Seelenband - Yola Stahl - E-Book

Seelenband E-Book

Yola Stahl

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Beschreibung

Ein Opfer. Eine Schuld. Ein Geheimnis.

Birke weiß nicht wer sie ist oder woher sie kommt, denn die Bewahrer des Großen Waldes haben ihr altes Leben und sämtliche Erinnerungen daran freiwillig hinter sich gelassen. Doch als sie, um dem Tod zu entkommen, ein Seelenband mit dem Heiler Parlec eingeht, bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Denn als Fay gehört sie zu einem gejagten Volk und befindet sich nun auf der Flucht vor unbarmherzigen Feinden. Während sie Parlec immer näher kommt und ihr Gedächtnis Stück für Stück zurückkehrt, muss sie mit Gefühlen kämpfen, die sie selbst nicht versteht. Sieben Sigillen, sieben Erinnerungen, ein großes Geheimnis - und Parlec scheint mehr über sie zu wissen, als er zugeben mag …

Der Auftakt der Birkenherz-Trilogie.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Vorwort
Kapitel 1: BEWAHRER
Kapitel 2: STADT DER STERNE
Kapitel 3: PURPURFEUER
Kapitel 4: HÄUSER DES THERIAK
Kapitel 5: CALADRIUS
Kapitel 6: ARESAR
Kapitel 7: SEELENSCHNITT
Kapitel 8: GRÜNES WASSER
Kapitel 9: MONDBLUT
Kapitel 10: FAY
Sigille: NOMIA – NAME
Kapitel 11: TRISIMA
Kapitel 12: WEITE HEIDE
Sigille: TAUMA – FAMILIE
Kapitel 13: NEBELGRAU
Kapitel 14: WILDE FAIBE
Sigille: DURONA – HEIMAT
Kapitel 15: STILLE STUFEN
Kapitel 16: PIROUN
Sigille: VINKA – FREUNDSCHAFT
Kapitel 17: FLÜSTERHÜGEL
Kapitel 18: HAGAZU
Kapitel 19: KALTES BLAU
Sigille: FYNURA – FLUCH
Kapitel 20: HERZBRUCH
Nachwort & Danksagung
Über die Autorin
Index Personen
Index Dheubharia
Triggerliste
Leseprobe: Birkenherz II – Kapitel 1: SALZSTRAND

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

© 2022 Yola Stahl

Karte erstellt mit Inkarnate.

Illustrationen, Layout und Satz von Yola Stahl.

ISBN ISBN 9783754671962

 

Yola Stahl

Obere Gartenstraße 14

64646 Heppenheim

 

www.birkenherz.de

www.instagram.com/_birkenherz_/

www.facebook.com/BirkenherzRoman

 

 

 

 

 

 

 

 

Vorwort

 

Birkenherz I – Seelenband ist ein Dark Fantasy-Roman und behandelt entsprechend düstere, bedrückende und mitunter verstörende Themen, die Trigger auslösen können. Falls du dich vor dem Lesen informieren möchtest, findest am Ende des Buchs eine Liste. Bitte bedenke, dass diese Sammlung eventuell Spoiler beinhaltet.

 

Ich wünsche dir viel Spaß beim Lesen von Birkenherz I – Seelenband!

 

 

 

Kapitel 1: BEWAHRER

Birke horchte aufmerksam in die Welt hinaus und der Wind brachte erneut die vage Ahnung von Veränderung und Schicksal mit sich. Der mitschwingende Geruch war schwach, kaum wahrnehmbar, aber trotzdem so markant, dass sie ihn nicht ignorieren konnte.

Es war nicht das erste Mal, dass das Großgewitter diesen seltsamen Hauch mit sich führte. Birke kannte ihn nur zu gut und wie immer fesselte und beunruhigte er sie zugleich. Asteria …, stellte sie missmutig fest, als sie die Windrichtung prüfte. Es kommt aus der Stadt der Sterne zu uns. Schon wieder.

Erneut schlug der aufkommende Sturm ihr den diffusen Geruch ins Gesicht, aber diesmal schwangen zusätzlich Rauch und Blut mit. Der wunderliche Duft legte sich wie eine üble Vorahnung auf ihr Gemüt. Etwas stand bevor und es kam unaufhaltsam näher. Ihre angespannten Sinne glaubten in weiter Ferne Schreie zu hören und der Bewahrerin stellten sich die Blätter auf. Ein nervöses Rascheln fuhr durch ihre Wildholz-Rüstung. Wind und Blut bringen nur Sturm und Wandel, so sagten es zumindest die Deru. Aber Veränderungen gefielen Birke nicht. Als Bewahrerin des Großen Waldes war sie der Beständigkeit verpflichtet. Es war ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass nur die Verzweifelten die Grenze des Baumreiches übertraten. Doch jetzt war jemand hergekommen und es lag an ihr, herauszufinden, wer es war und was ihn herbrachte.

Birke ließ ihre Blätter noch einen Moment in den Böen tanzen und sog erneut den fesselnden Geruch ein. Da lag etwas Lockendes und Verheißungsvolles im Wind, wie ein gefährliches Versprechen, das ein Geheimnis in sich trug und dem sie am liebsten sofort nachgehen wollte. Wie von alleine wanderte ihr Blick zum nahen Waldrand und sehnsüchtig verharrten ihre Augen einen Moment an der dunklen Baumlinie.

Was machst du da, Birke?, fragte sie sich selbst. Die schwarzen Hände der Bewahrerin fuhren ertappt durch ihre eigenen Äste. Dann rutschte sie wieder den Baum hinab, den sie erklommen hatte, und ließ sich elegant auf den Waldboden gleiten. Es war höchste Zeit, an die Arbeit zu gehen.

»Also, was ist los?«, fragte eine knorrige Stimme voller Ungeduld. Das war Kiefer. Der große Bewahrer kam lautlos auf Birke zu und verharrte dann vor ihr. Neben ihm kam ebenso still Haselnuss zum Stehen. Der schmächtige Bewahrer sah sie nervös an und Birke seufzte innerlich tief auf. Sie hatte darauf gehofft, dass die Deru ihr auf den Ruf hin Eibe oder Weide schicken würden. Auch mit Weißdorn und Kirsche wäre sie zufrieden gewesen. Aber Kiefer war unerträglich stur und Haselnuss so ängstlich, dass er als Verstärkung kaum taugte.

»Jemand hat den Streifen betreten«, erklärte Birke an Kiefer gewandt und legte den Kopf in den Nacken, damit sie zu dem großen Bewahrer aufsehen konnte, der sie um fast zwei Köpfe überragte.

»Hmmm …«, brummte Kiefer und blickte jetzt auch in die Richtung, in die Birke eben gehorcht hatte. Haselnuss tat es ihm gleich und er schreckte bei dem Geruch von Rauch kurz zusammen. Seine Blätter raschelten leise.

»Anthari oder Aresar? Und wie viele?«, wollte Kiefer wissen und strich sich die ausgeblichenen Nadeln an der Schläfe mit einer harzenden Hand glatt. Die Wunde in seiner Rinde war vom letzten Kampf an der westlichen Grenze und noch immer nicht verheilt. Birke verkniff sich den Kommentar, dass er die Verletzung endlich von einem Wucherwerk-Bewahrer behandeln lassen sollte, bevor er sich einen Fäulnispilz oder etwas Schlimmeres einfing. Aber die störrische Kiefer würde sowieso nicht auf sie hören.

»Ich weiß es nicht genau«, meinte Birke und rümpfte die Nase. »Der verdammte Rauch schlägt mir auf die Sinne. Es könnte nur ein Anthari sein, aber außerhalb des Waldes sind auf jeden Fall noch mehr. Deshalb wollte ich nicht alleine gehen.« Haselnuss nickte ihr zustimmend zu. Er lauschte wieder kurz.

»Und sie kämpfen«, wisperte er. »Ich höre das Metall und die Schreie.«

»Streit unter Anthari geht uns nichts an!«, knurrte Kiefer. »Schick ein paar Dornruten-Schläger und lass die sich darum kümmern.«

»Aber jemand von den Anthari ist im Streifen!«, wiederholte Birke. Sie hatte befürchtet, dass sie mit Kiefer über die Sache diskutieren musste und das kostete sie wertvolle Zeit. Wenn die Dornruten-Schläger einen Anthari in ihre Klauen bekamen, würden außer ein paar roten Flecken im Moos nicht mehr viel von ihm übrigbleiben. Ungeduldig verlagerte Birke das Gewicht. »Vielleicht ist es jemand, der unsere Hilfe braucht und den Übergang gewählt hat«, gab die Bewahrerin zu bedenken. »Wenn er auf der Flucht ist, wird er im Streifen nicht lange überleben!« Sie strich sich betont langsam einen kleinen Zweig mit hellgrünen Blättern aus dem schwarz-weiß gemusterten Gesicht und zog herausfordernd eine ihrer dunklen Augenbrauen hoch. »Und ich will Pyrid oder Dornblatt nicht erklären müssen, warum wir einen möglichen Bewahrer verloren haben. Du etwa?« Bei der Erwähnung des Himyras und der chronisch schlecht gelaunten Baumring-Chronistin zuckte Kiefer kurz zusammen. Birke wusste, dass sie das richtige Druckmittel gewählt hatte. »Wir müssen es uns wenigstens mal anschauen gehen, nur ganz kurz«, schob sie nach.

»Na schön!«, schnaubte Kiefer missmutig und setzte sich in Bewegung. Ohne ein Wort folgte ihm der andere Bewahrer. Birke seufzte leise und lief den beiden dann hinterher.

Sie fragte sich oft, was Kiefer und Haselnuss aneinanderband. Wie bei allen Bewahrern hatte das Wasser der Erneuerung sämtliche Erinnerungen an ihr früheres Leben getilgt, aber manche Dinge vermochte selbst der Zauber des grünen Sees nicht auszulöschen. Ob sie mal Kampfgefährten gewesen waren? Oder miteinander verwandt? Hatten sie sich vielleicht geliebt? Aber die beiden wussten es nicht mehr und Birke hatte auch keine Ahnung. Kiefer und Haselnuss waren schon lange vor ihr hier gewesen und nicht sehr gesprächig. Sie schätzte den großen Bewahrer auf einen Mann von mindestens vierzig Sommern und den anderen auf Mitte dreißig. Und ich selbst … Wenn sie angestrengt versuchte, sich unter ihrer Birkenrinde ein Anthari-Gesicht vorzustellen, dann war sie vielleicht so alt wie Haselnuss, möglicherweise ein bisschen jünger. Zumindest vermutete Birke das.

Ihre Erinnerung an die erste Zeit im Großen Wald war überschattet vom Zauber des Sees und dahinter lag nur Vergessen. Je mehr Birke versuchte, in Gedanken zurückzugehen, umso stärker wurde der Widerstand der magischen Barriere in ihr, bis sie stechende Kopfschmerzen bekam und es aufgab. Aber ich habe mein altes Leben ja freiwillig hinter mir gelassen und es gab sicher gute Gründe dafür, überlegte sie.

Flüchtig warf die Bewahrerin einen Blick auf die magischen Sigillen, die sich über ihren in Blätter gehüllten, rechten Arm zogen. Sieben Siegel, die sieben Erinnerungen an ihr altes Leben verschlossen hielten. Aus irgendeinem Grund vermochte der Zauber des Sees ihre Vergangenheit nur wegzusperren, aber nicht sie komplett zu zerstören. Birke war sich nicht sicher, ob das ein tröstender oder beunruhigender Gedanke war. Stundenlang hatte sie schon darüber gerätselt, was die seltsamen Symbole bedeuten könnten. Sie hatte natürlich ihre Siegel mit denen von Eibe verglichen, um einen Hinweis in Ähnlichkeiten zu finden. Aber jedes der verschachtelten Zeichen sah unterschiedlich aus und Birkes Sigillen hatten kaum Gemeinsamkeiten mit denen von Eibe. Und als die andere Bewahrerin bemerkt hatte, was Birke da tat, war sie natürlich ganz und gar nicht begeistert gewesen.

»Was interessieren dich die Dinge aus einem vergangenen Leben, wenn du hier ein neues bekommen hast?«, hatte sie streng gefragt. »Sieh nicht zurück, Birke. Sieh nicht zurück!« Ja, Eibe hatte recht, so wie immer, und Birke schämte sich für ihre Neugier. Der Große Wald und Pyrid hatten ihr einen Neuanfang geschenkt und es war undankbar, diese Möglichkeit zu hinterfragen. Es ergab keinen Sinn, dass sie immer wieder an dem Zauber kratzte, um vielleicht doch einen Blick auf die Erinnerungen dahinter zu erhaschen. Sieh nicht zurück … Birke schüttelte energisch ihr Laub, als versuchte sie etwas aus ihren Blättern rieseln zu lassen und schloss schnell zu Kiefer und Haselnuss auf.

Sie liefen still und zügig dem Fluss entgegen. Hier im Grenzgebiet wurde der Wald immer lichter und durch das Laub der knorrigen Äste fiel sogar etwas Sonnenlicht auf den Waldboden. Alles schien friedlich zu sein, doch es herrschte eine seltsame Stille, die Birke bedrohlich vorkam. Die uralten Bäume flüsterten nicht miteinander und das ließ sie noch vorsichtiger werden.

Die drei Bewahrer bewegten sich absolut lautlos und unnatürlich schnell durch den Wald. Ihre Füße schienen kaum den Boden zu berühren. Selbst der große Kiefer drückte mit seinen schweren Rindenstiefeln nicht mal das Moos unter ihm ein. Außer den Geräuschen der Bäume konnte Birke jetzt nichts mehr hören. Keine Schreie, kein Metall, nur der Wald und der nahe Fluss waren da. Sie warf einen raschen Blick zu Haselnuss, um herauszufinden, ob es ihm mit seiner Wahrnehmung ähnlich erging, doch sie konnte aus seinem braunen, ausdruckslosen Gesicht nichts herauslesen. Der Geruch von Rauch war mittlerweile so deutlich, dass ihn jeder Anthari ohne die geschärften Sinne der Bewahrer hätte wahrnehmen können. Doch im Ruß schwang zusätzlich der eigentümliche Duft von blutgetränkter Erde mit und darunter mischten sich die Gerüche des Flusses. Nasse Steine, ein sumpfiger Schilfgürtel und wasserumspielte Wurzeln trafen auf Birkes Sinne.

Die Seva war an dieser Stelle relativ schmal und seicht, fast wie eine Furt, wenn irgendjemand vorgehabt hätte, freiwillig in den Großen Wald zu gehen. Aber wer hierherkam, der hatte entweder Todessehnsucht, wollte mit seinem alten Leben für immer abschließen oder war einfach nur sehr, sehr dumm.

Sie erreichten das Ufer und verbargen sich vorsichtig im Unterholz. Kritisch spähten die Bewahrer über den Fluss. Zwar gehörte das Land auf der anderen Seite des Stroms zum Großen Wald, aber die Seva markierte ohne Zweifel eine Machtgrenze. Sie waren hier noch im Reich der Deru, der Baumkinder, jener, welche aus dem Mutterbaum als Erste nach Dheubharia gekommen waren. Aber auf der anderen Seite eröffnete sich das Reich der Anthari, ihrer Blaustein-Artefakte und grenzenlos scheinenden Gier. Birke richtete sich auf und konnte jetzt deutlich Angst und Blut riechen. Sie sah zu Haselnuss und er schien es ebenfalls wahrgenommen zu haben. Zumindest verzog er angewidert das Gesicht.

»Wir müssen schnell hinüber«, flüsterte Birke.

»Ich weiß«, brummte Kiefer und sah missmutig in den Himmel, vor dem sich eine violette Rauchwolke abzeichnete. Unheilvoll schraubten sich die Schwaden immer weiter empor.

Diese Farbe ... Magisches Feuer …!, wurde Birke entsetzt klar. Das ist überhaupt nicht gut. Die nadeligen Augenbrauen des Bewahrers neben ihr zogen sich immer dichter zusammen.

»Warum haben die Bruchzweig-Späher deshalb nicht eher Bescheid gegeben?«, knurrte Kiefer. Birke sah den bedrohlichen Rauchschwaden ebenfalls nach und fragte sich das Gleiche. Sie selbst war eine passable Späherin, aber gegen die Sinne der Deru waren ihre Fähigkeiten geradezu lächerlich. Im Normalfall wären schon längst Blattflug-Schützen und andere Bewahrer auf die Ereignisse jenseits der Seva aufmerksam geworden. Aber der Große Wald befand sich im Krieg und Birke befürchtete, dass dies der Grund war, weshalb sie hier allein mit Kiefer und Haselnuss stand und nicht Eibe und weitere Bewahrer an ihrer Seite hatte.

»Sie sind bestimmt alle beim Enzyriam-Pass«, vermutete sie leise und Haselnuss stimmte ihr mit einem Kopfnicken still zu.

Die Anthari aus dem Blauen Städtebund wurden immer dreister, um Blaustein über den Landweg nach Asteria zu bringen. Im Auftrag der einflussreichen Stadt Lyapon hatten sie vor wenigen Tagen damit begonnen, Bäume beim Pass zu fällen. Also war es kein Wunder, dass zurzeit fast alle Bewahrer und die meisten der Deru im Norden waren. Sie würden die unverschämten Anthari wieder aus dem Großen Wald vertreiben und sich mit Blut bitterlich für jeden ermordeten Baum und jeden zerbrochenen Ast rächen.

Auch wenn Birke sich um Eibe sorgte, war sie froh, im Moment als Späherin an der südwestlichen Grenze des großen Waldes zu sein. Die Schäfer in der Heide blieben von der Waldgrenze fern und die Sternenstadt Asteria hatte sich in letzter Zeit ruhig verhalten. Außer ein paar verirrten Wanderern und vom Weg abgekommenen Aresar hatte es keine Zwischenfälle gegeben.

Birke erschauderte trotzdem kurz, als sie sich an ihre letzte Begegnung mit den Weißen Rittern erinnerte. Die schrecklichen Konstrukte hatten eine Fehlfunktion gehabt, wahrscheinlich weil ihre magischen Sigillen oder der zugewiesene Lenkerkristall beschädigt worden waren. Orientierungslos und doch beunruhigend zielstrebig waren die Aresar durch den Wald geirrt. Auf Birke hatte es fast so gewirkt, als ob die Weißen Ritter etwas suchten. Sie erinnerte sich an den abscheulichen Gestank von Sigillenmagie, Blausteinpulver und Tod, den die rastlosen Konstrukte verströmt hatten. Der Kampf mit dem Aresar-Trupp war schrecklich gewesen, nicht nur weil Birke damals gerade so mit dem Leben davon gekommen war. Andere Bewahrer hatten nicht so viel Glück gehabt und die Erinnerungen daran verfolgten sie noch immer. Birke atmete tief durch und versuchte nicht mehr an die Weißen Ritter zu denken.

»Gut, gehen wir!«, grollte Kiefer und trat aus dem schützenden Unterholz hervor. Haselnuss tat es ihm gleich und die beiden Bewahrer wateten zügig durch das flache Wasser. Birke erhob sich und in diesem Moment schlug ihr wieder dieser schicksalhafte Wind entgegen. Sie erzitterte und erschrak vor ihrer eigenen Reaktion. Bewahrer schauderten nicht, sie zögerten nicht, es gab nur sehr wenig, wovor sie zurückwichen. Dafür sorgten die Sigillen in ihrer Rinder. Aber etwas hielt sie davon ab, aus dem dichten Gehölz hervorzutreten, eine dunkle Ahnung, als ob sie mit dem Fluss eine Schwelle übertreten würde, deren Übergang sie nie wieder ungeschehen machen konnte.

Kurz dachte sie an Eibe und die furchtbaren Kämpfe beim Enzyriam-Pass. Birke hoffte inständig, dass es ihrer Waldschwester gut ging. Sie warf einen Blick zurück in das Dickicht, das ihr mit einem Mal noch mehr als sonst Sicherheit und Geborgenheit versprach. Doch dann kam wieder der Geruch von Rauch und riss sie aus ihren Gedanken. Birke atmete tief ein. Ja, Dinge würden sich ändern, aber sie wusste nicht wieso und der Wind fuhr ihr nur höhnisch durch die raschelnden Blätter.

»Ich bin bald wieder zurück«, flüsterte sie und hatte selbst keine Ahnung, an wen das Versprechen gerichtet war. Sie trat vor und in das seichte Ufer hinein.

Birke spürte nichts durch ihre Wildholz-Rüstung, weder die frische Kälte noch die Feuchtigkeit des Wassers. Der schützende Zauber des Waldes hielt alles von ihr ab. Von der anderen Flussseite aus sah Kiefer ihr mit stummer Ungeduld dabei zu, wie sie rasch die zerrenden Stromschnellen durchquerte. Haselnuss hingegen blickte sie besorgt an, als hätte er ihr Zögern bemerkt.

»Warum hast du so lange gebraucht?«, knurrte Kiefer mürrisch, aber Birke ignorierte ihn und lief rasch weiter. Die anderen Bewahrer folgten ihr leise.

Der Streifen, wie der schmale Wald entlang der westlichen Seite der Seva genannt wurde, war ein heller Mischwald. Sie verließen das Ufergebiet aus Erlen und Bruchweiden und schon bald standen Fichten, Tannen und Rotbuchen nebeneinander. Der Wald war licht, aber Birke erinnerte sich daran, dass es nicht immer so gewesen war. In den letzten zehn Jahren waren viele der Bäume abgestorben und selbst die Deru wussten nicht, woran es lag. Der Wald verging einfach, Baum für Baum, als hätten die Sprösslinge ihren Lebenswillen verloren. Birke presste ihre schwarzen Lippen fest aufeinander. Der Anblick der toten Holzgerippe im Streifen war nicht nur traurig, sondern auch zutiefst beunruhigend. Und die schreckliche Stille machte alles noch schlimmer. Hier flüsterte kein Baum, wiegte sich keine Windblatt-Tänzerin und sang kein einziger Vogel. Birke war nicht gerne im Streifen und die angespannten Gesichter ihrer Begleiter verrieten ihr, dass sie ebenfalls so fühlten. Hastig schlichen die Bewahrer weiter.

»Halt!«, befahl Haselnuss und sie stoppten alle augenblicklich. Birke hatte es auch gehört.

»Anthari. Eine Frau«, stellte sie knapp fest und hörte bereits das leise Schluchzen. Sie setzte sich sofort wieder in Bewegung und lief rasch in die Richtung, wo sie den Eindringling vermutete. Kiefer brummte etwas Unverständliches in seinen struppigen Bart hinein, aber er hielt sie nicht auf.

Angespannt näherte sich Birke dem Geräusch. Sie wusste nicht, mit wem sie es zu tun hatte und Anthari neigten dazu unberechenbar zu sein, wenn sie in die Enge gedrängt wurden. Und Birke war klar, wie unheimlich die Bewahrer wirkten.

Sie entdeckte die Frau gegen einen Baum gelehnt und auf dem Boden kauernd. Beim Blick auf die Tracht der Anthari ächzte Birke leise auf, Kiefer gab ein tiefes Grollen von sich und Haselnuss schnappte erschrocken nach Luft. Die verletzte Frau trug robuste Reisekleidung und alles an ihr war in einem dunklen, fast schwarzen Blauton gehalten. Nur die silbernen Besätze aus gewebter Silberborte und die feinen Sternenstickereien auf dem schweren Wollmantel hoben sich von dem unverkennbaren Blau ab.

»Was macht ein Stern hier?«, fragte Haselnuss ängstlich, aber Birke wusste darauf auch keine Antwort. Der Orden der Sterne war die militärische Hand von Asteria und seine Mitglieder waren normalerweise nie alleine unterwegs. Sich mit dem Orden anzulegen, bedeutete nicht nur Ärger, sondern mit etwas Pech auch den Tod. Es war gefährlich, die Sterne zu unterschätzen, selbst wenn sie verwundet oder vermeintlich in der Unterzahl waren.

Aber Birke musterte die junge Anthari kurz und stellte sofort fest, dass von dieser Ordensfrau keine ernstzunehmende Gefahr ausging. Sie war unbewaffnet, trug nicht mal Artefakte am Gürtel und befand sich an der Grenze zur Bewusstlosigkeit. Auf ihrer kreidebleichen Haut stand kalter Schweiß und pure Panik tanzte in ihren hellen Augen. Hastig versuchte sie, eine Blutung an ihrem rechten Arm zu stillen. Aber es gelang der Frau nicht, den notdürftigen Verband mit ihrer bebenden Hand anzulegen. Offensichtlich war das Schultergelenk des verletzten Armes ausgekugelt worden und jede Bewegung schien ihr furchtbare Schmerzen zu verursachen. Der rettende Verband hing wie ein blutgetränktes Banner in ihrer Hand, entglitt immer wieder ihrem zitternden Griff und wollte der Anthari trotz aller Bemühungen nicht gehorchen. Birke schnaubte abfällig. Der Anblick war erbärmlich, fand sie.

»Wir sollten abwarten …«, setzte Kiefer an, aber Birke schüttelte stumm den Kopf und trat lautlos auf die Frau zu. Obwohl Birke die hellste und auffälligste der Bewahrer war, bemerkte die Anthari sie erst, als sie wenige Schritte vor ihr stand. Die Frau blickte auf, gab einen leisen Schrei von sich und versuchte verzweifelt auf die Beine zu kommen, woran sie allerdings kläglich scheiterte. Dann beschrieb ihre unverletzte Hand unvermittelt eine wischende Bewegung. Der Geruch von freigesetztem Ozon erfüllte schlagartig die Waldluft. Magie entfaltete sich prickelnd und die Gestalt der Frau flimmerte. Birke erstarrte augenblicklich. Eine Aperia, war ihr sofort bewusst. Aber nur eine Spiegelhaut mit ihren Illusionen. Nichts, was sie mir zeigt, ist echt. Die Erscheinung der Frau flackerte, verschwand dann, tauchte wieder auf und verwob sich unvollständig in die Bäume hinter ihr. Birke sah mitleidig auf die verzweifelte Aperia nieder. Der Schmerz der Verletzung brachte ihre Magie völlig durcheinander, so dass sie nicht mal ihre einfachste Illusion erschaffen konnte.

»Ich tue dir nichts«, versprach Birke betont langsam. »Du musst dich nicht verstecken. Ich kann dich durch deinen Zauber sowieso hören und riechen.« Die Spiegelhaut gab ihre Bemühungen auf und starrte Birke mit schmerzverzerrtem Gesicht an. Vorsichtig machte die Bewahrerin einen weiteren Schritt auf die Frau zu und kniete sich nieder. Angst … Alles an dir atmet Angst, stellte Birke fest. Doch sie wollte es der Anthari nicht verübeln. Ihr war selbst klar, dass sie erschreckend aussah.

Der Zauber des grünen Sees hatte helle Rinde, verspielte Äste und tanzende Blätter in ihrer Haut wachsen lassen. Auf dem ersten Blick wirkte sie fast wie eine Deru. Aber ihre dunklen Augen waren Birke aus ihrem alten Leben gefolgt. Und dieser Anblick des Vertrauten im absolut Fremden, das erweckte eine tiefe Furcht in den meisten, die den Bewahrern so nahekamen. Birke hatte selbst lange gebraucht, um ihr eigenes Abbild im Wasser zu ertragen.

Sie wollte nach der Aperia greifen, aber die Frau zuckte panisch zurück.

»Nein …! Bitte nicht …! Bitte bring mich nicht zum See …!«, stieß die Anthari angsterfüllt aus. Birke legte den Kopf schief. Damit war schonmal geklärt, dass sie hier keine angehende Bewahrerin vor sich hatte.

»Tue ich nicht«, versicherte Birke und ersparte sich, zu erklären, dass sie die Anthari sowieso erst zum See bringen durfte, wenn die Frau sie dreimal darum bat. Besorgt warf Birke einen kurzen Blick auf die Wunde der Aperia. Etwas sehr Scharfes hatte sie am Arm verletzt und dem Geruch nach Fleisch und Sehnen zerschnitten. Ja, du riechst nach Blut … Viel von deinem Blut … Aber was ist da sonst noch …? Salz und … Stein …? Möglicherweise auch Kristall …? Vielleicht eine Art von Blaustein. Magie. Was für eine komische Mischung, wunderte sie sich.

Die Anthari blinzelte sie völlig benommen an und Birke zog besorgt die Augenbrauen zusammen. Die Frau würde vor ihren Augen verbluten, wenn man ihr nicht half.

»Du darfst nicht hier sein«, stellte Birke fest. In dem Augenblick bemerkte die Spiegelhaut auch Kiefer und Haselnuss, die schon die ganze Zeit still daneben standen. Die Frau gab ein heiseres Wimmern von sich und murmelte etwas, das wie ein hilfloses Gebet an ihre Heiligen klang. Birke zwang sich, nicht die Augen zu verdrehen. Für den Heiligenkult um irgendwelche vermeintlichen Kriegshelden aus der Sternenstadt hatte sie noch nie Verständnis gehabt.

»Verschwinde aus dem Großen Wald, Anthari!«, knurrte Kiefer mit tiefer Stimme. »Oder stirb!« Seine Hände formten sich knarzend in die furchtbaren Klauen um, mit denen der Bewahrer ohne Probleme durch die dicken Eisenrüstungen der Ritter aus Fanisi stoßen konnten. Die Augen der Frau weiteten sich vor Entsetzen. Sie versuchte wieder auf die Beine zu kommen, aber sank vor Schmerzen schluchzend zurück auf den Boden. Birke sah zu Kiefer und gab ein wütendes Schnauben von sich.

»Gib ihr Zeit! Sie ist verletzt!«, zischte sie unzufrieden und stand auf.

»Ist nicht unser Problem!«, grollte Kiefer bedrohlich. »Sie geht jetzt sofort oder ich töte sie, dann haben wir Ruhe.« Die Anthari wimmerte wieder leise auf, Kiefer machte einen Schritt vorwärts, doch Birke versperrte ihm rasch den Weg. Sie griff nach der Hand der Frau und erspürte sofort ihren aufgeregten Herzschlag. Erschrocken wollte die Anthari zurückweichen, aber ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr. Birke drückte sie mühelos auf den Waldboden nieder und klemmte in der gleichen Bewegung ihren Fuß unter den verletzten Arm. Die Frau war so überrumpelt, dass sie nicht mal versuchte, sich zu wehren. Wildes Aperion flutete durch Birkes Finger und gleichzeitig zog sie in einer ruckartigen, aber kontrollierten Bewegung am Arm der Frau, während sie ihren Fuß an der Schulter als Ankerpunkt benutzte. Ein dumpfes, Übelkeit erregendes Geräusch ertönte und die Anthari schrie überschlagend auf, auch wenn Birke ihr Bestes gab, um die Schmerzen des eingerenkten Gelenkes mit ihrer heilenden Magie zu betäuben. Die Frau wollte sich wimmernd und mit aller Kraft aus dem Griff befreien, aber die Bewahrerin war viel stärker.

»Halt still!«, befahl Birke streng und zitternd gehorchte die Anthari. Konzentriert fühlte die Bewahrerin in den aufgewühlten Aperionstrom der Spiegelhaut hinein. Aber sie hatte sich umsonst Sorgen gemacht. Der Puls des zähen Anthari-Herzens schlug schnell und war auch in dem verletzten Arm deutlich zu spüren. Birke hatte mit ihrer ruppigen Heilung nichts abgeklemmt und die blutende Verletzung war durch das Aperion wieder zugewachsen. Die wuchernde Wunde wirkte auffällig in der weichen Haut und würde eine unansehnliche Narbe hinterlassen, aber die Spiegelhaut lebte. Mehr konnte Birke nicht tun.

Sie zog die Frau mühelos auf die Beine und ließ sie los. Die Anthari starrte sie erst mit Tränen in den Augen an, dann rang sich ein leises »Danke« über ihre bebenden Lippen. Birke zog überrascht eine struppige Augenbraue hoch. Sie hatte keine Erkenntlichkeit erwartet.

»Verlasse den Großen Wald. Wir folgen dir bis zum Rand. Los, geh!«, befahl sie. Die Frau wandte sich ohne zu zögern um und stolperte davon. Birke seufzte innerlich leise auf, als sie Kiefer und Haselnuss einen kurzen Blick zuwarf. Die beiden Bewahrer sahen nicht zufrieden aus und sie würden Pyrid sicher berichten, was sie getan hatte. Aber Birke war es egal. Sie hatte sich von dem Himyra schon so einige Standpauken wegen ihres unüberlegten Handelns anhören müssen, da kam es auf eine mehr oder weniger auch nicht an.

Die Anthari war völlig erschöpft und stürzte sogar einmal, aber Birke half ihr nicht. Die Bewahrer warteten geduldig ab, bis sich die Spiegelhaut wieder aufgerappelt hatte und liefen dann weiter hinter ihr her. Sanftes Sonnenlicht strömte durch die lichten Baumwipfel, als sich der Waldrand ankündigte und sie die endgültige Grenze des Großen Waldes erreichten. Endlich sind wir sie los, dachte Birke erleichtert und drückte das dichte Unterholz zur Seite.

Doch die Anthari blieb unvermittelt und wie erstarrt stehen. Kiefer stieß sie unsanft einen weiteren Schritt vorwärts und verharrte dann ebenfalls abrupt. Haselnuss schnappte bestürzt nach Luft, während Birke neben die schluchzende Frau trat. Die Bewahrerin hatte plötzlich Mitleid mit der Anthari und verstand, warum sie sich trotz ihrer Verletzung in den Großen Wald geflüchtet hatte.

Sie starrten alle auf die Überreste eines Konvois. Eine der wichtigsten Handelsstraßen nach Piroun verlief hier eng am Großen Wald entlang. Die Anthari waren vermutlich auf dem Rückweg in Richtung Asteria gewesen und das halbe Dutzend Wägen war schwer mit Kisten und Körben voller Waren beladen. Doch dieses Handelsgut würde die Stadt der Sterne nie erreichen. Alle sechs Gespanne brannten lichterloh. Die kalten, aber verzehrenden Flammen hatten das seltsame, violette Farbspiel, das nur magischem Feuer zu eigen war. Dunkler, stinkender Rauch quoll in den Himmel hinauf. Zwischen den Karren verstreut entdeckte Birke die leblosen Körper von Lastpferden und Anthari. Sie überschlug kurz und kam auf gut zwanzig Soldaten des Sternenordens, wobei das bei dem Zustand mancher Leichen schwer einzuschätzen war. Etwas oder jemand schien mit unfassbarer Gewalt unter den Ordensmitgliedern gewütet zu haben. Die meisten der Sterne waren definitiv tot. Kaum vernehmbar hörte Birke zwischen den brennenden Karren einige Herzen schlagen, wie dumpfe Regentropfen, die nach einem Schauer vereinzelt auf den Boden aufschlugen. Doch auch sie standen kurz davor ebenfalls zu verlöschen.

»Wer hat das getan?«, fragte Birke leise. Die Spiegelhaut starrte sie mit großen Augen an. Dann holte die Frau flatternd Luft.

»Das wart ihr. Das waren die Bewahrer.«

 

Kapitel 2: STADT DER STERNE

Bereits beim Aufwachen war Parlec klar, dass heute ein verhängnisvoller Tag werden würde. Nebel …, erinnerte er sich noch halb im Schlaf gefangen.

Davon habe ich seit Jahren nicht mehr geträumt. Ein schlechtes Omen für einen schlechten Tag. Wie passend. Parlec lag noch kurz im Bett, starrte an die dunkle Decke und ließ die bedrückenden Bilder begleitet von Vogelgesang aus seinem Kopf entkommen. Dann stand er mit einem schweren Seufzer auf, flocht seine Haare und kleidete sich rasch an. Er hatte vor, seinen Schwestern an diesem Morgen aus dem Weg zu gehen, und die Vögel würden ihn sowieso nicht länger schlafen lassen. Der Schwarm war immer früh wach und weckte ihn zuverlässig.

Die erste, trübe Dämmerung zog über Asteria auf, als Parlec in die Küche schlich, um etwas Brot und Obst für den Tag einzupacken. Er hörte die energischen Schritte, noch bevor die Tür krachend aufgestoßen wurde, und kam deshalb geradeso haarscharf an Iraxa Haranya vorbei. Zu seinem Glück hatte die Älteste der sieben Geschwister aber morgens immer eine furchtbare Laune. Sie kramte leise fluchend im Schrank nach einer Tasse und trotz ihrer feinen Sinne bemerkte sie nicht, wie er hinter ihrem Rücken aus der Tür huschte.

Parlec durchquerte das Haus Haranya, ohne jemandem zu begegnen, und gelangte schließlich zu der langen Garderobe, die dicht mit dunkelblauen und silbrig glänzenden Mänteln behängt war. Er fand schnell das richtige Kleidungsstück und steckte einen kleinen Zettel in eine mit Silbergarn bestickte Tasche. Dein Zug, Schwester, dachte er zufrieden bei sich und schreckte dann heftig zusammen, als plötzlich die Stimmen von Zaya und Nissa durch den Gang hallten. Er packte seinen eigenen Mantel, drehte sich hastig um und bog zügig in den Südflügel ab.

Als Parlec das Haus Haranya eilig durch den seitlichen Dienstboteneingang verließ, hingen düstere, erdrückende Wolken über der Stadt. Er kniff die Augen zusammen und sah prüfend in den Himmel. Der nächste Sturm rollte unaufhaltsam von den beiden Gebirgsketten heran, zwischen denen Asteria eingekeilt war. In den letzten Tagen waren die ersten Blitze auf die Stadt nieder gegangen und kündigten das monatliche Großgewitter an. Parlec drückte sich den Donnerlärmschutz in die Ohren, schlug den Kragen seines silberdurchwebten Sturmmantels hoch und machte sich zügig auf den Weg. Eigentlich war es zu früh für den Starkregen und die gefährlichen Blitzschauer, aber man konnte nie wissen. Das Wetter über Asteria hatte seinen eigenen Willen, wenn nicht sogar einen gewissen Sinn für Humor. Falls man es lustig fand, vom Blitz getroffen zu werden.

Parlec bog scharf nach links ab und steuerte bergab auf den ersten Ring zu. Der direkte Weg durch den Orden der Sterne wäre ohne Zweifel kürzer gewesen, aber dort lief er Gefahr, doch noch einer seiner Schwestern über den Weg zu laufen. Und darauf konnte er gerade gut und gerne verzichten. Zügig und mit gesenktem Kopf schritt er an der breiten Treppe des Haupteinganges vorbei, aber außer den normalen Wachsoldaten war niemand davor zu sehen.

Der Zugang zum Orden, die hohen Türme mit ihren silbernen Kuppeln und die matt glänzenden Blausteinspitzen waren bereits mit blitzfesten Fahnen geschmückt, schließlich stand heute ein Festtag an. Zaya war jetzt fünfundzwanzig Jahre alt und das bedeutete, dass sie endlich hochoffiziell bei den Raubschwingen aufgenommen wurde. Das Ereignis versetzte den ganzen Orden der Sterne - und damit einen nicht unerheblichen Anteil der Stadtbevölkerung - in helle Aufregung. Und wie immer ließ sein Vater es sich nicht nehmen, die halbe Oberstadt zu einem großen Fest einzuladen. Neben Speis, Trank und Unterhaltung würde es zu Sonnenuntergang ein prächtiges Lichterspektakel geben, das man auch in der Unterstadt voller Vorfreude erwartete.

Parlec verdrehte genervt die Augen. Alleine beim Gedanken an den bevorstehenden Abend hoffte er darauf, von einem Blitz getroffen zu werden, um nicht an den Feierlichkeiten teilnehmen zu müssen. Reiche Oberstadtbewohner, Würdenträger, Militärs, Beamte, sie alle würden versuchen, ein Gespräch mit seinen Schwestern zu beginnen, um es sich mit dem Orden der Sterne und den einflussreichen Raubschwingen gut zu stellen. Aber zu Parlecs großen Bedauern machte die Elite von Asteria auch vor ihm nicht halt. Er verabscheute das sinnentleerte Geplauder mit den reichen Bewohnern der Oberstadt. Blaustein-Händler, Inhaber von Sigillen-Schmieden und Artefakt-Ingenieure lauerten nur darauf, ihn mit belanglosem, politischen Geschwätz zu langweilen. Und besonders unangenehm waren die Räte. Ach, die Blaustein-Preise sind schon wieder gestiegen und die Arbeiter protestieren erneut für bessere Arbeitsbedingungen? Nein, wie ärgerlich, da sollte man wirklich mal was unternehmen! Also natürlich gegen die Arbeiter. Hahaha …! Parlec ächzte leise, wandte den Blick von dem wuchtigen Ordenshaus ab, und beeilte sich, schnell weiterzukommen.

Das Schilf in den Kanälen links und rechts von der gepflasterten Straße rauschte im kräftigen Wind und untermalte seine hastigen Schritte. Die letzten beiden Stürme hatten hauptsächlich heftige Entladungen, aber nur wenig Niederschlag gebracht. Die Zisternen der Stadt waren bedrohlich leer. Nur einmal war sehr viel Regen gefallen und hatte prompt für gefährliche Überschwemmungen gesorgt. Doch jetzt war das Wasser wieder fort. Wenn die Kanäle der Klärgruben trocken fielen, würde sich das Schilfrohr komplett zurückbilden und Asteria in einen stinkenden Moloch verwandeln. Hier in der Oberstadt konnte man dem penetranten Geruch vielleicht noch durch den beständigen Wind entgehen, aber in der dicht bebauten Unterstadt würde es schnell unerträglich werden. Nur hat Asteria größere Probleme als drohenden Gestank, befand Parlec düster und bog nach links in Richtung Archiv ab.

Seit Wochen schon hing der bedrohliche Hauch von Unruhe über der Stadt. Im Zehnten Viertel, dort wo die Märkte lagen, war es in den letzten Tagen immer wieder zu Ausschreitungen gekommen. Aber vor allen in den nördlichen Armenvierteln rumorte es. Die umliegenden Höfe brachten kaum ausreichend Erträge ein. Es war höchstens genug, um die ansässigen Bauern selbst zu ernähren. Und die kleinen Gartenviertel innerhalb der Stadtmauern hatten den Bedarf der Bevölkerung noch nie decken können. Um zu überleben, war Asteria schon seit Jahren auf Importe aus Piroun angewiesen. Doch ein verregneter Sommer und ein langer Winter hatten die Ernte im ganzen Mittelreich schlecht ausfallen lassen. Als Folge waren die Lebensmittelpreise in den vergangenen Monaten unaufhaltsam gestiegen. Aber die einfachen Handwerker, die unterbezahlten Minenarbeiter und Artefakt-Konstrukteure konnten sich die schwindelerregenden Preise kaum mehr leisten. Ihre Rufe nach Gerechtigkeit und Veränderungen wurden stetig lauter. Die einflussreichen Viertelsprecher von Klein Glari, dem Schattenquartier und Kalter Wind standen für ihre Forderungen schon seit Wochen unter der scharfen Beobachtung des Ordens. Weil sie Essen für ihre Familien verlangen. Wie können sie es nur wagen, dachte Parlec sarkastisch bei sich. Doch nach seiner Vermutung war es nur eine Frage der Zeit, bis die Sprecher abtraten, unter irgendeinem Vorwand für immer im Ratsgefängnis verschwanden oder kurzerhand ermordet wurden. Armut, Hunger und Aufruhr griffen in Asteria um sich und die Führung der Sternenstadt wusste damit nicht umzugehen, weil sie solche Zeiten noch nie erlebt hatte.

Parlec selbst hatte das große Glück, sich nicht um Essen, Kleidung oder ein Dach über dem Kopf sorgen zu müssen. Er war nicht nur Ordensmitglied, sondern gehörte auch zu einer überaus wohlhabenden Familie. Unverschämt reich trifft es eher, überlegte er peinlich berührt. Er kannte nicht die genaue Anzahl an Gebäuden, die sich im Besitz vom Haus Haranya befanden, aber es waren für seinen Geschmack definitiv zu viele. Doch Parlec hatte in diesen Dingen kein Mitspracherecht. Die Geschäfte seiner Familie lagen fest in den Händen seines Vaters und der Raubschwingen. Er selbst bekam nur das tägliche Leid der Bevölkerung bei seiner Arbeit als Heiler mit. Aber wirklich etwas dagegen zu unternehmen, war schwierig. Parlec schnaubte resigniert und bedachte das weitläufige Umland mit einem flüchtigen Blick.

Auch die Nachrichten und Gerüchte aus dem Osten versprachen nichts Gutes. Bara Wari hatte die Zölle für die Blausteine erneut angehoben und die blauen Städte um Lyapon drohten deshalb mit Krieg. Asteria würde sich aus dem Konflikt am liebsten heraus halten, aber es war abzusehen, dass die Sternenstadt schon bald Position beziehen musste.

Parlec legte die Stirn in tiefe Falten. Im Kriegsfall würde man ihn garantiert einziehen. Doch das Letzte, was er wollte, war in einem schmutzigen Lazarettzelt die zerfetzten Überreste von Soldaten wieder zusammen zu flicken. Alleine der Gedanke daran jagte ihm einen Schauer über den Rücken und in seiner Brust entfachte sich ein aufgebrachtes Flattern. Er seufzte leise und wünschte sich, wie so oft, woanders hin.

Endlich erreichte Parlec den schmalen Weg, der zum Archiv führte. Der ausdruckslose Bau stand eingeklemmt zwischen dem gewaltigen Hauptgebäude des Ordens und dem angegliederten Horst. Mit seiner unscheinbaren Fassade und dem winzigen Blitzturm ging das Archiv neben den prächtigen Gebäuden der Oberstadt komplett unter. Hierhin verirrten sich nur selten Asteri, aber dagegen hatte Parlec nichts einzuwenden. Wenigstens hatte er hier seine Ruhe vor seiner Familie und den Verpflichtungen des Ordens.

Er betrat den ummauerten Innenhof und begrüßte die verwitterte Steinstatue der Heiligen Savya auf dem Platz mit einem knappen Nicken. Dann steuerte er zielstrebig auf den Eingang des Archivs zu. Parlec fischte einen Schlüsselbund aus seiner Tasche und sperrte die breite Archiv-Tür auf. Vorsichtig spähte er hinein, aber wie zu erwarten war die alte Palva noch nicht da. Er atmete auf. Nicht, dass er etwas gegen die Verwalterin des Fay-Asservariums hatte. Im Gegenteil, er mochte die schrullige Dame sogar. Doch Parlec hatte schlechte Laune und da war er am liebsten allein. Durch seinen Kopf hallte auf den Gedanken hin vorwurfsvolles Vogelgezwitscher.

»Ja, ich weiß«, murmelte er. »Fast allein.«

Parlec schloss die Tür hinter sich, sperrte von innen wieder ab und durchquerte den Empfang zügig. Er schlüpfte unter der Theke hindurch und verschwand auf der gewundenen Steintreppe dahinter in das Archiv. Der Gang schraubte sich in fast dreißig Umdrehungen immer weiter in die Erde hinein. Parlec lief achtlos an den Portalen vorbei, die sich von der breiten Treppe abzweigten. Das Anthologie-Archiv, die erste und zweite Waffenkammer, die kleine Flora- und Fauna-Sammlung, das große Naturalienkabinett, das Mumien-Arsenal, das alte Depot und die uralte Kleider-Kollektion flogen an ihm vorbei, bis er endlich die Tür zu der vergessenen Bibliothek aufstieß. Der Name war etwas irreführend, denn natürlich hatte man die Büchersammlung des Ordens nicht wirklich vergessen. Jeder Stern wusste theoretisch, dass es sie gab. Nur suchte sie kaum einer auf und damit war sie der ideale Rückzugsort, wenn Parlec allein sein wollte.

Sachte drückte er die schwere Holztür hinter sich zu und stand für einen Moment im Dunklen, bis die bleichen Artefaktlichter über ihm endlich auf seine Anwesenheit reagierten. Ihre Flammen glühten flackernd auf und tauchten einen langen, schmalen Gang in ihr grelles Licht. Die Seiten waren bis zu der Decke mit Büchern und Akten vollgestopft. Der Geruch nach altem Pergament, eingetrockneter Tinte und viel, viel Staub hing in der stickigen Luft.

Zügig schritt Parlec den engen Korridor entlang und zog im Vorbeigehen den Sammelband Webersbrecht heraus. Er wollte später noch einige Details über den Gebrauch von heilenden Artefakten in Kombination mit Caladrius-Augen nachschlagen. Auf den Vorschlag seines Meisters hin hatte sich Parlec einen Sigillen-Anhänger bei der Blaustein-Gilde bestellt, um mit alternativen Anwendungen seiner Gabe zu experimentieren. Doch das verdammte Ding wollte einfach nicht tun, wozu es erschaffen worden war und so langsam wusste er auch nicht mehr weiter. Natürlich hätte er Dion um Rat fragen können, aber in der Hinsicht war Parlec stur. Er versuchte lieber alleine auf die Lösung zu kommen.

Mit langen Schritten durchschritt er die Regalreihen, dann öffnete sich der Gang in einen großen Raum. Ein Tageslichtzauber an der Decke erstrahlte in einem riesigen Kristalllüster und spendete helles Licht. Das grell leuchtende Konstrukt war ein zweckentfremdetes Fay-Artefakt, wie so viele in Asteria. Es beschien weitere Bücherregale, die sich einmal komplett um den ganzen Raum spannten. Eine Galerie, die über eine gewundene Treppe in der Ecke zu erreichen war, ermöglichte es, die oberen Etagen bequem zu betreten. In der Mitte des Saals standen einige große Pulte, die als Studien- und Kartentische dienten. Doch zurzeit waren sie über und über mit Büchern bepackt. Die gewagten Stapel kratzen mit ihrer Höhe und Schräglage nahe am statisch Unmöglichen und trotzten höhnisch der Schwerkraft.

Zumindest in dieser Hinsicht war die Bibliothek wahrhaftig vergessen: Hier fühlte sich kein Bibliothekar verantwortlich. Parlec hatte sich zwar fest vorgenommen, die Bücher irgendwann wieder an ihren angestammten Platz zurückzustellen, doch dazu gekommen war er bis jetzt nicht. Und sein auf Glück und Erinnerung basierendes Ordnungssystem funktionierte meistens, also sah er erstmal auch keine Notwendigkeit, etwas daran zu ändern. Wie zur Bestätigung fügte er mit dem Buch in seiner Hand dem nächstbesten Turm einen weiteren Baustein hinzu.

In ihm begehrte der Schwarm erwartungsvoll auf und Parlec drückte rasch seine Finger auf die Brust.

»Ist ja gut. Seid nicht so ungeduldig!«, brummte er. Schnell ging er zu einer Sitzecke, die aus einem kleinen Tisch mit Leselampe, einem verschlissenen Sessel und einem breiten Samtsofa bestand. Der abgetretene Teppich unter Parlecs Stiefeln dämpfte seine Schritte und er warf die Tasche achtlos auf das fleckige Sofa. Dann drehte er sich um und horchte in sich hinein.

Fieberhaft flatterten hunderte Flügel neben seinem Herzen auf und zum ersten Mal, seit Parlec aufgestanden war, lächelte er. Einen Moment lang genoss er das kribbelnde Gefühl des Schwarms, den Flügelschlag und den aufgeregten Gesang, dann atmete er tief durch. Ein elektrisierendes Prickeln fuhr durch Parlecs Körper, schwemmte Magie in seine Adern und erfasste die Vayasha in seiner Brust. Aperion wallte auf und der Schwarm schloss sich begeistert dem Fluss aus Lebensenergie an. Euphorischer Gesang brandete durch Parlecs Kopf und dann ließ er sie frei. Die Vögel strömten unter seinem Mantel hervor, wie eine silbergraue Flut, die nur darauf gewartet hatte, endlich befreit zu werden.

Parlec sah den Vayasha nach und schüttelte kurz seine Hände aus, um das Kribbeln des Aperions in den Fingerspitzen wieder loszuwerden. Der graue Schwarm drehte an der hohen Decke der Bibliothek eine bemerkenswert enge Kurve und dann ließen sich die Vögel nacheinander auf Bücherregalen und stützenden Querbalken nieder. Sie schimpften, schnatterten und verursachten einen beachtlichen Lärm. Doch hier unten war außer ihm niemand und Parlec störte es nicht. Für ihn war das Lied der Vögel wie sein Atem und Herzschlag, beständig und untrennbar mit ihm verbunden. Er hörte sie unentwegt in seinem Kopf rufen, schon seit seiner Geburt.

»Guten Morgen!«, wünschte Parlec dem Schwarm, was dieser mit noch mehr Geschnatter erwiderte. Die Vögel schlugen aufgeregt mit den Flügeln und putzten hingebungsvoll ihr weiches Gefieder. Er streckte eine Hand aus und eines der aperialen Wesen landete auf seinen Fingern. Der nebelgraue Vogel starrte ihn mit seinen bernsteinfarbenen Augen an und gab dann ein aufmunterndes Zwitschern von sich. »Danke, aber mir ist nicht nach Feiern zumute«, gab Parlec leise zu, was der Vogel mit einem zischenden Schnalzlaut kommentierte. Das aperiale Wesen drückte sich tröstend gegen seine Haut und Parlec spürte kein Gefieder, nur Wärme. »Lieb von dir«, murmelte er und lächelte leicht. Der Vogel flog wieder fort und der Schwarm hob zu einem gemeinschaftlichen Lied an, sang hell und überschwänglich. Parlec wurde etwas rot. »Das war schön, danke«, meinte er aufrichtig, als die Vögel langsam verstummten. Doch vereinzelt erklang leises Gezwitscher und es klang besorgt. »Ich bin gerne mit euch hier«, beteuerte Parlec rasch. »Und es ist sowieso alles besser, als Zayas blöde Feier heute Abend. Ich lasse mich kurz unter Vaters Augen blicken und verschwinde dann wieder. Es fällt sowieso nicht auf, wenn ich fehle. Hoffe ich zumindest.« Er seufzte schwer, als der Schwarm ihn mit kritischem Schnalzen bedachte.

»Führst du wieder Selbstgespräche?«, fragte jemand. Parlec fuhr heftig zusammen und alle Vögel im Raum flogen auf einen Schlag laut kreischend auf. Hinter ihm stand eine Frau in der Paradeuniform des Ordens. Sie trug einen dunkelblauen Samt-Umhang und eine glänzende Stahlrüstung. Das gebläute Metall schimmerte wie Elsterglanz und musste frisch poliert worden sein. Die Tracht war unpraktisch, aber ohne Zweifel elegant. Tzzz, an die Stille der Raubschwingen werde ich mich nie gewöhnen. Verdammte Jäger, wie aus dem Nichts.

»Was willst du, Nissa?«, fragte Parlec matt und seufzte leise. Er hatte nicht damit gerechnet, seine Schwester schon so früh zu sehen. Sie sah noch immer kritisch nach oben an die Decke, wo sich der Schwarm aufgebracht drehte.

»Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken«, murmelte sie und strich sich verlegen eine Strähne aus dem Gesicht. Nissa hatte die gleiche honigblonde Haarfarbe, wie er. Aber während Parlec eine aufwändige Flechtfrisur nach Tracht der Oberstadt trug, hatte sie die langen Haare in einem schmucklosen Pferdeschwanz zusammen gebunden. Er wusste, dass sie ihn darum beneidete, doch unter den Helmen des Ordens war alles, was über einen normalen Zopf hinaus ging, vergebene Liebesmühe.

Langsam beruhigten sich die Vögel und fanden nacheinander wieder einen Platz auf den Regalen und dem Gebälk. Dabei ließen sie Nissa keinen Moment aus den Augen und starrten sie misstrauisch an. Der Gesang des Schwarms war leise und angespannt. Seine Schwester wandte sich von den Vögeln ab und schnaubte tadelnd.

»Habe deine Nachricht bekommen«, erklärte sie und drehte den Zettel zwischen ihren Fingern. »Es zählt aber nicht, das Papier in den Mantel an der Garderobe zu stecken. Du schummelst, Parl!«

»Nissa, so wie du morgens durch den Horst taumelst, hätte das doch sowieso keinen Unterschied gemacht«, gab er spöttisch zurück. Seine Schwester schnaubte empört, aber wusste, dass er recht hatte. Sie hasste, es früh aufzustehen, und er nutzte das bei ihrem Zettelspiel gerne aus.

»Na, wenigstens habe ich mich nicht morgens wie ein gemeiner Dieb aus dem Haus gestohlen«, meinte sie kühl. »Kyniga hat dich übrigens trotzdem gesehen und Vater Bescheid gegeben. Du tauchst besser heute Abend auf und gratulierst Zaya hochoffiziell vor versammelter Runde oder dir blüht eine saftige Strafe.« Parlecs Blick verfinsterte sich. Kyniga … War ja klar. Die Weihe kann sich wie immer nicht um ihren eigenen Kram kümmern, dachte er schlecht gelaunt bei sich.

»Was willst du, Nissa?«, wiederholte er missmutig und wandte sich einem der voll geräumten Tische zu. Er machte sich auf die riskante Suche nach einem Buch, von dem er befürchtete, es würde Bestandteil des stützenden Fundamentes sein. Vorsichtig drückte er zwei dicke Bildbände aus dem Bücherberg hervor und hielt dann in letzter Sekunde einen Stapel Folianten davon ab, sich seitlich vom Tisch zu stürzen. Er stabilisierte den schwankenden Turm mit den beiden Bänden und zog ein weiteres Buch unter dem Haufen raus. Nissa sah ihm bei seiner gewagten Suche zu und verzog den Mund.

»Also …?«, fragte er frostig.

»Darf ich nicht mal meinem kleinen Bruder zum Geburtstag gratulieren?«, brummte sie. Einige Bücher entkamen seinem Griff und fielen zu Boden. Staub flog auf und Parlec nieste hingebungsvoll.

»Das ist wirklich nichts, wozu man mir gratulieren muss«, meinte er und schniefte leise. »Erst recht nicht heute.« Kurz dachte Parlec, das gesuchte Buch gefunden zu haben, aber er hatte sich geirrt. Mortesa Wittis Anmerkungen zum Blausteingebrauch unter der Einwirkung von Knochendistel wanderte kurzerhand auf einen anderen Stapel. Parlec nieste wieder. »Verdammter Staub …!«, schimpfte er. »Wo ist der Wildstein nur?« Er setzte seine Suche genervt fort und hörte, wie Nissa hinter den Büchertürmen einen leisen Seufzer ausstieß. Parlec presste angespannt die Lippen zusammen. Sie seufzt immer, wenn sie sich Sorgen um mich macht. Aber was ist mit dir, Nissa? Doch Parlec wusste, dass sie es nur gut meinte.

Von all seinen Schwestern kam er mit ihr ohne Frage am besten aus. Sie war nur zwei Jahre älter als er und es war ihr wichtig, wie er sich fühlte. Nissa interessierte sich für seine Heiler-Arbeit in den Häusern des Theriak und empfand keine vollkommene Verachtung für seine aperialen Fähigkeiten. Das alleine war schon hilfreich beim täglichen Umgang. Kaum jemand aus seiner Familie wollte sonst wissen, wie sein Leben verlief - außer er hatte sich mal wieder in Schwierigkeiten gebracht, oder drohte den Namen Haranya in einen neuen Skandal hinein zu ziehen.

Nissa war da anders. Wenn er besonders miserable Tage hatte, überredete sie ihn, etwas mit seinen Kollegen zu unternehmen oder nahm ihn mit auf einen Ausflug in das Schirmviertel. Und im Gegenzug tröstete er sie, wenn die anstrengende und nervenaufreibende Arbeit im Orden sie mal wieder zum Weinen gebracht hatte oder der Kommandant seinen Zorn an ihr ausließ. In der Hinsicht passten sie beide gut aufeinander auf. Aber trotzdem war sie eine Raubschwinge, so wie Zaya und all seine anderen Schwestern auch. Er tat ihr leid und das vergrößerte seinen Unmut nur noch weiter. Parlec wollte kein Mitleid, für das, was er war, sondern einfach seine Ruhe haben.

Wieder rutschte ein Stapel Bücher vom Tisch. Er fluchte, fing einige Bände im letzten Moment auf und versuchte angestrengt, seine Schwester weiter zu ignorieren.

»Du verpasst nichts, Parl, versprochen«, behauptete Nissa leise und ihm war klar, dass sie von der Einweihungszeremonie sprach, bei der er nicht dabei sein durfte.

»Ich weiß«, sagte er und versuchte, möglichst kalt und desinteressiert zu klingen, aber selbst er hörte die Frustration in seiner eigenen Stimme. Parlec legte die Bücher aus den Händen und die Vögel über ihnen schnatterten aggressiv.

»Du weißt doch, wie das läuft, Parl. Sie bekommt ihren Dolch und den Mantel, dann redet Vater noch den üblichen Unsinn von Ehre und Pflicht daher und das war’s. Ich wäre froh drum, es verpassen zu dürfen. Du musst deshalb nicht wütend werden«, meinte sie sanft, aber der Schwarm schlug zornig mit den Flügeln. Parlec hörte auf, nach dem Buch zu suchen, und sah Nissa nachdenklich an. Wut war wirklich nicht das richtige Wort dafür, was er empfand. Müde … Ich bin einfach nur müde.

Die ganze Stadt Asteria, der Orden der Sterne, seine Familie, ja, selbst Nissa … Alles fühlte sich wie ein unsichtbarer Käfig an, gegen den er beständig mit seinen Flügeln stieß und nicht vorankam. Und so war es schon seit Jahren. Er kannte es fast nicht anders. Parlec schnaubte frustriert.

Insgeheim hatte er lange darauf gehofft, dass es im Laufe der Zeit besser werden würde, aber nein, es wurde nur immer schlimmer. Etwas fehlte ihm und er konnte einfach nicht sagen, was. Soweit er das als Heiler einschätzen konnte, war er nicht krank oder verwirrt. Ja, vielleicht ein bisschen einsam und eher zurückgezogen. Aber mit einem Schwarm Vögel im Kopf war es im Alltag schon schwierig genug, sich zu konzentrieren.

Nein, mir geht es gut. Eigentlich darf ich mich über mein Leben nicht beschweren, stellte er fest. Und doch … Irgendwas in seinen Gedanken fühlte sich immer falsch an, unzusammenhängend und zerbrochen. Sein Kopf kam ihm vor wie ein Gefäß, das beständig Wasser verlor, aber er konnte den haarfeinen Riss nicht finden, egal, wie angestrengt er ihn suchte. Es war, als würde ihm die entscheidende Scherbe fehlen, ein wichtiges Fragment, das unwiederbringlich verschwunden war. Und dieses Gefühl der Hilflosigkeit machte Parlec Angst, Tag für Tag.

Er öffnete kurz den Mund, um seiner Schwester endlich zu sagen, was er empfand. Aber er schauderte und innerhalb eines Wimpernschlages entschied sich dagegen, so wie immer. Sie wird es nicht verstehen, selbst wenn sie wollte. Der Orden und das Wohlergehen seiner Mitglieder sind ihre Lebensaufgabe. Nissa hat dort ihre Bestimmung gefunden. Aber ich … ich bin im Orden der Sterne gefangen.

»Mir geht es nicht um die blöde Zeremonie«, bekräftigte er fest und es war die Wahrheit. Aus diesen langweiligen und hochtrabenden Geheimriten der Raubschwingen hatte er sich noch nie etwas gemacht.

»Und worum geht es dann?«, wollte Nissa wissen. Er zuckte mit den Schultern und sah hoch zu den grauen Vögeln.

»Acht Minuten und kein Adler …«, murmelte er und seine Schwester schüttelte den Kopf, weil sie wusste, was er meinte. Er sah das Bedauern in ihren Augen und sofort erwachte dumpfer Zorn in ihm. Parlec schnaubte leise und schob ein weiteres Buch zur Seite. Die Vögel über ihnen zischten und schnalzten aufgebracht aus vollen Kehlen. Nissa verschränkte die Arme vor der Brust und sah sich mit hochgezogener Augenbraue in der Bibliothek um.

»Es ist, wie es ist, Parl«, stellte sie trocken fest. »Du kannst dich hier unten auch nicht ewig verkriechen. Und Mutter hätte ganz sicher nicht zugelassen, dass du deinen Geburtstag neun Stockwerke unter Asteria alleine feierst.« Der Vogelschwarm flog laut schimpfend wieder auf. Jetzt war Parlec wirklich wütend.

»Was willst du, Nissa?«, fragte er nochmal über das Gezeter hinweg und diesmal klang seine Stimme so kalt, wie er es beabsichtigt hatte. Aber zu seiner Überraschung lächelte sie ihn aufmunternd an.

»Ich wollte dir nur dein Geschenk geben«, erklärte sie, holte ein kleines, silbernes Kästchen unter ihrem Mantel hervor und legte es auf einen Stapel Bücher neben ihr. »Und Meister Arodis will dich sprechen. Er hatte einen Boten zum Haus geschickt, aber da warst du schon ausgeflogen. Du sollst zu ihm kommen.« Nissas Blick hellte sich plötzlich auf. »Oh, Forell Wildsteins Sammlung von Blaustein-Sigillen, das hast du gesucht, oder?« Sie zog das Buch unter dem Kästchen hervor und reichte es ihm.

»Danke«, murmelte Parlec leise und nahm betreten den abgenutzten Wälzer entgegen. Er sah erst auf die kleine Schatulle nieder, runzelte die Stirn und hob dann den Blick. Sie grinste ihn zufrieden an und er fühlte sich unvermittelt schuldig. Seine Schwester hatte recht, sich hier zu verkriechen war keine Lösung, die seine Mutter gut geheißen hätte. Aber sie ist tot. Und du vermisst sie mindestens genauso sehr wie ich auch, nicht wahr, Nissa? Behutsam fuhr er mit den Fingerspitzen über das silberne Metall in seinen Händen, doch ließ das Kästchen verschlossen.

»Du musst mir wirklich nichts schenken«, meinte er verlegen. Sie zuckte mit den Schultern.

»Ich will aber. Mach es ruhig erst nachher auf. Ich muss los. Wir sehen uns auf der Feier. Bis später! Und sei wenigstens einmal pünktlich!« Er schnitt eine Grimasse, sie winkte ihm noch kurz zu und verschwand dann wieder in dem engen Büchergang. Parlec hörte, wie sie mit ihrer ausladenden Rüstung und dem wehenden Mantel ab und zu an Buchrücken hängen blieb und es tat ihm ein bisschen in der Seele weh.

Er wartete, bis ihre Schritte auf der Treppe verklungen waren, dann warf er den Wildstein auf das Sofa und schnappte sich seine Tasche. Er wollte sich sofort auf den Weg machen. Meister Arodis wusste, dass Parlec heute keinen Dienst hatte. Wenn er ihn extra mit einem Boten zu erreichen versuchte, musste es wichtig sein.

»Tut mir leid, kein Freiflug für euch. Kommt her!«, befahl Parlec leise in Richtung Decke und erntete dafür tadelndes Geschnatter. Aber der Schwarm erhob sich, kreiste eine Runde in der vergessenen Bibliothek und stürzte sich dann auf ihn nieder. Die weichen, grauen Vogelkörper verschwanden still und spurlos in seinem Oberkörper, wurden zu nebelgrauer Luft und Aperion. Wieder spülte das Flattern der Vögel durch Parlecs Körper und hinterließ ein Kribbeln in seinen Fingerspitzen. Er spürte die zahlreichen kleinen Herzen in seiner Brust schlagen, bis sie sich an seinen Herzschlag angepasst hatten und in ihm aufgingen. Parlec atmete tief durch und wollte sich schon in Richtung Treppe aufmachen, als er vor dem Büchergang abrupt umkehrte. Er hastete zurück, nahm das kleine silberne Kästchen in die Hand und klappte den Deckel auf.

»Ach, Nissa …«, flüsterte er und spürte einen bedrückenden Kloß im Hals. Mit zitternden Fingern schloss er die Schatulle rasch wieder und stopfte sich das Geschenk in die Tasche. Dann machte er sich auf den Weg in die Heilenden Häuser des Theriak.

 

Kapitel 3: PURPURFEUER

Die drei Bewahrer standen verborgen im Unterholz und diskutierten mit unterdrückten Stimmen darüber, was sie als Nächstes tun sollten.

»Wir gehen zurück! Jetzt sofort!«, bestimmte Kiefer, aber Birke schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr die eigenen Zweige ins Gesicht schlugen.

»Auf keinen Fall!«, widersprach sie vehement. Sie warf einen Blick zu der Aperia, die leise weinend in der Heide saß. Die Anthari hatte versucht, einen ihrer Kameraden unter einem der brennenden Wägen hervor zu ziehen, aber der Mann war schon längst tot. Jetzt war die Frau völlig zusammengebrochen. Geh weiter, drei leben noch, du kannst ihnen helfen …, dachte Birke verzweifelt. Sie wollte der Spiegelhaut vorhin erklären, dass die Bewahrer so etwas niemals getan hätten, aber die Anthari hatte sie nur wütend angeschrien, der Lüge bezichtigt und war dann zu den brennenden Wägen gelaufen.

»Das hier ist nicht unsere Sache, Birke! Und Pyrid muss davon erfahren!«, grollte Kiefer und riss sie so aus ihren Gedanken. Sie nickte zustimmend.

»Ja, aber es reicht, wenn ihr beide geht. Schickt Wucherwerk-Bewahrer hierher! Oder Wildwuchs-Hexen und Knospen-Flüster, egal wen! Irgendjemand, der dieses Feuer löschen kann. Die Deru müssen das hier unbedingt gesehen haben. Ich warte so lange auf euch.« Kiefer gab ein so tiefes Brummen von sich, dass die Erde in seiner Nähe leicht erbebte. Seine Nadeln stellten sich auf und ein paar Tannenzapfen an seiner Schläfe platzten fast vor Zorn.

»Unter keinen Umständen bleibst du alleine hier zurück!«, knurrte er drohend. Haselnuss zog den Kopf ein, aber Birke starrte den großen Bewahrer unerschrocken an und reckte stur das Kinn vor.

»Was glaubst du, was passiert, wenn Asteria davon erfährt, Kiefer?«, blaffte sie und wies mit einer Hand vage in Richtung des Massakers. »Und ohne Zweifel wissen sie es längst. Zwei der Pferde fehlen. Sie haben sie zur Flucht benutzt und werden wahrscheinlich bald in Asteria ankommen!« Der große Bewahrer verschränkte die Arme und aus seiner Wildholz-Rüstung bröckelten ein paar Rindenstückchen.

»Ja, und? Was sollen sie schon tun?«, brummte er und Birke konnte es nicht fassen, wie schwer Kiefer von Begriff war.

»Krieg!«, zischte sie wütend. »Sie werden uns den Krieg erklären! Der Orden der Sterne wird niemals zulassen, dass die Bewahrer ihre Versorgungskonvois überfallen. Sie werden zum Wald kommen und anfangen, auch hier Bäume zu fällen. Und diesmal werden sie es nicht aus Hunger und für Ackerland tun, sondern weil sie uns vernichten wollen!« Kiefer schüttelte seine Nadeln.

»Das haben sie doch schon immer versucht.«

»Aber nun ist es etwas anderes! Die Anthari leiden Hunger, Kiefer und du weißt ganz genau, dass es nichts Schlimmeres gibt, als hungrige Asteri! Sie denken, dass wir sie angegriffen haben, nicht umgekehrt. Ich muss hierbleiben, um ihnen zu sagen, dass wir das nicht waren!«

»Sie werden dir nicht glauben. Sie werden mit Aresar kommen. Und sie werden dich töten!«, prophezeite Kiefer düster.

Zum ersten Mal zögerte Birke. Er hatte durchaus recht mit seinen Bedenken. Bewahrer waren zäh, aber nicht unsterblich und in letzter Zeit waren viele von ihnen den unvergänglichen Soldaten aus der Stadt der Sterne zum Opfer gefallen. Birke ballte ihre schwarzen Hände zu Fäusten. Sie musste es wenigstens versuchen.

Der Große Wald war mächtig, das älteste und beständigste Reich in ganz Dheubharia. Doch auch er konnte nicht an zwei Fronten gegen die immer stärker werdenden Anthari kämpfen. Ein Krieg mit Asteria und den Blauen Städten würde unfassbares Leid bringen. Und zwar auf beiden Seiten. Pyrid war rücksichtslos und grausam, wenn es um den Schutz des Mutterbaumes Ayria Deru ging. Der Himyra würde mit dem Blut der Anthari den Wald rot färben. Aber unzähligen Bäumen, Bewahrern und Deru drohte ebenso der Tod. In so einem Krieg konnte es keinen Gewinner geben, nur Überlebende, die am Ende auf einem Berg aus Elend und Verlust zurückblieben.

»Bitte geht!«, drängte Birke. »Je schneller ihr wieder hier seid, umso besser!« Haselnuss sah sie erst bekümmert an und nickte dann. Er griff behutsam nach Kiefers Arm.

»Sie hat recht. Komm, wir müssen uns beeilen!«, flüsterte der schmale Bewahrer. Fassungslos starrte sein Begleiter ihn an. Der Widerstand der gewaltigen Kiefer fiel augenblicklich in sich zusammen.

»Pass auf dich auf, Birke«, sagte Haselnuss leise und zog den anderen Bewahrer wieder in den Wald hinein. Kiefer warf ihr noch einen zornigen Blick zu, aber dann rannten sie los und ihre Gestalten verschwammen im Unterholz.

Birke atmete tief ein, trat aus den Bäumen hervor und verließ den Großen Wald. Die Bewahrerin schnaubte leise. Jetzt musste sie sehr vorsichtig sein. Ihre Rüstung würde sie hier draußen zwar noch immer beschützen, doch sie verlor beständig an Stärke, wie ein Baum dessen Blätter im Herbst zu Boden fielen. Sie war hier langsamer und schwächer, eine leichte Beute für Weiße Ritter, Anthari und ihre gefährlichen Blaustein-Artefakte.

Völlig lautlos und ohne einen Fußabdruck im Gras zu hinterlassen, lief sie zu der weinenden Spiegelhaut. Dabei versuchte Birke möglichst viel Abstand zu den Karren und dem magischen Feuer zu halten. Das Purpurfeuer tauchte alles in seiner Umgebung in ein unwirkliches, flackerndes Licht, das unangenehm in den Augen brannte und einen erblinden lassen konnte, wenn man zu lange in das Flammenspiel hineinblickte. Die hungrige Kälte der violetten Flammen schmerzte die Bewahrerin stechend auf den Blättern und sie verzog das Gesicht.

Was hatten die Sterne nur geladen? Oder haben die Angreifer das Feuer mitgebracht? Ein purpurfarbener Funke verfing sich in ihren Blättern und brannte sich ohne Widerstand durch einen Ast. Birke schüttelte sich heftig und huschte schnell weiter.

Sie erreichte die Anthari und blieb still hinter ihr stehen. Die Frau bemerkte sie nicht. Die Aperia schluchzte leise und hatte das Gesicht in den zitternden Fingern vergraben, als könnte sie das vor dem Grauen um sie herum beschützen. Für einen kurzen Augenblick überlegte Birke ihre Hand auf die Schulter der Spiegelhaut zu legen, um sie zu trösten. Doch sie zögerte und ließ die Frau dann in ihrem Schmerz alleine. Birke hatte jetzt keine Zeit, sich um die aufgewühlte Aperia zu kümmern. Diese Anthari lebt. Es sind die anderen drei, die Hilfe benötigen.