern. “Woher sollte sie es je wissen? Aber das …” Sie deutete auf Ankáthias verschränkte Hände. “Das wird immer schlimmer. Du wirst an der fremden Magie noch sterben, Thia.”

Und das ist vielleicht genau ihr Ziel.

“Lieber tot als ausgebrannt”, stellte Ankáthia fest.

Der weißen Prinzessin entglitten kurz die Gesichtszüge, dann wurde ihr Blick ernst. “Das würde ich niemals zulassen. Ich würde sie aufhalten.”

Ankáthia senkte den Blick.

Wir wissen beide, dass du dafür nicht stark genug bist, Neviri.

“Ich würde es wenigstens versuchen”, fügte die Prinzessin leise hinzu, als hätte sie Ankáthias Gedanken gelesen. “Außerdem kann sie das nicht wagen. Du bist zu wichtig für das Gleichgewicht im ganzen Reich. Und selbst mit der fremden Magie bist du stärker als ich mit meinem eigenen Blut.”

“Das ist nicht wahr. Du wiederholst nur, was sie dir einflüstert.” Die ketzerischen Worte kamen Ankáthia erstaunlich leicht über die Lippen.

Weil sie die Wahrheit sind.

Wieder suchte ihr Blick nach dem königlichen Berater, aber Savas war fort. Wahrscheinlich kümmert er sich um die gefangene Rosenhexe.

Ankáthia erschauderte. “Du bist stark, das ist alles, was ich sagen will, Viri.”

Neviri seufzte schwer. “Ja, vielleicht hast du recht. Es ist nur …” Sie starrte auf ihre Finger, an deren Spitzen sich Eiskristalle bildeten und tanzend davonflogen. “Ich habe das Gefühl, dass sich die Eismagie mir verweigert. Aber sie ist doch in mir, nicht wahr? Ich wurde damit geboren. Warum ist dann alles so … schwer?”

Ankáthia wusste darauf keine Antwort. Magie einzusetzen, bedeutete für sie seit der Blutmondnacht nur noch Schmerzen oder Angst. Und das war zehn Jahre her.

Zehn Jahre.

Ein Schwarm Krähen säte Kohle auf den nebelgrauen Himmel und flog in Richtung des Hungrigen Hains.

Neviri folgte ihrem Blick. “Sie erstatten dem Schwarm Bericht.”

“Ja. Aber die Hexe lebte hier sicher nicht allein. Wir haben nur die Letzte erwischt. Die anderen haben sich wahrscheinlich längst in den Hungrigen Hain geflüchtet.” Ankáthia sah sich auf dem verwüsteten Gehöft um. Die Soldaten der Königin rissen bereits die Rosenstöcke aus der vereisten Erde und verbrannten die Blumen. Seit der Blutmondnacht waren Rosen, wie auch alles andere, das die Hexen für ihre Magie brauchten, verboten. Das erste Gebäude fing bereits Feuer. Durch die zerbrochenen Fenster konnte Ankáthia Schutzzauber und Sigillen an den Wänden erkennen.

Das waren nur Bauern und ihre kleinen Jahreszeiten-Zauber. Sie haben versucht, im Winter zu überleben, mehr nicht. Ich kann es ihnen nicht verdenken. Mir fehlt die Wärme der Sonne auch. Aber ich muss wenigstens nicht hungern.

Sie schloss die Augen und spürte kurz den schmelzenden Schneeflocken auf ihrer Haut nach. Das Geräusch von beschlagenen Stiefeln auf Stein ließ sie rasch wieder die Augen öffnen. Der Hauptmann und zwei Soldaten marschierten auf sie zu. Ihnen folgte Yavira, Neviris Zofe und Leibwächterin. Die Frau war ausgebildete Heilerin und konnte hervorragend mit den vergifteten Nadeln umgehen, die ihr hochgestecktes Lockenhaar festhielten. Ankáthia wusste, dass sie mindestens zwanzig weitere Klingen an ihrem Körper trug. Yavira hielt sich immer der Nähe von Neviri auf. Die Ehre des Hauses Kardit verlangte zwar, dass die Weiße Prinzessin selbst an vorderster Front kämpfte, aber das bedeutete nicht, dass sie schutzlos war.

Abrupt kam Hauptmann Tarjun vor ihnen zum Stehen und verneigte sich tief. “Prinzessin Neviri.”

Sie nickte ihm huldvoll zu. “Hauptmann Tarjun.”

Ankáthia musste ihnen lassen, dass sie beide ihre Rollen perfekt spielten. Aber sie wusste die kleinen Hinweise zu deuten. Die gefalteten Finger der Prinzessin, um das Zittern zu verbergen. Der Glanz in ihren Augen, wenn er ihren Namen aussprach. Ihr Blick, der immer wieder an seinen Lippen hängen blieb.

Und außerdem höre ich euer Stöhnen oft genug durch die Tür hindurch.

Ankáthia seufzte innerlich sehr schwer. Sie gönnte ihrer Schwester den Spaß mit Tarjun. Vor fünf Jahren war er als Rekrut an den Hof gekommen und innerhalb kürzester Zeit zum Hauptmann der königlichen Garde aufgestiegen. Er war fair, loyal und trug Rosenblut in sich, genau wie sie. Aber gerade deshalb würde Königin Mirall dieser Verbindung niemals zustimmen.

Ankáthia verengte ihre Augen zu Schlitzen.

Neviri hat nicht nur ein Problem mit ihrer Magie.

Es ist klar, dass sie für Tarjun mehr empfindet.

Aber diese Liebe ist zum Scheitern verurteilt. Ich hoffe nur, er bricht ihr nicht das Herz.

Sonst breche ich ihm seine Knochen.

"Stört Euch etwas, Prinzessin Ankáthia?”

Sie zuckte zusammen. Aber nicht, weil Tarjun ihren kritischen Blick sofort bemerkt hatte.

Prinzessin.

“Dieser Titel steht mir nicht zu”, rügte sie ihn kühl. “Das wisst Ihr genau, Hauptmann.”

“Verzeiht mir, die Macht der Gewohnheit.” Er lächelte schräg und neigte den Kopf leicht. Es sah nicht nach einer Entschuldigung aus.

Sie wollte ihn erneut scharf zurechtweisen, aber Neviri kam ihr zuvor.

“Die Ansprache steht dir zu. Du bist nicht nur meine Leibwächterin, du bist meine Schwester. Die Entscheidung der Königin war unverhältnismäßig.”

Nein, sie war bis zum Schluss berechnet. Mirall wusste, dass uns die Hexen damals entkommen würden. Meine Bestrafung war geplant.

Die Erinnerungen an die öffentliche Degradierung brachten Ankáthias Wangen zum Glühen. Ihr Blick huschte zu Yavira, die die Unterhaltung unbeweglich verfolgte.

Ob sie für Mirall spioniert? Möglich.

Die Spitzel der Königin sind überall.

“Das sieht die Königin sicher anders”, erwiderte Ankáthia gepresster, als von ihr beabsichtigt. “Sprecht mich bitte mit Wächterin an, so wie es sich gehört. Es gibt nur eine Frau mit dem Anrecht auf den Thron und das ist Prinzessin Neviri.”

Auch wenn mir seit meiner Geburt etwas anderes versprochen wurde.

Neviris Gesicht wurde hart und Ankáthia spürte Bedauern in sich aufsteigen, das sie sofort mit der kalten Wahrheit erstickte. Ihre Schwester hatte ihr einen Gefallen tun wollen und diese schroffe Zurückweisung verletzte sie ganz offensichtlich.

Du denkst zu gut von unserer Tante. Und ich mache dir aus dieser Liebe keinen Vorwurf. Aber ich weiß auch, dass die Königin dich zerbrechen wird, wenn du ihr nicht gehorchst. Mit mir hat sie es bereits getan, Neviri. Siehst du das nicht?

Die weiße Prinzessin schlug die Augen nieder und wich Ankáthias Blick aus.

Ja, du siehst es.

“Die Königin wünscht euch zu sehen, Prinzessin Neviri und Wächterin Ankáthia.” Der Hauptmann ließ sich nichts von dem Zwischenfall anmerken.

Neviri nickte Tarjun zu. “Hat die Hexe schon geredet?”

“Ja.”

Savas hat einen guten Tag.

Schlecht für die Hexe. Aber vorteilhaft für uns.

“Dann sollten wir unsere Tante nicht warten lassen”, befand die Weiße Prinzessin. “Sagt der Königin, dass wir unverzüglich kommen werden.”

Kapitel 3: Rosenhexe – Neviri

Neviri hörte die Schreie bereits durch die Gänge hallen, als sie noch weit weg vom Thronsaal waren. Der Stimme haftete die beunruhigende Mischung aus Schmerz, Zorn und absoluter Hoffnungslosigkeit an.

Sie straffte die Schultern, als das nächste Wimmern durch die glatten Marmorgänge kroch. Neben ihr erschauderte Ankáthia. Neviri konnte es ihr nicht verdenken. Es war eine Angehörige des Rosenvolkes, die im Thronsaal gefoltert wurde.

“Es ist nicht unsere Schuld, das weißt du”, sagte sie leise. “Die Hexe hätte uns verletzt oder sogar getötet. Uns blieb keine Wahl.”

Ankáthia schwieg.

Aber dein Blick sagt etwas anderes.

Du empfindest Reue.

Aber wir hatten keine Wahl.

Oder?

Neviri unterdrückte den Impuls, unter der Mischung aus Schuld, Wut und Pflichtgefühl zusammenzuzucken.

Als sie auf die hohe Tür zutraten, öffneten die Soldaten sie ohne Zögern. Schwarzer Stahl schwang lautlos zur Seite, kunstvoll verwoben zu Ranken und Dornen. Früher hatten goldene Rosen das mächtige Portal geziert, doch als Mirall den Verschlungenen Thron bestiegen hatte, war ihr erster Befehl gewesen, die schimmernden Blüten zu köpfen. Seitdem streckten die Blumen ihre abgeschlagenen Stängel den Besuchern entgegen und ließen das finstere Tor wie ein Schlund mit tausend Zähnen wirken. Den Verschlungenen Thron hatte das gleiche Schicksal ereilt.

Neviri holte ein letztes Mal tief Luft, bevor sich der Thronsaal vor ihnen öffnete.

Der schwarze Stahl des Portals enthüllte das erwartete Bild. Auf dem Boden des Saals kauerte die Rosenhexe. Sie trug keine Fesseln und doch wirkte ihre Haltung verkrampft und unnatürlich starr. Der Grund dafür war der Mann, der neben ihr stand. Geradezu lässig hielt Berater Savas seine rechte Hand über der zuckenden Gestalt und doch hatte er sie vollständig unter Kontrolle.

Neviri erschauderte. Sie verabscheute die Schattenmagie des Umbraskia.

Weil er sie nur nutzt, um Schmerzen zuzufügen.

Er ist ein Monster.

Wie zur Bestätigung ihrer Gedanken schimmerten die silbernen Linien unter seiner Haut kurz auf, als er seine Hand kaum merklich neigte und der Hexe so einen Finger brach.

Die Frau schrie auf, zappelte in seinen Fäden wie ein verlorener Schmetterling, der nicht wusste, dass er seinen Kampf längst verloren hatte.

“Ich weiß nicht mehr …!”, schluchzte die Rosenhexe.

“Dein Gejammer langweilt mich”, verkündete Königin Mirall. Die Bergkristalle an ihren Schläfen und Ohren klimperten leise, als sie ihr Gesicht aus der stützenden Hand löste. Ein kühles Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus, als sie Neviri bemerkte, und kurz, ganz kurz, sah sie ihre Mutter dort auf dem Verschlungenen Thron sitzen.

So wie es sein sollte und doch nicht ist.

Ob Ankáthia sie auch manchmal in Mirall sieht?

Förmlich verneigte sich Neviri. “Du hast uns rufen lassen, Tante?”

“In der Tat!” Mit ihrem spitzen Fingerschmuck, ebenfalls aus Bergkristall geformt, hackte die Königin auf die Lehne des Verschlungenen Throns ein.

KLACK!

Mittlerweile zeigten sich bereits erste Vertiefungen, wo Metall und Kristall immer wieder aufeinanderprallten.

---ENDE DER LESEPROBE---